Wer den Tod bezwingt

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Wer den Tod bezwingt
Rita Naumann
I.
Die Wohnung, aus der der Hilferuf kam, befand sich im
ersten Geschoss eines jener vierstöckigen Mietshäuser, die in
langen schnurgeraden Reihen die Vororte Berlins bilden. Hier
wohnte seit einiger Zeit der Bankangestellte Max Frischmann mit
seiner schönen Frau Clara und deren Kindern, Maik und Lena.
Jetzt lag die wunderschöne Frau Clara kalt und tot in dem
großen breiten Bett im Schlafzimmer.
Aus der Lage des Körpers schlossen die Kriminalisten sofort auf einen Sexualmord.
Kommissar Rohloff betrachtete die schöne tote Frau.
„Ein Weib, so schön, wie ein Engel!“ stieß er zwischen
den Zähnen hervor. „Es ist kein Wunder, wenn die Begierde einen Mann zum Mörder an ihr macht.“
Die Spurensicherung begann mit der Arbeit. Am Hals sahen sie blaue Flecke.
„Sie ist erdrosselt worden“, sagte Kommissar Möller von
der Spurensicherung.
„Meinen Sie, dass der Mörder sein Opfer erst nach dem
Tod entkleidet hat? Oder war die junge Frau bereits im Bett, als
die Tat geschah?“ fragte Rohloff.
„Sie denken, es war ihr Mann?“, fragte Möller.
„Warum sollte er so etwas tun?“
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Inzwischen hatte Kommissar Möller alle Spuren gesichert,
die von Nöten waren, um den Täter eventuell zu überführen. Die
Sorgfalt, mit welcher die Kleidungsstücke der Frau Frischmann
beiseitegelegt waren, bewies ihn, dass die Tote bei der Ausführung der Tat bereits im Bett gewesen war.
Ein Junge von zwölf Jahren und ein Mädchen, das zehn
Jahre alt sein mochte, öffneten plötzlich die Tür und kamen weinend ins Zimmer gestürzt.
„Mama, Mama!“, schrie das Mädchen. Der Junge stand da
und starrte mit Entsetzen auf die tote Mutter.
Kommissar Rohloff brachte die Kinder aus dem Zimmer
und beruhigte sie. Er fragte, wann sie zu Bett gegangen waren.
Zwischen acht und neun Uhr wie gewöhnlich, erzählten sie. Papa
und Mama hätten zuletzt im Speisezimmer gesessen. Wo Papa
jetzt sei, wüssten sie nicht. Das Kindermädchen wäre ausgegangen gewesen, jetzt habe sie sie geweckt und ihnen gesagt, was
passiert sei.
Eine Polizeipsychologin kam und brachte die Kinder in einen anderen Raum.
Das Kindermädchen wurde verhört.
„Es muss geschehen sein, als ich aus dem Haus war“, sagte sie.
„Wie alt war Frau Frischmann?“
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„Zweiunddreißig. Vor drei Monaten haben sie geheiratet.
Frau Frischmann war vor neun Jahren Witwe geworden. Aus der
ersten Ehe sind die beiden Kinder hervor gegangen.“
„Hatten die Frischmanns Freunde oder Bekannte?“ forschte der Kommissar weiter.
„Ja, Freunde eigentlich nicht. Aber die Lehmanns kamen
des Öfteren her. Die Männer kannten sich vom Golf spielen.“
„Wo ist Herr Frischmann jetzt?“, wollte Rohloff wissen.
„Das weiß ich nicht. Er wird wohl ausgegangen sein.“
In diesem Augenblick wurde die Tür heftig aufgerissen
und ein Mann stürzte in den Raum. Es war Max Frischmann, ein
Mann von dreiunddreißig Jahren. Die blasse Farbe des hageren
Gesichts wurde durch den tiefschwarzen Vollbart stark hervor
gehoben.
Der Kopf war lang und schmal. Die faltenlose, sehr hohe
Stirn leuchtete unter dem gewölbten, dichten schwarzen Haar
hervor. Es war ein sehr schöner Mann.
„Was ist mit meiner Frau?“, fragte er verwirrt.
„Was ist passiert?“
„Setzen Sie sich, Frischmann“, sagte Kommissar Rohloff.
„Kann ich ein Glas Wasser haben“, stotterte Frischmann
und sah sich mit verwirrten Augen im Zimmer um.
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Man brachte ihn ein Glas Wasser und Frischmann trank
ein paar Schlucke. Plötzlich begann er zu zittern wie bei einem
epileptischen Anfall. Er verdrehte die Augen, Schaum trat aus
seinem Mund.
Kommissar Rohloff beobachtete den Mann und plötzlich
rief er:
„Um Gottes willen, der Mann stirbt auch!“
Nach einer Weile hatten Max Frischmanns Zuckungen
nachgelassen, er lag wie ein Toter auf dem Fußboden. Aber in
das sonst so blasse Gesicht von Max Frischmann hatte sich ein
dunkler Blutstrom ergossen.
*
Max Frischmann hatte das Bewusstsein verloren. Seine
Umgebung, das Gesicht des über ihn gebeugten Kommissars entfernte sich scheinbar immer mehr von ihm. Er wollte rufen und
konnte nicht. Schließlich sagte er sich, ‚ich bin ja so weit weg,
dass man mich doch nicht hört’.
Aber obwohl er sich von der Stadt, ja sogar von der Erde
entfernt zu haben schien und immer weiter glitt, musste er sein
Wahrnehmungsvermögen, das ihm seltsamerweise geblieben
war, immer wieder auf seinen Körper richten. Frischmann bemerkte noch, wie sein ohnmächtiger Körper auf die Couch gelegt
wurde. Der feste Griff des Kommissars und seiner Gehilfen verursachte ihm Schmerzen.
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Aber dann verschwand auch dies aus seinem Wahrnehmungskreis wie in einem dunklen Abgrund. Plötzlich hatte
Frischmann die Empfindung, als betrete er einen weiten, hellen
Saal, dessen Wände und Decke aus Kristall waren. Ringsum
standen in gefälliger Unordnung blühende Blumen und kleine
grüne Bäume aller Art, wie in einem palastartigen Gewächshaus.
In der Mitte war der glänzende Fußboden frei und auf ihm
bewegten sich Wesen, die ihm wie recht schöne Menschen vorkamen. Manche saßen auf zierliche, einbeinigen Sesseln, die im
Fußboden festgemacht waren, an runden Tischchen, auf den Gläser mit Getränken und kleine Schüsseln mit Speisen standen.
Man kam und ging. Oft standen oder saßen zwei oder mehrere
beieinander, aber die Personen waren offenbar alle stumm, denn
keine sprach ein Wort, obwohl man an ihren Gebärden merkte,
dass sie sich auf das Lebhafteste unterhielten. Man sah aber nur
Bewegungen der Augen und der Mienen, weniger der Hände,
sodass Frischmann von dem Gedanken, er befände, sich in einem
recht schön eingerichteten Taubstummen-Institut, wieder abkam.
Durch die Glaswände und die Decke fiel ein Sonnenlicht von
großer Helligkeit, aber trotzdem herrschte eine wohltuende Kühle in dem weiten Saal.
„Meine Liebe zu Ihrer ermordeten Frau hat mich veranlasst, Sie hierher zu bringen, um Ihnen zu zeigen, was aus der
schönen Clara nach ihrem Tode geworden ist“, sagte plötzlich
jemand in deutscher Sprache zu Frischmann.
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Frischmann wandte sich erstaunt um und sah sich einem
etwa achtzehnjährigen Mann gegenüber. Er war nur spärlich bekleidet, denn die braune, gesunde Haut seiner Glieder wurde nur
an wenigen Stellen von dem weißen, faltenreichen Gewand bedeckt, das von seinen Schultern herabfiel.
Frischmann war so erstaunt, dass er kein Wort zur Erwiderung fand.
„Sie wundern sich, dass ich rede“, fuhr der junge Mann lächelnd fort, „während dies sonst hier nicht mehr üblich ist, denn
man gibt bei uns seine Gedanken und Gefühle durch inneres
Schauen kund. Da Sie aber diese Sprache nicht verstehen, und da
sie Ihnen auch nicht gelehrt werden kann, muss ich im Verkehr
mit Ihnen die mir noch immer geläufige deutsche Sprache anwenden, obwohl das für unsere hiesigen Begriffe außerordentlich
veraltet und umständlich ist.“
„So unterrichten Sie mich doch im Gedankenlesen!“ kam
es endlich von Frischmann Lippen, der sich bemühte, seine Fassung wieder zu gewinnen.
„Das erfordert zu viel Zeit, weshalb es jetzt nicht möglich
ist“, entgegnete der junge Mann.
„Wo bin ich?“, fragte Frischmann, in dem er sich umsah.
„Ich will Ihnen gerne Rede stehen. Sie haben jedoch nicht
viel Zeit übrig, da Sie wieder zurück müssen. Sie sind als körperlose Seele hier.
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Sie können, solange Ihr Leben auf der Erde nicht erloschen
ist, hier nicht geboren werden und keinen neuen Körper erwerben. Ich brachte Sie mit der Seele Ihrer ermordeten Frau hierher.“
„Eine Seele gibt es ja gar nicht!“, sagte Frischmann vorwurfsvoll.
„Ich will mich jetzt nicht damit aufhalten, Sie von irrtümlichen Ansichten zu befreien. Hören Sie, ich bin der vor neun Jahren auf der Erde verstorbene Mann Ihrer Frau und hieß damals
David Brunner.“
„Das ist richtig“, sagte Frischmann erschrocken und voll
unsagbaren Erstaunens.
„Es ging uns nicht sehr gut auf der Erde, aber Clara und
ich liebten uns so sehr, dass ich ihr ein Versprechen gab:
„Wenn ich vor dir sterbe“, erklärte ich ihr, „werde ich einen Stern im Weltenmeer aufsuchen.
Ich werde einen Stern suchen, auf welchem die höchsten
Lebewesen, die Menschen, und ihre sozialen Verhältnisse vollkommener sind, als auf der Erde. Sobald du stirbst, komme ich,
dich zu holen, um mit dir ein schöneren Dasein zu leben.“
Der junge Mann schwieg einen Augenblick und Frischmann begann:
„Wie ist das möglich? Wie soll Clara hier zur Welt kommen? Wo befinden wir uns? Ich hätte tausend Fragen …“
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„Die ich Ihnen noch alle beantworten will, nur ist das jetzt
nicht mehr möglich, denn man bemüht sich auf der Erde, Sie ins
irdische Bewusstsein zurückzurufen. Deshalb müssen Sie uns
bald verlassen.“
„Kann ich wieder kommen?“
„Nein, aber ich kann Sie holen, so oft ich will, wenn Sie
im tiefsten, traumlosen Schlaf liegen. Soll ich es tun?“
„Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich recht oft zu holen. Ich
möchte all das für mich Neue hier kennenlernen.“
„Sie haben einen außerordentlichen Drang nach Erkenntnis. Ich will versuchen, Ihnen volle Befriedigung nach jeder
Richtung zu gewähren. Noch mehr, ich hoffe, es zu ermöglichen,
dass das hier von Ihnen seelisch Erschaute in Ihr Tagesbewusstsein übergeht, und dass Sie in der Lage sind, Ihren Mitmenschen
davon Kunde zu geben.“
„Dann sagen sie mir noch schnell, auf welchem Stern ich
mich befinde, denn ich fühle, dass ich in meinen Körper auf die
Erde zurück muss.“
Sie befinden sich auf dem Planeten Midgard, der um die
Wega kreist. Die Wega ist eine Sonne von weit größerem Umfang als die Ihrige. Um sie kreisen Hunderte von kleinen und
größeren Planeten.
Auf dem Midgard herrschen die besten sozialen Bedingungen und Einrichtungen, deshalb zog ich ihn den anderen Planeten vor.
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„Wie bin ich bei der ungeheuren Entfernung so schnell
hierhergekommen?“, fragte Max Frischmann und sah den jungen
Mann an.
„Was sind Geschwindigkeiten nach euren Maßen?“, antwortete David. „Unsere Riesensonne Wega schießt mit der Geschwindigkeit von 81 Kilometern in der Sekunde auf eure Sonne
zu. Da wir dreißig Trillionen Kilometer von derselben entfernt
sind, so dauert es immerhin siebzigtausend Erdenjahre, ehe wir
zu euch kommen würden. Wir legen dabei also 300000 Kilometer in der Sekunde zurück, während ihr 300 Kilometer bei euren
schnellsten Zügen und Autos schon für sehr hoch zu halten gewohnt seid. Würden wir aber mit der Schnelligkeit des Lichts
reisen, also 300000 Kilometer in der Sekunde zurücklegen, so
würden wir doch drei Jahre und drei Monate zubringen, bevor
wir auf der Erde ankämen. Es gibt aber zum Glück noch eine viel
schnellere Methode des Reisens von seelischen Stoffen, das ist
die Geschwindigkeit der Gedanken. So schnell Sie denken können, vermögen Sie Ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Ich bitte
Sie stellen Sie sich vor, dass Sie wieder auf der Erde in Ihrem
Körper sein wollen, denn es ist kein Augenblick mehr zu verlieren …“
*
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Max Frischmann erwachte und blickte mit erstaunten Augen zur Decke empor. Man sah, wie er sich allmählich in seine
Umgebung wieder hineinlebte. Er rang nach Atem, und bald
fühlte er sich wieder Herr seines Körpers. Er richtete sich auf,
und als er den Kommissar Rohloff und die anderen Kommissare
erkannt hatte, überwältigte ihn der Schmerz wieder und er begann an zu weinen.
In diesem Augenblick hörte man heftiges Gepolter vom
Korridor. Eine laute Stimme rief:
„Lassen Sie mich hinein, ich war ihr bester Freund. Ich
muss sie sehen!“
Die Tür wurde aufgerissen und herein trat ein kleiner älterer Mann. Er hatte eine lange, gebogene Nase und einen kahlen
Schädel. Er ging auf Frischmann zu und drückte ihm die Hand.
„Herzliches Beileid! Mein aufrichtiges Mitgefühl! Du
weißt, wie sehr ich sie gemocht habe. Sie war die schönste Frau,
die ich je gesehen habe. Und sie hatte eine heitere Seele, Herzensgüte und Verstand. Was willst du jetzt machen, Max? Und
was wird aus den Kindern?“
Kommissar Rohloff mischte sich ein.
„Wer sind Sie?“
„Ich bin ein Freund der Familie, Hannes Lehmann.“
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„Woher erfuhren Sie von dem Verbrechen, Herr Lehmann?“
„Von wem? Von wem? Irgendjemand auf der Straße hat es
mir erzählt. Mich kennt hier in der Umgebung jeder Mensch.“
„Waren Sie bis jetzt zu Hause, Herr Lehmann?“
„Ja, ich war zu Hause, warum?“
„Sie müssen zugeben, dass Ihr Erscheinen um diese Zeit
etwas merkwürdig erscheint.“
Lehmann trat dicht an den Kommissar heran.
„Wollen Sie etwa behaupten, dass ich der Mörder bin?
Von mir hat sie nur Gutes erfahren. Nein, Herr Kommissar, Sie
sind auf der falschen Spur.“
„Aber Ihre Aufregung spricht gegen Sie, Lehmann“, sagte
der Kommissar spöttisch.
„Können Sie uns sagen, wo Sie in der Zeit zwischen neun
und zehn Uhr abends gewesen sind?“
„In meiner Wohnung.“
„War noch jemand da?“
„Nein.“
„Sie haben eine Kratzwunde im Gesicht, auch Ihre Hände
scheinen verletzt zu sein. Woher stammen diese Verletzungen?“
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„Das geht Sie nichts an!“
„Da bin ich anderer Meinung. Kommissar Möller, bringen
Sie diesen Mann aufs Revier und nehmen Sie Blutproben, DNA,
das Übliche eben,“ sagte Kommissar Rohloff mit Bestimmtheit.
Kaum hatte der Kommissar diese Worte ausgesprochen, so
erhielt er von Lehmann einen heftigen Stoß vor die Brust, dass er
zu Boden stürzte und im Fallen einige Stühle mit umwarf. Die
anderen Kriminalisten sprangen herbei und hielten Lehmann fest.
Lehmann wehrte sich und schrie:
„Ich bin kein Mörder! Ich bin kein Mörder!“
*
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II.
Das Wichtigste ist die Abstammung“, sagte David Brunner
zu Frischmann, der sich dauernd umsah, obwohl er sich in demselben Raum befand, in dem er schon einmal gewesen war.
„Ich wiederhole, dass ich weder an eine Seele, noch viel
weniger an eine Seelenwanderung glaube. Wie komme ich hierher?“
„In gleicher Weise wie das erste Mal als schattenloses Wesen! Während Ihr Körper dort auf der Erde im tiefen Schlaf liegt,
habe ich Ihre Seele, oder nennen Sie es Ihr ICH, entführt und will
Ihren Wissensdurst stillen. Das gelingt mir aber nur, wenn Sie
mit aller Kraft Ihre Gedanken darauf richten, mich verstehen zu
wollen. Sie haben hier jetzt keinen Leib, daher wären Sie für die
Augen von Erdenmenschen unsichtbar. Der Midgardmensch
meiner Art aber, welcher auf einer viel höheren Entwicklungsstufe angelangt ist als die höchsten irdischen Wesen, kann die Gedanken sehen und lesen. Er sieht daher auch die Seele. Diese
Kunst können Sie, ohne hier geboren zu sein, nur sehr schwer
und nach unendlich langer Mühe und Arbeit erlangen. Von der
Fähigkeit der Erdenbewohner, mit dem Auge zu sehen, bis zu
unserem Seelenschauen ist ein gewaltiger Schritt vorwärts. Dieser besteht in der Vervollkommnung des Sehens in dem Maße,
dass man in alle festen Körper, auch in die, welche keine gewöhnlichen Lichtstrahlen durchlassen, hineinblicken kann.
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In Holz, Metalle, Steine können wir bis zu einer gewissen
Tiefe sehen. Sind solche Dinge dünn, so sind sie vollkommen
durchsichtig für uns wie Glas. Durch Fleisch und Knochen sehen
wir hindurch, können aber auch in diese Gewebe hinein blicken
und faste alle Einzelheiten derselben bis zur kleinsten Zelle
wahrnehmen und jede von der anderen unterscheiden.“
„Das ist eine wunderbare Eigenschaft und ein bedeutender
Fortschritt gegenüber dem Sehen des Erdenmenschen“, sagte
Frischmann, der mit gespanntem Interesse zugehört hatte.
„Kann ich diese Eigenschaft während meines Hierseins erlernen?“
„Ich will versuchen, sie Ihnen zu verleihen. Die Fähigkeit
dazu ruht in jeder Seele, also auch in der Ihrigen. Es wird Ihnen
daher vielleicht nicht schwerfallen, da Ihr seelisches Auge nicht
durch das körperliche behindert ist, in alle feste Gegenstände
ringsum einzudringen. Versuchen Sie es!“
„Wirklich, es gelingt mir. Ich sehe die einzelnen Kristalle,
welche die Marmorplatte dieses Tisches bilden. Ich kann die
Adern und Zellen des Holzes der Stühle erkennen!“
„Nun also. Es ist Ihnen auch möglich, in die Körper der
Lebenden hineinzublicken. Sie werden aber die Schwingungen
des feinen Stoffes, der die Nerven und Gehirnzellen durchflutet,
nicht sehen, noch viel weniger die einzelnen Wellen voneinander
zu unterscheiden vermögen. Das ist der Grund, weshalb ich
Ihnen das Gedankenlesen nicht lehren kann.
