Wer den Tod bezwingt Rita Naumann I. Die Wohnung, aus der der Hilferuf kam, befand sich im ersten Geschoss eines jener vierstöckigen Mietshäuser, die in langen schnurgeraden Reihen die Vororte Berlins bilden. Hier wohnte seit einiger Zeit der Bankangestellte Max Frischmann mit seiner schönen Frau Clara und deren Kindern, Maik und Lena. Jetzt lag die wunderschöne Frau Clara kalt und tot in dem großen breiten Bett im Schlafzimmer. Aus der Lage des Körpers schlossen die Kriminalisten sofort auf einen Sexualmord. Kommissar Rohloff betrachtete die schöne tote Frau. „Ein Weib, so schön, wie ein Engel!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Es ist kein Wunder, wenn die Begierde einen Mann zum Mörder an ihr macht.“ Die Spurensicherung begann mit der Arbeit. Am Hals sahen sie blaue Flecke. „Sie ist erdrosselt worden“, sagte Kommissar Möller von der Spurensicherung. „Meinen Sie, dass der Mörder sein Opfer erst nach dem Tod entkleidet hat? Oder war die junge Frau bereits im Bett, als die Tat geschah?“ fragte Rohloff. „Sie denken, es war ihr Mann?“, fragte Möller. „Warum sollte er so etwas tun?“ 2 Inzwischen hatte Kommissar Möller alle Spuren gesichert, die von Nöten waren, um den Täter eventuell zu überführen. Die Sorgfalt, mit welcher die Kleidungsstücke der Frau Frischmann beiseitegelegt waren, bewies ihn, dass die Tote bei der Ausführung der Tat bereits im Bett gewesen war. Ein Junge von zwölf Jahren und ein Mädchen, das zehn Jahre alt sein mochte, öffneten plötzlich die Tür und kamen weinend ins Zimmer gestürzt. „Mama, Mama!“, schrie das Mädchen. Der Junge stand da und starrte mit Entsetzen auf die tote Mutter. Kommissar Rohloff brachte die Kinder aus dem Zimmer und beruhigte sie. Er fragte, wann sie zu Bett gegangen waren. Zwischen acht und neun Uhr wie gewöhnlich, erzählten sie. Papa und Mama hätten zuletzt im Speisezimmer gesessen. Wo Papa jetzt sei, wüssten sie nicht. Das Kindermädchen wäre ausgegangen gewesen, jetzt habe sie sie geweckt und ihnen gesagt, was passiert sei. Eine Polizeipsychologin kam und brachte die Kinder in einen anderen Raum. Das Kindermädchen wurde verhört. „Es muss geschehen sein, als ich aus dem Haus war“, sagte sie. „Wie alt war Frau Frischmann?“ 3 „Zweiunddreißig. Vor drei Monaten haben sie geheiratet. Frau Frischmann war vor neun Jahren Witwe geworden. Aus der ersten Ehe sind die beiden Kinder hervor gegangen.“ „Hatten die Frischmanns Freunde oder Bekannte?“ forschte der Kommissar weiter. „Ja, Freunde eigentlich nicht. Aber die Lehmanns kamen des Öfteren her. Die Männer kannten sich vom Golf spielen.“ „Wo ist Herr Frischmann jetzt?“, wollte Rohloff wissen. „Das weiß ich nicht. Er wird wohl ausgegangen sein.“ In diesem Augenblick wurde die Tür heftig aufgerissen und ein Mann stürzte in den Raum. Es war Max Frischmann, ein Mann von dreiunddreißig Jahren. Die blasse Farbe des hageren Gesichts wurde durch den tiefschwarzen Vollbart stark hervor gehoben. Der Kopf war lang und schmal. Die faltenlose, sehr hohe Stirn leuchtete unter dem gewölbten, dichten schwarzen Haar hervor. Es war ein sehr schöner Mann. „Was ist mit meiner Frau?“, fragte er verwirrt. „Was ist passiert?“ „Setzen Sie sich, Frischmann“, sagte Kommissar Rohloff. „Kann ich ein Glas Wasser haben“, stotterte Frischmann und sah sich mit verwirrten Augen im Zimmer um. 4 Man brachte ihn ein Glas Wasser und Frischmann trank ein paar Schlucke. Plötzlich begann er zu zittern wie bei einem epileptischen Anfall. Er verdrehte die Augen, Schaum trat aus seinem Mund. Kommissar Rohloff beobachtete den Mann und plötzlich rief er: „Um Gottes willen, der Mann stirbt auch!“ Nach einer Weile hatten Max Frischmanns Zuckungen nachgelassen, er lag wie ein Toter auf dem Fußboden. Aber in das sonst so blasse Gesicht von Max Frischmann hatte sich ein dunkler Blutstrom ergossen. * Max Frischmann hatte das Bewusstsein verloren. Seine Umgebung, das Gesicht des über ihn gebeugten Kommissars entfernte sich scheinbar immer mehr von ihm. Er wollte rufen und konnte nicht. Schließlich sagte er sich, ‚ich bin ja so weit weg, dass man mich doch nicht hört’. Aber obwohl er sich von der Stadt, ja sogar von der Erde entfernt zu haben schien und immer weiter glitt, musste er sein Wahrnehmungsvermögen, das ihm seltsamerweise geblieben war, immer wieder auf seinen Körper richten. Frischmann bemerkte noch, wie sein ohnmächtiger Körper auf die Couch gelegt wurde. Der feste Griff des Kommissars und seiner Gehilfen verursachte ihm Schmerzen. 5 Aber dann verschwand auch dies aus seinem Wahrnehmungskreis wie in einem dunklen Abgrund. Plötzlich hatte Frischmann die Empfindung, als betrete er einen weiten, hellen Saal, dessen Wände und Decke aus Kristall waren. Ringsum standen in gefälliger Unordnung blühende Blumen und kleine grüne Bäume aller Art, wie in einem palastartigen Gewächshaus. In der Mitte war der glänzende Fußboden frei und auf ihm bewegten sich Wesen, die ihm wie recht schöne Menschen vorkamen. Manche saßen auf zierliche, einbeinigen Sesseln, die im Fußboden festgemacht waren, an runden Tischchen, auf den Gläser mit Getränken und kleine Schüsseln mit Speisen standen. Man kam und ging. Oft standen oder saßen zwei oder mehrere beieinander, aber die Personen waren offenbar alle stumm, denn keine sprach ein Wort, obwohl man an ihren Gebärden merkte, dass sie sich auf das Lebhafteste unterhielten. Man sah aber nur Bewegungen der Augen und der Mienen, weniger der Hände, sodass Frischmann von dem Gedanken, er befände, sich in einem recht schön eingerichteten Taubstummen-Institut, wieder abkam. Durch die Glaswände und die Decke fiel ein Sonnenlicht von großer Helligkeit, aber trotzdem herrschte eine wohltuende Kühle in dem weiten Saal. „Meine Liebe zu Ihrer ermordeten Frau hat mich veranlasst, Sie hierher zu bringen, um Ihnen zu zeigen, was aus der schönen Clara nach ihrem Tode geworden ist“, sagte plötzlich jemand in deutscher Sprache zu Frischmann. 6 Frischmann wandte sich erstaunt um und sah sich einem etwa achtzehnjährigen Mann gegenüber. Er war nur spärlich bekleidet, denn die braune, gesunde Haut seiner Glieder wurde nur an wenigen Stellen von dem weißen, faltenreichen Gewand bedeckt, das von seinen Schultern herabfiel. Frischmann war so erstaunt, dass er kein Wort zur Erwiderung fand. „Sie wundern sich, dass ich rede“, fuhr der junge Mann lächelnd fort, „während dies sonst hier nicht mehr üblich ist, denn man gibt bei uns seine Gedanken und Gefühle durch inneres Schauen kund. Da Sie aber diese Sprache nicht verstehen, und da sie Ihnen auch nicht gelehrt werden kann, muss ich im Verkehr mit Ihnen die mir noch immer geläufige deutsche Sprache anwenden, obwohl das für unsere hiesigen Begriffe außerordentlich veraltet und umständlich ist.“ „So unterrichten Sie mich doch im Gedankenlesen!“ kam es endlich von Frischmann Lippen, der sich bemühte, seine Fassung wieder zu gewinnen. „Das erfordert zu viel Zeit, weshalb es jetzt nicht möglich ist“, entgegnete der junge Mann. „Wo bin ich?“, fragte Frischmann, in dem er sich umsah. „Ich will Ihnen gerne Rede stehen. Sie haben jedoch nicht viel Zeit übrig, da Sie wieder zurück müssen. Sie sind als körperlose Seele hier. 7 Sie können, solange Ihr Leben auf der Erde nicht erloschen ist, hier nicht geboren werden und keinen neuen Körper erwerben. Ich brachte Sie mit der Seele Ihrer ermordeten Frau hierher.“ „Eine Seele gibt es ja gar nicht!“, sagte Frischmann vorwurfsvoll. „Ich will mich jetzt nicht damit aufhalten, Sie von irrtümlichen Ansichten zu befreien. Hören Sie, ich bin der vor neun Jahren auf der Erde verstorbene Mann Ihrer Frau und hieß damals David Brunner.“ „Das ist richtig“, sagte Frischmann erschrocken und voll unsagbaren Erstaunens. „Es ging uns nicht sehr gut auf der Erde, aber Clara und ich liebten uns so sehr, dass ich ihr ein Versprechen gab: „Wenn ich vor dir sterbe“, erklärte ich ihr, „werde ich einen Stern im Weltenmeer aufsuchen. Ich werde einen Stern suchen, auf welchem die höchsten Lebewesen, die Menschen, und ihre sozialen Verhältnisse vollkommener sind, als auf der Erde. Sobald du stirbst, komme ich, dich zu holen, um mit dir ein schöneren Dasein zu leben.“ Der junge Mann schwieg einen Augenblick und Frischmann begann: „Wie ist das möglich? Wie soll Clara hier zur Welt kommen? Wo befinden wir uns? Ich hätte tausend Fragen …“ 8 „Die ich Ihnen noch alle beantworten will, nur ist das jetzt nicht mehr möglich, denn man bemüht sich auf der Erde, Sie ins irdische Bewusstsein zurückzurufen. Deshalb müssen Sie uns bald verlassen.“ „Kann ich wieder kommen?“ „Nein, aber ich kann Sie holen, so oft ich will, wenn Sie im tiefsten, traumlosen Schlaf liegen. Soll ich es tun?“ „Ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich recht oft zu holen. Ich möchte all das für mich Neue hier kennenlernen.“ „Sie haben einen außerordentlichen Drang nach Erkenntnis. Ich will versuchen, Ihnen volle Befriedigung nach jeder Richtung zu gewähren. Noch mehr, ich hoffe, es zu ermöglichen, dass das hier von Ihnen seelisch Erschaute in Ihr Tagesbewusstsein übergeht, und dass Sie in der Lage sind, Ihren Mitmenschen davon Kunde zu geben.“ „Dann sagen sie mir noch schnell, auf welchem Stern ich mich befinde, denn ich fühle, dass ich in meinen Körper auf die Erde zurück muss.“ Sie befinden sich auf dem Planeten Midgard, der um die Wega kreist. Die Wega ist eine Sonne von weit größerem Umfang als die Ihrige. Um sie kreisen Hunderte von kleinen und größeren Planeten. Auf dem Midgard herrschen die besten sozialen Bedingungen und Einrichtungen, deshalb zog ich ihn den anderen Planeten vor. 9 „Wie bin ich bei der ungeheuren Entfernung so schnell hierhergekommen?“, fragte Max Frischmann und sah den jungen Mann an. „Was sind Geschwindigkeiten nach euren Maßen?“, antwortete David. „Unsere Riesensonne Wega schießt mit der Geschwindigkeit von 81 Kilometern in der Sekunde auf eure Sonne zu. Da wir dreißig Trillionen Kilometer von derselben entfernt sind, so dauert es immerhin siebzigtausend Erdenjahre, ehe wir zu euch kommen würden. Wir legen dabei also 300000 Kilometer in der Sekunde zurück, während ihr 300 Kilometer bei euren schnellsten Zügen und Autos schon für sehr hoch zu halten gewohnt seid. Würden wir aber mit der Schnelligkeit des Lichts reisen, also 300000 Kilometer in der Sekunde zurücklegen, so würden wir doch drei Jahre und drei Monate zubringen, bevor wir auf der Erde ankämen. Es gibt aber zum Glück noch eine viel schnellere Methode des Reisens von seelischen Stoffen, das ist die Geschwindigkeit der Gedanken. So schnell Sie denken können, vermögen Sie Ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Ich bitte Sie stellen Sie sich vor, dass Sie wieder auf der Erde in Ihrem Körper sein wollen, denn es ist kein Augenblick mehr zu verlieren …“ * 10 Max Frischmann erwachte und blickte mit erstaunten Augen zur Decke empor. Man sah, wie er sich allmählich in seine Umgebung wieder hineinlebte. Er rang nach Atem, und bald fühlte er sich wieder Herr seines Körpers. Er richtete sich auf, und als er den Kommissar Rohloff und die anderen Kommissare erkannt hatte, überwältigte ihn der Schmerz wieder und er begann an zu weinen. In diesem Augenblick hörte man heftiges Gepolter vom Korridor. Eine laute Stimme rief: „Lassen Sie mich hinein, ich war ihr bester Freund. Ich muss sie sehen!“ Die Tür wurde aufgerissen und herein trat ein kleiner älterer Mann. Er hatte eine lange, gebogene Nase und einen kahlen Schädel. Er ging auf Frischmann zu und drückte ihm die Hand. „Herzliches Beileid! Mein aufrichtiges Mitgefühl! Du weißt, wie sehr ich sie gemocht habe. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Und sie hatte eine heitere Seele, Herzensgüte und Verstand. Was willst du jetzt machen, Max? Und was wird aus den Kindern?“ Kommissar Rohloff mischte sich ein. „Wer sind Sie?“ „Ich bin ein Freund der Familie, Hannes Lehmann.“ 11 „Woher erfuhren Sie von dem Verbrechen, Herr Lehmann?“ „Von wem? Von wem? Irgendjemand auf der Straße hat es mir erzählt. Mich kennt hier in der Umgebung jeder Mensch.“ „Waren Sie bis jetzt zu Hause, Herr Lehmann?“ „Ja, ich war zu Hause, warum?