Michael Bünker "Also hat Gott die Welt geliebt" (Joh. 3,16) Predigt zum Abschluss der Predigtreihe in der evangelischen Pfarrgemeinde Wien-Ottakring am Sonntag, 2. Februar 2014 Liebe Gemeinde, die Nachbarn suchen wir uns nicht aus. Sie sind einfach da und leben mit uns gleichsam Tür an Tür, in derselben Straße, im selben Grätzel, in derselben Stadt, oft unter einem Dach mit uns. Nachbarn sind nicht unsere Verwandten. Sie gehören nicht zur Familie. Nachbarn können unsere Freunde werden, aber das muss nicht sein. Nachbarn können sich gegenseitig helfen, nicht umsonst gibt es den Begriff der Nachbarschaftshilfe, sie können füreinander einstehen, miteinander für gemeinsame Anliegen auftreten und sich gemeinsam für eine Verbesserung des Lebens am selben Ort einsetzen. Nachbarn können freilich auch in Gegensätzen, Konflikte geraten. Nicht wenige Streitereien vor den Gerichten sind Streitereien zwischen Nachbarn. Der bayerische Kabarettist Gerhard Polt sagt es einmal so: „Ich bin ja tolerant. Seit 40 Jahren grüße ich den Herrn Böhm, obwohl er mein Nachbar ist.“ Nachbarn können stören, befremden, sie können aber auch ein vertrauensvolles Miteinander leben, das uns das Gefühl gibt, wir sind da miteinander zu Hause. Was Nachbarschaft ist, ergibt sich nicht von allein. Sie muss gestaltet werden, mit Leben erfüllt werden. Gerade in den Städten leben wir mit Menschen, die unsere Nachbarn sind. Aber wir kennen sie nicht. Wir wissen wenig von ihnen, oder wissen nur das, was als Klischee über sie bekannt ist. Dabei haben wir mit ihnen immer vieles gemeinsam: Beide brauchen wir ein Zuhause, eine Wohnung, die wir uns leisten können, beide brauchen wir Arbeit, von der wir leben können, beide wollen wir eine Schule, einen Kindergarten, wo unsere Kinder gerne hingehen, beide brauchen Geschäfte in der Nähe, den Arzt und die Apotheke, die Straßenbahn möglichst vor der Türe und natürlich auch Parkplätze. Wir freuen uns, wenn ein Kind geboren wird; wir feiern die Hochzeit unserer großen Kinder, wir trauern über den Verlust eines lieben Menschen. Beide wollen wir unseren Glauben, unsere Religion gemeinsam mit anderen leben und feiern können. Gute Nachbarschaft. Pfarrgemeinden wie eure Ottakringer Gemeinde sind wichtige Orte in der Nachbarschaft. Hier kann man zusammenkommen, wohl auch Hilfe in Notfällen erhalten, hier feiern die Christinnen und Christen regelmäßig und öffentlich ihre Gottesdienste und laden dazu alle ein. Welche Rolle spielt die Religion in der Nachbarschaft? Noch vor hundert Jahren hätte sich wohl niemand träumen lassen, dass es einmal in der Thaliastraße zu einer guten vertrauensvollen Nachbarschaft von Evangelischen und Katholischen kommen würde. Aber heute ist das so und ich bin dankbar für alle ökumenischen Nachbarschaften. Seit rund einer Generation erleben wir, dass unsere Nachbarn nicht mehr nur evangelisch oder katholisch sind. Sie sind vieles, hier bei euch in erster Linie muslimisch. Daher begrüße ich es und habe gerne gleich zugesagt, heute zu kommen, dass eure Gemeinde diese Predigtreihe und die Gespräche durchführt. Nachbarschaft beginnt damit, dass wir mehr übereinander und voneinander wissen. Vielleicht wissen wir ja auch nur die Hälfte oder womöglich gar nicht das Richtige, sogar das Falsche voneinander. Es braucht immer die direkte Begegnung, Nachbarn reden nicht übereinander - o ja, das tun sie auch - sie reden -wenn es wirkliche Nachbarn sind miteinander. Zu dieser guten Nachbarschaft ermuntert uns die Orientierungshilfe "Respektvoll miteinander", die die Generalsynode der Evangelischen Kirche A. und H.B. im Jahr 2011 verabschiedet hat. Die Gemeinden werden aufgefordert, zu Orten der Begegnung zu werden, damit gegenseitige Vorurteile überwunden werden können, damit Vertrauen wachsen kann. Die Gemeinden sind aufgefordert, Muslimen mit Respekt zu begegnen und gute Nachbarschaft zu pflegen. Sie sollen nicht über sie reden, sondern mit ihnen. Ottakring geht da - mit anderen - voran. Es ist ein Lernweg, wohl für alle Beteiligten. Denn diese Begegnung, dieses Gespräch ist noch keineswegs so vertraut und eingespielt, wie etwa das ökumenische Miteinander von Evangelischen und Katholischen, wo wir doch recht verlässlich wissen, was geht und was nicht geht oder noch nicht geht, wie die gemeinsame Abendmahlsfeier zum Beispiel. Daher hat es auch Missverständnisse gegeben - Stichwort: "muslimische Predigt" - die Rückfragen hervorgerufen haben. Eure Gesprächsbereitschaft und die erfolgten Klärungen waren da wichtig. Für die Zukunft. Das Verhältnis des christlichen Glaubens zum Islam ist nicht einfach - vielleicht auch umgekehrt nicht. Der Dialog der Religionen füllt seit einigen