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Die Ideen aber bestehen in solchen Schwingungen und die
Seele selbst, als welche Sie hier sind, ist nichts anderes, als der
außerordentliche feine und für Ihre Sinnesorgane nicht wahrnehmbare Stoff, der sich mit gröberen Gebilden umgibt. Er formt
Körper und bringt bei der Entwicklung jeder Art von Lebewesen
die erforderlichen Glieder hervor.“
„Wiederholte sagte ich Ihnen schon, dass ich nicht an die
Existenz der Seele glaube“, entgegnete Frischmann ärgerlich.
„Von allem, was ich nicht mit meinen fünf Sinnen wahrnehmen kann, bestreite ich das Dasein.“
„Sie sind ein echter Erdensohn“, antwortete der Midgardbewohner und ein Lächeln glitt über seine sympathischen Züge.
„Ich will Sie auch nicht weiter mit der Seele belästigen,
sondern mich mit Ihnen nur über Körperliches unterhalten. Sollten Sie aber einmal auf dem Midgard geboren zu werden wünschen, so können Sie das, wenn Sie bei Ihren gegenwärtigen Ansichten über die Seele verharren, nur als Mensch dritten Grades
oder wie wir es nennen, als ERME.“
„ERME? Was ist das nun wieder?“
„Der Midgard ist zehnmal größer als die Erde. Er hat Gebirge, Länder, Meere wie auf der Erde. Nur alles in größerem
Maße. Auch die Pflanzen, Tiere und Menschen sind in ungefähr
zehnmal größerer Anzahl der Arten und Einzelwesen vorhanden,
als auf der Erde.
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Alle Abstufungen der Gattung Mensch, welche die Erde
aufweist, sind auch hier vorhanden. Wir haben vielmehr Farben,
Rassen und Kulturen, als der Planet Erde vorweist. Alles nun,
was auf Ihrem Sonnenplaneten Mensch genannt wird, bezeichne
ich, um mich Ihnen leichter verständlich zu machen, als Erdenmensch oder ERME. Jene Arten und Rassen der Midgardwesen
aber, die ihre Sinne gegenüber den Erdenmenschen vervollkommnet haben, nenne ich Menschen zweiten Grades oder
GARDA. Diese sehen durch feste Körper, sie vernehmen tiefe
und höhere Töne, als die ERME. Sie sprechen mit Miene in Verbindung mit der Zunge derart schnell, dass ein viel lebhafterer
Gedankenaustausch möglich ist als bei gewöhnlichen Menschen.
Das ist ein so ungeheurer Zeitgewinn, eine so erheblich schnellere Gedankenerzeugung im Vergleich zu den ERMEs, dass sie
hierdurch, außer von den auch weit mehr entwickelten Gefühlsleben, einen ganz beträchtlichen Vorsprung über jene erlangt haben.“
„Das mag sein", warf Frischmann ein. „Trotzdem. Diese
Bezeichnungen Menschen Dritten und Zweites Grades. Es gab
sie schon mal. Vor vielen Jahren. Die Titulierungen finde ich
nicht schön."
„Ich weiß, Sie meinen den Nationalsozialismus. In gewisser Hinsicht haben Sie recht.
Aber wie sonst sollen wir sie nennen? Mensch I, Mensch II
und Mensch III? Unsere Wesen hier, egal ob dritten, zweiten oder ersten Grades werden nicht diskriminiert, nicht verfolgt und
nicht getötet.
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Jeder lebt in seinem Lebenskreis. Ich will versuchen Ihnen
zu erklären, wie unser System hier oben funktioniert. Menschen
Ersten Grades oder die MIDGAS, zum Beispiel, sind alle diejenigen, die Sie hier in dieser Halle sehen. Ich gehöre inzwischen
auch dazu. Der Unterschied zwischen uns und den GARDAs das
ist die Fähigkeit, das Fluidum wahrzunehmen, welches das Gehirn und die Nervenadern durchströmt. Unser ICH kann die zartesten Gebilde und Formen unterscheiden und deuten, sodass wir
Gedankenleser im höchsten Sinne geworden sind. Dieses Fluidum bildet, wie ich bereits sagte, auch den Stoff, aus dem die
Seelen bestehen. Es ist über alle Begriffe fein und zart, sodass
auch der dünnste gasförmige Körper in keinem Vergleich mit
diesem Gebilde gemacht werden kann.“
„Und als solch überfeiner Äther bin ich hier?“, fragte
Frischmann mit ungläubiger Miene.
„So ist es. Ebenso Clara", antwortete David mit freundlicher Miene.
„Und da ich das Fluidum erkennen kann, wie Sie einen
festen Körper, so sehe ich Sie deutlich vor mir, als wären Sie ein
Mensch aus Fleisch und Blut.“
„Wo ist Clara jetzt? Ich würde sie gerne sprechen.“
„Das geht nicht, da Sie den Seelenstoff nicht wahrnehmen
können. Außerdem muss Clara erst wieder geboren werden.
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Ebenso kann Clara sie auch nicht sehen, bevor sie hier
nicht geboren ist. Sie würden sich gegenseitig nicht sehen und
auch nicht verständlich machen können. Dagegen vermögen Sie
mich und alle anderen hier geborenen Wesen zu erkennen.
Es ist natürlich unmöglich, Ihnen die ungeheure Fülle der
Erscheinungen auch nur im entferntesten zu schildern, die uns
hier auf dem Midgard umgibt. Wir brauchen viel Zeit, wenn ich
Ihnen auch nur im Entferntesten schildere, wie unser Leben im
Einzelnen auf dem Midgard ist. Fest steht, dass alles viel schneller vor sich geht wie auf dem Planeten Erde. Wachstum und
Entwicklung der Lebewesen gehen bei uns viel schneller vor
sich, als auf der Erde. Ich selbst bin das beste Beispiel dafür.
Nach dem Tod, sozusagen während der Läuterung, lebt der
Mensch gewissermaßen nach rückwärts. Er erlebt alles noch mal
bis zur Kindheit in rückwärtiger Reihenfolge. Meine Geburt hier
erfolgte vor acht irdischen Jahren, der jetzt von mir erlangten
geistigen und körperlichen Entwicklung nach würde ich nach
dem Maß eines Kulturvolkes der Erde gemessen aber bereits ein
Alter von zwanzig bis dreißig Jahren erreicht haben. Zahllose
dicke Bände würden erforderlich sein, um all das zu beschreiben,
in was sich der Midgard von der Erde unterscheidet. Jetzt muss
ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf den Herrn zu richten, der
uns gegenüber am anderen Ende des Saales steht und den Eingang so aufmerksam beobachtet."
„Welchen Mann meinen Sie? Es stehen mehrere da.“
„Den großen dunkelhaarigen Mann, der mit den herrlichen
langen Haaren.“
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„Ah. Sie meinen, den Mann mit den reich verzierten Sandalen. Wirklich, ein schöner Mann!"
„Ja, das kann man sagen. Er wird Claras künftiger Vater.“
Staunend sah Frischmann David an und Gedankenblitze
jagten durch sein Gehirn. David lächelte, als er Frischmanns Gedanken las.
„Das Wichtigste ist die Abstammung. Sie werden bald sehen, dass die Midgardwesen nichts planlos machen und irgendwelchen Zufällen vertrauen."
„Um Gottes willen", rief Frischmann.
„Sie wollen nur Supermenschen erzeugen? Was ist mit der
Liebe und dem Geschlechtsleben? Unterliegt sie bei Ihnen bestimmten Gesetzen? Nein, danke, dann verzichte ich auf eine
Wiedergeburt auf dem Planeten Midgard. Die Liebe ist doch das
Schönste und das Herrlichste auf der Welt.“
„Urteilen Sie nicht vorschnell“, mahnte David, während
ein feines Lächeln seine Züge erhellte. „Wir machen einen Unterschied zwischen Zeugung und Geschlechtsgenuss. Dieses
überlassen wir dem Paar, nur gestatten wir nicht, jedem Paar
Kinder zu zeugen.“
„Das sind ja menschenverachtende Ansichten“, schimpfte
Frischmann und sah sich wütend um.
„Ihr seid ja schlimmer als die Nazis. Was passiert mit den
Leuten, die Kinder ohne gesetzliche Erlaubnis bekommen?“
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„Was soll mit ihnen passieren? Wir tun ihnen nichts. Allerdings können sie nur in unsere Gesellschaft aufgenommen
werden, wenn sie in öffentlichen Prüfungen nachgewiesen haben,
dass sie alle Fähigkeiten der Midgardwesen erworben haben.
Kinder aber, die mit Genehmigung unserer Behörden geboren
werden, stehen im höchsten Ansehen, und seine Nachkommen
haben von vornherein alle die Eigenschaften, welche unserer Stufe der Entwicklung entsprechen."
Frischmann brach in ein heftiges, anhaltendes Gelächter
aus. Als er sich beruhigt hatte, sagte er grimmig:
„Kindermachen mit behördlicher Erlaubnis! Welch ein
Hohn!"
„Sehen Sie“, sagte David immer noch ruhig lächelnd.
„Unter den Menschen auf der Erde gäbe es weder Krüppel
noch Verwachsene von Geburt. Krankheiten wären nur noch selten, Nervenkliniken ständen leer, wenn das wichtige Gesetz von
der Vererbung beachtet würde. Betrachten Sie doch mal die
Menschen. Sehen Sie nicht auf ihre Kleidung, sondern in das Gesicht und auf die Figur.
Die meisten sind zu dick oder zu dünn. Viele Menschen
sind zu klein. Die einen haben missgebildete Füße, die anderen
Affenarme. Manche sind so hässlich, dass man sie nicht anschauen mag. Dabei ist die Seele oft gut und edel, aber sie führt ein
schreckliches unbefriedigtes Dasein. Und all diese Übel rühren
von der Missachtung des Vererbungsgesetzes her.
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Sehen Sie, die Menschen suchen sorgfältig für die Züchtung von Rassepferden- und Hunden, Rindviechern, erstklassige
Exemplare, frei von Krankheiten und anderen Gebrechen. Und
sie haben Erfolg. Es gelingt ihnen, die edelsten und wertvollsten
Rassen zu züchten. Doch sie selber paaren sich, wie sie wollen.
Die Nachkommen mögen krank, hässlich oder dumm sein, aber
an eine Veränderung denkt niemand.“
Eine sehr schöne Frau trat in den Saal, und David unterbrach seine Rede.
„Das ist die zukünftige Mutter von Clara.“ Frischmann
starrte die wunderschöne Frau wie gebannt an.
„Heute ist die Verbindung von Lanus und Malve. Betrachten Sie diese Frau, damit Sie einen Begriff von der Schönheit der
Midgards, erlangen."
Diese Aufforderung war überflüssig, denn Frischmann
vermochte keinen Blick von Malve zu wenden. Und ohne dass er
es wollte, sprach er laut seine Gedanken aus.
„Ja, es stimmt, sie ist ein himmlisches Geschöpf. Dieses
lange blonde Haar, die Augen, die wie flüssiges Zinn leuchten
und diese Figur ... einfach prächtig. Sie ist noch schöner als Clara
... viel schöner als alle Frauen auf der Erde ..."
Frischmann hatte in seiner Begeisterung über die Erscheinung Malves den blonden Mann total vergessen. Wie im Selbstgespräch fuhr er fort.
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„Und dieses Kleid, dieser bis an die Knöchel fließende
schimmernde Rock. Dann diese Hände!
Kein Ring schmückt ihre langen schmalen Finger. Es wäre
auch nicht nötig. Diese Schönheit, dieses Meisterwerk der Natur
braucht keine Verzierungen."
Mit einem Lächeln um den schön geschwungenen Mund
wand Malve ihr Gesicht Frischmann zu, als kenne sie ihn.
„Oh, mein Gott“, stöhnte er. „Was für eine Frau!“
Malve wandte sich jetzt wieder Lanus zu, der ihr einen
Strauß mit hellblauen Blumen reichte.
„Kommen Sie, gehen wir näher heran! Nachher sehen Sie
die Hochzeitszeremonie.“
Immer mehr Personen betraten den Saal, dann folgte eine
Gruppe junger Männer mit Musikinstrumenten.
„Setzen wir uns auf diese Stühle", sagte David, und bat
Frischmann Platz zu nehmen. Frischmann konnte sich nicht sattsehen an Malves schönem Gesicht, ihrer Gestalt, ihren Gesten,
Bewegungen. Und plötzlich bemerkte er, dass er durch sie hindurchsehen konnte. Er sah das rote Fleisch, die feinen Sehnen
und Muskeln, die tausend Adern und Äderchen. Ich kann sehen
wie ein Midgars, dachte er.
„Starren Sie Malve nicht so an“, unterbrach David
Frischmanns Betrachtungen.
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„Schildern Sie mir, was Sie sehen, damit Sie später den
Menschen darüber berichten können!“
„Ich kann es nicht beschreiben. Es ist unglaublich, was ich
in diesem herrlichen Körper sehe. Wie sich alles bewegt, wie die
inneren Teile arbeiten. Herz, Lunge und all die weichen elastischen Organe, die überaus praktisch und doch wunderschön angeordnet sind. Hier hat die Natur etwas Unglaubliches geschaffen. Selbst den Knochenbau vermag ich zu durchblicken. Was
nie ein Arzt oder Forscher je erblickt hat, kann ich sehen. Nämlich das vibrierende, strotzende Leben im Körper.
Vor meinen Augen entwickelt sich eine nie gesehene Farbenpracht, alle Nuancen sind vertretbar und schieben sich symmetrisch durcheinander. Durch all das aber ziehen schimmernde
silberweiße Fäden, in denen kein Leben zu pulsieren scheint,
doch sind sie sicher das tragende Geäst des Wesens. Die Nerven!“
„Genau, Sie haben richtig erkannt, Frischmann. In ihnen
fließt das Seelenfluidum, das Sie noch nicht sehen können. Doch
wir können erkennen, was die Wellenlinien zu bedeuten haben,
sodass wir an den Hebungen und Senkungen lesen, welche Ideen
durch die zarten Gebilde rauschen.“
„Ich denke, das hat nichts mit der Seele zu tun", erwiderte
Frischmann angriffslustig.
„Das sind elektrische Erregungen, welche durch die Nervenstränge und Nervenfäden zwischen verschiedenen Endstellen
und dem Nervenzentrum hin und her gehen.“
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„Ohne Zweifel ist die Elektrizität dabei im Spiel. Denn es
gibt weder einen Körper noch eine Bewegung ohne sie, die doch
nur eine Erscheinungsform des Äthers ist, jenes dünnen Urstoffes, aus dem alle materiellen Dinge hervorgegangen sind. Wer
aber erbaut alle diese Gebilde aus dem Äther? Es ist der Seelenstoff, der noch weit zarter ist als der Äther. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine, lieber Freund."
„Sie meinen also, den dünnen Äther durchdringt der noch
dünnere Seelenstoff und bildet alles, was existiert aus jenem?"
„Ja, das meine ich. Dadurch hat jeder Gegenstand, jeder
Stein, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch eine Seele für sich,
ein ICH. Dieses ist aber naturgemäß nur ein Teil des allgemeinen
Seelenstoffes und steht mit dem Ganzen daher in Zusammenhang. Noch feiner als der Seelenstoff ist der Geistesstoff, welcher
deshalb wiederum Äther und Seelenstoff, durchdringt.
Er ist der Ursprung dieser beiden und hat sie hervor gebracht, um das Weltgetriebe zu ermöglichen, aus dem wir nicht
heraus können und über das hinauszublicken uns nicht möglich
ist.“
Frischmann atmete tief durch. Das war ihm doch alles zu
kompliziert und doch auf eine Art und Weise einleuchtend.
„Sehen Sie sich Malves Kopf an. Schauen Sie ins Innere!
Dort sehen Sie den Kern des ICHS, die Zentrale der Seele und
zugleich auch des Geistes. Von hier gehen alle Regungen des
Lebens aus, das ist das Unvergängliche, sich aber immer weiter
Entwickelnde, hier ist ‚Das ewige Leben!'"
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In diesem Augenblick ertönte wunderbare zarte Musik.
Sie schien aus allen Ecken zu kommen, von oben und unten und
verschmolz zu einer großen Harmonie.
„Das ist das Zeichen zum Beginn des Festes", flüsterte
David.
„Welches Fest meinen Sie?"
„Wir Midgars feiern jedes Jahr in unserer Zentralstadt,
dem Sitz des Weltparlaments aller Nationen den Kulturtag. An
diesem Tag werden auch wichtige Kulturfragen besprochen und
Beschlüsse gefasst. Nach Erledigung dieser Arbeit finden in dieser Halle gesellige Zusammenkünfte statt. Das heutige Fest ist
der Schluss der großen Tagung und gipfelt in der Vermählung
von Lanus und Malve.“
Frischmann sah wie Malve und Lanus von Tisch zu Tisch
gingen und sich mit den Gästen unterhielten auf ihre Art.
Inzwischen waren sie auch zu der Stelle gelangt, an welche David und Frischmann sich befanden. Malve lächelte.
Frischmann sah, wie die Töne in den Farben ihrer Haut unaufhörlich wechselten. Es war das Widerspiel des Gespräches, welches
Malve, Lanus und David führte. Da hierbei kein Laut gewechselt
wurde, war es Frischmann nicht möglich, irgendetwas zu verstehen. Außerdem beherrschte er ihre Sprache nicht.
Er merkte, dass auch von ihm die Rede war, besaß er doch
für einen Erdenmenschen ein außerordentlich entwickeltes seelisches Feingefühl. Er fühlte, wie der durchdringende, scharfe
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Blick Lanus mehrfach auf ihn ruhte. Nach einer Weile verabschiedete sich das Paar und sie gingen an einen anderen Tisch.
„Ich habe bemerkt, dass Sie von mir gesprochen haben“,
sagte Frischmann.
„Natürlich. Ich sagte dem Brautpaar, dass Sie auf Erden
der zweite Mann ihrer zukünftigen Tochter gewesen seien, und
dass auf meine Veranlassung Claras Seele rechtzeitig von ihrem
irdischen Körper freigemacht worden ist.“
Frischmann schüttelte den Kopf und sagte:
„Ich glaube, dass von all dem, was Sie mir hier zeigen,
von Ihrem Midgardplaneten und seinen Wesen, Sie selbst eingeschlossen, nichts vorhanden ist. Es wird nur ein wirrer Traum,
eine Ausgeburt meiner lebhaften Fantasie sein!"
„Nein, mein Freund, vergessen Sie mal, dass Sie ein Erdenmensch sind. Niemand ist fähig, sich mit seiner Fantasie etwas vorzustellen, das nicht in dieser Form auch irgendwo auf einem der unzähligen Planeten unseres Weltalls in Wirklichkeit
vorhanden ist. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Hund, der die
Füße auf dem Rücken hat und doch laufen kann. So etwas gibt es
nicht, sagen Sie? Genau. Ihre Fantasie kann es sich nicht vorstellen und deshalb kann es Derartiges nicht geben. Was Sie also
hier sehen und noch sehen werden, mögen Sie als eine Schöpfung Ihrer Fantasie betrachten. Dadurch aber ist das Dasein all
dieser Gebilde bewiesen. Wie ich schon sagte, die Fantasie ist
nicht fähig, sich etwas Mögliches vorzustellen, das nicht irgendwo vorhanden ist."
27
Frischmann blickte etwas spöttisch und doch zugleich
nachdenklich David an.