“ „Sie müssen zugeben, dass Ihr Erscheinen um diese Zeit etwas merkwürdig erscheint.“ Lehmann trat dicht an den Kommissar heran. „Wollen Sie etwa behaupten, dass ich der Mörder bin? Von mir hat sie nur Gutes erfahren. Nein, Herr Kommissar, Sie sind auf der falschen Spur.“ „Aber Ihre Aufregung spricht gegen Sie, Lehmann“, sagte der Kommissar spöttisch. „Können Sie uns sagen, wo Sie in der Zeit zwischen neun und zehn Uhr abends gewesen sind?“ „In meiner Wohnung.“ „War noch jemand da?“ „Nein.“ „Sie haben eine Kratzwunde im Gesicht, auch Ihre Hände scheinen verletzt zu sein. Woher stammen diese Verletzungen?“ 12 „Das geht Sie nichts an!“ „Da bin ich anderer Meinung. Kommissar Möller, bringen Sie diesen Mann aufs Revier und nehmen Sie Blutproben, DNA, das Übliche eben,“ sagte Kommissar Rohloff mit Bestimmtheit. Kaum hatte der Kommissar diese Worte ausgesprochen, so erhielt er von Lehmann einen heftigen Stoß vor die Brust, dass er zu Boden stürzte und im Fallen einige Stühle mit umwarf. Die anderen Kriminalisten sprangen herbei und hielten Lehmann fest. Lehmann wehrte sich und schrie: „Ich bin kein Mörder! Ich bin kein Mörder!“ * 13 II. Das Wichtigste ist die Abstammung“, sagte David Brunner zu Frischmann, der sich dauernd umsah, obwohl er sich in demselben Raum befand, in dem er schon einmal gewesen war. „Ich wiederhole, dass ich weder an eine Seele, noch viel weniger an eine Seelenwanderung glaube. Wie komme ich hierher?“ „In gleicher Weise wie das erste Mal als schattenloses Wesen! Während Ihr Körper dort auf der Erde im tiefen Schlaf liegt, habe ich Ihre Seele, oder nennen Sie es Ihr ICH, entführt und will Ihren Wissensdurst stillen. Das gelingt mir aber nur, wenn Sie mit aller Kraft Ihre Gedanken darauf richten, mich verstehen zu wollen. Sie haben hier jetzt keinen Leib, daher wären Sie für die Augen von Erdenmenschen unsichtbar. Der Midgardmensch meiner Art aber, welcher auf einer viel höheren Entwicklungsstufe angelangt ist als die höchsten irdischen Wesen, kann die Gedanken sehen und lesen. Er sieht daher auch die Seele. Diese Kunst können Sie, ohne hier geboren zu sein, nur sehr schwer und nach unendlich langer Mühe und Arbeit erlangen. Von der Fähigkeit der Erdenbewohner, mit dem Auge zu sehen, bis zu unserem Seelenschauen ist ein gewaltiger Schritt vorwärts. Dieser besteht in der Vervollkommnung des Sehens in dem Maße, dass man in alle festen Körper, auch in die, welche keine gewöhnlichen Lichtstrahlen durchlassen, hineinblicken kann. 14 In Holz, Metalle, Steine können wir bis zu einer gewissen Tiefe sehen. Sind solche Dinge dünn, so sind sie vollkommen durchsichtig für uns wie Glas. Durch Fleisch und Knochen sehen wir hindurch, können aber auch in diese Gewebe hinein blicken und faste alle Einzelheiten derselben bis zur kleinsten Zelle wahrnehmen und jede von der anderen unterscheiden.“ „Das ist eine wunderbare Eigenschaft und ein bedeutender Fortschritt gegenüber dem Sehen des Erdenmenschen“, sagte Frischmann, der mit gespanntem Interesse zugehört hatte. „Kann ich diese Eigenschaft während meines Hierseins erlernen?“ „Ich will versuchen, sie Ihnen zu verleihen. Die Fähigkeit dazu ruht in jeder Seele, also auch in der Ihrigen. Es wird Ihnen daher vielleicht nicht schwerfallen, da Ihr seelisches Auge nicht durch das körperliche behindert ist, in alle feste Gegenstände ringsum einzudringen. Versuchen Sie es!“ „Wirklich, es gelingt mir. Ich sehe die einzelnen Kristalle, welche die Marmorplatte dieses Tisches bilden. Ich kann die Adern und Zellen des Holzes der Stühle erkennen!“ „Nun also. Es ist Ihnen auch möglich, in die Körper der Lebenden hineinzublicken. Sie werden aber die Schwingungen des feinen Stoffes, der die Nerven und Gehirnzellen durchflutet, nicht sehen, noch viel weniger die einzelnen Wellen voneinander zu unterscheiden vermögen. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen das Gedankenlesen nicht lehren kann. 15 Die Ideen aber bestehen in solchen Schwingungen und die Seele selbst, als welche Sie hier sind, ist nichts anderes, als der außerordentliche feine und für Ihre Sinnesorgane nicht wahrnehmbare Stoff, der sich mit gröberen Gebilden umgibt. Er formt Körper und bringt bei der Entwicklung jeder Art von Lebewesen die erforderlichen Glieder hervor.“ „Wiederholte sagte ich Ihnen schon, dass ich nicht an die Existenz der Seele glaube“, entgegnete Frischmann ärgerlich. „Von allem, was ich nicht mit meinen fünf Sinnen wahrnehmen kann, bestreite ich das Dasein.“ „Sie sind ein echter Erdensohn“, antwortete der Midgardbewohner und ein Lächeln glitt über seine sympathischen Züge. „Ich will Sie auch nicht weiter mit der Seele belästigen, sondern mich mit Ihnen nur über Körperliches unterhalten. Sollten Sie aber einmal auf dem Midgard geboren zu werden wünschen, so können Sie das, wenn Sie bei Ihren gegenwärtigen Ansichten über die Seele verharren, nur als Mensch dritten Grades oder wie wir es nennen, als ERME.“ „ERME? Was ist das nun wieder?“ „Der Midgard ist zehnmal größer als die Erde. Er hat Gebirge, Länder, Meere wie auf der Erde. Nur alles in größerem Maße. Auch die Pflanzen, Tiere und Menschen sind in ungefähr zehnmal größerer Anzahl der Arten und Einzelwesen vorhanden, als auf der Erde. 16 Alle Abstufungen der Gattung Mensch, welche die Erde aufweist, sind auch hier vorhanden. Wir haben vielmehr Farben, Rassen und Kulturen, als der Planet Erde vorweist. Alles nun, was auf Ihrem Sonnenplaneten Mensch genannt wird, bezeichne ich, um mich Ihnen leichter verständlich zu machen, als Erdenmensch oder ERME. Jene Arten und Rassen der Midgardwesen aber, die ihre Sinne gegenüber den Erdenmenschen vervollkommnet haben, nenne ich Menschen zweiten Grades oder GARDA. Diese sehen durch feste Körper, sie vernehmen tiefe und höhere Töne, als die ERME. Sie sprechen mit Miene in Verbindung mit der Zunge derart schnell, dass ein viel lebhafterer Gedankenaustausch möglich ist als bei gewöhnlichen Menschen. Das ist ein so ungeheurer Zeitgewinn, eine so erheblich schnellere Gedankenerzeugung im Vergleich zu den ERMEs, dass sie hierdurch, außer von den auch weit mehr entwickelten Gefühlsleben, einen ganz beträchtlichen Vorsprung über jene erlangt haben.“ „Das mag sein", warf Frischmann ein. „Trotzdem. Diese Bezeichnungen Menschen Dritten und Zweites Grades. Es gab sie schon mal. Vor vielen Jahren. Die Titulierungen finde ich nicht schön." „Ich weiß, Sie meinen den Nationalsozialismus. In gewisser Hinsicht haben Sie recht. Aber wie sonst sollen wir sie nennen? Mensch I, Mensch II und Mensch III? Unsere Wesen hier, egal ob dritten, zweiten oder ersten Grades werden nicht diskriminiert, nicht verfolgt und nicht getötet. 17 Jeder lebt in seinem Lebenskreis. Ich will versuchen Ihnen zu erklären, wie unser System hier oben funktioniert. Menschen Ersten Grades oder die MIDGAS, zum Beispiel, sind alle diejenigen, die Sie hier in dieser Halle sehen. Ich gehöre inzwischen auch dazu. Der Unterschied zwischen uns und den GARDAs das ist die Fähigkeit, das Fluidum wahrzunehmen, welches das Gehirn und die Nervenadern durchströmt. Unser ICH kann die zartesten Gebilde und Formen unterscheiden und deuten, sodass wir Gedankenleser im höchsten Sinne geworden sind. Dieses Fluidum bildet, wie ich bereits sagte, auch den Stoff, aus dem die Seelen bestehen. Es ist über alle Begriffe fein und zart, sodass auch der dünnste gasförmige Körper in keinem Vergleich mit diesem Gebilde gemacht werden kann.“ „Und als solch überfeiner Äther bin ich hier?“, fragte Frischmann mit ungläubiger Miene. „So ist es. Ebenso Clara", antwortete David mit freundlicher Miene. „Und da ich das Fluidum erkennen kann, wie Sie einen festen Körper, so sehe ich Sie deutlich vor mir, als wären Sie ein Mensch aus Fleisch und Blut.“ „Wo ist Clara jetzt? Ich würde sie gerne sprechen.“ „Das geht nicht, da Sie den Seelenstoff nicht wahrnehmen können. Außerdem muss Clara erst wieder geboren werden. 18 Ebenso kann Clara sie auch nicht sehen, bevor sie hier nicht geboren ist. Sie würden sich gegenseitig nicht sehen und auch nicht verständlich machen können. Dagegen vermögen Sie mich und alle anderen hier geborenen Wesen zu erkennen. Es ist natürlich unmöglich, Ihnen die ungeheure Fülle der Erscheinungen auch nur im entferntesten zu schildern, die uns hier auf dem Midgard umgibt. Wir brauchen viel Zeit, wenn ich Ihnen auch nur im Entferntesten schildere, wie unser Leben im Einzelnen auf dem Midgard ist. Fest steht, dass alles viel schneller vor sich geht wie auf dem Planeten Erde. Wachstum und Entwicklung der Lebewesen gehen bei uns viel schneller vor sich, als auf der Erde. Ich selbst bin das beste Beispiel dafür. Nach dem Tod, sozusagen während der Läuterung, lebt der Mensch gewissermaßen nach rückwärts. Er erlebt alles noch mal bis zur Kindheit in rückwärtiger Reihenfolge. Meine Geburt hier erfolgte vor acht irdischen Jahren, der jetzt von mir erlangten geistigen und körperlichen Entwicklung nach würde ich nach dem Maß eines Kulturvolkes der Erde gemessen aber bereits ein Alter von zwanzig bis dreißig Jahren erreicht haben. Zahllose dicke Bände würden erforderlich sein, um all das zu beschreiben, in was sich der Midgard von der Erde unterscheidet. Jetzt muss ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf den Herrn zu richten, der uns gegenüber am anderen Ende des Saales steht und den Eingang so aufmerksam beobachtet." „Welchen Mann meinen Sie? Es stehen mehrere da.“ „Den großen dunkelhaarigen Mann, der mit den herrlichen langen Haaren.“ 19 „Ah. Sie meinen, den Mann mit den reich verzierten Sandalen. Wirklich, ein schöner Mann!" „Ja, das kann man sagen. Er wird Claras künftiger Vater.“ Staunend sah Frischmann David an und Gedankenblitze jagten durch sein Gehirn. David lächelte, als er Frischmanns Gedanken las. „Das Wichtigste ist die Abstammung. Sie werden bald sehen, dass die Midgardwesen nichts planlos machen und irgendwelchen Zufällen vertrauen." „Um Gottes willen", rief Frischmann. „Sie wollen nur Supermenschen erzeugen? Was ist mit der Liebe und dem Geschlechtsleben? Unterliegt sie bei Ihnen bestimmten Gesetzen? Nein, danke, dann verzichte ich auf eine Wiedergeburt auf dem Planeten Midgard. Die Liebe ist doch das Schönste und das Herrlichste auf der Welt.“ „Urteilen Sie nicht vorschnell“, mahnte David, während ein feines Lächeln seine Züge erhellte. „Wir machen einen Unterschied zwischen Zeugung und Geschlechtsgenuss. Dieses überlassen wir dem Paar, nur gestatten wir nicht, jedem Paar Kinder zu zeugen.“ „Das sind ja menschenverachtende Ansichten“, schimpfte Frischmann und sah sich wütend um. „Ihr seid ja schlimmer als die Nazis. Was passiert mit den Leuten, die Kinder ohne gesetzliche Erlaubnis bekommen?“ 20 „Was soll mit ihnen passieren? Wir tun ihnen nichts. Allerdings können sie nur in unsere Gesellschaft aufgenommen werden, wenn sie in öffentlichen Prüfungen nachgewiesen haben, dass sie alle Fähigkeiten der Midgardwesen erworben haben. Kinder aber, die mit Genehmigung unserer Behörden geboren werden, stehen im höchsten Ansehen, und seine Nachkommen haben von vornherein alle die Eigenschaften, welche unserer Stufe der Entwicklung entsprechen." Frischmann brach in ein heftiges, anhaltendes Gelächter aus. Als er sich beruhigt hatte, sagte er grimmig: „Kindermachen mit behördlicher Erlaubnis! Welch ein Hohn!" „Sehen Sie“, sagte David immer noch ruhig lächelnd. „Unter den Menschen auf der Erde gäbe es weder Krüppel noch Verwachsene von Geburt. Krankheiten wären nur noch selten, Nervenkliniken ständen leer, wenn das wichtige Gesetz von der Vererbung beachtet würde. Betrachten Sie doch mal die Menschen. Sehen Sie nicht auf ihre Kleidung, sondern in das Gesicht und auf die Figur. Die meisten sind zu dick oder zu dünn. Viele Menschen sind zu klein. Die einen haben missgebildete Füße, die anderen Affenarme. Manche sind so hässlich, dass man sie nicht anschauen mag. Dabei ist die Seele oft gut und edel, aber sie führt ein schreckliches unbefriedigtes Dasein. Und all diese Übel rühren von der Missachtung des Vererbungsgesetzes her. 21 Sehen Sie, die Menschen suchen sorgfältig für die Züchtung von Rassepferden- und Hunden, Rindviechern, erstklassige Exemplare, frei von Krankheiten und anderen Gebrechen. Und sie haben Erfolg. Es gelingt ihnen, die edelsten und wertvollsten Rassen zu züchten. Doch sie selber paaren sich, wie sie wollen. Die Nachkommen mögen krank, hässlich oder dumm sein, aber an eine Veränderung denkt niemand.