Jahren unzählige Konferenzräume und noch viel mehr Bücher und Bibliotheken. Aber wo immer er geführt wird, es ist ein wichtiger Beitrag zum besseren gegenseitigen Verständnis und damit ein Beitrag zum friedlichen Miteinander in einer auch religiös pluralen Gesellschaft. Religionen können ja immer beides, entweder die Gegensätze verschärfen, zur Feindschaft, ja zur Gewalt aufrufen oder das Verbindende betonen, zur Versöhnung und gegenseitigem Respekt beitragen. Keiner diese beiden Wege ergibt sich automatisch, welcher davon begangen wird, das ist zumindest für die christliche Religion unsere Verantwortung. Wenn die Reformation vom mündigen Christen und der mündigen Christin gesprochen hat, die selber die Lehre beurteilen können, dann sind wir alle verantwortlich, ob unser Glaube und das Leben unserer Kirche und Gemeinden einen positiven Beitrag für das Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden leistet. Jeder Dialog, jede Begegnung stellt mich selbst auch in Frage. Wie verwurzelt bin denn ich in meinem Glauben? Wie gut kann ich erklären, was ich glaube? Kann ich es überhaupt? Ein lebendiger Dialog, der uns weiterhilft, kann nur dort stattfinden, wo jeder Gesprächspartner die eigene Religion glaubwürdig vertritt. In diesem Glauben können wir gute Nachbarn sein, bessere werden, gemeinsam dafür sorgen, dass wir unseren Glauben leben können, dass Religionsfreiheit als Kern, als Herz aller Menschenrechte für alle gilt, hier bei uns aber auch dort, wo sie eingeschränkt ist, vielleicht sogar mit Füßen getreten wird. Für uns Christinnen und Christen gibt es da eine Spannung: Auf der einen Seite sind wir von der universalen Liebe Gottes überzeugt, dem Schöpfer der Welt und jedes einzelnen Menschen. Keinem von uns ist Gott fern, sagt der Apostel Paulus in Athen (Apg.17,27). Also hat Gott die Welt geliebt, so schreibt der Evangelist Johannes (Joh. 3,16), auf dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Was als eine weite Öffnung beginnt Gottes Liebe zur Welt, seid umschlungen Millionen, diesen Kuss der ganzen Welt heißt es in Beethovens Neunter, konzentriert sich dann auf Jesus Christus und in Jesus Christus. Wenn wir als Christinnen und Christen von Jesus Christus reden, von ihm Zeugnis geben, dann reden wir von Gottes Liebe zur ganzen Welt. In keinem anderen Namen ist Heil, so bekennt der Apostel Petrus vor dem Hohen Rat in Jerusalem (Apg. 4,12). Dieses Christuszeugnis sind wir unseren Gesprächspartnern schuldig und dürfen es ihnen nicht schuldig bleiben. Nicht nur unseren muslimischen Nachbarn, sondern allen. Aber wir sollten sehr zurückhaltend sein bei der Frage, wem Gott nun Heil schenkt und wem nicht. Wir sind nicht die Vollstrecker des göttlichen Willens, nicht seine verlängerten Arme, keinesfalls die Buchhalter seiner Liebe. Auch das wissen wir doch, die wir uns zu Christus bekennen, dass wir immer mit leeren Händen vor Gott stehen und auf seine unverdiente Gnade angewiesen sind und angewiesen bleiben. Es ist Gottes Liebe, die in Jesus Mensch wurde und sich den Menschen schenkte, oft überraschend, unvermutet und unerwartet. Das Staunen darüber beginnt für mich ja schon bei mir selbst, denn wie es mir zugekommen ist, dass ich mein ganzes Vertrauen auf diese Liebe Gottes, auf Jesus Christus setzen kann -dass ich also glauben kann - das weiß ich ja nicht. Verdient habe ich es nicht und selbst gemacht habe ich es auch nicht und nur geerbt werde ich es auch nicht haben. Mein Christuszeugnis ist das Zeugnis der freien Gnade Gottes. Andere Religionen dürfen nicht vereinnahmt werden, dann wären alle Katzen grau und die Unterschiede eingeebnet, nivelliert. Aber genauso wenig ist es so einfach möglich, andere Religion grundsätzlich auszuschließen. Als könnten, als dürften wir bestimmen, was Gott zu tun hat, als dürften wir seiner Liebe Grenzen setzen. Je klarer und deutlicher wir unser Bekenntnis zu Jesus Christus leben, je glaubwürdiger wir es leben, umso eher können wir diese Spannung tragen. Es ist uns nicht verheißen, ohne Spannung zu leben oder zu glauben. Die Konzentration auf Jesus Christus hilft uns, die Spannung zu tragen. Geduldig und gelassen, im Vertrauen auf Gott, der schon weiß, worauf es mit uns und seiner ganzen Schöpfung hinaus soll. Die Orientierungshilfe setzt an den Schluss ein Gebet von Dag Hammarskjöld, dem UN Generalsekretär, der 1961 einem Anschlag zum Opfer fiel. Er war von tiefer Frömmigkeit, lutherisch geprägt, und zugleich offen und dialogbereit: "Geheiligt werde dein Name, nicht der meine; dein Reich komme, nicht das meine; dein Wille geschehe, nicht der meine; gib Frieden mit dir, Frieden mit den Menschen, und Frieden mit uns selbst."