Er wollte etwas sagen, doch in diesem Moment versank
ohne jedes Geräusch die eine Längswand der großen Halle. Ein
herrliches Naturpanorama bildete jetzt die Fortsetzung des Raumes nach dieser Seite. Im Vordergrund, dicht an die Halle anstoßend, befand sich ein Podium, das ebenso lang war wie die versunkene Wand, daran schlossen sich ohne bemerkbaren Übergang sanft ansteigende Wiesen, Felder und Wälder. Hohe, imposante Felsen begrenzten in der Ferne das Bild einer schönen
Landschaft.
Mit weit geöffneten Augen betrachtete Frischmann das
herrliche Bild folgte mit den Augen den Silberfäden der Bäche
und blieb an einem großen See hängen, der tief unten im Tal lag.
„Was für ein herrlicher See!“, rief Frischmann aus.
„Der See des Lebens“, antwortete David. „Sie werden ihn
noch kennenlernen. Aber jetzt passen Sie auf, gleich werden zu
Ehren von Malve und Lanus Wettkämpfe stattfinden.“
David deutete auf einen mittelgroßen kräftigen Mann mit
langen braunen Locken.
„Sehen Sie, da ist Foras. Er hat sich auch um Malve beworben, doch sie hat sich für Lanus entschieden, obwohl Foras
geistig, körperlich und dem Charakter nach in keiner Weise hinter Lanus zurücksteht. Jetzt verneigen sich die Gegner voreinander zum Zeichen, dass die Angelegenheit erledigt ist."
28
Frischmann sah, wie Malve zu Foras ging und ihm einen
Kranz aufs Haupt drückte. Dann streichelte sie sein Gesicht, verneigte sich kurz und trat wieder zu Lanus.
„Lanus ist wütend“, flüsterte Frischmann und beobachtete
interessiert das Spiel.
„Warum?“
„Foras wird der Vater von Malve zweitem Kind sein."
„Aber doch nur, wenn Lanus inzwischen stirbt und sie
Witwe geworden ist.“
„Nein. Unsere Moralanschauungen, unsere Ehegesetze
gleichen nicht denen der Erde", belehrte der Blonde.
„Malve hat Foras vor aller Welt bekränzt und liebkost.
Damit gibt sie kund, dass Foras ihr auch sympathisch ist, wenn
sie auch Lanus aus seelischen Motiven den Vorzug gibt."
„Und was sagt Lanus dazu?"
„Er muss sich unseren Gesetzen unterordnen. Natürlich
wird er kämpfen, dass Malve nicht in die Versuchung gerät, sich
mit Foras einzulassen. Er wird höllisch aufpassen müssen, doch
wenn sie es doch tut, kann er nichts machen. Scheidungen oder
Getrenntleben, wie es auf der Erde üblich ist, gibt es bei uns
nicht, sind verboten.“
„Das ist eine schöne Doppelmoral“, warf Frischmann dazwischen, und in seinem Gesicht zeigte sich ein spöttischer Zug.
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„Bei uns gilt die Meinung, dass das Blut, Wesen und Art
des Vaters des ersten Kindes, also in diesem Falle Lanus, nicht
nur allein in das Kind, sondern auch in die Mutter übergehen.
Diese Beeinflussung des Wesens und des Blutes der Frau durch
den Vater ihres ersten Kindes ist eine so intensive und nachhaltige, dass jedes weitere Kind der Frau dem Urheber des Ersten
ähnlich ist, auch wenn die Erzeuger dieser späteren Kinder andere Männer sind. Die Wahl des ersten Gatten gilt als höchste Auszeichnung. Denn sie räumt seinem Blut, seinem Wesen ein Vorrecht ein, weil sie weiß, dass es in sie und in alle Kinder übergeht, die sie dem Midgardplaneten schenken wird."
„Ausgemachter Blödsinn", schimpfte Frischmann.
„Das wirft alle gentechnologischen Forschungen über den
Haufen. So etwas kann es nicht geben. Und was sollte es für einen Zweck haben?"
David lächelte und sprach ruhig weiter:
„Zwischen diesen Kindern entsteht eine Verschiedenheit,
und das kommt unseren auf die Mannigfaltigkeit der Rassen gerichteten sittlichen Anschauung zugute.“
„So könnte Lanus wohl zufrieden sein, dass Malve ihn
erwählt hat? Doch wird er nicht eifersüchtig werden, wenn Foras
ihm in die Quere kommt?"
„Sicher, sogar sehr. Auch wir sind noch mit einem gewissen Egoismus befangen. Natürlich will jeder Mann seine junge
schöne Frau behalten und um sie kämpfen. Doch unsere Frauen
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hier sind frei in ihren Entscheidungen. Sie gewähren ihre Gunst
an die von ihnen Auserwählten. Sie sind niemanden Rechenschaft schuldig, wenn der Auserkorene ein Midgars ist und nicht
etwa von den Menschen abstammt."
„Bei uns würde man solche Frauen Prostituierte nennen“,
bemerkte Frischmann zynisch.
„Nein. Mit diesen Frauen sind sie ganz und gar nicht zu
vergleichen", sagte David ohne sich über die Bemerkung Frischmanns aufzuregen.
„Mit dem Erwerb und der sozialen Existenz hat die Liebe
bei uns nicht das Mindeste zu schaffen. Jeder Mensch, egal, wer
er ist und was er tut, ist in Bezug auf seinen Unterhalt von staatlicher Seite sichergestellt. Natürlich bekommen die Midgars
mehr Mittel zur Verfügung gestellt als die anderen."
„Also gibt es hier auch soziale Unterschiede, Arm und
Reich, wie bei uns", regte Frischmann sich auf.
„Bei uns gibt es keine Armen. Der Unterhalt ist so reichlich bemessen, dass es den anderen an nichts mangelt. Die Midgars haben andere Verpflichtungen, andere Bedürfnisse, deshalb
bekommen sie mehr. Aber sehen Sie, dort beginnt der Kampf
wieder zwischen Lanus und Foras.
Es ist ein Genuss ihnen zuzuschauen. Das sind keine Athleten mit plumpem Körperbau, keine stierähnlichen menschlichen Wesen, sondern herrliche große Gestalten, die ihre starken
Kräfte offen und frei miteinander messen.“
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Frischmann sah wie sich einige Frauen und Männer aufgeregt unterhielten.
„Das sind die Anhänger von Foras Partei", sagte David.
„Sie befinden sich schon in Siegesstimmung.“
„Partei?“, fragte Frischmann gedehnt. „Wie soll ich das
verstehen?"
„Nun“, sagte der Blonde und beobachtete aufmerksam den
Kampf der beiden Männer. „Bei uns gibt es zwei große Parteien.
Die Materielle und die Ideelle. Foras gehört der Materiellen Partei an ... Foras scheint alle Kraft aufzuwenden. Lanus ist stark.“
Die beiden Kämpfenden standen still, als wären ihre Füße
auf dem Boden festgemauert. Man sah alle Muskeln an den hüllenlosen Leibern, von denen nur die empfindlichsten Weichteile
durch Bandagen geschützt waren, spielen. Foras kämpfte, doch
mit einer letzten gewaltigen Anstrengung warf Lanus den Gegner
zu Boden. Die Ideellen klatschten schon stürmisch Beifall, doch
plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Foras kam wieder auf die
Beine und mit einem gewaltigen Stoß brachte er Lanus zum
Straucheln.
Der Jubel der Ideellen verstummte, dagegen klatschten die
Materiellen in die Hände und Frischmann sah an ihren Mienen,
dass sie sich lebhaft über den Ausgang des Kampfes freuten. In
überschäumender Begeisterung waren einige von den Materiellen
auf das Podium gesprungen, hoben Foras auf ihre Schultern und
trugen ihn unter stürmischen Beifall in den Saal.
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Malve war zu Lanus geeilt und mit sanften Händen nahm
sie seinen Kopf in die Hände und küsste ihn auf den Mund.
Lanus erhob sich hastig und hielt nach Foras Ausschau. Es
schien, als wünschte er eine Wiederholung des Kampfes mit Foras, doch der Sieg stand fest. Es gab keine Wiederholung.
„Die Ideellen geben nie auf", sagte David.
„Der Geist ist keines Schlafes, keiner Ermüdung fähig,
nur die Apparate, welche er zu seinen Lebensäußerungen benutzt, das Gehirn, die Nerven bedürfen des Ausruhens. Unsere
Ideellen haben sich derart vervollkommnet, dass sie kaum noch
eine Erholung nötig haben. Der Geist ist bei ihnen allmächtig. Er
beherrscht jede Gehirnzelle, jede Muskelfaser derart, dass sie
seinem Willen auch nach der heftigsten Anstrengung mühelos
gehorchen. Sehen Sie, wie Lanus, ohne eine Spur von Anstrengung zu zeigen mit Malve in den Saal schreitet? Malve ist ganz
Frau, sie will ihn über seine Niederlage trösten, doch sein elastischer Geist hat längst überwunden. Er denkt gar nicht mehr daran. Er hat nur Sorge, dass seine geliebte Malve irgendwann auch
Foras angehören muss."
„Vielleicht will sie aber gar nicht“, äußerte Frischmann.
„Dann würde sie eine ganze Welt gegen sich in die
Schranken fordern. Foras hat nicht nur seine starke Partei, sondern alle herkömmlichen Anschauungen und öffentlichen Gesetze auf seiner Seite. Selbst die Ideellen und die grünen Harmoniker würden gegen sie sein. Sie unterschätzen den ungeheuren
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Einfluss der Gedanken der großen Masse. Sind diese alle einer
Meinung, dann brechen sie jeden Widerstand.“
„Und der Wille einer Frau wird auch auf dem Midgard
nicht unüberwindlich sein!“, fügte Frischmann sarkastisch hinzu.
„Jetzt werden Sie gleich den zweiten Teil des Festes sehen", sagte David und zeigte in eine Richtung, von der Sänger
und Sängerinnen, unter ihnen auch viele Kinder, kamen.
„Sie werden eine Glanzleistung der Dressur sehen und einen musikalischen Genuss erleben, wie Sie ihn noch nie gehört
haben."
Aus der hinteren Ecke des Saales kam ein älterer Mann mit
langen weißen Haaren. Er war mit einem weißen Gewand bekleidet und hielt einen licht ausstrahlenden Stab in den Händen.
Als er sich der Bühne näherte, klatschten die Sänger und Sängerinnen und verneigten sich vor dem Mann.
Der Mann hob den Stab und aus den Tälern, von den Wiesen und Feldern kamen Vögel unterschiedlicher Art angeflogen.
Es war, als wusste jeder Vogel, was er zu tun hätte. Die einzelnen
Arten setzen sich zusammen und bald begann ein Durcheinander
von Vogelgezwitscher, wie es Frischmann noch nie in seinem
Leben gehört hatte. Der Mann hob den Stab und mit einem Mal
geschah das Unglaubliche, die Vögel verstummten. Dann wurde
der Stab wieder bewegt und eine Musik von unerhörter Schönheit
erklang.
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Die Künstler der Kapelle spielten, die vielen Sänger und
Sängerinnen und auch alle Vögel fielen nach und nach im gleichen Rhythmus in eine Melodie ein, deren Schönheit Frischmann
aufs Tiefste bewegte. Er war ein Musikliebhaber und er versäumte kaum ein Konzert. Doch so etwas Vollendetes und unvergleichlich Schönes hatte er noch nie gehört. Er schloss die Augen, um sein ganzes Empfinden auf die Hörnerven zu vereinigen,
da schien sich die Musik zu entfernen, immer leiser, immer zarter, schließlich hörte er nur noch den Kuckuck wie aus weiter
Ferne. Auch dessen Töne verklangen. Frischmann versank in einen Abgrund. Er hörte noch, wie eine Stimme zu ihm sagte:
„Ich hole Sie bald wieder“, dann war seine Seele wieder
im Körper.
Schon längere Zeit hatten die Kinder an seinem Bett gestanden und Frischmann aus seinem tiefen Schlaf zu wecken versucht.
Endlich schlug Frischmann die Augen auf. Er bemerkte zu
seinem Entsetzen, dass er sich noch immer im Schlafzimmer befand. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er sich um.
Neben ihm war das Bett von der toten Clara, gleichzeitig
standen die Bilder von all dem Wunderbaren vor seiner Seele,
das er im Traum gesehen hatte. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Das Leben erschien ihm sinnlos, jetzt, da seine Clara nicht mehr lebte.
35
*
36
III.
„Das Kindermädchen hat uns verlassen“, klagte Lena, die
Tochter Claras aus erster Ehe, ihrem endlich erwachten Stiefvater, „wir sind jetzt ganz allein.“
„Warum ist sie fortgegangen?“, fuhr Frischmann das Mädchen an.
„Was ist vorgefallen?“
„Wir haben ihr nichts getan“, sagte Maik, der Stiefsohn.
„Anna sagte, in einer Familie, in der die Frau auf so
schreckliche Weise zu Tode gekommen sei, könne sie nicht länger bleiben. Man wäre da nicht seines Lebens sicher.“
„Wir sollten dich nicht wecken“, fuhr Lena fort. „Sie hat es
uns nicht erlaubt. Inzwischen hat sie ihre Koffer gepackt und ist
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in einem Taxi davon gefahren. Ihren restlichen Lohn schenkt sie
dir.“
„Was mache ich jetzt?“, fragte Frischmann und rieb sich
die Stirn.
Die Kinder blickten ratlos auf ihren Stiefvater.
Im gleichen Augenblick wurde heftig an der Eingangstür
geklingelt.
Ein starker Wortschwall drang bereits durch die Türspalte,
und ehe Frischmann zu einer Begrüßung und zu einer Frage Zeit
fand, wurde die Tür aufgestoßen und herein trat die Frau von
Hannes Lehmann. Früher war sie eine schöne Frau gewesen, aber
jetzt war sie rundlich und tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht
gegraben.
Mit großer Ausführlichkeit erzählte sie, dass sie die ganze
Nacht kein Auge geschlossen hatte, weil sie auf ihren Mann gewartet habe.
„Was ist denn passiert, Max?“, rief sie.
„Stimmt es, dass Clara tot ist?“
Frischmann, der sich inzwischen vom Bett erhoben hatte,
ging mit ihr und den Kindern ins Wohnzimmer. Er schickte Lena
in die Küche, um Kaffee zu kochen.
Beim Kaffeetrinken erzählte Frischmann dann, was passiert war.
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Frau Lehmann hatte aufmerksam zugehört, dann fragte sie:
„Wo ist aber mein Mann?“
„Bei der Polizei!“, antwortete Frischmann.
„Was macht er da?“, fragte sie verwundert.
„Man hat ihn verhaftet!“
„Aber warum? Was hat er getan?“
„Die Polizei denkt, dass er Clara ermordet hat.“
Die Frau schüttelte den Kopf.
„So ein Unsinn! Ich kenne meinen Mann mehr als dreißig
Jahre. Er kann keine Fliege töten. Und Clara liebte er wie eine
Tochter. Warum sollte er sie töten? An manchen Tagen haben
wir uns sogar wegen Clara gezankt, weil er immer nur von ihr
sprach. Ich war schon eifersüchtig auf die schöne Clara. Aber er
lachte nur und sagte, ich sei ein albernes Frauenzimmer.“
Es klingelte wieder an der Wohnungstür. Maik öffnete und
führte zwei Kommissare herein. Es waren die Kommissare Rohloff und Möller. Frau Lehmann, die sofort ahnte, wen sie vor sich
hatte, schrie:
„Wo ist mein Mann? Was haben Sie mit ihm gemacht?“
„Wer sind Sie?“, fragte Rohloff forsch.
„Paula Lehmann, ich bin die Frau von Hannes Lehmann.“
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„Ah ja, zu Ihnen wollten wir auch noch. Gut, dass Sie hier
sind. Sie können uns gleich mit aufs Präsidium folgen. Wir haben
noch einige Fragen an Sie!“
Frischmann stand auf und sagte zu den Kriminalisten:
„Lassen Sie Frau Lehmann in Ruhe. Sie und ihr Mann sind
unschuldig am Tod meiner Frau, sie sind …“
Frischmann wurde knallrot und konnte kein Wort mehr
hervor bringen. Seine Arme blieben weit vorgestreckt, der Mund
stand offen.
Die Augen blickten starr, ein Röcheln kam aus seiner
Brust. Er wankte hin und her. Dann sank er in seiner ganzen
Länge nach vorn.
Alle Anwesenden waren zutiefst erschrocken, denn jeder
glaubte an einen neuen Todesfall.
Man legte Frischmann vorsichtig auf das Bett. Der Notarzt,
den man gerufen hatte, erklärte es wären Kreislaufstörungen, die
bald wieder abklingen würden. Er gab Frischmann eine Injektion
und verließ das Zimmer.
*
Ihr kataleptischer Zustand wird in einem langen anhaltenden, tiefen Schlaf übergehen. Diese Gelegenheit musste ich benutzen, Ihr vom Körper Losgelöstes ICH nach dem Midgard zu
entführen, wie ich es versprach.“
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Frischmann hörte keine Stimme, aber erfasste den Inhalt
dieser Worte, ihr Sinn in sein Bewusstsein über. Auch glaubte er
zu wissen, von wem die Botschaft kam, obgleich er niemanden
sah.
„Ich möchte noch hier bleiben, um zu erfahren, was mit
mir geschieht", antwortete er, ohne zu sprechen und nur dadurch,
dass dieser Gedanke in ihm entstand.
„Ich sehe einen Arzt kommen, möchte doch zu gerne wissen, was er mit mir anstellt.“
„Kein Problem. Wünschen Sie sich im Geiste zurück,
dann werden Sie auch schon dort sein.“
Frischmann tat, wie ihm geheißen worden war und im
nächsten Augenblick befand sich sein körperloses ICH wieder in
seinem Schlafzimmer. Mit innerer Entrüstung nahm er wahr, wie
der Arzt ihm eine kräftige Ohrfeige verpasste und in den Arm
zwickte und dann nach Kommissar Rohloff rief.
Frischmann hatte genug gesehen, er sehnte sich weg, weit
fort von dieser Stätte. Er dachte an die ruhige und schöne Welt
des Midgard. Und plötzlich versank die Erde aus Frischmanns
Gesichtskreis und im nächsten Augenblick befand er sich wieder
auf dem Midgard neben dem blonden David. Im Saal wurde immer noch gefeiert, und Frischmann fragte, was heute der Anlass
sei.
„Heute begrüßen wir Gelehrte von dem Planeten Zillar.“
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Frischmann sah sich um, als eine zarte Musik den Saal erfüllte. Aus allen Ecken und Winkeln strömten Wohlgerüche, und
die Sonne strahlte.
„Es ist ein Wunder, dass dieser Riesenball von Sonne
nicht alles versengt und verbrennt, was sich hier befindet.“
„Unsere Atmosphäre betrifft an Ausdehnung und Dichte
die der Erde um das Achtzigfache. Infolgedessen werden die
Feuerstrahlen unserer Sonne von unserem Luftmeer aufgesogen
und gemildert, dass unsere klimatischen Verhältnisse im Großen
und Ganzen mit denen der Erde übereinstimmen. Das ist auch
notwendig, weil sich nur bei so gearteten Temperaturzuständen
das Leben bis zu unserer gegenwärtigen Höhe entwickeln kann."
„Gibt es auch Planeten irgendwo im Universum, bei denen
die höchsten Wesen weiter vorwärtsgekommen sind als die Midgards?“, fragte Frischmann.
„Sicherlich, aber in den von uns zunächst gelegenen Regionen nicht.“
Die Musik verstummte plötzlich. Alle Anwesenden blickten auf und sahen nach dem Podium. Dort waren eine Anzahl
Männer versammelt, die den Erdenmenschen sehr ähnlich sahen.