“ Eine sehr schöne Frau trat in den Saal, und David unterbrach seine Rede. „Das ist die zukünftige Mutter von Clara.“ Frischmann starrte die wunderschöne Frau wie gebannt an. „Heute ist die Verbindung von Lanus und Malve. Betrachten Sie diese Frau, damit Sie einen Begriff von der Schönheit der Midgards, erlangen." Diese Aufforderung war überflüssig, denn Frischmann vermochte keinen Blick von Malve zu wenden. Und ohne dass er es wollte, sprach er laut seine Gedanken aus. „Ja, es stimmt, sie ist ein himmlisches Geschöpf. Dieses lange blonde Haar, die Augen, die wie flüssiges Zinn leuchten und diese Figur ... einfach prächtig. Sie ist noch schöner als Clara ... viel schöner als alle Frauen auf der Erde ..." Frischmann hatte in seiner Begeisterung über die Erscheinung Malves den blonden Mann total vergessen. Wie im Selbstgespräch fuhr er fort. 22 „Und dieses Kleid, dieser bis an die Knöchel fließende schimmernde Rock. Dann diese Hände! Kein Ring schmückt ihre langen schmalen Finger. Es wäre auch nicht nötig. Diese Schönheit, dieses Meisterwerk der Natur braucht keine Verzierungen." Mit einem Lächeln um den schön geschwungenen Mund wand Malve ihr Gesicht Frischmann zu, als kenne sie ihn. „Oh, mein Gott“, stöhnte er. „Was für eine Frau!“ Malve wandte sich jetzt wieder Lanus zu, der ihr einen Strauß mit hellblauen Blumen reichte. „Kommen Sie, gehen wir näher heran! Nachher sehen Sie die Hochzeitszeremonie.“ Immer mehr Personen betraten den Saal, dann folgte eine Gruppe junger Männer mit Musikinstrumenten. „Setzen wir uns auf diese Stühle", sagte David, und bat Frischmann Platz zu nehmen. Frischmann konnte sich nicht sattsehen an Malves schönem Gesicht, ihrer Gestalt, ihren Gesten, Bewegungen. Und plötzlich bemerkte er, dass er durch sie hindurchsehen konnte. Er sah das rote Fleisch, die feinen Sehnen und Muskeln, die tausend Adern und Äderchen. Ich kann sehen wie ein Midgars, dachte er. „Starren Sie Malve nicht so an“, unterbrach David Frischmanns Betrachtungen. 23 „Schildern Sie mir, was Sie sehen, damit Sie später den Menschen darüber berichten können!“ „Ich kann es nicht beschreiben. Es ist unglaublich, was ich in diesem herrlichen Körper sehe. Wie sich alles bewegt, wie die inneren Teile arbeiten. Herz, Lunge und all die weichen elastischen Organe, die überaus praktisch und doch wunderschön angeordnet sind. Hier hat die Natur etwas Unglaubliches geschaffen. Selbst den Knochenbau vermag ich zu durchblicken. Was nie ein Arzt oder Forscher je erblickt hat, kann ich sehen. Nämlich das vibrierende, strotzende Leben im Körper. Vor meinen Augen entwickelt sich eine nie gesehene Farbenpracht, alle Nuancen sind vertretbar und schieben sich symmetrisch durcheinander. Durch all das aber ziehen schimmernde silberweiße Fäden, in denen kein Leben zu pulsieren scheint, doch sind sie sicher das tragende Geäst des Wesens. Die Nerven!“ „Genau, Sie haben richtig erkannt, Frischmann. In ihnen fließt das Seelenfluidum, das Sie noch nicht sehen können. Doch wir können erkennen, was die Wellenlinien zu bedeuten haben, sodass wir an den Hebungen und Senkungen lesen, welche Ideen durch die zarten Gebilde rauschen.“ „Ich denke, das hat nichts mit der Seele zu tun", erwiderte Frischmann angriffslustig. „Das sind elektrische Erregungen, welche durch die Nervenstränge und Nervenfäden zwischen verschiedenen Endstellen und dem Nervenzentrum hin und her gehen.“ 24 „Ohne Zweifel ist die Elektrizität dabei im Spiel. Denn es gibt weder einen Körper noch eine Bewegung ohne sie, die doch nur eine Erscheinungsform des Äthers ist, jenes dünnen Urstoffes, aus dem alle materiellen Dinge hervorgegangen sind. Wer aber erbaut alle diese Gebilde aus dem Äther? Es ist der Seelenstoff, der noch weit zarter ist als der Äther. Ich denke, Sie verstehen, was ich meine, lieber Freund." „Sie meinen also, den dünnen Äther durchdringt der noch dünnere Seelenstoff und bildet alles, was existiert aus jenem?" „Ja, das meine ich. Dadurch hat jeder Gegenstand, jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch eine Seele für sich, ein ICH. Dieses ist aber naturgemäß nur ein Teil des allgemeinen Seelenstoffes und steht mit dem Ganzen daher in Zusammenhang. Noch feiner als der Seelenstoff ist der Geistesstoff, welcher deshalb wiederum Äther und Seelenstoff, durchdringt. Er ist der Ursprung dieser beiden und hat sie hervor gebracht, um das Weltgetriebe zu ermöglichen, aus dem wir nicht heraus können und über das hinauszublicken uns nicht möglich ist.“ Frischmann atmete tief durch. Das war ihm doch alles zu kompliziert und doch auf eine Art und Weise einleuchtend. „Sehen Sie sich Malves Kopf an. Schauen Sie ins Innere! Dort sehen Sie den Kern des ICHS, die Zentrale der Seele und zugleich auch des Geistes. Von hier gehen alle Regungen des Lebens aus, das ist das Unvergängliche, sich aber immer weiter Entwickelnde, hier ist ‚Das ewige Leben!'" 25 In diesem Augenblick ertönte wunderbare zarte Musik. Sie schien aus allen Ecken zu kommen, von oben und unten und verschmolz zu einer großen Harmonie. „Das ist das Zeichen zum Beginn des Festes", flüsterte David. „Welches Fest meinen Sie?" „Wir Midgars feiern jedes Jahr in unserer Zentralstadt, dem Sitz des Weltparlaments aller Nationen den Kulturtag. An diesem Tag werden auch wichtige Kulturfragen besprochen und Beschlüsse gefasst. Nach Erledigung dieser Arbeit finden in dieser Halle gesellige Zusammenkünfte statt. Das heutige Fest ist der Schluss der großen Tagung und gipfelt in der Vermählung von Lanus und Malve.“ Frischmann sah wie Malve und Lanus von Tisch zu Tisch gingen und sich mit den Gästen unterhielten auf ihre Art. Inzwischen waren sie auch zu der Stelle gelangt, an welche David und Frischmann sich befanden. Malve lächelte. Frischmann sah, wie die Töne in den Farben ihrer Haut unaufhörlich wechselten. Es war das Widerspiel des Gespräches, welches Malve, Lanus und David führte. Da hierbei kein Laut gewechselt wurde, war es Frischmann nicht möglich, irgendetwas zu verstehen. Außerdem beherrschte er ihre Sprache nicht. Er merkte, dass auch von ihm die Rede war, besaß er doch für einen Erdenmenschen ein außerordentlich entwickeltes seelisches Feingefühl. Er fühlte, wie der durchdringende, scharfe 26 Blick Lanus mehrfach auf ihn ruhte. Nach einer Weile verabschiedete sich das Paar und sie gingen an einen anderen Tisch. „Ich habe bemerkt, dass Sie von mir gesprochen haben“, sagte Frischmann. „Natürlich. Ich sagte dem Brautpaar, dass Sie auf Erden der zweite Mann ihrer zukünftigen Tochter gewesen seien, und dass auf meine Veranlassung Claras Seele rechtzeitig von ihrem irdischen Körper freigemacht worden ist.“ Frischmann schüttelte den Kopf und sagte: „Ich glaube, dass von all dem, was Sie mir hier zeigen, von Ihrem Midgardplaneten und seinen Wesen, Sie selbst eingeschlossen, nichts vorhanden ist. Es wird nur ein wirrer Traum, eine Ausgeburt meiner lebhaften Fantasie sein!" „Nein, mein Freund, vergessen Sie mal, dass Sie ein Erdenmensch sind. Niemand ist fähig, sich mit seiner Fantasie etwas vorzustellen, das nicht in dieser Form auch irgendwo auf einem der unzähligen Planeten unseres Weltalls in Wirklichkeit vorhanden ist. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Hund, der die Füße auf dem Rücken hat und doch laufen kann. So etwas gibt es nicht, sagen Sie? Genau. Ihre Fantasie kann es sich nicht vorstellen und deshalb kann es Derartiges nicht geben. Was Sie also hier sehen und noch sehen werden, mögen Sie als eine Schöpfung Ihrer Fantasie betrachten. Dadurch aber ist das Dasein all dieser Gebilde bewiesen. Wie ich schon sagte, die Fantasie ist nicht fähig, sich etwas Mögliches vorzustellen, das nicht irgendwo vorhanden ist." 27 Frischmann blickte etwas spöttisch und doch zugleich nachdenklich David an. Er wollte etwas sagen, doch in diesem Moment versank ohne jedes Geräusch die eine Längswand der großen Halle. Ein herrliches Naturpanorama bildete jetzt die Fortsetzung des Raumes nach dieser Seite. Im Vordergrund, dicht an die Halle anstoßend, befand sich ein Podium, das ebenso lang war wie die versunkene Wand, daran schlossen sich ohne bemerkbaren Übergang sanft ansteigende Wiesen, Felder und Wälder. Hohe, imposante Felsen begrenzten in der Ferne das Bild einer schönen Landschaft. Mit weit geöffneten Augen betrachtete Frischmann das herrliche Bild folgte mit den Augen den Silberfäden der Bäche und blieb an einem großen See hängen, der tief unten im Tal lag. „Was für ein herrlicher See!“, rief Frischmann aus. „Der See des Lebens“, antwortete David. „Sie werden ihn noch kennenlernen. Aber jetzt passen Sie auf, gleich werden zu Ehren von Malve und Lanus Wettkämpfe stattfinden.“ David deutete auf einen mittelgroßen kräftigen Mann mit langen braunen Locken. „Sehen Sie, da ist Foras. Er hat sich auch um Malve beworben, doch sie hat sich für Lanus entschieden, obwohl Foras geistig, körperlich und dem Charakter nach in keiner Weise hinter Lanus zurücksteht. Jetzt verneigen sich die Gegner voreinander zum Zeichen, dass die Angelegenheit erledigt ist." 28 Frischmann sah, wie Malve zu Foras ging und ihm einen Kranz aufs Haupt drückte. Dann streichelte sie sein Gesicht, verneigte sich kurz und trat wieder zu Lanus. „Lanus ist wütend“, flüsterte Frischmann und beobachtete interessiert das Spiel. „Warum?“ „Foras wird der Vater von Malve zweitem Kind sein." „Aber doch nur, wenn Lanus inzwischen stirbt und sie Witwe geworden ist.“ „Nein. Unsere Moralanschauungen, unsere Ehegesetze gleichen nicht denen der Erde", belehrte der Blonde. „Malve hat Foras vor aller Welt bekränzt und liebkost. Damit gibt sie kund, dass Foras ihr auch sympathisch ist, wenn sie auch Lanus aus seelischen Motiven den Vorzug gibt." „Und was sagt Lanus dazu?" „Er muss sich unseren Gesetzen unterordnen. Natürlich wird er kämpfen, dass Malve nicht in die Versuchung gerät, sich mit Foras einzulassen. Er wird höllisch aufpassen müssen, doch wenn sie es doch tut, kann er nichts machen. Scheidungen oder Getrenntleben, wie es auf der Erde üblich ist, gibt es bei uns nicht, sind verboten.“ „Das ist eine schöne Doppelmoral“, warf Frischmann dazwischen, und in seinem Gesicht zeigte sich ein spöttischer Zug. 29 „Bei uns gilt die Meinung, dass das Blut, Wesen und Art des Vaters des ersten Kindes, also in diesem Falle Lanus, nicht nur allein in das Kind, sondern auch in die Mutter übergehen. Diese Beeinflussung des Wesens und des Blutes der Frau durch den Vater ihres ersten Kindes ist eine so intensive und nachhaltige, dass jedes weitere Kind der Frau dem Urheber des Ersten ähnlich ist, auch wenn die Erzeuger dieser späteren Kinder andere Männer sind. Die Wahl des ersten Gatten gilt als höchste Auszeichnung. Denn sie räumt seinem Blut, seinem Wesen ein Vorrecht ein, weil sie weiß, dass es in sie und in alle Kinder übergeht, die sie dem Midgardplaneten schenken wird." „Ausgemachter Blödsinn", schimpfte Frischmann. „Das wirft alle gentechnologischen Forschungen über den Haufen. So etwas kann es nicht geben. Und was sollte es für einen Zweck haben?" David lächelte und sprach ruhig weiter: „Zwischen diesen Kindern entsteht eine Verschiedenheit, und das kommt unseren auf die Mannigfaltigkeit der Rassen gerichteten sittlichen Anschauung zugute.