Einer von ihnen führte das Wort. Er stand vor einer riesigen weißen Fläche, auf der Zeichnungen als Lichtbilder in bedeutender
Vergrößerung zu sehen waren.
„Was sind das für Leute?“, fragte Frischmann.
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„Das sind ERME, und der dort steht, ist einer der führenden Leute der hiesigen Universität. Er will die Anwesenden davon überzeugen, dass es keine Seele gibt. Er will den Nachweis
führen, dass bei der Ausbrütung eines Eis, das auf rein mechanischem Wege mit Hilfe von Wärme erfolgt, ein Vogel entsteht,
dabei sei aber von einer Seele nichts bemerkbar.“
„Was sagt der Mann?“
„Er sagt, dass genau nach den Gesetzen der Entwicklung
sich erst das eine Organ, dann das andere bildet. Es wiederholt
sich die Entstehung des ganzen Geschlechts mit allen seinen
Durchgangsstufen in der einst durchlebten Reihenfolge bei dem
einzelnen Vogel. Wenn der Vogel die Schale des Eis durchbricht,
blickt er neugierig in die Welt und sucht sofort nach Futter. Wo
soll da die Seele sein? Die ERME bemühen sich, einer viel höheren Rasse glaubhaft zu machen, was sie nach ihrer eigenen weit
tiefer reichenden Erkenntnis niemals glauben kann.“
„Werden denn die Unterschiede zwischen ERME, MIDGAS und GARDAS nicht erkannt und gewürdigt?“, fragte
Frischmann erstaunt.
„Von den Gebildeten allerdings, aber nur in politischer
Hinsicht. Der höhere Geist regiert, ohne zu herrschen. So kommt
es, dass die zahlreichen Menschen die Verwaltung ihrer örtlichen
öffentlichen Angelegenheiten meistens den MIDGAS anvertrauen, die aber im Vergleich zu den zwanzig Milliarden Midgardwesen nur wenige sind. Die meisten sind GARDAS und ERMES.
Wir MIDGAS sind nur zehntausend. Wir stehen überall an der
Spitze und bilden die Leiter und Lenker, denn der Midgard ist
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nach seiner natürlichen Beschaffenheit in Zonen und nach seiner
Bevölkerung in Staaten eingeteilt. Politik, Wissenschaft und
Kunst leiten Führer, die zu diesen Ämtern ohne ihr Zutun berufen
werden und die nach Gutdünken annehmen oder ablehnen."
„Und was ist mit Religion? Gibt es keine Kirche auf dem
Midgard?"
„Nein. Wie sollte das denn möglich sein? Niemand hat bei
uns eine Religion. Weder die MIDGAS noch die GARDAS oder
ERMES. Aber auch die MIDGAS, die wirklich in die geheimnisvollsten Abgründe des Wissens eingedrungen sind, bleibt ein
Rest, ein unerforschliches Etwas, dass er nicht zu erfassen vermag. Wir können hier ebenso wenig wie Sie auf Erden, trotz des
weitesten Vordringens eine Grenze des Raumes finden. Von der
Entfernung des nächsten Weltensystems betrachtet, bleibt unser
Midgard mit all seinen Ozeanen, seinen Gebirgen und weiten
Ländern, mit den dicht bevölkerten Staatengebilden ein winziger
Punkt. Völlig bedeutungslos für das Ganze, und wie es scheint,
von einer zweck- und ziellosen Existenz. Und die Zeit? Was sind
Millionen Jahre im Leben des Alls? Doch was bedeutet diese
Spanne Zeit für die Midgardbewohner? Eine Ewigkeit! In diesem
Zeitraum sind viele Einzelwesen gekommen und gegangen und
ihre Werke, mächtige Staatengebilde, Kunstwerke aus Stein und
Marmor, die unvergänglich scheinen. Sie verschwinden mit den
Kontinenten, auf denen sie errichtet sind. Aus dem Gesichtswinkel einer solchen Spanne Zeit betrachtet, die uns eine Ewigkeit
dünkt und doch nur ein Moment im Dasein des Alls ist, sind unsere Werke ein Nichts. Das Getriebe und Gezanke, wie es auf der
Erde herrscht, das Würgen und Morden, das Kämpfen um Macht
44
und Einfluss bringt uns zum Lächeln, denn hier kennen wir das
nicht. Und trotzdem werden unsere Einrichtungen, unsere Schöpfungen, so vollkommen sie auch sein mögen, von jenen verlacht,
die imstande sind, einen Zeitraum von Millionen Jahren so zu
überschauen, wie wir einen Augenblick. Für Zeit und Raum gibt
es keine Grenze für alle Geschöpfe, die auch in Bezug auf die
Körperlichkeit der Dinge nicht an das Ende gelangen können.
Die Größe des Alls ist durch kein Teleskop, keine Gedankenreise
zu ermessen.
Blickt man aber in sein Inneres, sucht man in den tiefsten
Tiefen der Seele nach dem Ursprung des Lebens, so muss man,
ohne an die Grenze zu gelangen, mit seinen Gedanken plötzlich
haltmachen. Es ist, als wäre das Innerste ICH von einem Wall
umgeben, den man nicht zu überklettern vermag. Jenseits dieser
Mauern ist der Ursprung. Da wohnt das, aus dem alles fließt und
sprießt. Da ist die Quelle des Wesens, welche natürlich ihre Kraft
aus dem Urquell alles Leben bezieht. Richtet man aber die Ideen
außer sich etwa senkrecht nach oben, so wird man sich bei heftigen Suchen nach dem Urwesen plötzlich frei aller Gebundenheit
fühlen. Es ist, als ob man in das sich auflöst, aus dem alles hervor
geht. Nennen Sie dies nun Natur oder Gott. Jedenfalls ist die
Empfindung davon das, was wir MIDGAS als Religion ansehen.
Sie ist das Gefühl dessen, was wir noch nicht wissen. Die Ahnung davon, dass es noch etwas Höheres gibt, als das, was wir
bis heute als letzte wissenschaftliche Ursache des Seins erkannt
haben. Und da wir den allerletzten Grund niemals begreifen werden, so wird es auch für den umfassendsten Geist ewig Religion
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geben. Religion der höchsten Geister ist das Bewusstsein von der
Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit allen Seins im Gegensatz zu
der Annahme der irdischen Materialisten, die den Zufall auf Gottes Thron setzen.“
„Nein. Nicht den Zufall, sondern die Naturgesetze“, erwiderte Frischmann heftig.
„Sobald Sie von Naturgesetzen reden, kommen Sie auf einen persönlichen Gott hinaus. Denn Gesetze sind Gedanken und
Anordnungen eines vernünftigen Wesens, aber niemals die Folge
eines zufälligen Zusammentreffens von Elementen, dessen Existenz doch auch wieder den Gedanken als letzte erkennbare Stufe
ihren Ursprung hat.“
Frischmann hatte zwar nicht alles verstanden, was der
blonde Mann vorgetragen hatte.
Die Worte schienen jedoch Eindruck auf ihn gemacht zu
haben. Er sagte zögernd: „Ich muss gestehen, dass auch ich Ähnliches schon empfunden habe, obgleich ich mich zum Materialismus in seiner extremsten Richtung bekenne. Ich habe die Religion immer als etwas Widersinniges und völlig Unnötiges, ja den
Fortschritt Hinderndes angesehen.“
„Wie konnten Sie das? Mögen viele unnütze Dinge besonders der kirchlichen Religion anhängen, ihr Fundament ruht
auf der Wahrheit. Denn sehen Sie, Lügen und Irrtümer vermögen
nicht Millionen und Abermillionen Wesen Jahrtausende lang in
ihren Bann schlagen. Jeder Mensch hat diejenige Religion, bis zu
welcher seine Fähigkeit, seine geistige Auffassungskraft ihn em46
porhebt. Wobei der Einfluss des Klimas und der sonstigen Existenzbedingungen auf die Art der Religion unverkennbar ist. Noch
heute gibt es viele Völkerstämme, zum Beispiel in der Dritten
Welt, die sich die Ursachen von Gewitter, Blitz und Donner nicht
erklären können. Ebenso Menschen in den kälteren Gegenden.
Sie fürchten die raue Jahreszeit, die langen Winternächte. Sie beten zu Gott, dass er den Schneesturm vertreibe. Oder in den heißen Gegenden, dass er Regen bringen möge.
Aber sehen Sie, jetzt kommt der andere Gelehrte. Er zeigt
jetzt ..." David begann zu lachen.
„Warum lachen Sie?“
Frischmann drehte sich jetzt ebenfalls um. Er sah zu dem
Gelehrten, der Bilder eines weiblichen Körpers vorstellte. Die
Bilder wechselten aber zu rasch, sodass Frischmann nicht erkennen konnte, um was es genau ging.
„Die Rache der Natur. Ich will Ihnen in wenigen Worten
erklären, um was es sich handelt. Einige hochgebildete GARDAS hatten sich mit ihren Frauen auf einer großen abgeschlossenen Insel niedergelassen, um ohne fremde Einmischung sich zu
einer höheren Kultur zu entwickeln.
Dabei geschah es, dass sich die Männer nicht der verfeinerten Sinnlichkeit ihrer klugen Frauen anzupassen wussten. Sie
wurden homosexuell. Die Geburtenzahl ging auf ein Minimum
zurück. Da half sich die Natur durch einen meisterhaften Zug.
Die Frauen wurden ein geschlechtlich, in ihnen entwickelten sich
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nach heftigem Verlangen Embryos ohne vorhergegangene Befruchtung. Sie gebaren Kinder, aber nur Mädchen.“
Frischmann lachte laut. „Hübsches Märchen. Also, ich
muss schon sagen, junger Mann, Sie erzählen ganz schönen Unsinn.“
„Es ist kein Unsinn“, entgegnete David mit einem milden
Lächeln.
„Die Homosexuellen starben nach und nach aus. Und später traten dann auch wieder Knabengeburten auf.“
Frischmann sah den blonden Mann verständnislos an.
Doch dieser redete weiter:
„Jede winzige Zelle, ob sie allein lebt oder zum großen
gemeinsamen Zellenstaat eines lebenden Körpers gehört, ist fähig zu denken. So gering der Umfang dieses seelischen Denkvermögens auch sein mag, es überlegt und handelt zweckmäßig.
Jede Zelle in irgendeinem Knochen oder Weichteil hat im Laufe
der Jahrtausende erkannt, wie sie sich zum Nutzen des Ganzen zu
gestalten hat und welcher Stoffe sie zur Bildung ihrer besonderen
Art bedarf. Betrachten wir nur die Hautzellen. An den Fingerspitzen bilden sie sehr empfindliche Stellen. Auf dem Rücken der
Finger hornartige empfindungslose Nägel. Hier setzen die Hautzellen Haare an, dort gestalten sie sich zu Schuppen und dort
wieder zu Federn, andere bilden sich zu langen Stacheln um.
Wieder andere produzieren einen dichten Pelz. An den Rändern
der Eingänge der Haut, am Mund zum Beispiel, bildet sich elastisches festes Fleisch und immer wird den betreffenden Zellen das
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ihnen notwendige Material aus dem Magen, mithilfe des Blutes
zugeführt. Verletzt man irgendein Körperteil, so berichten die
verwundeten Stellen benachbarte Zelle nach dem Denkzentrum.
Dieses wieder veranlasst den Magen mithilfe des Blutes
solche Stoffe nach der Wunde zu befördern, die durchaus
zweckmäßig erscheinen, um eine möglichst schnelle Heilung
herbeizuführen. Dabei ist das Vermögen zu denken und zu handeln, bei der verletzten Zelle ebenso beschränkt in der Forderung
und Anwendung der Mittel, wie das der Zellen in der Denkzentrale in dem Aufsuchen und Herbei senden der gewünschten Stoffe. Beide müssen studieren und probieren, sie machen Fehler und
irren sich. Sie wissen keine Mittel gegen plötzlich auftretende
neue Krankheiten. Sie können sich nun denken, wie lange und
heftig die Eizellen im Mutterleib nach der Zentrale telegrafieren
mussten, ehe es gelang, diese derart aufzuregen, dass sie überhaupt die Gefahr erkannte, in der die ganze Rasse schwebte. Sie
wissen, dass die Gardas durch Nervenstränge sehen können. Der
grauhaarige Gelehrte dort, der an der Wand gelehnt steht, hat davon Aufnahmen gemacht. Die Zuschauer können nun genau verfolgen, wie ängstlich alle jene Zellen im Mutterleib um Hilfe
nach den Zellen der Zentrale telegrafierten, die an der Schaffung
beteiligt oder für diesen Zweck fast ausschließlich vorhanden
sind.“
„Nettes Märchen“, warf Frischmann ein.
„Aber erzählen Sie weiter!“
„Das Zentralbewusstsein der Frauen wurde also stark erregt und zum Wunsch der Mutterschaft auf das Höchste angefeu49
ert. Endlich - nach langem Bemühen kam das Unterbewusstsein
auf die Idee, dem Ei im Mutterleib Stoffe zuzuführen, die es ohne
männliche Befruchtung wachsen ließen.“
„Angenommen, all das ist wahr, was Sie mir hier erzählen“, unterbrach Frischmann den Mann.
„Doch wieso halten sich die MIDGAS für die Führer eures Planeten, wenn sie doch über die Verfehlungen anderer, in
diesem Fall waren es die GARDAS, lachen.“
„Laster und Sünden sind Dummheiten. Sie werden begangen, weil die Menschen zu wenig Intelligenz zeigen, die Folgen
ihrer Handlungsweise vorauszusehen. Es bedarf keiner menschlichen Gesetze. Die Natur bestraft alles und jedes ohne menschliches Zutun. Wir lachen nur über die Originalität, wie die Natur in
diesem Fall die Homosexuellen bestrafte."
In diesem Augenblick wurden die Anwesenden nervös.
Man sah nach einer der schmaleren Seitenwände des Raumes,
durch die eine wundervoll geformte Tür führte. Lanus schritt mit
Malve Hand in Hand auf das Podium entlang nach diesem Ausgang zu. Frischmann bewunderte noch mal das schöne Paar. Lanus schien aufgeregt zu sein. Malve ging, die Augen zu Boden
gesenkt, an seiner Seite. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sagte David:
„Blicken Sie durch die Wand hindurch, Frischmann. Sie
sehen in das Brautzimmer der MIDGAS, wo jetzt die Vereinigung von Lanus und Malve stattfindet."
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Frischmann war sprachlos vor Staunen.
„Das geschieht hier öffentlich", sagte er und blickte mit
fieberhafter Erregung nach jenem Zimmer. Er sah Foras, der mit
großen Schritten vor der Tür des Zimmers auf und ab ging, plötzlich überlegend stehen blieb und sich dann rasch entfernte.
Das Hochzeitszimmer war mit unbeschreiblicher Pracht
ausgestattet. Viele Möbel und Gegenstände waren Frischmann
fremd. Er vermochte auch ihre Bedeutung nicht zu erraten. Er
hatte auch wenig Interesse dafür, da Lanus und Malve begannen,
sich allmählich gegenseitig auszuziehen.
„In wenigen Augenblicken wird die Seele Claras ihre körperliche Wiedergeburt auf dem Midgard beginnen. Sie schwebt
in dem Brautzimmer für uns unsichtbar umher.“
„Wieso kann Clara so schnell wieder geboren werden? Sie
sagten doch, es müssen Jahre vergehen. Sie selber ..."
„Pst", unterbrach ihn David.
„Das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. Jetzt beginnt das
Liebesspiel. Dazu brauchen Sie Ruhe, absolute Ruhe!"
Frischmann beobachtete, wie Malve Lanus Körper zärtlich
streichelte. Mit fieberhafter Spannung beobachtete er, was dann
passierte.
„Mit dem Einzug der Seele Claras in den Körper von
Malve wird das Fest beendet.“
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Frischmann wollte etwas erwidern, aber ihm war, als fiele
ein schwarzes Tuch über seine Augen. Malve, Lanus, David, der
Saal - alles versank im Dunkeln.
„Nehmt doch das Tuch weg", jammerte Frischmann.
„Ich will Malve sehen, die wunderschöne Malve!"
Frischmann erwachte und schob das Kopfkissen von seinem Gesicht. Er saß aufrecht im Bett und neben ihn waren seine
Kinder.
„Endlich, Papa, bist du wach!“, sagte sein Stiefsohn zu
ihm.
„Du hast schrecklich geträumt und dabei gelacht und sehr
viele unverständliche Worte gesprochen und geschrien.“
52
IV.
„Ich kann für Herrn Frischmann nichts mehr tun!“, rief der
Chef der Rüschel- & Königbank seinem Buchhalter zu.
„Er ist für unsere Bank nicht mehr tragbar. Wochenlang ist
er krank, und wenn er mal arbeitet, kippt er mitten bei der Arbeit
am Schreibtisch um. Das geht nicht. Zahlen Sie seinen letzten
Lohn aus und damit basta! Das Kündigungsschreiben wird er ja
schon erhalten haben.“
„Tja, ich denke, Sie machen einen Fehler, Herr Rüschel.
Mir ist zu Ohren gekommen, dass Frischmann über eine Million
Euro geerbt hat. Er hätte das Geld bestimmt bei unserer Bank
angelegt, aber Sie haben ihm ja gekündigt.“
Der Bankier kratzte seinen Kopf.
„Da habe ich wohl einen Fehler gemacht“, meinte er seufzend.
„Die Einlage könnte unsere Bank jetzt dringend gebrauchen.“
53
„Machen Sie die Kündigung rückgängig und bieten Sie
ihm einen Teilhabervertrag an. Ich kann Rechtsanwalt Täuber
gleich anrufen.“
„So einfach wird das nicht sein“, murrte der Bankier.
„Frischmann hat Stolz. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.“
„Was meinen Sie?“, fragte der Buchhalter und sah seinen
Chef abwartend an.
„Ich werde meine Tochter Helena einschalten. Sie ist sehr
schön und Frischmann ist dem schönen Geschlecht sehr zugetan.
„Helena ist erst achtzehn. Sie können sie doch nicht mit
Frischmann verkuppeln. Er ist fünfzehn Jahre älter als sie.“
„Na, und? Was sind schon fünfzehn Jahre? Helena ist für
ihr Alter sehr reif und erfahren. Sie muss Frischmann dazu bringen, dass er seine Million in unserer Bank anlegt.“
Ein paar Tage später erhielt Frischmann ein Schreiben von
seinem ehemaligen Arbeitgeber. Es war ein höfliches, nettes
Schreiben und er beschloss, die Bank aufzusuchen.
Man erwartete ihn schon. Er wurde in das Arbeitszimmer
des Chefs geführt. Eine Sekretärin brachte Kaffee und Kuchen.
Kurz danach erschien Rüschel, an seiner Seite eine schöne junge
Frau. Sie hatte tiefschwarze lange Haare und blaue Augen.
54
„Meine Tochter Helena“, sagte Rüschel und lächelte
freundlich.
„Helena wird einmal die Bank übernehmen und deshalb
führe ich sie allmählich in die Geschäfte des Hauses ein.“
Frischmann lächelte der schönen Frau zu.
„Tja, Herr Frischmann, ich will nicht lange herumreden“,
begann Rüschel. „Sie hatten in letzter Zeit viel Pech gehabt, dennoch waren Sie ein zuverlässiger Mitarbeiter in unserer Bank. Ich
habe wohl etwas übereilt gehandelt. Ich möchte die Kündigung
wieder zurücknehmen.“
Frischmann nippte an seinem Kaffee und sah erstaunt auf.
Mit diesem Angebot hatte er nicht gerechnet.
„Überlegen Sie es sich, Herr Frischmann …Natürlich
könnten Sie auch als Teilhaber bei uns einsteigen. Wie ich gehört
habe, haben Sie eine beträchtliche Summe geerbt und …“
„Das ist richtig“, unterbrach Frischmann den Mann.
Helena lächelte Frischmann aufmunternd an.
„Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld vorhaben?“,
fragte Helena lächelnd.
Frischmann schüttelte den Kopf. Er war verlegen. Die
schöne Helena verwirrte ihn mit ihren schönen Augen und ihrem
wundervollen schlanken Körper, den langen Beinen und dem
anmutigen Gang.
55
Vater und Tochter warfen sich einen kurzen Blick zu.
Dann entschuldigte sich Rüschel für einen Moment und verließ
den Raum.
„Ich würde mich freuen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten“,
sagte das Mädchen, nachdem ihr Vater den Raum verlassen hatte.
„Wir wären bestimmt ein gutes Team.“
Er betrachtete ihren Mund, ihre Hände, dann glitten seine
Blicke zu ihren Brüsten, die sich unter der engen Bluse abzeichneten. Er fragte sich, ob sie schon mit einem Mann geschlafen
hatte oder ob sie noch Jungfrau war.
Helena stand auf, kramte in dem Aktenschrank und zog ein
gedrucktes Formular hervor.
„Hier ist der Teilhabervertrag. Wir könnten ihn gleich zusammen ausfüllen“, sagte sie charmant.
Frischmann nahm das Papier und warf einen Blick darauf.
„Geld, Geld und immer wieder Geld“, sagte er, das Blatt
auf den Tisch werfend. „Ich aber will Liebe!“
„Ihre Wünsche kann ich erfüllen“, antwortete sie mit nervösem Flimmern in ihren Augen.
„Unterschreiben Sie den Vertrag! Sie gefallen mir, Max.
Ich will auch Liebe! Sie sind ein erfahrener Mann! Bringen Sie
mir die Liebe bei!“
56
Er unterschrieb hastig den Vertrag. Dann sprang er auf und
nahm sie in seine Arme. Er küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr
fast die Luft wegblieb.
Die leidenschaftliche Helena erwiderte seine Küsse. Nach
einigen Sekunden zerrte sie ihn in ein Nebenzimmer, in dem eine
große Liege stand. Sie verschloss die Tür von innen.
Ohne Worte entkleidete sie sich. Als sie nackt vor ihm
stand, zog sie ihn aus. Stück für Stück.
Rasend vor Leidenschaft fielen sie auf die Liege und liebten sich. Helena war eine erfahrene Geliebte und Frischmann
wunderte sich, dass sie in ihrem Alter schon Dinge wusste, die
andere erst mit vierzig kannten.
„Du bist wunderbar“, flüsterte er an ihrem Ohr.
„Eine herrliche Geliebte.“
„Ich mag dich, Max“, sagte sie. „Ich mag dich wirklich.“
Und das war nicht gelogen. Frischmann hatte sie mit seiner
Liebeskunst beeindruckt und zum ersten Mal in ihrem jungen
Leben, war die wirkliche Liebe in ihr erwacht.
Nach zwei Stunden Liebesrausch machten sie eine Pause.
Dann begann Helena, ihn wieder zu küssen und zu verführen.
Frischmanns Blut brauste durch seinen Körper. Er richtete
sich auf, um Helena zu betrachten. Doch plötzlich sackte er zusammen und blieb regungslos auf der Liege liegen.
57
Erschrocken sprang Helena auf und zog sich hastig an.
Dann schloss sie die Tür auf und lief in das Zimmer der Sekretärin ihres Vaters.
„Bitte rufen Sie sofort einen Notarzt! Herr Frischmann ist
zusammengebrochen!“
Helena hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als sie vom
Stuhl fiel und ohnmächtig auf dem Fußboden lag.
*
„Mögen sich die Ärzte um die Körper bemühen“, vernahm
Frischmann. „Ich nehme Ihr ICH und das von Helena mit zum
Planeten Midgard. Die Ohnmacht, die sie beide umfangen hält,
wird eine Zeit andauern. Unterrichten Sie Helena von allem, was
Sie vom Midgard wissen“, sagte David zu Frischmann. „Das geht
sehr schnell, weil sie ein kluges Mädchen ist.“
In der Tat wunderte sich Frischmann, wie Helena alles ohne Erstaunen und Zweifel hinnahm, was er ihr erzählte, und wie
sie diese Dinge als ganz selbstverständlich sofort begriff.
Gedankenschnell waren sie auf dem Midgard angekommen. Zu ihren Füßen breitete sich eine große blumige Wiese aus,
die im weiten Halbkreis von einem hallenartigen Gebäude abgeschlossen wurde.
58
„Heute bekommen wir einen schönen Tag. Die Windrichtung lässt uns hoffen“, sagte David.
„Der Midgard hat drei Monde, die oft zur gleichen Zeit
sichtbar sind. Die Wellen und Wogen unseres Luftmeeres, trotz
größerer Dichte, wechseln schneller als auf der Erde, die ja nur
einen Mond besitzt. Unsere Wetterfrösche haben daher weit
schwierigere Aufgaben zu lösen als die auf der Erde. Vor einem
Jahr ist zum Beispiel bekannt gegeben worden, dass am heutigen
Tag die Sonne scheint und keine Niederschläge eintreten werden.“
„Wir werden es nicht erleben", meinte Frischmann, „denn
solange können wir nicht hier bleiben. Auf der Erde liegen wir in
Koma, ohne zu sterben."
„Vielleicht wollen Sie in dieses Jammertal, das Erde genannt wird, gar nicht mehr zurück, wenn Sie hier mehrere Stunden gewesen sind", antwortete David.
„Aber dann wären wir ja tot. Übrigens, da fällt mir etwas
ein. Sie haben mir beim letzten Mal nicht auf meine Frage geantwortet. Wieso darf Clara so schnell wieder geboren werden
und die anderen nicht?“
„Clara ist ermordet worden. Sie ist ein Opfer. Diese Menschen dürfen sofort wieder geboren werden.“
„Und Selbstmörder? Wie steht es mit ihnen?“ fragte Helena.
„Selbstmörder? Warum fragen Sie?“
59
„Nur so. Interesse halber.“
„Selbstmord ist Sünde."
„Sünde? Sie reden von Sünde und glauben an keine Religion. Wie das?“ fragte Frischmann.
„Ich sehe schon, Sie haben nicht begriffen, was ich damals
sagen wollte. Aber wenn Sie länger hier bleiben werden, wird
Ihnen so nach und nach einiges klar werden. Die Gesetze des
Midgard sind unumstößlich. Wir jagen Selbstmörder nicht davon,
wenn sie sich unseren Planeten ausgesucht haben, um wiedergeboren zu werden. Doch sie müssen ihre Läuterung durchlaufen,
wie alle anderen auch. Ihre Seelen werden ..."
„Seelen?“ Frischmann lachte höhnisch.
„Schon wieder Seelen. Die Erdenmenschen haben keine
Seelen, sie sind nur Maschinen, glauben Sie mir.“
„Mag sein. Sie können sich mit Maschinen vergleichen,
doch vergessen Sie eins nicht. Die Maschine besteht aus dem
Material, aus dem sie gebaut ist, aus der Kraft, die sie treibt und
aus dem wichtigsten Bestandteil, aus der Idee, welche ihr zugrunde liegt. Dieses ist ihr ICH, ihre Seele. Es ist also ebenso wie
bei jedem Lebewesen, und deshalb ist der Vergleich zwischen
Maschinen und Menschen kein ganz unrichtiger. Nur vergisst
man in der Regel die Idee bei der Maschine, obgleich sie ihre
Grundlage und ihr Ursprung ist. Die Schöpfungen des Menschen
besitzen kein selbstständiges Denkvermögen, kein Leben, ein
Umstand, der als evidenter Beweis für das ursprüngliche Vor60
handensein der Seele zu betrachten ist. Wäre zunächst der Körper
und träte das Denkvermögen erst als sein Produkt in die Erscheinung, so wäre es unseren Chemikern längst gelungen, eine einfache Zelle durch Mischung der Elemente zu erzeugen. Da aber der
Geist der Urheber der Materie ist, so kann man natürlicherweise
auch in der raffiniertesten Mischung der Elemente oder in den
genialsten Mechanismus kein selbstständiges Leben erwecken.
Während wir mit unserem Geist die Materie, sein Produkt,
meistern, können wir nicht ihn selbst mit seinem eigenen Erzeugnis hervorrufen. Der Mensch wird daher niemals etwas anderes als einen Mechanismus produzieren können, nach dessen
allerdings unsterblicher Idee, solange sie bekannt ist, die gleiche
Maschine immer wieder aufgebaut werden kann."
„Wie herrlich die Sonne scheint", sagte Helena, die die belehrenden Ausführungen allmählich langweilten.
„Dieser herrliche Duft von den Wiesen und Feldern. Und
sehen Sie nur diese vielen Käfer und Insekten. Hören Sie mal!"
Frischmann lauschte den Tönen, die aus dem Tal empordrangen. Fanfaren, Weckrufe vermischten sich mit dem Gesang
der Vögel. Jetzt kam eine Gruppe junger Männer heran und sie
begannen, rasch auf der großen Wiese ein Podium aufzubauen.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Sie blickten aufwärts. In
großer Höhe über ihnen schwebten Flugapparate, und aus der
Ferne kamen immer mehr. Ein Zischen, Rauschen und Sausen
erfüllt die Luft, als die Ersten landeten.
„Wunderbar", schwärmte Helena.
61
„Keiner stößt mit dem anderen zusammen. Sie landen
wohl auf der anderen Seite des Gebäudes? Das gibt es doch gar
nicht."
Helena sah auf das Flugzeug, das wie ein ICE-Zug aussah
mit seinen aneinanderhängenden Wagen.
„Ja, das sind unsere neuesten Erfindungen, die MIFZ.
Beim Aussteigen gibt es kaum Probleme oder Unfälle, anders
beim Aufsteigen. Viele Flugzeugführer wollen besondere Steuerfertigkeit zeigen und beweisen, dass alle Wagen mit einem Mal
aufsteigen können. Das gelingt aber nicht immer, und so kommt
es immer noch häufig zu Zusammenstößen oder Unfällen. Unsere
Wissenschaftler an den Universitäten sind bemüht, die Fehler zu
finden und rasch abzustellen.“
„Was heißt MIFZ?“
David lachte.
„Ganz einfach: Midgard-Fahrzüge.“
Inzwischen trafen immer mehr Luftfahrzüge ein. Frischmann und Helena schien es, als ob sie alle verschieden wären.
Form, Farbe, innere Einrichtung und die elektronischen Mittel
zur Fortbewegung, wechselten und waren ebenso vielgestaltig
wie die Zahl der Fahrzeuge überhaupt, die Frischmann auf circa
dreihundert schätzte.
„Diese Fahrzeuge möchte ich doch zu gerne aus der Nähe
sehen“, sagte Frischmann.
62
„Vielleicht kann man sie auf der Erde nachkonstruieren.“
„Sie sind schon auf dem besten Weg dazu und bereits Ihre
nächste Generation wird die Luft als Hauptverkehrsstraßen benutzen.“
„ICE in der Luft?“, fragte Helena lachend.
„Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Ich frage mich, wie diese Fahrzeuge in der Luft bleiben können?"
„Unser Midgard ist bedeutend größer als die Erde, so haben wir auch eine weit höhere Atmosphäre, die unseren Planeten
umgibt. Diese Umstände und die stärker wirkende Anziehungskraft ist die Ursache größerer Dichte der Luft an der Oberfläche
des Midgard. Dadurch ist das Gasmeer tragfähiger als das der
Erde. Schon vor mehreren Tausend Jahren gelang es den Bewohnern des Midgard, sich in die Luft zu schwingen. Jetzt gibt es so
viele verschiedene Arten von Luftfahrzeugen, dass es unmöglich
ist, alle Prinzipien aufzuzählen, auf denen sie beruhen. Die Natur
hat ja auch nicht nur die Vögel mit der Fliegenkunst ausgestattet.
Nicht nur die Insekten, Vögel können fliegen. Denken Sie auch
an die zahlreichen Arten der Meerestiere, die fliegen können. Wir
haben hier menschenähnliche Tiere, die schwimmen können wie
die Fische, waten wie die Störche, klettern wie die Affen und
fliegen wie die Schwalben.
Die Natur hat sie mit all diesen Eigenschaften durch geeignete Organe ausgestattet, ohne eins auf Kosten des anderen zu
vernachlässigen. Als diese tierischen Geschöpfe des Midgard haben auch noch in der Nacht sehen konnten, war kein Tier mehr
63
vor ihnen sicher. Wir mussten also gegen die Vermehrung dieser
Übertiere einschreiten.“
„Und wie haben Sie das gemacht?“, fragte Helena.
„Man kann doch Tiere nicht durch Gesetze verhindern,
Nachkommen hervorzurufen!“
„Nein, das nicht, aber man kann die Jungen gleich nach
der Geburt töten.“
„Und das macht man hier?“, rief Frischmann entrüstet.
„Pfui, da sind Sie ja keinen Deut besser als die Erdenmenschen.“
„Das würde ich nicht meinen", sagte David und Frischmann hörte das erste Mal so etwas wie Ärger aus Davids Stimme
heraus.
„Die Tiere sind noch so klein, dass sie nichts merken,
wenn sie schmerzlos getötet werden. Die Menschen aber versuchen an lebenden Tieren ihre Experimente. Sie quälen sie, brechen ihnen die Knochen beim lebendigen Leib oder operieren sie
ohne Narkose. Ich habe viel gesehen und gehört, als ich noch ein
Mensch war. Aber lassen wir das. Sehen Sie, das Fest beginnt.“
Sie sahen, wie die Gäste in die Halle strömten und sich
dann vor das Podium gruppierten.
„Gehen wir auch zu ihnen, damit Sie sehen, aus welchem
Anlass dieses Fest gegeben wird“, sagte Helena.
64
„Es scheinen nur MIDGARDS da zu sein“, sagte Frischmann, als er sich mit David und Helena zu der Menge bewegte.
„Immer nur die höchsten Schichten, wie bei uns auf der
Erde.“
David lachte gutmütig.
„Nein, es sind auch GARDAS da. Und unsere GARDAS
kennen weder Hochmut noch Neid oder sind von der Sucht nach
Geld und Macht besessen, wie das allgemein bei der Gesellschaft
auf der Erde üblich ist.“
Frischmann warf einen Blick in die Gesichter der Mädchen und Frauen. Wie schön sie alle sind und wie hübsch und
modisch gekleidet, dachte er. Alles dezent und mit auserlesenem
Geschmack.
„Sie sollten sich die Kopf- und Gesichtsbildung der Damen und Herren anschauen“, meinte David, der natürlich die Gedanken von Frischmann gelesen hatte und sich darüber amüsierte.
„In ihren Zügen liest man außerordentliche Intelligenz.
Und sehen Sie nur, wie lebendig und sprühend sie sich unterhalten.“
„Was gibt es denn so Weltbewegendes oder sagen wir
Midgard bewegendes zu berichten?“, fragte Helena.
„Der Staat Skratina hat heute hier seinen Bundestag. Die
Abgeordneten kommen aus allen Teilen des Landes.“
65
„Wie groß ist denn das Land?“, fragte Frischmann interessiert.
„Ungefähr wie euer Europa auf der Erde. Viele von den
hier Versammelten sind GARDAS, die berufene Vertreter im
Bundestag sind. Einen Gegensatz zwischen Volk und Regierung,
wie es ihn auf der Erde gibt, haben wir schon seit Jahren abgeschafft. Alljährlich Jahr findet in jedem Distrikt eine Neuwahl
des obersten Beamten statt. Es kann eine Frau oder ein Mann
sein. Der oder die Berufene können zehn Jahre lang hintereinander immer wieder gewählt werden, danach ist aber die Wiederwahl unzulässig.
Diese Distriktsobmänner wählen den an der Spitze des
ganzen Landes stehenden Führer, den Bundeskanzler. Ihm werden alle Wünsche zur Vorlage auf dem großen internationalen
Weltparlament der Länder, übertragen.“
„Die Leute versammeln sich hier im Freien, hier ist keine
Stadt in der Nähe. Wo bleiben sie in der Nacht?“
„Kein Problem. Entweder sie schlafen in dem Gebäude da
drüben oder sie fahren mit eins der Luftfahrzüge nach Hause. Die
heutige Tagung dauert aber nicht den ganzen Tag. Es werden nur
einige Gesetze verlesen, die meistens widerspruchslos angenommen werden. Aber sehen Sie, Frischmann, dort kommt der
Bundeskanzler mit seiner Frau.“
Frischmann wandte den Blick zu dem Paar, das jetzt auf
das Podium stand.
66
„Malve und Lanus?“, fragte er voller Staunen.
„Ja. Lanus wird gleich etwas vorlesen.“
Frischmanns Blick war auf Malve gerichtet, die hochschwanger war. Fasziniert sah er durch ihren Leib, sah jede Einzelheit von dem kleinen Wesen im Mutterleib.
Man gab Lanus ein Blatt Papier und er begann in einer
Sprache zu sprechen, die Frischmann und Helena nicht verstanden. Es klang wie halb französisch, halb Latein.
„Ich verstehe nichts“, sagte er.
„Sie sind noch nicht so weit, doch in ein paar Monaten
werden Sie alles verstehen, was auf dem Midgard gesprochen
wird.“
„Sprechen denn in dem Land Skratina alle eine Sprache?“
„Ja. Das war das Erste was die Sprachgelehrten abgeschafft haben. Sie haben in Skratina eine Sprache eingeführt, was
in allen Schulen gelehrt wird. Außerdem haben die Gelehrten ein
internationales Verständigungsmittel ausgearbeitet, eine sogenannte MG-Sprache, die auf dem ganzen Midgard verstanden
wird. Man kann sich also auf dem Midgard an jenem beliebigen
Ort mit jedem, den MIDGARDS, den GARDAS und den ERMES unterhalten. Daneben hat man noch Landessprachen und
Dialekte, soviel man mag."
„Gibt es überall Schulen?"
67
„Selbstverständlich. Der Unterricht ist Sache der Allgemeinheit. Es herrscht absoluter Schulzwang, der mit unnachsichtiger Strenge durchgeführt wird. Gerade in diesem Moment liest
Lanus einen Beschluss vor.“
„Was sagt er sagen Sie es mir!“
„Der Schulunterricht der männlichen Jugend wird auf
fünfzehn Jahre, die der Mädchen auf zehn Jahre beschränkt. Die
Frau soll zwar einen Beruf erlernen und auch ausüben, aber sich
doch darauf besinnen, dass die Natur sie in erster Linie für Nachkommenschaft und Mutter geschaffen hat. In den letzten Jahren
ist ein hoher Geburtenrückgang zu verzeichnen, die Frauen wollen nicht mehr gebären, Kinder zur Welt bringen.“
„Und warum nicht? Auf der Erde sind es oft materielle
Erwägungen, aber hier? Sie sagten doch, alle wären gleichgestellt. Not und Elend gibt es nicht. Was also ist der Grund?“
„Wie Sie selbst sehen können, sind unsere Frauen unvergleichlich schön. Durch Geburten verändert sich oft der Körper.
Er wirkt nicht mehr so straff, jugendlich. Unsere Frauen wollen
immer schön und begehrenswert sein und bleiben bis ins hohe
Alter. Sie hassen unschöne Gestalten.“
„Ein schöner Mensch hat es leichter, das stimmt schon",
erwiderte Frischmann.
„Das ist auch bei uns auf der Erde so. Doch, was ist mit
der Schönheit des Wesens, den Adel der Seele?"