“ „So könnte Lanus wohl zufrieden sein, dass Malve ihn erwählt hat? Doch wird er nicht eifersüchtig werden, wenn Foras ihm in die Quere kommt?" „Sicher, sogar sehr. Auch wir sind noch mit einem gewissen Egoismus befangen. Natürlich will jeder Mann seine junge schöne Frau behalten und um sie kämpfen. Doch unsere Frauen 30 hier sind frei in ihren Entscheidungen. Sie gewähren ihre Gunst an die von ihnen Auserwählten. Sie sind niemanden Rechenschaft schuldig, wenn der Auserkorene ein Midgars ist und nicht etwa von den Menschen abstammt." „Bei uns würde man solche Frauen Prostituierte nennen“, bemerkte Frischmann zynisch. „Nein. Mit diesen Frauen sind sie ganz und gar nicht zu vergleichen", sagte David ohne sich über die Bemerkung Frischmanns aufzuregen. „Mit dem Erwerb und der sozialen Existenz hat die Liebe bei uns nicht das Mindeste zu schaffen. Jeder Mensch, egal, wer er ist und was er tut, ist in Bezug auf seinen Unterhalt von staatlicher Seite sichergestellt. Natürlich bekommen die Midgars mehr Mittel zur Verfügung gestellt als die anderen." „Also gibt es hier auch soziale Unterschiede, Arm und Reich, wie bei uns", regte Frischmann sich auf. „Bei uns gibt es keine Armen. Der Unterhalt ist so reichlich bemessen, dass es den anderen an nichts mangelt. Die Midgars haben andere Verpflichtungen, andere Bedürfnisse, deshalb bekommen sie mehr. Aber sehen Sie, dort beginnt der Kampf wieder zwischen Lanus und Foras. Es ist ein Genuss ihnen zuzuschauen. Das sind keine Athleten mit plumpem Körperbau, keine stierähnlichen menschlichen Wesen, sondern herrliche große Gestalten, die ihre starken Kräfte offen und frei miteinander messen.“ 31 Frischmann sah wie sich einige Frauen und Männer aufgeregt unterhielten. „Das sind die Anhänger von Foras Partei", sagte David. „Sie befinden sich schon in Siegesstimmung.“ „Partei?“, fragte Frischmann gedehnt. „Wie soll ich das verstehen?" „Nun“, sagte der Blonde und beobachtete aufmerksam den Kampf der beiden Männer. „Bei uns gibt es zwei große Parteien. Die Materielle und die Ideelle. Foras gehört der Materiellen Partei an ... Foras scheint alle Kraft aufzuwenden. Lanus ist stark.“ Die beiden Kämpfenden standen still, als wären ihre Füße auf dem Boden festgemauert. Man sah alle Muskeln an den hüllenlosen Leibern, von denen nur die empfindlichsten Weichteile durch Bandagen geschützt waren, spielen. Foras kämpfte, doch mit einer letzten gewaltigen Anstrengung warf Lanus den Gegner zu Boden. Die Ideellen klatschten schon stürmisch Beifall, doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Foras kam wieder auf die Beine und mit einem gewaltigen Stoß brachte er Lanus zum Straucheln. Der Jubel der Ideellen verstummte, dagegen klatschten die Materiellen in die Hände und Frischmann sah an ihren Mienen, dass sie sich lebhaft über den Ausgang des Kampfes freuten. In überschäumender Begeisterung waren einige von den Materiellen auf das Podium gesprungen, hoben Foras auf ihre Schultern und trugen ihn unter stürmischen Beifall in den Saal. 32 Malve war zu Lanus geeilt und mit sanften Händen nahm sie seinen Kopf in die Hände und küsste ihn auf den Mund. Lanus erhob sich hastig und hielt nach Foras Ausschau. Es schien, als wünschte er eine Wiederholung des Kampfes mit Foras, doch der Sieg stand fest. Es gab keine Wiederholung. „Die Ideellen geben nie auf", sagte David. „Der Geist ist keines Schlafes, keiner Ermüdung fähig, nur die Apparate, welche er zu seinen Lebensäußerungen benutzt, das Gehirn, die Nerven bedürfen des Ausruhens. Unsere Ideellen haben sich derart vervollkommnet, dass sie kaum noch eine Erholung nötig haben. Der Geist ist bei ihnen allmächtig. Er beherrscht jede Gehirnzelle, jede Muskelfaser derart, dass sie seinem Willen auch nach der heftigsten Anstrengung mühelos gehorchen. Sehen Sie, wie Lanus, ohne eine Spur von Anstrengung zu zeigen mit Malve in den Saal schreitet? Malve ist ganz Frau, sie will ihn über seine Niederlage trösten, doch sein elastischer Geist hat längst überwunden. Er denkt gar nicht mehr daran. Er hat nur Sorge, dass seine geliebte Malve irgendwann auch Foras angehören muss." „Vielleicht will sie aber gar nicht“, äußerte Frischmann. „Dann würde sie eine ganze Welt gegen sich in die Schranken fordern. Foras hat nicht nur seine starke Partei, sondern alle herkömmlichen Anschauungen und öffentlichen Gesetze auf seiner Seite. Selbst die Ideellen und die grünen Harmoniker würden gegen sie sein. Sie unterschätzen den ungeheuren 33 Einfluss der Gedanken der großen Masse. Sind diese alle einer Meinung, dann brechen sie jeden Widerstand.“ „Und der Wille einer Frau wird auch auf dem Midgard nicht unüberwindlich sein!“, fügte Frischmann sarkastisch hinzu. „Jetzt werden Sie gleich den zweiten Teil des Festes sehen", sagte David und zeigte in eine Richtung, von der Sänger und Sängerinnen, unter ihnen auch viele Kinder, kamen. „Sie werden eine Glanzleistung der Dressur sehen und einen musikalischen Genuss erleben, wie Sie ihn noch nie gehört haben." Aus der hinteren Ecke des Saales kam ein älterer Mann mit langen weißen Haaren. Er war mit einem weißen Gewand bekleidet und hielt einen licht ausstrahlenden Stab in den Händen. Als er sich der Bühne näherte, klatschten die Sänger und Sängerinnen und verneigten sich vor dem Mann. Der Mann hob den Stab und aus den Tälern, von den Wiesen und Feldern kamen Vögel unterschiedlicher Art angeflogen. Es war, als wusste jeder Vogel, was er zu tun hätte. Die einzelnen Arten setzen sich zusammen und bald begann ein Durcheinander von Vogelgezwitscher, wie es Frischmann noch nie in seinem Leben gehört hatte. Der Mann hob den Stab und mit einem Mal geschah das Unglaubliche, die Vögel verstummten. Dann wurde der Stab wieder bewegt und eine Musik von unerhörter Schönheit erklang. 34 Die Künstler der Kapelle spielten, die vielen Sänger und Sängerinnen und auch alle Vögel fielen nach und nach im gleichen Rhythmus in eine Melodie ein, deren Schönheit Frischmann aufs Tiefste bewegte. Er war ein Musikliebhaber und er versäumte kaum ein Konzert. Doch so etwas Vollendetes und unvergleichlich Schönes hatte er noch nie gehört. Er schloss die Augen, um sein ganzes Empfinden auf die Hörnerven zu vereinigen, da schien sich die Musik zu entfernen, immer leiser, immer zarter, schließlich hörte er nur noch den Kuckuck wie aus weiter Ferne. Auch dessen Töne verklangen. Frischmann versank in einen Abgrund. Er hörte noch, wie eine Stimme zu ihm sagte: „Ich hole Sie bald wieder“, dann war seine Seele wieder im Körper. Schon längere Zeit hatten die Kinder an seinem Bett gestanden und Frischmann aus seinem tiefen Schlaf zu wecken versucht. Endlich schlug Frischmann die Augen auf. Er bemerkte zu seinem Entsetzen, dass er sich noch immer im Schlafzimmer befand. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er sich um. Neben ihm war das Bett von der toten Clara, gleichzeitig standen die Bilder von all dem Wunderbaren vor seiner Seele, das er im Traum gesehen hatte. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Das Leben erschien ihm sinnlos, jetzt, da seine Clara nicht mehr lebte. 35 * 36 III. „Das Kindermädchen hat uns verlassen“, klagte Lena, die Tochter Claras aus erster Ehe, ihrem endlich erwachten Stiefvater, „wir sind jetzt ganz allein.“ „Warum ist sie fortgegangen?“, fuhr Frischmann das Mädchen an. „Was ist vorgefallen?“ „Wir haben ihr nichts getan“, sagte Maik, der Stiefsohn. „Anna sagte, in einer Familie, in der die Frau auf so schreckliche Weise zu Tode gekommen sei, könne sie nicht länger bleiben. Man wäre da nicht seines Lebens sicher.“ „Wir sollten dich nicht wecken“, fuhr Lena fort. „Sie hat es uns nicht erlaubt. Inzwischen hat sie ihre Koffer gepackt und ist 37 in einem Taxi davon gefahren. Ihren restlichen Lohn schenkt sie dir.“ „Was mache ich jetzt?“, fragte Frischmann und rieb sich die Stirn. Die Kinder blickten ratlos auf ihren Stiefvater. Im gleichen Augenblick wurde heftig an der Eingangstür geklingelt. Ein starker Wortschwall drang bereits durch die Türspalte, und ehe Frischmann zu einer Begrüßung und zu einer Frage Zeit fand, wurde die Tür aufgestoßen und herein trat die Frau von Hannes Lehmann. Früher war sie eine schöne Frau gewesen, aber jetzt war sie rundlich und tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben. Mit großer Ausführlichkeit erzählte sie, dass sie die ganze Nacht kein Auge geschlossen hatte, weil sie auf ihren Mann gewartet habe. „Was ist denn passiert, Max?“, rief sie. „Stimmt es, dass Clara tot ist?“ Frischmann, der sich inzwischen vom Bett erhoben hatte, ging mit ihr und den Kindern ins Wohnzimmer. Er schickte Lena in die Küche, um Kaffee zu kochen. Beim Kaffeetrinken erzählte Frischmann dann, was passiert war. 38 Frau Lehmann hatte aufmerksam zugehört, dann fragte sie: „Wo ist aber mein Mann?“ „Bei der Polizei!“, antwortete Frischmann. „Was macht er da?“, fragte sie verwundert. „Man hat ihn verhaftet!“ „Aber warum? Was hat er getan?“ „Die Polizei denkt, dass er Clara ermordet hat.“ Die Frau schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn! Ich kenne meinen Mann mehr als dreißig Jahre. Er kann keine Fliege töten. Und Clara liebte er wie eine Tochter. Warum sollte er sie töten? An manchen Tagen haben wir uns sogar wegen Clara gezankt, weil er immer nur von ihr sprach. Ich war schon eifersüchtig auf die schöne Clara. Aber er lachte nur und sagte, ich sei ein albernes Frauenzimmer.“ Es klingelte wieder an der Wohnungstür. Maik öffnete und führte zwei Kommissare herein. Es waren die Kommissare Rohloff und Möller. Frau Lehmann, die sofort ahnte, wen sie vor sich hatte, schrie: „Wo ist mein Mann? Was haben Sie mit ihm gemacht?“ „Wer sind Sie?“, fragte Rohloff forsch. „Paula Lehmann, ich bin die Frau von Hannes Lehmann.“ 39 „Ah ja, zu Ihnen wollten wir auch noch. Gut, dass Sie hier sind. Sie können uns gleich mit aufs Präsidium folgen. Wir haben noch einige Fragen an Sie!“ Frischmann stand auf und sagte zu den Kriminalisten: „Lassen Sie Frau Lehmann in Ruhe. Sie und ihr Mann sind unschuldig am Tod meiner Frau, sie sind …“ Frischmann wurde knallrot und konnte kein Wort mehr hervor bringen. Seine Arme blieben weit vorgestreckt, der Mund stand offen. Die Augen blickten starr, ein Röcheln kam aus seiner Brust. Er wankte hin und her. Dann sank er in seiner ganzen Länge nach vorn. Alle Anwesenden waren zutiefst erschrocken, denn jeder glaubte an einen neuen Todesfall. Man legte Frischmann vorsichtig auf das Bett. Der Notarzt, den man gerufen hatte, erklärte es wären Kreislaufstörungen, die bald wieder abklingen würden. Er gab Frischmann eine Injektion und verließ das Zimmer. * Ihr kataleptischer Zustand wird in einem langen anhaltenden, tiefen Schlaf übergehen. Diese Gelegenheit musste ich benutzen, Ihr vom Körper Losgelöstes ICH nach dem Midgard zu entführen, wie ich es versprach.“ 40 Frischmann hörte keine Stimme, aber erfasste den Inhalt dieser Worte, ihr Sinn in sein Bewusstsein über. Auch glaubte er zu wissen, von wem die Botschaft kam, obgleich er niemanden sah. „Ich möchte noch hier bleiben, um zu erfahren, was mit mir geschieht", antwortete er, ohne zu sprechen und nur dadurch, dass dieser Gedanke in ihm entstand. „Ich sehe einen Arzt kommen, möchte doch zu gerne wissen, was er mit mir anstellt.“ „Kein Problem. Wünschen Sie sich im Geiste zurück, dann werden Sie auch schon dort sein.“ Frischmann tat, wie ihm geheißen worden war und im nächsten Augenblick befand sich sein körperloses ICH wieder in seinem Schlafzimmer. Mit innerer Entrüstung nahm er wahr, wie der Arzt ihm eine kräftige Ohrfeige verpasste und in den Arm zwickte und dann nach Kommissar Rohloff rief. Frischmann hatte genug gesehen, er sehnte sich weg, weit fort von dieser Stätte. Er dachte an die ruhige und schöne Welt des Midgard. Und plötzlich versank die Erde aus Frischmanns Gesichtskreis und im nächsten Augenblick befand er sich wieder auf dem Midgard neben dem blonden David. Im Saal wurde immer noch gefeiert, und Frischmann fragte, was heute der Anlass sei. „Heute begrüßen wir Gelehrte von dem Planeten Zillar.“ 41 Frischmann sah sich um, als eine zarte Musik den Saal erfüllte. Aus allen Ecken und Winkeln strömten Wohlgerüche, und die Sonne strahlte. „Es ist ein Wunder, dass dieser Riesenball von Sonne nicht alles versengt und verbrennt, was sich hier befindet.“ „Unsere Atmosphäre betrifft an Ausdehnung und Dichte die der Erde um das Achtzigfache. Infolgedessen werden die Feuerstrahlen unserer Sonne von unserem Luftmeer aufgesogen und gemildert, dass unsere klimatischen Verhältnisse im Großen und Ganzen mit denen der Erde übereinstimmen. Das ist auch notwendig, weil sich nur bei so gearteten Temperaturzuständen das Leben bis zu unserer gegenwärtigen Höhe entwickeln kann." „Gibt es auch Planeten irgendwo im Universum, bei denen die höchsten Wesen weiter vorwärtsgekommen sind als die Midgards?