68
„Also glauben Sie doch an die Seele“, unterbrach David
ihn lachend.
„Ich sehe schon, wir kommen uns allmählich näher.“
„War das schon alles, was Lanus sagen wollte?“
„Nein, nein. Die Regierung hat nun, um die Geburtenfreudigkeit wieder zu forcieren, ein Gesetz erlassen.
Jedes Mädchen oder Frau, die mit behördlicher Genehmigung ein Kind zur Welt bringt, kann nach ihrer Geburt sofort
kostenlos einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Schön- und
Gesundheitsfarm verbringen. Außerdem wird ihr für die Geburt
zu ihrem üblichen Unterhalt ein ziemlich großer Betrag bewilligt.
Eine sogenannte Geburtenprämie, die sich bei jedem nachfolgendem Kind steigert.“
„Und wer bezahlt die Beträge?“, fragte Helena.
„Die Midgardkasse“, antwortete David.
„Jedes Land verfügt über eine solche Kasse.“
„Nicht schlecht. So etwas wäre auch bei uns zu überlegen“, meinte Frischmann und blickte wieder zu Lanus, der immer
noch sprach.
„Was sagt er jetzt?“
„Er berichtet von Hilfsgütern, die in Länder gebracht werden müssen, die ständig von Orkanen und Erdbeben heimgesucht
werden. Sie wollen es mithilfe der neuen Luftzüge tun.“
69
„Warum ist der Midgard so reich?“, fragte Frischmann.
„Der Midgard erzeugt wie die Erde Nahrungsmittel in
Hülle und Fülle. Allerdings in viel größeren Mengen. Allein unsere Meere sind imstande, Menschen in viel größerer Zahl, als es
jetzt gibt, zu versorgen. Wir haben schwimmende Inseln gebaut,
die an bestimmten Gebieten im Ozean verankert sind. Von jeder
dieser Inseln fischen wir in einer Größenordnung von circa zweitausend Quadratkilometern. Durch unsere modernen Flugzeuge
werden die Fänge täglich an die Orte gebracht, in den die Nahrungsstoffe verbraucht werden. Jeder Einwohner bekommt kostenfrei Fischfleisch, soviel wie er benötigt. Andere Dinge, die mit
aus dem Meer gefischt werden, wie Perlen, Schwämme oder Leckerbissen, wie Kaviar und Austern werden zugunsten der
Staatskasse verkauft.
Der Erlös bringt so viele Einnahmen, dass die Staatskasse
kaum noch andere Quellen zur Deckung aller Ansprüche, die an
sie gestellt werden, bedarf. Arbeitskräfte und Arbeit sind auf dem
Midgard in Hülle und Fülle. Jeder sollte bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr arbeiten, außer natürlich den Müttern, wie ich bereits sagte. Dann kann er weiter arbeiten oder aufhören, wie er
möchte. Unsere Leute leben nicht, um zu arbeiten. Unsere Menschen arbeiten aus Vergnügen an der Sache. Hinter ihnen steht
kein Druck.“
„Kommunismus, pur!“ spöttelte Helena.
„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Es ist eben so.“
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„Und wie sieht es mit dem Lohn aus? Gibt es Münzen oder Papiergeld oder was?“
„Geld, wie es auf der Erde gibt, wurde schon lange bei uns
abgeschafft. Die Regierung hat ein Material anfertigen lassen,
dessen Nachahmung völlig ausgeschlossen ist. Aus diesem Material werden sogenannte Bundesschatzbriefe in mehreren Farben
herausgegeben. Dieses Geld ist überall auf dem Midgard gleich.
Man erhält es in Höhe seines Guthabens sofort. Geld hat aber
keinen Wert an sich und kann nicht Zinsen tragen oder im Kurs
steigen oder fallen. Die Kaufkraft einer bestimmten Summe ist
natürlich nach dem Wert der Ware verschieden. Die Ausartungen
durch Konkurrenzen, wie sie auf der Erde tagtäglich passieren,
sind bei uns nicht mehr an der Tagesordnung, weil ja die staatlichen Mittel zur Existenz jedermann vor der äußersten Notlage
schützen.“
„Das ist anerkennenswert", lobte Frischmann.
„Mich interessiert noch etwas anderes. Gibt es auf dem
Midgard ein Verlagswesen?“
„Sie meinen, ob wir Bücher lesen? Aber ja. Bücher sind
bei uns sehr beliebt. Das Lesen ist eines der wichtigsten Hobbys
der Leute.
Nur sind unsere Bücher in der MG-Schrift geschrieben, die
jedes Land lesen kann.“
„Wie sieht so eine Schrift eigentlich aus?“
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„Nun, wie eine Art Spiegelschrift, aber man liest sie nicht
von links nach rechts, sondern von oben nach unten.“
„Verstehe. Und gibt es bei euch auch Verbrecher?“
„Leider ja.“
„Was geschieht mit ihnen?“
„Gangster oder Diebe, sind sie nicht besserungsfähig,
kommen auf unsere so genannten „coolen Inseln“. Sie befinden
sich im Ozean mit einem verhältnismäßig immerwährenden kühlen Klima.“
„Warum sperrt man sie nicht in Gefängnisse?“, fragte Helena verwundert.
„Gefängnisse? David lachte.
„Die gibt es schon Jahrzehnte nicht mehr.“
„So sperren Sie auch Mörder, Kinderschänder nicht ein?“
„Gott sei Dank gibt es von dieser Gattung nur noch wenige. Diese Verbrecher kommen etliche Jahre in ausbruchsichere
psychiatrische Kliniken, werden dort behandelt. Sollte wider Erwarten doch mal einer dieser Täter nach seiner Entlassung rückfällig werden, wird er nach Abstimmung eines großen Ärztegremiums, schmerzlos getötet.“
„Todesstrafe?“, fragte Frischmann entsetzt.
„Finden Sie das richtig?“
72
„Ja, absolut.“
„Und die kleinen Gangster und Diebe, wie lange müssen
sie auf den „coolen Inseln" bleiben?"
„Wenn sie das erste Mal etwas gestohlen oder jemanden
Unrecht getan haben, werden sie verwarnt.
Das zweite Mal werden sie an den öffentlichen Pranger gestellt, zum Beispiel die ganze Gegend oder das Dorf weiß über
denjenigen Bescheid. Und beim dritten Mal kommt der Übeltäter
auf die Insel. Je nach Schwere des Verbrechens wird jedes Jahr
geprüft, ob sich der Täter gebessert hat oder nicht. Dabei gelten
sehr strenge Maßstäbe.“
„Wie sehen Ihre Polizisten, Gerichte, Behörden aus?“,
fragte Frischmann und folgte Davids Blick, der gespannt in eine
Richtung schaute.
„Lanus hat soeben seine Vorlesung beendet", unterbrach
David den Frager. „Er hält jetzt noch eine kurze, freie Ansprache,
in welchem er den Blick nach oben richtet und den Versammelten damit zeigt, dass der Weg der Midgardwesen nur nach oben,
zum Vorwärtsstreben zeigt.“
Frischmann sah, dass ein Mann rasch auf Lanus zueilte
und ihm einen Fetzen Papier in die Hand drückte. Lanus las es
und sagte etwas kurz.
Ein Raunen ging durch die Menschenmassen und sie begannen, wild zu gestikulieren.
73
„Was ist jetzt schon wieder?“, wollte Frischmann wissen.
„Die Meteorologen haben eine Erschütterung der Midgardkruste gemeldet. Es soll genau hier, an dieser Stelle geschehen.
Die Sonne steht im Zenit. Es ist Eile geboten. In etwa dreißig
Minuten ist es soweit.“
Frischmann starrte auf die Menschenmassen, die sich
wieder beruhigt hatten und sorglos lachend nach und nach auseinandergingen.
„Warten Sie einen Moment", sagte David und eilte rasch
zu einem Herrn, der in der Nähe des Podiums stand und sich mit
Lanus unterhielt. David sprach eine Weile mit dem Mann, und
als der nickte, kam David wieder zu Frischmann zurück.
„Wir gehen jetzt zu dem Luftfahrzug des Herrn“, sagte er
und wies mit dem Kopf in die Richtung, wo der Mann stand.
„Er hat uns drei Plätze zur Verfügung gestellt. Bei dieser
Gelegenheit können Sie sich das Fahrzeug ansehen. Wir haben
noch einige Minuten Zeit, bis das Beben beginnt.“
Wie ein großer Schwarm von Riesenvögeln erhoben sich
fast alle Flugobjekte im gleichen Moment. Hier und da gab es
zischende und knatternde Geräusche, dann verlor sich der Lärm
in der Luft.
Frischmann beobachtete den Piloten, einen großen blonden Mann mit der Figur eines Herkules. Daneben saß eine zierliche Frau mit langen roten Haaren. Beide waren in schneeweiße
Gewänder gekleidet.
74
Ein Eisbär und ein Schmetterling dachte Frischmann.
David lächelte. „Ein guter Vergleich. Es sind GARDAS
von einem Stamm, der auf dem Midgard deswegen Berühmtheit
erlangt hat, weil er die männlichsten Männer und die weiblichsten Frauen besitzt.“
Helena und Frischmann staunten über die Innenausstattung
des Flugfahrzuges. Sie war, ähnlich wie in einem der ICE nur die
Sitze verfügten über seltsam geformte Sessel, die sich der Körperform anpassten. Wie in einem Wasserbett dachte Frischmann
und berührte das Material der Seitenwände. Es war aus einem
eigenartigen Metall, das sich wie dicke Folie anfühlte.
Ein Sturm hatte sich erhoben, der Vorbote des Bebens.
Frischmann sah aus dem Fenster. Bäume wirbelten durch
die Luft.
„Hoffentlich stürzen wir nicht ab“, flüsterte Helena, nun
doch etwas ängstlich geworden.
David lachte. „Haben Sie schon mal gehört, dass ein Fisch
mitten im Ozean durch heftigen Wogengang beschädigt worden
wäre? Oder, dass ein Vogel hoch oben im Luftmeer vom Sturm
belästigt werden kann?“
Helena hörte nur noch mit halbem Ohr zu, er blickte unverwandt zu dem Piloten, der weder irgendwelche Anzeichen
von Angst oder Unruhe zeigte. Sicher lenkte er sein Fahrzeug
durch die Windstrudel.
75
Sie sahen wieder in die Tiefe, sahen die Erschütterungen
des Bodens, die sich wie Wellen immer zu wiederholen schienen.
Ein krachendes Geräusch war zu hören. Das Gebäude um den
Versammlungsplatz, das sie vor wenigen Minuten verlassen hatten, war wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Eine gewaltige
Staub- und Rauchwolke stieg hoch.
„Die armen Leute“, sagte Helena, „sie wurden alle erschlagen.“
„Sie irren! Es befand sich niemand mehr an diesem Ort.
Jeder ist geflüchtet, die meisten mit den Luftfahrzeugen, als das
Beben begann.“
Plötzlich wurde es stockdunkel im Fahrzeug. Eine
schwarze Wolke umhüllte alles.
„Da, ein schweres Gewitter zieht herauf!“, schrie Helena
ängstlich.
„Wir werden in dieser rabenschwarzen Wolke ersticken!
Ich kann ja niemand mehr sehen, alles ist in tiefste Nacht gehüllt.
Max, wo bist du?“
„Wir müssen hinauf! Über der Finsternis ist der hellblaue
Äther!
76
Nicht vorwärts, sonst kommen wir aus dem dichten Nebel,
aus der endlosen, wasserschweren, schwarzen Wolke nicht heraus! Nicht vorwärts! Nicht vorwärts! Aufwärts! Aufwärts! Aufwärts!“
*
77
V.
„Ich habe meinen Vater umstimmen können!“, verkündete
Helena schon von Weitem zu Frischmann.
„Er ist mit unserer Hochzeit einverstanden!“
Frischmann zog die junge Frau an sich und küsste sie auf
den Mund und zog sie sanft in eine Fensternische gegenüber der
Tür zum Gerichtssaal.
„Ich bin sehr glücklich, Max“, sagte sie zärtlich.
„Wir werden ein schönes Leben führen.“
Sie gingen in den Gerichtssaal. Heute war die Verhandlung
gegen das Ehepaar Lehmann.
Sie setzen sich in die zweite Reihe.
„Ich glaube nicht, dass die beiden etwas mit dem Mord an
deiner Frau was zu tun haben“, flüsterte Helena ihm zu.
„Haben sie auch nicht.“
Die ersten Zeugen wurden aufgerufen. Das Kindermädchen Anna war an der Reihe. Sie machte ihre Aussagen, als sie
plötzlich Frischmann und Helena entdeckte. Sie sah, dass
Frischmann Helenas Hand hielt. Einen Augenblick stockte sie,
dann zeigte sie mit dem Finger auf Frischmann und sagte:
78
„Ich bin mir sicher, dass die Familie Lehmann nichts mit
der Ermordung von Clara Frischmann zu tun haben, aber dieser
Mann dort … dieser Mann, Franz Frischmann hat seine Frau ermordet!“
Helena schrie leise auf und sah Frischmann an.
Der Vorsitzende fragte Anna, wie sie zu dieser Annahme
komme.
„Ganz einfach“, sagte sie.
„Er bringt jede Frau um, mit der er etwas hat. Mit mir
wollte er auch etwas anfangen, aber ich konnte mich rechtzeitig
wehren …Dieser Mann ist sexsüchtig … wahnsinnig … verrückt.“
„Zeuge Frischmann in den Zeugenstand!“, rief jetzt der
Gerichtsdiener.
„Hier!“, sagte Frischmann und stand auf und trat zögernd
in die Mitte des Raumes.
„Antworten, durch die Sie sich selbst strafrechtlichen Verfolgungen aussetzen“, sagte der Richter, „können Sie verweigern.“
„Dann werde ich überhaupt nichts aussagen“, erklärte
Frischmann mit lachender, heiterer Miene und alle Anwesenden
starrten ihn mit grenzenlosem Staunen an, wie wenn sie einen
Wahnsinnigen vor sich hätten.
79
Während seiner epileptischen Dämmerzustände, die mit
langer körperlicher Ohnmacht verknüpft waren, hatten die außerordentlichen seelischen Aufregungen bei Frischmann die Ebene
des Unterbewusstseins sogar im Wachen ausgelöst.
„Sie müssen uns Rede und Antwort stehen“, sagte der Vorsitzende im schroffen Ton.
„Erzählen Sie uns, was sie von dem Mord an Ihrer Gattin
wissen!“
Frischmann lachte fröhlich. Wie in einem Sektrausch
blickte er sich belustigt um.
„Es würde Ihnen sehr gefallen, wenn ich meine ehelichen
Geheimnisse hier vor aller Welt offenbarte!“, lallte er.
„Hahaha! Ich denke nicht daran! Nur noch eins, die beiden
Leute auf der Anklagebank sind unschuldig! Sie haben mit der
ganzen Sache nichts zu tun!“
Der Vorsitzende sprang erregt auf.
„Dann sind Sie wohl selbst der Mörder?“
„Darauf brauche ich nicht zu antworten“, lallte Frischmann.
„Aber ich antworte trotzdem. Meine Clara starb, weil ich
sie zu sehr gedrückt habe.“
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„Was heißt das, zu sehr gedrückt?“, fragte der Vorsitzende.
„Nun, wir liebten uns. Unser Liebesspiel war immer grenzenlos leidenschaftlich. Wir beide waren sehr leidenschaftlich.
An diesem Abend war ich verrückt vor Leidenschaft. Ich presste
sie an mich, anscheinend zu stark. Plötzlich sank sie nach hinten.
Ich schüttelte sie, rief ihren Namen, aber sie sagte keinen Mucks
mehr. Da merkte ich, dass ich sie umgebracht hatte. Ich hatte sie
erwürgt.“
Im Gerichtssaal herrschte Stille. Dann sagte der Vorsitzende ruhig:
„Angesichts dieses Eingeständnisses des Mordes an seiner
Frau beantrage ich die Verhaftung des Zeugen Frischmann!“
Staatsanwalt und Vorsitzende nickten sich zu, dann wurde
Frischmann abgeführt.
Als die Polizisten ihn am Arm packten, sagte er leise:
„Herr Vorsitzender, lassen Sie mir diesen einen Tag noch.
Ich muss unbedingt heiraten!“
Der Vorsitzende fuhr ihn mit scharfer Stimme an:
„Sie haben soeben unter Eid ausgesagt, dass Sie Ihre Frau
ermordet haben und jetzt wollen Sie schon wieder heiraten?“
„Meine Frau umgebracht? So ein Unsinn, ich weiß nicht
davon!“ entgegnete Frischmann betroffen und verlegen.
„Oder sollte ich es doch getan haben?“
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„Alle, die sich im Saal befinden, sind Zeugen Ihres Eingeständnisses geworden!“, rief der Vorsitzende.
„Lassen Sie mir noch einen Tag, Herr Vorsitzender. Einen
einzigen Tag!“
„Nein, Herr Frischmann, das Gericht hat die Verhaftung
bereits verfügt!“
Frischmann riss sich von den Polizisten los und jagte auf
Helena zu, die mit schneeweißem Gesicht auf ihrem Platz saß
und sich nicht rühren konnte.
„Helena! Helena! Man will mich verhaften, weil ich Clara
ermordet habe! Helena, Helena, ich kann dich nicht heiraten!“
Ächzend fiel er zu Boden, fing wie wild an zu zucken,
dann war er still.
Nur mit Mühe konnte man Helena, die aufgesprungen und
zu Frischmann gelaufen war, von dem scheinbar leblosen
Frischmann wegreißen. Sie wollte den geliebten Mann nicht verlassen. Zuletzt wurde sie von Polizisten festgehalten, während
andere Polizisten Frischmann forttrugen. Man brachte ihn in das
Gefängniskrankenhaus.
Helena wankte wie eine Betrunkene nach draußen, rief ein
Taxi und fuhr in Frischmanns Wohnung.
Die Kinder weinten, als Helena ihnen erzählte, dass ihr
Stiefvater nicht nach Hause kommen würde.
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„Beruhigt euch, Kinder. Ich bleibe bei euch, bis er wieder
kommt.“
Sie machte den Kindern Abendessen und brachte sie ins
Bett. Dann ging sie ins Gästezimmer und legte sich aufs Bett. Sie
hatte nur die Schuhe ausgezogen, alles andere hatte sie anbehalten. Eine unsagbare Müdigkeit hatte sie überfallen und sie schlief
ein.
*
Zu ihrer Verwunderung sah sie ihren eigenen Körper lang
ausgestreckt auf einem Bett liegen, als wäre sie gestorben.
„Es ist doch sonderbar, dass ich mich selbst betrachten
kann wie durch einen Spiegel“, sagte sie zu sich und dachte an
Frischmann, dessen Anwesenheit sie kurz danach empfand.
„Mein Leib ruht im Gefängniskrankenhaus unter scharfer
Bewachung“, sagte er ohne irgendwelche Erregung.
„Die Freiheit werde ich auf Erden wohl nie wieder zurück
bekommen. Auf Mord steht lebenslange Haft.“
„Hast du Clara wirklich umgebracht?“, fragte Helena leise,
aber ohne jegliche Regung von Abscheu oder Schrecken.
„Meine Frau starb unter meinen Händen“, antwortete er.
„Jedes Mal, wenn ich mit ihr schlief, packte mich eine derartige Leidenschaft, dass ich fast ohnmächtig wurde. Ich war gerade in sie eingedrungen und sie fühlte sich so herrlich weich, so
fantastisch an.