“, fragte Frischmann. „Sicherlich, aber in den von uns zunächst gelegenen Regionen nicht.“ Die Musik verstummte plötzlich. Alle Anwesenden blickten auf und sahen nach dem Podium. Dort waren eine Anzahl Männer versammelt, die den Erdenmenschen sehr ähnlich sahen. Einer von ihnen führte das Wort. Er stand vor einer riesigen weißen Fläche, auf der Zeichnungen als Lichtbilder in bedeutender Vergrößerung zu sehen waren. „Was sind das für Leute?“, fragte Frischmann. 42 „Das sind ERME, und der dort steht, ist einer der führenden Leute der hiesigen Universität. Er will die Anwesenden davon überzeugen, dass es keine Seele gibt. Er will den Nachweis führen, dass bei der Ausbrütung eines Eis, das auf rein mechanischem Wege mit Hilfe von Wärme erfolgt, ein Vogel entsteht, dabei sei aber von einer Seele nichts bemerkbar.“ „Was sagt der Mann?“ „Er sagt, dass genau nach den Gesetzen der Entwicklung sich erst das eine Organ, dann das andere bildet. Es wiederholt sich die Entstehung des ganzen Geschlechts mit allen seinen Durchgangsstufen in der einst durchlebten Reihenfolge bei dem einzelnen Vogel. Wenn der Vogel die Schale des Eis durchbricht, blickt er neugierig in die Welt und sucht sofort nach Futter. Wo soll da die Seele sein? Die ERME bemühen sich, einer viel höheren Rasse glaubhaft zu machen, was sie nach ihrer eigenen weit tiefer reichenden Erkenntnis niemals glauben kann.“ „Werden denn die Unterschiede zwischen ERME, MIDGAS und GARDAS nicht erkannt und gewürdigt?“, fragte Frischmann erstaunt. „Von den Gebildeten allerdings, aber nur in politischer Hinsicht. Der höhere Geist regiert, ohne zu herrschen. So kommt es, dass die zahlreichen Menschen die Verwaltung ihrer örtlichen öffentlichen Angelegenheiten meistens den MIDGAS anvertrauen, die aber im Vergleich zu den zwanzig Milliarden Midgardwesen nur wenige sind. Die meisten sind GARDAS und ERMES. Wir MIDGAS sind nur zehntausend. Wir stehen überall an der Spitze und bilden die Leiter und Lenker, denn der Midgard ist 43 nach seiner natürlichen Beschaffenheit in Zonen und nach seiner Bevölkerung in Staaten eingeteilt. Politik, Wissenschaft und Kunst leiten Führer, die zu diesen Ämtern ohne ihr Zutun berufen werden und die nach Gutdünken annehmen oder ablehnen." „Und was ist mit Religion? Gibt es keine Kirche auf dem Midgard?" „Nein. Wie sollte das denn möglich sein? Niemand hat bei uns eine Religion. Weder die MIDGAS noch die GARDAS oder ERMES. Aber auch die MIDGAS, die wirklich in die geheimnisvollsten Abgründe des Wissens eingedrungen sind, bleibt ein Rest, ein unerforschliches Etwas, dass er nicht zu erfassen vermag. Wir können hier ebenso wenig wie Sie auf Erden, trotz des weitesten Vordringens eine Grenze des Raumes finden. Von der Entfernung des nächsten Weltensystems betrachtet, bleibt unser Midgard mit all seinen Ozeanen, seinen Gebirgen und weiten Ländern, mit den dicht bevölkerten Staatengebilden ein winziger Punkt. Völlig bedeutungslos für das Ganze, und wie es scheint, von einer zweck- und ziellosen Existenz. Und die Zeit? Was sind Millionen Jahre im Leben des Alls? Doch was bedeutet diese Spanne Zeit für die Midgardbewohner? Eine Ewigkeit! In diesem Zeitraum sind viele Einzelwesen gekommen und gegangen und ihre Werke, mächtige Staatengebilde, Kunstwerke aus Stein und Marmor, die unvergänglich scheinen. Sie verschwinden mit den Kontinenten, auf denen sie errichtet sind. Aus dem Gesichtswinkel einer solchen Spanne Zeit betrachtet, die uns eine Ewigkeit dünkt und doch nur ein Moment im Dasein des Alls ist, sind unsere Werke ein Nichts. Das Getriebe und Gezanke, wie es auf der Erde herrscht, das Würgen und Morden, das Kämpfen um Macht 44 und Einfluss bringt uns zum Lächeln, denn hier kennen wir das nicht. Und trotzdem werden unsere Einrichtungen, unsere Schöpfungen, so vollkommen sie auch sein mögen, von jenen verlacht, die imstande sind, einen Zeitraum von Millionen Jahren so zu überschauen, wie wir einen Augenblick. Für Zeit und Raum gibt es keine Grenze für alle Geschöpfe, die auch in Bezug auf die Körperlichkeit der Dinge nicht an das Ende gelangen können. Die Größe des Alls ist durch kein Teleskop, keine Gedankenreise zu ermessen. Blickt man aber in sein Inneres, sucht man in den tiefsten Tiefen der Seele nach dem Ursprung des Lebens, so muss man, ohne an die Grenze zu gelangen, mit seinen Gedanken plötzlich haltmachen. Es ist, als wäre das Innerste ICH von einem Wall umgeben, den man nicht zu überklettern vermag. Jenseits dieser Mauern ist der Ursprung. Da wohnt das, aus dem alles fließt und sprießt. Da ist die Quelle des Wesens, welche natürlich ihre Kraft aus dem Urquell alles Leben bezieht. Richtet man aber die Ideen außer sich etwa senkrecht nach oben, so wird man sich bei heftigen Suchen nach dem Urwesen plötzlich frei aller Gebundenheit fühlen. Es ist, als ob man in das sich auflöst, aus dem alles hervor geht. Nennen Sie dies nun Natur oder Gott. Jedenfalls ist die Empfindung davon das, was wir MIDGAS als Religion ansehen. Sie ist das Gefühl dessen, was wir noch nicht wissen. Die Ahnung davon, dass es noch etwas Höheres gibt, als das, was wir bis heute als letzte wissenschaftliche Ursache des Seins erkannt haben. Und da wir den allerletzten Grund niemals begreifen werden, so wird es auch für den umfassendsten Geist ewig Religion 45 geben. Religion der höchsten Geister ist das Bewusstsein von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit allen Seins im Gegensatz zu der Annahme der irdischen Materialisten, die den Zufall auf Gottes Thron setzen.“ „Nein. Nicht den Zufall, sondern die Naturgesetze“, erwiderte Frischmann heftig. „Sobald Sie von Naturgesetzen reden, kommen Sie auf einen persönlichen Gott hinaus. Denn Gesetze sind Gedanken und Anordnungen eines vernünftigen Wesens, aber niemals die Folge eines zufälligen Zusammentreffens von Elementen, dessen Existenz doch auch wieder den Gedanken als letzte erkennbare Stufe ihren Ursprung hat.“ Frischmann hatte zwar nicht alles verstanden, was der blonde Mann vorgetragen hatte. Die Worte schienen jedoch Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Er sagte zögernd: „Ich muss gestehen, dass auch ich Ähnliches schon empfunden habe, obgleich ich mich zum Materialismus in seiner extremsten Richtung bekenne. Ich habe die Religion immer als etwas Widersinniges und völlig Unnötiges, ja den Fortschritt Hinderndes angesehen.“ „Wie konnten Sie das? Mögen viele unnütze Dinge besonders der kirchlichen Religion anhängen, ihr Fundament ruht auf der Wahrheit. Denn sehen Sie, Lügen und Irrtümer vermögen nicht Millionen und Abermillionen Wesen Jahrtausende lang in ihren Bann schlagen. Jeder Mensch hat diejenige Religion, bis zu welcher seine Fähigkeit, seine geistige Auffassungskraft ihn em46 porhebt. Wobei der Einfluss des Klimas und der sonstigen Existenzbedingungen auf die Art der Religion unverkennbar ist. Noch heute gibt es viele Völkerstämme, zum Beispiel in der Dritten Welt, die sich die Ursachen von Gewitter, Blitz und Donner nicht erklären können. Ebenso Menschen in den kälteren Gegenden. Sie fürchten die raue Jahreszeit, die langen Winternächte. Sie beten zu Gott, dass er den Schneesturm vertreibe. Oder in den heißen Gegenden, dass er Regen bringen möge. Aber sehen Sie, jetzt kommt der andere Gelehrte. Er zeigt jetzt ..." David begann zu lachen. „Warum lachen Sie?“ Frischmann drehte sich jetzt ebenfalls um. Er sah zu dem Gelehrten, der Bilder eines weiblichen Körpers vorstellte. Die Bilder wechselten aber zu rasch, sodass Frischmann nicht erkennen konnte, um was es genau ging. „Die Rache der Natur. Ich will Ihnen in wenigen Worten erklären, um was es sich handelt. Einige hochgebildete GARDAS hatten sich mit ihren Frauen auf einer großen abgeschlossenen Insel niedergelassen, um ohne fremde Einmischung sich zu einer höheren Kultur zu entwickeln. Dabei geschah es, dass sich die Männer nicht der verfeinerten Sinnlichkeit ihrer klugen Frauen anzupassen wussten. Sie wurden homosexuell. Die Geburtenzahl ging auf ein Minimum zurück. Da half sich die Natur durch einen meisterhaften Zug. Die Frauen wurden ein geschlechtlich, in ihnen entwickelten sich 47 nach heftigem Verlangen Embryos ohne vorhergegangene Befruchtung. Sie gebaren Kinder, aber nur Mädchen.“ Frischmann lachte laut. „Hübsches Märchen. Also, ich muss schon sagen, junger Mann, Sie erzählen ganz schönen Unsinn.“ „Es ist kein Unsinn“, entgegnete David mit einem milden Lächeln. „Die Homosexuellen starben nach und nach aus. Und später traten dann auch wieder Knabengeburten auf.“ Frischmann sah den blonden Mann verständnislos an. Doch dieser redete weiter: „Jede winzige Zelle, ob sie allein lebt oder zum großen gemeinsamen Zellenstaat eines lebenden Körpers gehört, ist fähig zu denken. So gering der Umfang dieses seelischen Denkvermögens auch sein mag, es überlegt und handelt zweckmäßig. Jede Zelle in irgendeinem Knochen oder Weichteil hat im Laufe der Jahrtausende erkannt, wie sie sich zum Nutzen des Ganzen zu gestalten hat und welcher Stoffe sie zur Bildung ihrer besonderen Art bedarf. Betrachten wir nur die Hautzellen. An den Fingerspitzen bilden sie sehr empfindliche Stellen. Auf dem Rücken der Finger hornartige empfindungslose Nägel. Hier setzen die Hautzellen Haare an, dort gestalten sie sich zu Schuppen und dort wieder zu Federn, andere bilden sich zu langen Stacheln um. Wieder andere produzieren einen dichten Pelz. An den Rändern der Eingänge der Haut, am Mund zum Beispiel, bildet sich elastisches festes Fleisch und immer wird den betreffenden Zellen das 48 ihnen notwendige Material aus dem Magen, mithilfe des Blutes zugeführt. Verletzt man irgendein Körperteil, so berichten die verwundeten Stellen benachbarte Zelle nach dem Denkzentrum. Dieses wieder veranlasst den Magen mithilfe des Blutes solche Stoffe nach der Wunde zu befördern, die durchaus zweckmäßig erscheinen, um eine möglichst schnelle Heilung herbeizuführen. Dabei ist das Vermögen zu denken und zu handeln, bei der verletzten Zelle ebenso beschränkt in der Forderung und Anwendung der Mittel, wie das der Zellen in der Denkzentrale in dem Aufsuchen und Herbei senden der gewünschten Stoffe. Beide müssen studieren und probieren, sie machen Fehler und irren sich. Sie wissen keine Mittel gegen plötzlich auftretende neue Krankheiten. Sie können sich nun denken, wie lange und heftig die Eizellen im Mutterleib nach der Zentrale telegrafieren mussten, ehe es gelang, diese derart aufzuregen, dass sie überhaupt die Gefahr erkannte, in der die ganze Rasse schwebte. Sie wissen, dass die Gardas durch Nervenstränge sehen können. Der grauhaarige Gelehrte dort, der an der Wand gelehnt steht, hat davon Aufnahmen gemacht. Die Zuschauer können nun genau verfolgen, wie ängstlich alle jene Zellen im Mutterleib um Hilfe nach den Zellen der Zentrale telegrafierten, die an der Schaffung beteiligt oder für diesen Zweck fast ausschließlich vorhanden sind.“ „Nettes Märchen“, warf Frischmann ein. „Aber erzählen Sie weiter!“ „Das Zentralbewusstsein der Frauen wurde also stark erregt und zum Wunsch der Mutterschaft auf das Höchste angefeu49 ert. Endlich - nach langem Bemühen kam das Unterbewusstsein auf die Idee, dem Ei im Mutterleib Stoffe zuzuführen, die es ohne männliche Befruchtung wachsen ließen.“ „Angenommen, all das ist wahr, was Sie mir hier erzählen“, unterbrach Frischmann den Mann. „Doch wieso halten sich die MIDGAS für die Führer eures Planeten, wenn sie doch über die Verfehlungen anderer, in diesem Fall waren es die GARDAS, lachen.“ „Laster und Sünden sind Dummheiten. Sie werden begangen, weil die Menschen zu wenig Intelligenz zeigen, die Folgen ihrer Handlungsweise vorauszusehen. Es bedarf keiner menschlichen Gesetze. Die Natur bestraft alles und jedes ohne menschliches Zutun. Wir lachen nur über die Originalität, wie die Natur in diesem Fall die Homosexuellen bestrafte." In diesem Augenblick wurden die Anwesenden nervös. Man sah nach einer der schmaleren Seitenwände des Raumes, durch die eine wundervoll geformte Tür führte. Lanus schritt mit Malve Hand in Hand auf das Podium entlang nach diesem Ausgang zu. Frischmann bewunderte noch mal das schöne Paar. Lanus schien aufgeregt zu sein. Malve ging, die Augen zu Boden gesenkt, an seiner Seite. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sagte David: „Blicken Sie durch die Wand hindurch, Frischmann. Sie sehen in das Brautzimmer der MIDGAS, wo jetzt die Vereinigung von Lanus und Malve stattfindet." 50 Frischmann war sprachlos vor Staunen. „Das geschieht hier öffentlich", sagte er und blickte mit fieberhafter Erregung nach jenem Zimmer. Er sah Foras, der mit großen Schritten vor der Tür des Zimmers auf und ab ging, plötzlich überlegend stehen blieb und sich dann rasch entfernte. Das Hochzeitszimmer war mit unbeschreiblicher Pracht ausgestattet. Viele Möbel und Gegenstände waren Frischmann fremd. Er vermochte auch ihre Bedeutung nicht zu erraten. Er hatte auch wenig Interesse dafür, da Lanus und Malve begannen, sich allmählich gegenseitig auszuziehen. „In wenigen Augenblicken wird die Seele Claras ihre körperliche Wiedergeburt auf dem Midgard beginnen. Sie schwebt in dem Brautzimmer für uns unsichtbar umher.“ „Wieso kann Clara so schnell wieder geboren werden? Sie sagten doch, es müssen Jahre vergehen. Sie selber ..." „Pst", unterbrach ihn David. „Das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal. Jetzt beginnt das Liebesspiel. Dazu brauchen Sie Ruhe, absolute Ruhe!" Frischmann beobachtete, wie Malve Lanus Körper zärtlich streichelte. Mit fieberhafter Spannung beobachtete er, was dann passierte. „Mit dem Einzug der Seele Claras in den Körper von Malve wird das Fest beendet.“ 51 Frischmann wollte etwas erwidern, aber ihm war, als fiele ein schwarzes Tuch über seine Augen. Malve, Lanus, David, der Saal - alles versank im Dunkeln. „Nehmt doch das Tuch weg", jammerte Frischmann. „Ich will Malve sehen, die wunderschöne Malve!" Frischmann erwachte und schob das Kopfkissen von seinem Gesicht. Er saß aufrecht im Bett und neben ihn waren seine Kinder. „Endlich, Papa, bist du wach!“, sagte sein Stiefsohn zu ihm. „Du hast schrecklich geträumt und dabei gelacht und sehr viele unverständliche Worte gesprochen und geschrien.“ 52 IV. „Ich kann für Herrn Frischmann nichts mehr tun!“, rief der Chef der Rüschel- & Königbank seinem Buchhalter zu. „Er ist für unsere Bank nicht mehr tragbar. Wochenlang ist er krank, und wenn er mal arbeitet, kippt er mitten bei der Arbeit am Schreibtisch um. Das geht nicht. Zahlen Sie seinen letzten Lohn aus und damit basta! Das Kündigungsschreiben wird er ja schon erhalten haben.“ „Tja, ich denke, Sie machen einen Fehler, Herr Rüschel. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Frischmann über eine Million Euro geerbt hat. Er hätte das Geld bestimmt bei unserer Bank angelegt, aber Sie haben ihm ja gekündigt.“ Der Bankier kratzte seinen Kopf. „Da habe ich wohl einen Fehler gemacht“, meinte er seufzend. „Die Einlage könnte unsere Bank jetzt dringend gebrauchen.“ 53 „Machen Sie die Kündigung rückgängig und bieten Sie ihm einen Teilhabervertrag an. Ich kann Rechtsanwalt Täuber gleich anrufen.“ „So einfach wird das nicht sein“, murrte der Bankier. „Frischmann hat Stolz. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen.“ „Was meinen Sie?“, fragte der Buchhalter und sah seinen Chef abwartend an. „Ich werde meine Tochter Helena einschalten. Sie ist sehr schön und Frischmann ist dem schönen Geschlecht sehr zugetan. „Helena ist erst achtzehn. Sie können sie doch nicht mit Frischmann verkuppeln. Er ist fünfzehn Jahre älter als sie.“ „Na, und? Was sind schon fünfzehn Jahre? Helena ist für ihr Alter sehr reif und erfahren. Sie muss Frischmann dazu bringen, dass er seine Million in unserer Bank anlegt.“ Ein paar Tage später erhielt Frischmann ein Schreiben von seinem ehemaligen Arbeitgeber. Es war ein höfliches, nettes Schreiben und er beschloss, die Bank aufzusuchen. Man erwartete ihn schon. Er wurde in das Arbeitszimmer des Chefs geführt. Eine Sekretärin brachte Kaffee und Kuchen. Kurz danach erschien Rüschel, an seiner Seite eine schöne junge Frau. Sie hatte tiefschwarze lange Haare und blaue Augen. 54 „Meine Tochter Helena“, sagte Rüschel und lächelte freundlich. „Helena wird einmal die Bank übernehmen und deshalb führe ich sie allmählich in die Geschäfte des Hauses ein.“ Frischmann lächelte der schönen Frau zu. „Tja, Herr Frischmann, ich will nicht lange herumreden“, begann Rüschel. „Sie hatten in letzter Zeit viel Pech gehabt, dennoch waren Sie ein zuverlässiger Mitarbeiter in unserer Bank. Ich habe wohl etwas übereilt gehandelt. Ich möchte die Kündigung wieder zurücknehmen.“ Frischmann nippte an seinem Kaffee und sah erstaunt auf. Mit diesem Angebot hatte er nicht gerechnet. „Überlegen Sie es sich, Herr Frischmann …Natürlich könnten Sie auch als Teilhaber bei uns einsteigen. Wie ich gehört habe, haben Sie eine beträchtliche Summe geerbt und …“ „Das ist richtig“, unterbrach Frischmann den Mann. Helena lächelte Frischmann aufmunternd an. „Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld vorhaben?“, fragte Helena lächelnd. Frischmann schüttelte den Kopf. Er war verlegen. Die schöne Helena verwirrte ihn mit ihren schönen Augen und ihrem wundervollen schlanken Körper, den langen Beinen und dem anmutigen Gang. 55 Vater und Tochter warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann entschuldigte sich Rüschel für einen Moment und verließ den Raum. „Ich würde mich freuen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten“, sagte das Mädchen, nachdem ihr Vater den Raum verlassen hatte. „Wir wären bestimmt ein gutes Team.“ Er betrachtete ihren Mund, ihre Hände, dann glitten seine Blicke zu ihren Brüsten, die sich unter der engen Bluse abzeichneten. Er fragte sich, ob sie schon mit einem Mann geschlafen hatte oder ob sie noch Jungfrau war. Helena stand auf, kramte in dem Aktenschrank und zog ein gedrucktes Formular hervor. „Hier ist der Teilhabervertrag. Wir könnten ihn gleich zusammen ausfüllen“, sagte sie charmant. Frischmann nahm das Papier und warf einen Blick darauf. „Geld, Geld und immer wieder Geld“, sagte er, das Blatt auf den Tisch werfend. „Ich aber will Liebe!“ „Ihre Wünsche kann ich erfüllen“, antwortete sie mit nervösem Flimmern in ihren Augen. „Unterschreiben Sie den Vertrag! Sie gefallen mir, Max. Ich will auch Liebe! Sie sind ein erfahrener Mann! Bringen Sie mir die Liebe bei!“ 56 Er unterschrieb hastig den Vertrag. Dann sprang er auf und nahm sie in seine Arme. Er küsste sie so leidenschaftlich, dass ihr fast die Luft wegblieb. Die leidenschaftliche Helena erwiderte seine Küsse. Nach einigen Sekunden zerrte sie ihn in ein Nebenzimmer, in dem eine große Liege stand. Sie verschloss die Tür von innen. Ohne Worte entkleidete sie sich. Als sie nackt vor ihm stand, zog sie ihn aus. Stück für Stück. Rasend vor Leidenschaft fielen sie auf die Liege und liebten sich. Helena war eine erfahrene Geliebte und Frischmann wunderte sich, dass sie in ihrem Alter schon Dinge wusste, die andere erst mit vierzig kannten. „Du bist wunderbar“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Eine herrliche Geliebte.“ „Ich mag dich, Max“, sagte sie. „Ich mag dich wirklich.“ Und das war nicht gelogen. Frischmann hatte sie mit seiner Liebeskunst beeindruckt und zum ersten Mal in ihrem jungen Leben, war die wirkliche Liebe in ihr erwacht. Nach zwei Stunden Liebesrausch machten sie eine Pause. Dann begann Helena, ihn wieder zu küssen und zu verführen. Frischmanns Blut brauste durch seinen Körper. Er richtete sich auf, um Helena zu betrachten. Doch plötzlich sackte er zusammen und blieb regungslos auf der Liege liegen. 57 Erschrocken sprang Helena auf und zog sich hastig an. Dann schloss sie die Tür auf und lief in das Zimmer der Sekretärin ihres Vaters. „Bitte rufen Sie sofort einen Notarzt! Herr Frischmann ist zusammengebrochen!“ Helena hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als sie vom Stuhl fiel und ohnmächtig auf dem Fußboden lag. * „Mögen sich die Ärzte um die Körper bemühen“, vernahm Frischmann. „Ich nehme Ihr ICH und das von Helena mit zum Planeten Midgard. Die Ohnmacht, die sie beide umfangen hält, wird eine Zeit andauern. Unterrichten Sie Helena von allem, was Sie vom Midgard wissen“, sagte David zu Frischmann. „Das geht sehr schnell, weil sie ein kluges Mädchen ist.“ In der Tat wunderte sich Frischmann, wie Helena alles ohne Erstaunen und Zweifel hinnahm, was er ihr erzählte, und wie sie diese Dinge als ganz selbstverständlich sofort begriff. Gedankenschnell waren sie auf dem Midgard angekommen. Zu ihren Füßen breitete sich eine große blumige Wiese aus, die im weiten Halbkreis von einem hallenartigen Gebäude abgeschlossen wurde. 58 „Heute bekommen wir einen schönen Tag. Die Windrichtung lässt uns hoffen“, sagte David. „Der Midgard hat drei Monde, die oft zur gleichen Zeit sichtbar sind. Die Wellen und Wogen unseres Luftmeeres, trotz größerer Dichte, wechseln schneller als auf der Erde, die ja nur einen Mond besitzt. Unsere Wetterfrösche haben daher weit schwierigere Aufgaben zu lösen als die auf der Erde. Vor einem Jahr ist zum Beispiel bekannt gegeben worden, dass am heutigen Tag die Sonne scheint und keine Niederschläge eintreten werden.“ „Wir werden es nicht erleben", meinte Frischmann, „denn solange können wir nicht hier bleiben. Auf der Erde liegen wir in Koma, ohne zu sterben." „Vielleicht wollen Sie in dieses Jammertal, das Erde genannt wird, gar nicht mehr zurück, wenn Sie hier mehrere Stunden gewesen sind", antwortete David. „Aber dann wären wir ja tot. Übrigens, da fällt mir etwas ein. Sie haben mir beim letzten Mal nicht auf meine Frage geantwortet. Wieso darf Clara so schnell wieder geboren werden und die anderen nicht?“ „Clara ist ermordet worden. Sie ist ein Opfer. Diese Menschen dürfen sofort wieder geboren werden.“ „Und Selbstmörder? Wie steht es mit ihnen?“ fragte Helena. „Selbstmörder? Warum fragen Sie?“ 59 „Nur so. Interesse halber.“ „Selbstmord ist Sünde." „Sünde? Sie reden von Sünde und glauben an keine Religion. Wie das?“ fragte Frischmann. „Ich sehe schon, Sie haben nicht begriffen, was ich damals sagen wollte. Aber wenn Sie länger hier bleiben werden, wird Ihnen so nach und nach einiges klar werden. Die Gesetze des Midgard sind unumstößlich. Wir jagen Selbstmörder nicht davon, wenn sie sich unseren Planeten ausgesucht haben, um wiedergeboren zu werden. Doch sie müssen ihre Läuterung durchlaufen, wie alle anderen auch. Ihre Seelen werden ..." „Seelen?“ Frischmann lachte höhnisch. „Schon wieder Seelen. Die Erdenmenschen haben keine Seelen, sie sind nur Maschinen, glauben Sie mir.“ „Mag sein. Sie können sich mit Maschinen vergleichen, doch vergessen Sie eins nicht. Die Maschine besteht aus dem Material, aus dem sie gebaut ist, aus der Kraft, die sie treibt und aus dem wichtigsten Bestandteil, aus der Idee, welche ihr zugrunde liegt. Dieses ist ihr ICH, ihre Seele. Es ist also ebenso wie bei jedem Lebewesen, und deshalb ist der Vergleich zwischen Maschinen und Menschen kein ganz unrichtiger. Nur vergisst man in der Regel die Idee bei der Maschine, obgleich sie ihre Grundlage und ihr Ursprung ist. Die Schöpfungen des Menschen besitzen kein selbstständiges Denkvermögen, kein Leben, ein Umstand, der als evidenter Beweis für das ursprüngliche Vor60 handensein der Seele zu betrachten ist. Wäre zunächst der Körper und träte das Denkvermögen erst als sein Produkt in die Erscheinung, so wäre es unseren Chemikern längst gelungen, eine einfache Zelle durch Mischung der Elemente zu erzeugen. Da aber der Geist der Urheber der Materie ist, so kann man natürlicherweise auch in der raffiniertesten Mischung der Elemente oder in den genialsten Mechanismus kein selbstständiges Leben erwecken. Während wir mit unserem Geist die Materie, sein Produkt, meistern, können wir nicht ihn selbst mit seinem eigenen Erzeugnis hervorrufen. Der Mensch wird daher niemals etwas anderes als einen Mechanismus produzieren können, nach dessen allerdings unsterblicher Idee, solange sie bekannt ist, die gleiche Maschine immer wieder aufgebaut werden kann." „Wie herrlich die Sonne scheint", sagte Helena, die die belehrenden Ausführungen allmählich langweilten. „Dieser herrliche Duft von den Wiesen und Feldern. Und sehen Sie nur diese vielen Käfer und Insekten. Hören Sie mal!" Frischmann lauschte den Tönen, die aus dem Tal empordrangen. Fanfaren, Weckrufe vermischten sich mit dem Gesang der Vögel. Jetzt kam eine Gruppe junger Männer heran und sie begannen, rasch auf der großen Wiese ein Podium aufzubauen. Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Sie blickten aufwärts. In großer Höhe über ihnen schwebten Flugapparate, und aus der Ferne kamen immer mehr. Ein Zischen, Rauschen und Sausen erfüllt die Luft, als die Ersten landeten. „Wunderbar", schwärmte Helena. 61 „Keiner stößt mit dem anderen zusammen. Sie landen wohl auf der anderen Seite des Gebäudes? Das gibt es doch gar nicht." Helena sah auf das Flugzeug, das wie ein ICE-Zug aussah mit seinen aneinanderhängenden Wagen. „Ja, das sind unsere neuesten Erfindungen, die MIFZ. Beim Aussteigen gibt es kaum Probleme oder Unfälle, anders beim Aufsteigen. Viele Flugzeugführer wollen besondere Steuerfertigkeit zeigen und beweisen, dass alle Wagen mit einem Mal aufsteigen können. Das gelingt aber nicht immer, und so kommt es immer noch häufig zu Zusammenstößen oder Unfällen. Unsere Wissenschaftler an den Universitäten sind bemüht, die Fehler zu finden und rasch abzustellen.“ „Was heißt MIFZ?“ David lachte. „Ganz einfach: Midgard-Fahrzüge.“ Inzwischen trafen immer mehr Luftfahrzüge ein. Frischmann und Helena schien es, als ob sie alle verschieden wären. Form, Farbe, innere Einrichtung und die elektronischen Mittel zur Fortbewegung, wechselten und waren ebenso vielgestaltig wie die Zahl der Fahrzeuge überhaupt, die Frischmann auf circa dreihundert schätzte. „Diese Fahrzeuge möchte ich doch zu gerne aus der Nähe sehen“, sagte Frischmann. 62 „Vielleicht kann man sie auf der Erde nachkonstruieren.“ „Sie sind schon auf dem besten Weg dazu und bereits Ihre nächste Generation wird die Luft als Hauptverkehrsstraßen benutzen.“ „ICE in der Luft?“, fragte Helena lachend. „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich frage mich, wie diese Fahrzeuge in der Luft bleiben können?" „Unser Midgard ist bedeutend größer als die Erde, so haben wir auch eine weit höhere Atmosphäre, die unseren Planeten umgibt. Diese Umstände und die stärker wirkende Anziehungskraft ist die Ursache größerer Dichte der Luft an der Oberfläche des Midgard. Dadurch ist das Gasmeer tragfähiger als das der Erde. Schon vor mehreren Tausend Jahren gelang es den Bewohnern des Midgard, sich in die Luft zu schwingen. Jetzt gibt es so viele verschiedene Arten von Luftfahrzeugen, dass es unmöglich ist, alle Prinzipien aufzuzählen, auf denen sie beruhen. Die Natur hat ja auch nicht nur die Vögel mit der Fliegenkunst ausgestattet. Nicht nur die Insekten, Vögel können fliegen. Denken Sie auch an die zahlreichen Arten der Meerestiere, die fliegen können. Wir haben hier menschenähnliche Tiere, die schwimmen können wie die Fische, waten wie die Störche, klettern wie die Affen und fliegen wie die Schwalben. Die Natur hat sie mit all diesen Eigenschaften durch geeignete Organe ausgestattet, ohne eins auf Kosten des anderen zu vernachlässigen. Als diese tierischen Geschöpfe des Midgard haben auch noch in der Nacht sehen konnten, war kein Tier mehr 63 vor ihnen sicher. Wir mussten also gegen die Vermehrung dieser Übertiere einschreiten.“ „Und wie haben Sie das gemacht?“, fragte Helena. „Man kann doch Tiere nicht durch Gesetze verhindern, Nachkommen hervorzurufen!“ „Nein, das nicht, aber man kann die Jungen gleich nach der Geburt töten.“ „Und das macht man hier?“, rief Frischmann entrüstet. „Pfui, da sind Sie ja keinen Deut besser als die Erdenmenschen.“ „Das würde ich nicht meinen", sagte David und Frischmann hörte das erste Mal so etwas wie Ärger aus Davids Stimme heraus. „Die Tiere sind noch so klein, dass sie nichts merken, wenn sie schmerzlos getötet werden. Die Menschen aber versuchen an lebenden Tieren ihre Experimente. Sie quälen sie, brechen ihnen die Knochen beim lebendigen Leib oder operieren sie ohne Narkose. Ich habe viel gesehen und gehört, als ich noch ein Mensch war. Aber lassen wir das. Sehen Sie, das Fest beginnt.“ Sie sahen, wie die Gäste in die Halle strömten und sich dann vor das Podium gruppierten. „Gehen wir auch zu ihnen, damit Sie sehen, aus welchem Anlass dieses Fest gegeben wird“, sagte Helena. 64 „Es scheinen nur MIDGARDS da zu sein“, sagte Frischmann, als er sich mit David und Helena zu der Menge bewegte. „Immer nur die höchsten Schichten, wie bei uns auf der Erde.“ David lachte gutmütig. „Nein, es sind auch GARDAS da. Und unsere GARDAS kennen weder Hochmut noch Neid oder sind von der Sucht nach Geld und Macht besessen, wie das allgemein bei der Gesellschaft auf der Erde üblich ist.“ Frischmann warf einen Blick in die Gesichter der Mädchen und Frauen. Wie schön sie alle sind und wie hübsch und modisch gekleidet, dachte er. Alles dezent und mit auserlesenem Geschmack. „Sie sollten sich die Kopf- und Gesichtsbildung der Damen und Herren anschauen“, meinte David, der natürlich die Gedanken von Frischmann gelesen hatte und sich darüber amüsierte. „In ihren Zügen liest man außerordentliche Intelligenz. Und sehen Sie nur, wie lebendig und sprühend sie sich unterhalten.“ „Was gibt es denn so Weltbewegendes oder sagen wir Midgard bewegendes zu berichten?“, fragte Helena. „Der Staat Skratina hat heute hier seinen Bundestag. Die Abgeordneten kommen aus allen Teilen des Landes.“ 65 „Wie groß ist denn das Land?“, fragte Frischmann interessiert. „Ungefähr wie euer Europa auf der Erde. Viele von den hier Versammelten sind GARDAS, die berufene Vertreter im Bundestag sind. Einen Gegensatz zwischen Volk und Regierung, wie es ihn auf der Erde gibt, haben wir schon seit Jahren abgeschafft. Alljährlich Jahr findet in jedem Distrikt eine Neuwahl des obersten Beamten statt. Es kann eine Frau oder ein Mann sein. Der oder die Berufene können zehn Jahre lang hintereinander immer wieder gewählt werden, danach ist aber die Wiederwahl unzulässig. Diese Distriktsobmänner wählen den an der Spitze des ganzen Landes stehenden Führer, den Bundeskanzler. Ihm werden alle Wünsche zur Vorlage auf dem großen internationalen Weltparlament der Länder, übertragen.“ „Die Leute versammeln sich hier im Freien, hier ist keine Stadt in der Nähe. Wo bleiben sie in der Nacht?“ „Kein Problem. Entweder sie schlafen in dem Gebäude da drüben oder sie fahren mit eins der Luftfahrzüge nach Hause. Die heutige Tagung dauert aber nicht den ganzen Tag. Es werden nur einige Gesetze verlesen, die meistens widerspruchslos angenommen werden. Aber sehen Sie, Frischmann, dort kommt der Bundeskanzler mit seiner Frau.“ Frischmann wandte den Blick zu dem Paar, das jetzt auf das Podium stand. 66 „Malve und Lanus?“, fragte er voller Staunen. „Ja. Lanus wird gleich etwas vorlesen.“ Frischmanns Blick war auf Malve gerichtet, die hochschwanger war. Fasziniert sah er durch ihren Leib, sah jede Einzelheit von dem kleinen Wesen im Mutterleib. Man gab Lanus ein Blatt Papier und er begann in einer Sprache zu sprechen, die Frischmann und Helena nicht verstanden. Es klang wie halb französisch, halb Latein. „Ich verstehe nichts“, sagte er. „Sie sind noch nicht so weit, doch in ein paar Monaten werden Sie alles verstehen, was auf dem Midgard gesprochen wird.“ „Sprechen denn in dem Land Skratina alle eine Sprache?“ „Ja. Das war das Erste was die Sprachgelehrten abgeschafft haben. Sie haben in Skratina eine Sprache eingeführt, was in allen Schulen gelehrt wird. Außerdem haben die Gelehrten ein internationales Verständigungsmittel ausgearbeitet, eine sogenannte MG-Sprache, die auf dem ganzen Midgard verstanden wird. Man kann sich also auf dem Midgard an jenem beliebigen Ort mit jedem, den MIDGARDS, den GARDAS und den ERMES unterhalten. Daneben hat man noch Landessprachen und Dialekte, soviel man mag." „Gibt es überall Schulen?" 67 „Selbstverständlich. Der Unterricht ist Sache der Allgemeinheit. Es herrscht absoluter Schulzwang, der mit unnachsichtiger Strenge durchgeführt wird. Gerade in diesem Moment liest Lanus einen Beschluss vor.“ „Was sagt er sagen Sie es mir!“ „Der Schulunterricht der männlichen Jugend wird auf fünfzehn Jahre, die der Mädchen auf zehn Jahre beschränkt. Die Frau soll zwar einen Beruf erlernen und auch ausüben, aber sich doch darauf besinnen, dass die Natur sie in erster Linie für Nachkommenschaft und Mutter geschaffen hat. In den letzten Jahren ist ein hoher Geburtenrückgang zu verzeichnen, die Frauen wollen nicht mehr gebären, Kinder zur Welt bringen.“ „Und warum nicht? Auf der Erde sind es oft materielle Erwägungen, aber hier? Sie sagten doch, alle wären gleichgestellt. Not und Elend gibt es nicht. Was also ist der Grund?“ „Wie Sie selbst sehen können, sind unsere Frauen unvergleichlich schön. Durch Geburten verändert sich oft der Körper. Er wirkt nicht mehr so straff, jugendlich. Unsere Frauen wollen immer schön und begehrenswert sein und bleiben bis ins hohe Alter. Sie hassen unschöne Gestalten.“ „Ein schöner Mensch hat es leichter, das stimmt schon", erwiderte Frischmann. „Das ist auch bei uns auf der Erde so. Doch, was ist mit der Schönheit des Wesens, den Adel der Seele?" 68 „Also glauben Sie doch an die Seele“, unterbrach David ihn lachend. „Ich sehe schon, wir kommen uns allmählich näher.“ „War das schon alles, was Lanus sagen wollte?“ „Nein, nein. Die Regierung hat nun, um die Geburtenfreudigkeit wieder zu forcieren, ein Gesetz erlassen. Jedes Mädchen oder Frau, die mit behördlicher Genehmigung ein Kind zur Welt bringt, kann nach ihrer Geburt sofort kostenlos einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Schön- und Gesundheitsfarm verbringen. Außerdem wird ihr für die Geburt zu ihrem üblichen Unterhalt ein ziemlich großer Betrag bewilligt. Eine sogenannte Geburtenprämie, die sich bei jedem nachfolgendem Kind steigert.“ „Und wer bezahlt die Beträge?“, fragte Helena. „Die Midgardkasse“, antwortete David. „Jedes Land verfügt über eine solche Kasse.“ „Nicht schlecht. So etwas wäre auch bei uns zu überlegen“, meinte Frischmann und blickte wieder zu Lanus, der immer noch sprach. „Was sagt er jetzt?“ „Er berichtet von Hilfsgütern, die in Länder gebracht werden müssen, die ständig von Orkanen und Erdbeben heimgesucht werden. Sie wollen es mithilfe der neuen Luftzüge tun.“ 69 „Warum ist der Midgard so reich?“, fragte Frischmann. „Der Midgard erzeugt wie die Erde Nahrungsmittel in Hülle und Fülle. Allerdings in viel größeren Mengen. Allein unsere Meere sind imstande, Menschen in viel größerer Zahl, als es jetzt gibt, zu versorgen. Wir haben schwimmende Inseln gebaut, die an bestimmten Gebieten im Ozean verankert sind. Von jeder dieser Inseln fischen wir in einer Größenordnung von circa zweitausend Quadratkilometern. Durch unsere modernen Flugzeuge werden die Fänge täglich an die Orte gebracht, in den die Nahrungsstoffe verbraucht werden. Jeder Einwohner bekommt kostenfrei Fischfleisch, soviel wie er benötigt. Andere Dinge, die mit aus dem Meer gefischt werden, wie Perlen, Schwämme oder Leckerbissen, wie Kaviar und Austern werden zugunsten der Staatskasse verkauft. Der Erlös bringt so viele Einnahmen, dass die Staatskasse kaum noch andere Quellen zur Deckung aller Ansprüche, die an sie gestellt werden, bedarf. Arbeitskräfte und Arbeit sind auf dem Midgard in Hülle und Fülle. Jeder sollte bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr arbeiten, außer natürlich den Müttern, wie ich bereits sagte. Dann kann er weiter arbeiten oder aufhören, wie er möchte. Unsere Leute leben nicht, um zu arbeiten. Unsere Menschen arbeiten aus Vergnügen an der Sache. Hinter ihnen steht kein Druck.“ „Kommunismus, pur!“ spöttelte Helena. „Nennen Sie es, wie Sie wollen. Es ist eben so.“ 70 „Und wie sieht es mit dem Lohn aus? Gibt es Münzen oder Papiergeld oder was?