83
Es war ein so irres Gefühl. Als mein Orgasmus nahte, umklammerte ich sie und drückte wohl zu fest zu. Sie wehrte sich,
aber ich dachte, sie sei ebenso leidenschaftlich verrückt nach mir,
wie ich nach ihr. Dann, als ich wieder bei klarem Verstand war,
sah ich, was ich angerichtet hatte. Ich floh aus dem Haus und irrte umher. Ich konnte nicht fassen, wie das passieren konnte.
Nach meiner Rückkehr wurde mir die ganze Schwere meiner
Schuld bewusst. Ich hatte meine geliebte Frau umgebracht, hatte
meinen Stiefkindern ihre Mutter genommen. Meine Nerven waren am Ende der Kraft und dann bekam ich diesen ersten Anfall.
Im Traum landete ich auf dem Midgard und traf Claras ersten
Mann wieder. Clara ist auf Erden tot, aber dort oben wird sie
wieder geboren. Lass uns hier bleiben, Helena. Lass und bleiben
und hier leben!“
„Ja, ich wäre bereit, Max. Wir könnten hier leben. Was
wollen wir noch auf der Erde?“
„Clara verlässt den Schoß der Mutter“, sagte David zu seinen beiden Gästen.
„Das ist doch trübe, finstere Nacht. Ich sehe Malve nicht.
Wo ist sie?“ fragte Helena.
„Der Wind heult furchtbar. Hoch oben in den Lüften jagen
Wolken eilig vorüber und verhüllen das Firmament. Doch da, ein
Lichtmeer auf dem Land!“ rief Frischmann.
„Da ist ein Wald mit uralten Bäumen und in seiner Mitte
befinden sich viele palastartige Gebäude.“
84
„Dort wohnen Lanus und Malve.“
„Lasst uns hingehen!“, sagte Helena.
„Ich will Malve sehen, wenn sie ihr Kind bekommt.“
„Sehen Sie, Lanus betritt Malves Zimmer“, sagte sie.
„Er begrüßt seine Gattin, nimmt sie am Arm und begleitet
sie in das andere Zimmer. Dort befindet sich alles, was für die
Geburt notwendig ist. Ein Bett, Bad, Instrumente aller Art.“
Frischmann sah, wie zwei Männer mit langen schwarzen
Bärten in den Raum traten, sich die Hände am Waschbecken wuschen und erwartungsvoll stehen blieben.
Als Malve und Lanus eintraten, verbeugten sie sich höflich
und sagten etwas zu ihnen.
„Wer sind sie?“, fragte Frischmann leise.
„Zwei der besten Geburtshelfer auf dem Midgard“, sagte
David.
Lanus verließ den Raum und Malve begann, auf und ab zu
gehen. Sie schien Schmerzen und Schwäche zu empfinden, wollte sich auf das Bett legen, doch einer der Männer hinderte sie daran. Er nahm sie am Arm und lief mit ihr im Raum auf und ab.
„Gleich wird es soweit sein“, flüsterte David.
„Nach Voraussagen der Ärzte muss das Kind in zehn Minuten kommen.“
85
Frischmann, dem das Zusehen der Kreißenden peinlich
wurde und der nicht mit ansehen konnte, wenn jemand Schmerzen hatte, wandte sich David zu.
„Es ist schon ein seltsames Gefühl sehen zu müssen, wie
eine Frau, die man kannte, als Säugling wieder geboren wird.
Wird Clara mich wiedererkennen, David?" fragte er und blickte
wieder in das Zimmer hinein, wo Malve immer noch hin und her
lief.
„Nach zehn bis fünfzehn Jahren schon und in ihrer Erinnerung wird vieles auftauchen, was sie vor ihrer Geburt während
ihres Erdendaseins erlebt hat.“
„Sehen Sie nur, das Kind ist geboren!“, rief Helena, die
beiden unterbrechend.
„Ist es ein Mädchen?“, rief Frischmann aufgeregt.
„Bleiben Sie ruhig, Frischmann“, warnte David.
„Womöglich wachen Sie auf und müssen auf die Erde zurück!“
„Ist es Clara?“
„Ohne Zweifel. Sehen Sie doch nur. Jetzt schlägt das Kind
die Augen auf. Es sind Claras Augen."
86
„Muss man bei der Wiedergeburt eigentlich geboren werden, wie man war, oder kann man auch als etwas anderes geboren werden, zum Beispiel, ich als Frau?“, fragte Frischmann gespannt und beobachtete einen der Ärzte, die das Kind badeten
und in ein weißes Tuch wickelten.
„Der Wille ist ausschlaggebend. Hat eine Frau den heißen
Wunsch, ein Mann zu werden, so geschieht es bei der Wiedergeburt, ebenso umgekehrt.“
„Demnach wäre der Wille allmächtig, er kann bewirken,
dass jeder hier als Midgards geboren werden kann?“, fragte
Frischmann.
„Wenn die geistigen Fähigkeiten in der Seele vorhanden
sind, schon. Der Wille überwindet Not und Tod. Er besiegt alle
Hindernisse und Gefahren. Wer einfach so dahin lebt ohne Streben nach Höherem, der stirbt, und kehrt immer in der Form wieder, die er verlassen hat. Wer sich aber ein Ziel setzt und fest daran glaubt, der erreicht es.“
Sie sahen, wie mehrere Frauen und Männer in das Geburtenzimmer traten. Sie beglückwünschten Malve und bewunderten
das Baby.
„Wer sind diese Leute?“, fragte Helena verwundert.
„Das sind GARDAs aus anderen Ländern. Sie wollen Lanus und Malve zu ihrer Tochter gratulieren.“
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„Aus anderen Ländern? Wie kommen sie so schnell hierher?“
„Die Macht des Geistes über den Körper. Die Allgewalt
des Willens hat die MIDGAS dahin entwickelt, dass sie sich
nicht allein geistig, sondern auch körperlich, ohne ein besonderes
materielles Fortbewegungsmittel zu benutzen, gedankenschnell
überallhin versetzen können, wo sie zu sein wünschen.“
„Das zu begreifen, fällt mir schwer", sagte Frischmann
sarkastisch.
„Um bei solchen Fahrten nicht zu verunglücken, muss der
Zusammenstoß mit Dingen vermieden werden, welche dichter als
die Luft sind. Schon das schnelle Durchschneiden der Atmosphäre ist nur für Geübte gefahrlos“, fuhr David unbeirrt fort.
„Hören Sie auf mit diesen unglaublichen Geschichten“,
sagte Frischmann ärgerlich.
„Sagen Sie mir lieber, warum die Herrschaften jetzt in den
großen Saal gehen und wir zurückbleiben?"
„Bei den Midgards besitzt der Geist eine solche Kraft über
den Körper, dass jener diesen blitzschnell aufwärts in dünne
Luftschichten führt. Dort treibt er ihn mit der gleichen Geschwindigkeit dem Ziel zu und lässt ihn bei Ankunft, ohne ihm
Schaden zu verursachen, niedergleiten. Und das alles in einem
flüchtigen Augenblick."
88
David sprach mit Stolz und Selbstgefühl, wie wenn diese
Leistungen sogar für die Midgards als hervorragende Errungenschaften anzusehen seien. Siege des Geistes über die materielle
Schwerkraft.
Doch Frischmann achtete nicht auf die Worte Davids. Er
hielt alles für einen ausgemachten Unsinn.
Helena war vorausgegangen, sie strebte den Versammelten
nach. Frischmann ging ihr nach. Er hoffte, Näheres über das
Kind zu erfahren.
In der Mitte des großen Saales stand Lanus auf einem Podest von wenigen Stufen.
„Der schöne Mann hält eine Ansprache“, flüsterte Helena.
„Ich verstehe nichts. Die Sprache erscheint mir wie Musik. Warum spricht er überhaupt. Es sind doch nur MIDGAS hier
anwesend, die der Worte nicht bedürfen?“
„Sobald es sich darum handelt, Gefühle und Gedanken, die
uns bewegen, einem größeren Kreis gleichzeitig mitzuteilen, bedienen wir uns auch gerne der Stimme“, sagte David, der längst
wieder neben Helena und Frischmann stand.
„Lanus spricht in der Weltsprache des Midgard.“
„Was sagt er?“, fragte Frischmann neugierig.
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„Er dankt in ergreifenden Worten für die Glückwünsche,
die ihm von den Freunden persönlich zur Geburt seiner Tochter
dargebracht worden sind. Er spricht von der Freude, die ihn und
Malve erfüllt ..."
„Also, tatsächlich eine Tochter“, sagte Frischmann betroffen.
„Da liegt Malve, das Kind im Arm!“, rief Helena und deutete nach einer Stelle der Wand, durch die ihre Blicke drangen.
„Sehen Sie nur, das süße Baby! Ich will es mir mal von
nahen anschauen.“
Frischmann sah, wie Helena plötzlich im Zimmer von
Malve stand. Sie beugte sich über das Kind, nahm es dann auf
den Arm und lächelte glücklich. Was für eine Frau? dachte
Frischmann. Ich möchte auch auf den Midgard wiedergeboren
werden, damit ich mit dieser Frau leben kann.
„Vorsicht mit Ihren Gedanken, Frischmann“, sagte David.
„Sie wissen, dass Sie vorher auf der Erde sterben müssen,
bevor Sie für immer hierher kommen dürfen.“
„Mit Freuden gebe ich mein irdisches Leben her, wenn
Helena meine Frau wird.“
„Gehen wir und begrüßen Malve, beglückwünschen wir
sie zu ihrem Kind", sagte David freundlich.
90
Helena sah sich lächelnd um, als sie Frischmann eintreten
sah.
„Ich habe deine Worte wohl vernommen, Max. Auch ich
bin bereit, ein Leben mit dir zu teilen, doch bis dahin, bis wir
soweit sind, wird noch viel Zeit vergehen, es sei denn ..."
„Was, sprich weiter, Helena, bitte!“ Es schien ihm, als gerate er in einen Sog.
„Komm, mit mir, Helena, wir müssen wieder fort! Komm,
Helena, komm!“
Es schien Helena, als zöge sie Frischmann weg, hinab ins
Dunkle.
91
VI.
Es war Fasching in Berlin. Helena war mit den Lehmanns
zum Faschingsball gegangen.
„Warum kommen Sie so spät, Helena?“, fragte Lehmann
vorwurfsvoll.
„Es fiel mir schwer, die Kinder zu verlassen. Sie fühlen
sich so alleine.“
„Nun, so klein sind die Kinder ja nicht mehr“, beruhigte
sie Frau Lehmann.
„Ich schäme mich fast, hier zu sein“, fuhr Helena ernst
fort, „aber seit Max seiner Verurteilung vor einem Jahr, bin ich
nie ausgegangen. Ich habe nicht mal ein Kino besucht.“
„Vielleicht bringt das Wiederaufnahmeverfahren Erfolg
und er wird begnadigt“, sagte Lehmann.
„Nun ja, das glaube ich weniger. Man wird ihn in eine
Psychiatrische Klinik einweisen, wo er dann den Rest seines Lebens verbringt. Wissen Sie, Herr Lehmann, egal, was Max
Frischmann gemacht hat, ich liebe ihn. Ich kann nicht aufhören,
ihn zu lieben.“
„Sie sind noch jung, Helena, kaum zwanzig Jahre alt. Sie
werden andere Männer kennenlernen und sich wieder verlieben.“
„Nein!“, sagte sie bestimmt.
92
„Ich werde nie wieder einen Mann so lieben können, wie
ihn!“
Kurz nach Mitternacht fuhr Helena wieder nach Hause. Sie
hatte plötzlich die Lust am Feiern verloren.
Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Milch warm zu
machen, als sie den Brief liegen sah. Sofort erkannte sie die
Schrift. Es war Max Frischmanns Schrift.
Sie setzte sich an den Tisch und riss den Brief auf. Es war
ein Abschiedsbrief. Er gab sie frei. Sie sollte sich ein neues Leben aufbauen. Aber eine Bitte hatte er, sie sollte sich um die
Kinder von Clara kümmern.
Frischmann vermachte Helena eine Million Euro und das
Sorgerecht für die beiden Kinder.
Helena drehte den Brief hin und her. Sie überlegte fieberhaft. Wollte er Selbstmord begehen? Aber dann dachte sie daran,
was David auf dem Midgard gesagt hatte. Selbstmörder sind unerwünscht. Was hatte Max Frischmann vor?
Sie trank die Milch aus und ging ins Zimmer, wo die Kinder schliefen. Einen Moment stand sie an ihren Betten, dann ging
sie leise hinaus und schloss die Tür.
*
93
Die kahlen grauen Wände des Gefängnishofes leuchteten
im goldenen Morgensonnenschein. Ein schöner Tag des Vorfrühlings lockte zum Spazieren gehen und Wandern.
Die Türen der Zellen wurden geöffnet und einzeln traten
die Gefangenen heraus. Frischmann lief ganz vorne, danach kamen noch drei andere Männer.
Sie liefen ihre Runden. An einer Biegung blieb Frischmann abrupt stehen, sodass der andere Mann hinter ihm ihn anrempelte. Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Frischmann flüsterte:
„Bei der nächsten Runde, ok? Das Geld kriegst du von
meiner Verlobten, Helena Rüschel. Sag, dass du von mir
kommst, dann wird sie dir das Geld geben.“
Der Mann nickte.
Wieder gingen die Männer eine Runde. Frischmann warf
einen Blick auf die Wachtposten auf den Türmen. Sie rauchten
und unterhielten sich.
Die bewusste Biegung kam.
Wieder blieb Frischmann stehen, wieder rempelte ihn sein
Hintermann an.
„Jetzt stich zu!“, flüsterte Frischmann und der Mann hinter
ihm stach zu. Der Stich drang direkt ins Herz. Rasch ließ der
Mörder das Messer in Frischmanns Jackentasche gleiten.
94
Frischmann lief noch zwei, drei Schritte, dann sackte er
zusammen.
Der Mörder überholte ihn und lief zu den anderen, die an
einer Stelle geblieben waren.
Ein gellender Pfiff ertönte, dann kamen Wachtposten auf
den Hof gerannt. Sie hoben Frischmann auf und trugen ihn ins
Haus.
„Selbstmord!“, sagte der Gefängnisarzt.
„Er hatte es wohl nicht mehr aushalten können!“
Damit war die Sache abgetan.
Zwei Stunden später erhielt Helena Rüschel die Nachricht,
dass ihr Verlobter, Max Frischmann, sich das Leben genommen
hatte.
Ohnmächtig sank sie bei dieser Nachricht zusammen.
*
„Was sind Dome und Türme? Was sind die gewaltigsten
Kunstwerke von Stein und Erz aus Menschenhand im Vergleich
zu der Größe und Erhabenheit dieser Riesen unter den Bäumen?“
sagte Helena zu David und Frischmann, die neben ihr auf dem
Midgard gingen und mit ihr in den Schatten eines Gehölzes traten, das auf Erden nicht seinesgleichen hat.
95
„Angesichts dieser schönen Bäume fühlt sich meine Seele
erhoben“, sprach Frischmann träumerisch.
„Wohin führen Sie uns, David?“
„Zum See des ewigen Lebens“, antwortete David.
„Aber ich bin tot“, sagte Frischmann.
„Man hat mir das Messer mitten ins Herz gestoßen.“
„Und doch scheint es mir, als ob du leben würdest, Max“,
sagte Helena.
Inzwischen waren sie an einem Haus gelangt. Es war
breit und flach und sah sehr hübsch aus.
„Gehen wir ins Haus!“, sagte David und schritt voran.
Frischmann bewunderte die geschmackvolle Ausstattung
mit Kunstwerken und Möbeln. Überall standen Blumen und es
duftete nach Frühling.
„Wem gehört das Haus?“, fragte Frischmann.
„Hier wohnen Claras Großeltern. Breton und Thekla, zwei
berühmte Wissenschaftler. Doch jetzt bereiten sie sich auf ihre
letzte Stunde vor. In ein paar Minuten kommen geladene Gäste.
Dann wird Breton seine Abschiedsrede halten."
96
„Sie sehen doch gar nicht krank aus“, sagte Frischmann
und betrachtete interessiert das alte Paar. Der Mann mit dem Silberhaar schien voller Feuer zu sein und die zierliche Gefährtin
wirkte frisch und froh.
„Ehren und Ansehen der MIDGARDS erfordern das Hinscheiden durch Selbsttötung“, sagte David und betonte jedes
Wort.
„Selbstmord? Sie sagten doch, Selbstmord sei Sünde ...?“
Frischmann fehlten die Worte.
„Die MIDGARDS wollen nicht an Altersschwäche oder
Alterskrankheiten sterben“, antwortete David und sah zum Himmel, an dem jetzt Luftfahrzüge zu sehen waren.
„Jetzt kommen die Gäste!“, rief David und zeigte nach
oben.
Ein Flugfahrzug kam langsam nach unten. Türen öffneten
sich und ein Dutzend Männer traten heraus.
Sie waren alle in Weiß gekleidet und blickten ernst und
ehrfürchtig drein. Dann standen sie alle in einem großen Raum
und Breton richtete herzliche Worte des Abschieds an die treuen
Gehilfen seiner letzten Lebensjahre. In der klangvollen Weltsprache der Midgards dankte er jedem Einzelnen für alles Gute,
für die Liebe und Treue.
97
„Das MIFZ bringt uns nachher alle auf die Insel der Nächte, sagte David, „wo die beiden alten Leute sterben werden“.
„Wozu brauchen sie überhaupt ein Fahrzeug?“, fragte
Frischmann. „Ich denke, die MIDGARDS können sich allein
durch ihre geistigen Kräfte überallhin versetzen?“
„Die Elastizität des Körpers nimmt auch bei uns im Alter
ab“, antwortete David.
„Die Kraft des Geistes ist geblieben, ja gesteigert, aber die
Unbeweglichkeit der Glieder behindert unsere alten Leute.“
„Mich wundert, dass sie so gelassen wirken“, meinte
Frischmann.
„Es muss ihnen doch schwer werden, aus dem Leben zu
scheiden, wenn sie nachher, hoch über den duftenden blühenden
Wiesen im hellen Sonnenschein, im Flugfahrzug sitzen und über
den Wolken segeln.“
„Unseren Wissenschaftlern ist es gelungen, das Lebensalter bis auf zweihundert Jahre zu verlängern.“
„Das ist enorm alt. Wie haben Ihre Wissenschaftler das
geschafft?"
„Sie haben lange studiert, sich genaue Kenntnisse erworben, was der Mensch in verschiedenen Altersperioden benötigt.
Infolge der günstigen sozialen Einrichtungen auf dem Midgards
sind wir in der Lage, unser Leben jederzeit entsprechend diesen
Bedürfnissen einzurichten."
98
„So ist es also soweit gekommen, dass Sie sich selbst töten müssen, um überhaupt sterben zu können“, sagte Frischmann
zynisch.
„War es das wert?“
„Es gibt keine Ewigkeit für Formen, für körperliche Dinge“, entgegnete David.
„Also, auch nicht für das Dasein des Körpers. Wir haben
aber den Zeitpunkt unserer natürlichen Auflösung so weit hinausgerückt, dass uns nur in den seltensten Ausnahmefällen eine
derartig ausgedehnte leibliche Existenz erwünscht ist. Die Kindheit der MIDGARDS ist kurz. Schon nach wenigen Jahren geht
sie in die bewusste Entwicklung, die Jugendzeit mit ihrem Durst
nach Leben über. Das Mannesalter bringt das Hochgefühl des
Besitzes von Kräften, die alle Schwierigkeiten überwinden können. Bei den Frauen ist dieser Abschnitt für Heiraten und Geburten zuständig. Bei körperlichen Arbeiten und Sport, beim Lenken
und Leiten von großen Gemeinschaften und Betrieben der Staatengemeinschaft gehen die Mannesjahre in jene der bleibenden
Reife über. Gleich den Riesenbäumen dieses Landes vergleichbar, verharren wir in dieser Periode so lange, bis uns der wissenschaftliche Forschungseifer für irgendein Gebiet ergreift. Dann
ziehen wir uns in die Einsamkeit, in das Land der Nächte zurück,
und meistens ist der MIDGARD von seiner Ehefrau begleitet,
von einer Seelenfreundin, die er in den vergangenen Daseinsperioden gefunden hat.
99
Halten wir auch für die Aufgabe dieses Lebensalters für
beendet, weil unsere Arbeitskraft abgenommen hat, so trennen
wir uns von unserem alt gewordenen Körper, wie es jetzt Breton
und Thekla tun will.“
„Warum wollen sie gerade heute sterben?“ wand Frischmann ein.
„Sie haben selbst den Entschluss gefasst und die Stunde
festgesetzt. Trotzdem würde niemand ein Stein auf sie werfen“,
belehrte David, „wenn sie im letzten Augenblick zurücktreten
sollten.
Der Fall ist gar nicht so selten. Plötzlich, kurz vor dem
Tod, erwacht der Trieb zum Leben. Man fühlt sich nicht mehr alt
und möchte noch dies und jenes tun. Erst kürzlich hatten wir so
einen Fall. Ein Geschichtsprofessor. Mit hundertsiebendundneunzig Jahren fiel ihm ein, ein neues Buch über unseren Planeten zu schreiben ..."
David lachte.
„Ja, so etwas gibt es auch. Aber irgendwann sterben muss
er doch. Es gilt nämlich als Schande, durch einen Unglücksfall
oder durch Altersschwäche zu sterben. Die MIDGARDS wollen
bei vollem Bewusstsein und mit der Beruhigung sterben, ein darauf folgendes Dasein unserer Seele schon vor dem Scheiden aus
der Midgardwelt eingeleitet und vorbereitet zu haben. Der Zufall
ist dem MIDGARD ein unbekannter Begriff, ein Wort, das
gleichbedeutend mit Unkenntnis und Unwissenheit ist.“
100
„Aber euer Planet heißt Midgard oder der Bezwinger des
Todes. Und doch müsst ihr auch sterben, wie die Menschen.“
„Es stirbt nur die äußerliche Hülle, der Geist bleibt. Schon
nach kurzer Zeit werden sie wieder geboren werden. Entweder
als das, was sie waren oder in einer noch höheren Stufe.“
Frischmann sah, wie Breton die Ansprache beendete und
die Gäste sich alle wieder zum Luftfahrzug bewegten.
„Kommen Sie!“, rief David.
„Wir fahren auch mit.“
Sie stiegen mit den anderen Leuten ein und suchten sich
einen Fensterplatz.
Helena saß neben Frischmann. Schüchtern nahm sie seine
Hand und drückte sie sanft.
„Da, unten, sieh, Markus, die kleine Stadt. Hübsch nicht?
Wie schön sie zwischen den hohen Bäumen gebettet liegt. Wir
steigen hinab!“
„Dieser Ort heißt Stätte der Weisheit, erklärte David.
„Das ausgedehnte schlossartige Gebäude in der Mitte
könnte man mit einer der größten Hochschulen auf der Erde vergleichen. Die Gelehrten unter den MIDGARDS tauschen hier
Resultate ihrer Forschungen aus. Viele von den Wissenschaftlern
wohnen in dem Universitätsgebäude selbst, andere in den Häusern des Städtchens. In dieser Universität gibt es die modernsten
Laboratorien und Apparate, wie nirgendwo auf dem Midgards."
101
Inzwischen landete das Flugfahrzug auf dem Landeplatz,
dem Dach der Universität. Während Thekla und Breton ausstiegen und die übrigen Insassen nachfolgten, sagte Frischmann erstaunt:
„Wo kommen die ganzen Personen her? Und sieh, Helena,
da sind auch Malve und Lanus mit ihrem Kind."
Nach dem Austausch lebhafter Begrüßungen stiegen alle
Anwesenden eine schöne, breite Treppe hinab und begaben sich
in das Innere des Hauses nach einem großen Saal. Frischmann
war erstaunt. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt.
„Wer sind all diese Leute?“, fragte er und sah verwundert
auf die vielen alten Leute.
„Das sind alles Bewohner aus dieser Stadt und anliegenden Städten.
Schon lange findet ein Gedankenaustausch zwischen Breton, Thekla und den hier anwohnenden Menschen statt. Thekla
ist eine bekannte Medizinerin gewesen. Sie hat revolutionierende
Errungenschaften in der Gynäkologie erreicht. Und Breton war
einer der berühmtesten Wissenschaftler des Midgards. Aber das
erzähle ich Ihnen nachher.“
„Schau, was für ein nettes Kind Clara geworden ist“, sagte
Helena. Ich muss zu ihr. Wir haben uns lange nicht gesehen.“
Sie lief davon und Frischmann sah, wie sie das Mädchen
auf den Arm nahm und Malve und Lanus begrüßte.
102
Frischmann versuchte näher an die Gruppe heranzukommen und drängte sich durch die Massen. David folgte ihm.
„Tatsächlich, es ist Clara", sagte Frischmann.
„Die gleichen Augen, die Nase, der Mund. Aber sie ist
schon so groß, wie ein zweijähriges Mädchen."
„Sie weiß schon von der hohen Ehre, die ihr zuteilwird,
dass sie ihre Großeltern das letzte Geleit geben darf", sagte David
und sah, wie Breton das Mädchen jetzt hochhob und auf die Tribüne schritt.
„Dieses Hochheben“, sagte David lächelnd, „ist das Symbol für die eigene bevorstehende Wiedergeburt.“
Breton ließ das Mädchen wieder hinab und richtete ein
paar fröhliche Worte an die Anwesenden. Er schloss mit den
Worten, dass er wünsche, dass er und seine Frau irgendwann
wieder auf dem Midgard geboren werden. Und er würde alle seine lieben Freunde, die hier versammelt wären, gerne wiedersehen. Nach der Rede entstand ein Geraune im Saal und viele riefen:
„Aufwiedersehen, Breton, auf Wiedersehen, Thekla!“
Breton ging von der Tribüne, Clara an der Hand und trat
zu Malve und Lanus. Nach herzlichen Umarmungen gingen Breton und Thekla zu den beiden Katafalken, die im Saal errichtet
waren, und legten sich zu gleicher Zeit hinein.
103
„Wann und wie sterben sie? Oh, mein Gott, Helena! Ich
kann das nicht mit ansehen.“
„Hier bin ich, Max. Hier!“
Frischmann fühlte eine sanfte Berührung und sah in die
strahlenden Augen von Helena.
„Es dauert noch eine Weile, bis sie sterben“, erklärte David.
„Der giftige Pflanzensaft tritt nur allmählich durch die Poren der Haut, bahnt sich seine Bahnen durch Venen und Blutgefäße, bis er das Herz erreicht. Doch keine Angst, sie merken
nichts. Sie schlafen schon. Süße Träume umwogen sie. Wenn das
Gift seine Wirkung getan hat, senken sich die Katafalke hinab
und werden ins All hinaus geschleudert.“
„So etwas kann ich mir nicht ansehen, so einen Doppelselbstmord. Gehen wir hinaus, Helena.“
„Das geht nicht, Max. Wir müssen warten, bis Breton und
Thekla gestorben und verschwunden sind.“
Gemurmel wurde hörbar. Die Anwesenden unterhielten
sich in der Midgardsprache.
„Angesichts des Todes dieser beiden lieben alten Menschen ehrt man die Sterbenden nicht gerade“, sagte Frischmann
entrüstet zu David.
104
„Man unterhält sich über die Forschungen von Breton. Im
Augenblick findet ein lebhafter Meinungsaustausch über die letzten genialen Berechnungen Bretons statt.“
„Was hat er festgestellt?“, fragte Frischmann.
„Uns allen ist bekannt, dass der Planet Midgard durch den
Zusammensturz zweier beinahe gleich großer Sterne entstanden
ist. Umfang und Form des Midgards, die Lage, Richtung und gegenwärtige Höhe seiner Gebirge, die Verteilung von Wasser und
Land, die Verschiedenheit der Gesteine auf beiden Halbkugeln
beweisen es. Breton hat nun unter Berücksichtigung der jetzigen
Entfernung von der Wega, der Schiefe unserer Ekliptik, der Abtragung unserer Gebirge sowie verschiedener anderer wichtiger
Momente den Zeitpunkt festgelegt, an welchem die Katastrophe
erfolgt ist.“
„Das war eine zwecklose Arbeit, meine ich."
„Sie irren. Bretons Arbeit ist für den Midgard von außerordentlicher Wichtigkeit.
Denn Breton begnügte sich nicht damit zu erforschen,
wann der Planet sich geteilt hatte, er sagte auch voraus, wann der
nächste Zusammenstoß mit einem Asteroiden zu erwarten ist.“
„Und wann wäre das?“, fragte Frischmann gespannt.
„In circa dreihundertdreißig Jahren. Dieser Umstand beeinflusst die allgemeine Weltpolitik auf dem Midgard außerordentlich, denn der Anprall zieht natürlich selbst die davon entferntesten Punkte unseres Planeten in Mitleidenschaft.
105
Nun beriet man an allen Orten, wie die Katastrophe abgewendet werden kann. Breton machte den Vorschlag, ein Riesenmoor anzulegen.“
„Eigenartige Sorgen. Es gibt doch keine Mittel, ein solches Ereignis abzuwenden. Der Mensch hat noch nie Naturkatastrophen überwunden und er wird sie nie überwinden, und ich
denke, das trifft auch für die Midgardbewohner zu. Und wozu
soll das Moor gut sein?"
„Sie irren gewaltig, lieber Frischmann. Sobald man nämlich den Eintritt lange genug vorher weiß, kann man sich gegen
die Übel schützen. Breton hat genau die Stelle berechnet, wo der
Asteroid einschlagen wird. Das Moor wird den Aufprall mildern.
Außer der Milderung des Stoßes würde man hierdurch die Einverleibung der Gesamtmasse des Asteroiden erreichen, der den
sechshundertsten Teil des Midgardgewichts besitzt. Dieser Zuwachs wäre unserem Planeten in jeder Beziehung vorteilhaft. Er
würde aber, wenn das Moor nicht gebaut würde, nur im geringen
Umfang eintreten, weil sich jetzt an der Stelle des Einschlags ein
Felsengebirge befindet. Die Steine des zersplitterten Asteroiden
würden also durch den Aufprall in den Weltenraum zurückgeschleudert werden."
„Na ja“, sagte Frischmann und sah zu Malve und Lanus,
die gespannt zu den Katafalken sahen. Clara stand stumm daneben, die Hand ihres Vaters umklammert.
„Was ich schon immer fragen wollte, David. Wie sieht es
mit Ihren Armeen, Ihrer Kriegsmarine aus?“
106
„Sie haben nun schon so vieles gesehen und erlebt,
Frischmann“, sagte David unwirsch.
„Und trotzdem stellen Sie solche Fragen. Ich dachte, Sie
hätten etwas von unserem Leben und unserem Kulturstand mitbekommen. Seit fast tausend Jahren gibt es auf unserem Planeten
keine Einrichtung mehr, die mit Massengewalttätigkeit irgendetwas zu tun hätte.“
David sprach lauter und einige Neugierige versammelten
sich um ihn.
„Wir haben keine Grenzen, bei uns gibt es keine blutigen
Massenkämpfe mehr. Unsere Menschen kämpfen gemeinsam
gegen die Unbilden der Natur, der Erhalt des Lebens und der Natur, das ist ihre einzige Sorge. Unsere Midgardbewohner beschäftigt im Moment nur ein Gedanke, dass riesige Gebirge abzutragen, und an seiner Stelle ein ungeheures tiefes Moor zu graben.
Kein Erdenmensch ist imstande, sich von der gigantischen Größe
dieser Aufgabe eine Vorstellung zu machen. Sie würden nicht
einmal die Folgeerscheinungen dieser Tat, die Veränderungen
des Klimas und der Bewässerung im Voraus berechnen können."
„Das bestreite ich nicht. Ich bin weder Geologe noch Meteorologe“, rief Frischmann dazwischen.
„Doch gibt es auf der Erde inzwischen auch superkluge
Köpfe, die das bewerkstelligen würden.“
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„Mut, Tapferkeit und Intelligenz müssen hierbei in weit
höherem Maß aufgewendet werden, als bei Ihren Kriegen. Wer
auf Erden die modernsten und am weitesten tragenden Raketen
einsetzen wird, wird Sieger!
Ich finde es empörend, dass junge Männer gezwungen
werden, fremde Menschen aus der Ferne zu erschießen oder umgekehrt, von einem Unbekannten durch ein Geschoss um fünfzig
Lebensjahre gebracht zu werden! Weit höherer Mut erfordert die
Tat jenes Paares dort auf den Katafalken!"
„Sind Breton und Thekla jetzt tot?“, fragte Frischmann.
„Sie versinken!“, rief Helena leise.
David starrte zu den Katafalken, die langsam in die Erde
verschwanden.
„Gleich ist es vorbei mit Bretons und Theklas körperlichen Formen. In wenigen Minuten werden sie in Schutt und
Asche aufgelöst. Die entwichenen Seelen werden sich aber im
Drang nach Leben und Tätigkeit bald wieder mit einem neuen
Körper umhüllen. Sie werden eine weitere Sprosse auf der Leiter
erklimmen, die hinaufführt zum Gipfel, zum letzten Ziel, zum
Eingehen in Gott!“
Frischmann sah David sprachlos an.
„So glauben Sie doch an Gott, ich wusste es. Ja, ich wusste es. Sie waren als Mensch religiös und Sie sind es als MIDGARD ... Sie sind ... Helena, wo bist du ... Helena ...!"
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„Helena geht jetzt zum See des Lebens. Sie wird noch mal
auf die Erde zurückkehren, während Sie hier bleiben, Frischmann. Ihr Körper ist jetzt wertlos, Frischmann.“
„Nehmen Sie mich trotzdem mit. Ich möchte Helena bis zu
dem See begleiten, David.“
David schritt über eine große Hängebrücke. Frischmann
und Helena folgten ihm. Sie kamen an eine Lichtung und dann
sahen sie den großen See. Die Wellen kräuselten sich leise und in
der Ferne sah man weiße Boote dahin gleiten.
„Herrlich!“, rief Helena.
„Ganz wunderbar! Warum stehen die vielen Häuschen
hier?“ fragte sie.
In diesem Moment kamen einige Frauen und Männer an
das Ufer und grüßten David freundlich.
„Die Häuser sind für diese Kranken gebaut. Der See hat
ihre Wunden geheilt und nun wollen sie nicht mehr von hier weg.
Warum sollten sie auch, wo sie doch alle wie in einer Gemeinschaft leben."
„Was haben diese Menschen gehabt?“, fragte Frischmann
und beobachtete die Gruppe, die sich im Kreis in dem weißen
Ufersand niederließen und still vor sich hin starrten.
„Was machen sie jetzt?“, flüsterte Helena.
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„Sie meditieren. Diese ERME waren von einer schweren
Krankheit befallen, auf der Erde nennt man sie Lepra. Das Wasser dieses Sees hat sie geheilt. Es heilt alle Wunden, wenn man
hineinsteigt.“
„Warum beachten sie uns nicht?“, fragte Helena und war
im Begriff das Kleid abzustreifen und in den See zu steigen.
„Es sind ERME. Sie können Sie nicht sehen“, antwortete
David.
„Was willst du tun, Helena?“, fragte Frischmann verwundert, als er sah, dass sie nackt zum Ufer schritt und die Füße ins
Wasser hielt.
„Ich will meine Wunden heilen, ich will meine Seele heilen“, sagte sie und sprang mit hochgesteckten Armen ins Wasser.
„Herrlich warm. Komm rein, Max!“ rief Helena übermütig und planschte mit den Füßen.
Frischmann begann sich auszuziehen, doch David hielt
ihn zurück.
„Für Sie hat es keinen Sinn, Sie sind tot. Sie können nicht
auf die Erde zurück, während dessen Helena bald wieder in ihren
Körper zurück muss. Bleiben Sie hier, Frischmann und streben
Sie nach einer baldigen Wiedergeburt auf dem Midgard.“
„Nein! Bitte lassen Sie mich in den See, damit ich wieder
gesund werde. Sie sagten, der See heilt alle Wunden.“
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Helena tobte im Wasser herum.
„Komm rein, Max!“, rief sie.
David hielt Frischmann am Arm fest.
„Wollen Sie wirklich wieder auf die Erde zurück? Sie wissen, dass Sie wieder ins Gefängnis zurück müssen, wenn man Sie
geheilt hat. Sie werden viele Jahre im Gefängnis bleiben müssen.“
Frischmann nickte.
„Ich weiß, aber wenn mein Wiederaufnahmeverfahren
durchkommt, werde ich vielleicht begnadigt.“
„Das kann möglich sein. Man wird Sie in eine Psychiatrische Klinik schicken und ein paar Jahre dort behalten. Und was
folgt dann? Denken Sie daran, was Sie noch alles erdulden müssen! Neid, Missgunst und immer die Jagd nach Geld wird sie verfolgen.“
„Bitte, David, wenn Helena geht, kann ich noch nicht
bleiben. Ich liebe diese Frau, das ist mir in den letzten Minute
bewusst geworden. Lassen Sie mich in den See! Machen Sie
mich gesund und schicken Sie mich auf die Erde zurück!
„Sie wollen auf die Erde zurück und ich soll Sie auch
nicht wieder herholen?“
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„Nein, David. Erst, wenn meine Zeit gekommen ist,
möchte ich auf dem Midgard wiedergeboren werden. Aber jetzt
möchte ich noch leben ... leben ... leben. Verzeihen, Sie David,
aber ich denke, dass Leben auf der Welt ist, lebenswert, wenn
man anfängt, richtig zu leben.“
Noch bevor David etwas antworten konnte, sprang
Frischmann in den See und schwamm Helena hinterher. Kurz
danach waren beide am Horizont verschwunden.
„Mama, Mama! Soeben ist ein Schreiben vom Gericht gekommen!“ rief Maik, der mit einem gelben Brief in das Schlafzimmer getreten war.
Helena blickte mit großen Augen auf den siebzehnjährigen
Jungen.
„Wo ist deine Schwester?“, fragte Helena und öffnete vorsichtig den gelben Brief.
„Beim Ballettunterricht. Sie muss aber gleichkommen.“
Helena öffnete den Brief und las. Langsam Zeile für Zeile
las sie.
Fünf Jahre hatte sie auf diese Antwort gewartet. Fünf lange
Jahre gehofft und gebetet. Jetzt war der Augenblick da. Ihr geliebter Max kam wieder nach Hause. Das Gericht hat der vorzeitigen Entlassung zugestimmt!
Helena sprang aus dem Bett.
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„Der Wievielte ist heute, Maik?“, rief sie fröhlich.
„Der 13. Mai, Mama!“
„Übermorgen kommt Papa nach Hause! Wir müssen das
Haus aufräumen, Maik! Wir müssen einkaufen und alles schön
machen! Papa kommt nach Hause. Euer Papa kommt nach Hause!“
Fröhlich lief Helena durchs Haus. Sie ordnete dies und jenes an.
Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb einen
Brief an Max. Fortgerissen von einer unwiderstehlichen Flut heranstürmender Gedanken schrieb und schrieb und schrieb sie.
ENDE
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