“ „Geld, wie es auf der Erde gibt, wurde schon lange bei uns abgeschafft. Die Regierung hat ein Material anfertigen lassen, dessen Nachahmung völlig ausgeschlossen ist. Aus diesem Material werden sogenannte Bundesschatzbriefe in mehreren Farben herausgegeben. Dieses Geld ist überall auf dem Midgard gleich. Man erhält es in Höhe seines Guthabens sofort. Geld hat aber keinen Wert an sich und kann nicht Zinsen tragen oder im Kurs steigen oder fallen. Die Kaufkraft einer bestimmten Summe ist natürlich nach dem Wert der Ware verschieden. Die Ausartungen durch Konkurrenzen, wie sie auf der Erde tagtäglich passieren, sind bei uns nicht mehr an der Tagesordnung, weil ja die staatlichen Mittel zur Existenz jedermann vor der äußersten Notlage schützen.“ „Das ist anerkennenswert", lobte Frischmann. „Mich interessiert noch etwas anderes. Gibt es auf dem Midgard ein Verlagswesen?“ „Sie meinen, ob wir Bücher lesen? Aber ja. Bücher sind bei uns sehr beliebt. Das Lesen ist eines der wichtigsten Hobbys der Leute. Nur sind unsere Bücher in der MG-Schrift geschrieben, die jedes Land lesen kann.“ „Wie sieht so eine Schrift eigentlich aus?“ 71 „Nun, wie eine Art Spiegelschrift, aber man liest sie nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten.“ „Verstehe. Und gibt es bei euch auch Verbrecher?“ „Leider ja.“ „Was geschieht mit ihnen?“ „Gangster oder Diebe, sind sie nicht besserungsfähig, kommen auf unsere so genannten „coolen Inseln“. Sie befinden sich im Ozean mit einem verhältnismäßig immerwährenden kühlen Klima.“ „Warum sperrt man sie nicht in Gefängnisse?“, fragte Helena verwundert. „Gefängnisse? David lachte. „Die gibt es schon Jahrzehnte nicht mehr.“ „So sperren Sie auch Mörder, Kinderschänder nicht ein?“ „Gott sei Dank gibt es von dieser Gattung nur noch wenige. Diese Verbrecher kommen etliche Jahre in ausbruchsichere psychiatrische Kliniken, werden dort behandelt. Sollte wider Erwarten doch mal einer dieser Täter nach seiner Entlassung rückfällig werden, wird er nach Abstimmung eines großen Ärztegremiums, schmerzlos getötet.“ „Todesstrafe?“, fragte Frischmann entsetzt. „Finden Sie das richtig?“ 72 „Ja, absolut.“ „Und die kleinen Gangster und Diebe, wie lange müssen sie auf den „coolen Inseln" bleiben?" „Wenn sie das erste Mal etwas gestohlen oder jemanden Unrecht getan haben, werden sie verwarnt. Das zweite Mal werden sie an den öffentlichen Pranger gestellt, zum Beispiel die ganze Gegend oder das Dorf weiß über denjenigen Bescheid. Und beim dritten Mal kommt der Übeltäter auf die Insel. Je nach Schwere des Verbrechens wird jedes Jahr geprüft, ob sich der Täter gebessert hat oder nicht. Dabei gelten sehr strenge Maßstäbe.“ „Wie sehen Ihre Polizisten, Gerichte, Behörden aus?“, fragte Frischmann und folgte Davids Blick, der gespannt in eine Richtung schaute. „Lanus hat soeben seine Vorlesung beendet", unterbrach David den Frager. „Er hält jetzt noch eine kurze, freie Ansprache, in welchem er den Blick nach oben richtet und den Versammelten damit zeigt, dass der Weg der Midgardwesen nur nach oben, zum Vorwärtsstreben zeigt.“ Frischmann sah, dass ein Mann rasch auf Lanus zueilte und ihm einen Fetzen Papier in die Hand drückte. Lanus las es und sagte etwas kurz. Ein Raunen ging durch die Menschenmassen und sie begannen, wild zu gestikulieren. 73 „Was ist jetzt schon wieder?“, wollte Frischmann wissen. „Die Meteorologen haben eine Erschütterung der Midgardkruste gemeldet. Es soll genau hier, an dieser Stelle geschehen. Die Sonne steht im Zenit. Es ist Eile geboten. In etwa dreißig Minuten ist es soweit.“ Frischmann starrte auf die Menschenmassen, die sich wieder beruhigt hatten und sorglos lachend nach und nach auseinandergingen. „Warten Sie einen Moment", sagte David und eilte rasch zu einem Herrn, der in der Nähe des Podiums stand und sich mit Lanus unterhielt. David sprach eine Weile mit dem Mann, und als der nickte, kam David wieder zu Frischmann zurück. „Wir gehen jetzt zu dem Luftfahrzug des Herrn“, sagte er und wies mit dem Kopf in die Richtung, wo der Mann stand. „Er hat uns drei Plätze zur Verfügung gestellt. Bei dieser Gelegenheit können Sie sich das Fahrzeug ansehen. Wir haben noch einige Minuten Zeit, bis das Beben beginnt.“ Wie ein großer Schwarm von Riesenvögeln erhoben sich fast alle Flugobjekte im gleichen Moment. Hier und da gab es zischende und knatternde Geräusche, dann verlor sich der Lärm in der Luft. Frischmann beobachtete den Piloten, einen großen blonden Mann mit der Figur eines Herkules. Daneben saß eine zierliche Frau mit langen roten Haaren. Beide waren in schneeweiße Gewänder gekleidet. 74 Ein Eisbär und ein Schmetterling dachte Frischmann. David lächelte. „Ein guter Vergleich. Es sind GARDAS von einem Stamm, der auf dem Midgard deswegen Berühmtheit erlangt hat, weil er die männlichsten Männer und die weiblichsten Frauen besitzt.“ Helena und Frischmann staunten über die Innenausstattung des Flugfahrzuges. Sie war, ähnlich wie in einem der ICE nur die Sitze verfügten über seltsam geformte Sessel, die sich der Körperform anpassten. Wie in einem Wasserbett dachte Frischmann und berührte das Material der Seitenwände. Es war aus einem eigenartigen Metall, das sich wie dicke Folie anfühlte. Ein Sturm hatte sich erhoben, der Vorbote des Bebens. Frischmann sah aus dem Fenster. Bäume wirbelten durch die Luft. „Hoffentlich stürzen wir nicht ab“, flüsterte Helena, nun doch etwas ängstlich geworden. David lachte. „Haben Sie schon mal gehört, dass ein Fisch mitten im Ozean durch heftigen Wogengang beschädigt worden wäre? Oder, dass ein Vogel hoch oben im Luftmeer vom Sturm belästigt werden kann?“ Helena hörte nur noch mit halbem Ohr zu, er blickte unverwandt zu dem Piloten, der weder irgendwelche Anzeichen von Angst oder Unruhe zeigte. Sicher lenkte er sein Fahrzeug durch die Windstrudel. 75 Sie sahen wieder in die Tiefe, sahen die Erschütterungen des Bodens, die sich wie Wellen immer zu wiederholen schienen. Ein krachendes Geräusch war zu hören. Das Gebäude um den Versammlungsplatz, das sie vor wenigen Minuten verlassen hatten, war wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Eine gewaltige Staub- und Rauchwolke stieg hoch. „Die armen Leute“, sagte Helena, „sie wurden alle erschlagen.“ „Sie irren! Es befand sich niemand mehr an diesem Ort. Jeder ist geflüchtet, die meisten mit den Luftfahrzeugen, als das Beben begann.“ Plötzlich wurde es stockdunkel im Fahrzeug. Eine schwarze Wolke umhüllte alles. „Da, ein schweres Gewitter zieht herauf!“, schrie Helena ängstlich. „Wir werden in dieser rabenschwarzen Wolke ersticken! Ich kann ja niemand mehr sehen, alles ist in tiefste Nacht gehüllt. Max, wo bist du?“ „Wir müssen hinauf! Über der Finsternis ist der hellblaue Äther! 76 Nicht vorwärts, sonst kommen wir aus dem dichten Nebel, aus der endlosen, wasserschweren, schwarzen Wolke nicht heraus! Nicht vorwärts! Nicht vorwärts! Aufwärts! Aufwärts! Aufwärts!“ * 77 V. „Ich habe meinen Vater umstimmen können!“, verkündete Helena schon von Weitem zu Frischmann. „Er ist mit unserer Hochzeit einverstanden!“ Frischmann zog die junge Frau an sich und küsste sie auf den Mund und zog sie sanft in eine Fensternische gegenüber der Tür zum Gerichtssaal. „Ich bin sehr glücklich, Max“, sagte sie zärtlich. „Wir werden ein schönes Leben führen.“ Sie gingen in den Gerichtssaal. Heute war die Verhandlung gegen das Ehepaar Lehmann. Sie setzen sich in die zweite Reihe. „Ich glaube nicht, dass die beiden etwas mit dem Mord an deiner Frau was zu tun haben“, flüsterte Helena ihm zu. „Haben sie auch nicht.“ Die ersten Zeugen wurden aufgerufen. Das Kindermädchen Anna war an der Reihe. Sie machte ihre Aussagen, als sie plötzlich Frischmann und Helena entdeckte. Sie sah, dass Frischmann Helenas Hand hielt. Einen Augenblick stockte sie, dann zeigte sie mit dem Finger auf Frischmann und sagte: 78 „Ich bin mir sicher, dass die Familie Lehmann nichts mit der Ermordung von Clara Frischmann zu tun haben, aber dieser Mann dort … dieser Mann, Franz Frischmann hat seine Frau ermordet!“ Helena schrie leise auf und sah Frischmann an. Der Vorsitzende fragte Anna, wie sie zu dieser Annahme komme. „Ganz einfach“, sagte sie. „Er bringt jede Frau um, mit der er etwas hat. Mit mir wollte er auch etwas anfangen, aber ich konnte mich rechtzeitig wehren …Dieser Mann ist sexsüchtig … wahnsinnig … verrückt.“ „Zeuge Frischmann in den Zeugenstand!“, rief jetzt der Gerichtsdiener. „Hier!“, sagte Frischmann und stand auf und trat zögernd in die Mitte des Raumes. „Antworten, durch die Sie sich selbst strafrechtlichen Verfolgungen aussetzen“, sagte der Richter, „können Sie verweigern.“ „Dann werde ich überhaupt nichts aussagen“, erklärte Frischmann mit lachender, heiterer Miene und alle Anwesenden starrten ihn mit grenzenlosem Staunen an, wie wenn sie einen Wahnsinnigen vor sich hätten. 79 Während seiner epileptischen Dämmerzustände, die mit langer körperlicher Ohnmacht verknüpft waren, hatten die außerordentlichen seelischen Aufregungen bei Frischmann die Ebene des Unterbewusstseins sogar im Wachen ausgelöst. „Sie müssen uns Rede und Antwort stehen“, sagte der Vorsitzende im schroffen Ton. „Erzählen Sie uns, was sie von dem Mord an Ihrer Gattin wissen!“ Frischmann lachte fröhlich. Wie in einem Sektrausch blickte er sich belustigt um. „Es würde Ihnen sehr gefallen, wenn ich meine ehelichen Geheimnisse hier vor aller Welt offenbarte!“, lallte er. „Hahaha! Ich denke nicht daran! Nur noch eins, die beiden Leute auf der Anklagebank sind unschuldig! Sie haben mit der ganzen Sache nichts zu tun!“ Der Vorsitzende sprang erregt auf. „Dann sind Sie wohl selbst der Mörder?“ „Darauf brauche ich nicht zu antworten“, lallte Frischmann. „Aber ich antworte trotzdem. Meine Clara starb, weil ich sie zu sehr gedrückt habe.“ 80 „Was heißt das, zu sehr gedrückt?“, fragte der Vorsitzende. „Nun, wir liebten uns. Unser Liebesspiel war immer grenzenlos leidenschaftlich. Wir beide waren sehr leidenschaftlich. An diesem Abend war ich verrückt vor Leidenschaft. Ich presste sie an mich, anscheinend zu stark. Plötzlich sank sie nach hinten. Ich schüttelte sie, rief ihren Namen, aber sie sagte keinen Mucks mehr. Da merkte ich, dass ich sie umgebracht hatte. Ich hatte sie erwürgt.“ Im Gerichtssaal herrschte Stille. Dann sagte der Vorsitzende ruhig: „Angesichts dieses Eingeständnisses des Mordes an seiner Frau beantrage ich die Verhaftung des Zeugen Frischmann!“ Staatsanwalt und Vorsitzende nickten sich zu, dann wurde Frischmann abgeführt. Als die Polizisten ihn am Arm packten, sagte er leise: „Herr Vorsitzender, lassen Sie mir diesen einen Tag noch. Ich muss unbedingt heiraten!“ Der Vorsitzende fuhr ihn mit scharfer Stimme an: „Sie haben soeben unter Eid ausgesagt, dass Sie Ihre Frau ermordet haben und jetzt wollen Sie schon wieder heiraten?“ „Meine Frau umgebracht? So ein Unsinn, ich weiß nicht davon!“ entgegnete Frischmann betroffen und verlegen. „Oder sollte ich es doch getan haben?“ 81 „Alle, die sich im Saal befinden, sind Zeugen Ihres Eingeständnisses geworden!“, rief der Vorsitzende. „Lassen Sie mir noch einen Tag, Herr Vorsitzender. Einen einzigen Tag!“ „Nein, Herr Frischmann, das Gericht hat die Verhaftung bereits verfügt!“ Frischmann riss sich von den Polizisten los und jagte auf Helena zu, die mit schneeweißem Gesicht auf ihrem Platz saß und sich nicht rühren konnte. „Helena! Helena! Man will mich verhaften, weil ich Clara ermordet habe! Helena, Helena, ich kann dich nicht heiraten!“ Ächzend fiel er zu Boden, fing wie wild an zu zucken, dann war er still. Nur mit Mühe konnte man Helena, die aufgesprungen und zu Frischmann gelaufen war, von dem scheinbar leblosen Frischmann wegreißen. Sie wollte den geliebten Mann nicht verlassen. Zuletzt wurde sie von Polizisten festgehalten, während andere Polizisten Frischmann forttrugen. Man brachte ihn in das Gefängniskrankenhaus. Helena wankte wie eine Betrunkene nach draußen, rief ein Taxi und fuhr in Frischmanns Wohnung. Die Kinder weinten, als Helena ihnen erzählte, dass ihr Stiefvater nicht nach Hause kommen würde. 82 „Beruhigt euch, Kinder. Ich bleibe bei euch, bis er wieder kommt.“ Sie machte den Kindern Abendessen und brachte sie ins Bett. Dann ging sie ins Gästezimmer und legte sich aufs Bett. Sie hatte nur die Schuhe ausgezogen, alles andere hatte sie anbehalten. Eine unsagbare Müdigkeit hatte sie überfallen und sie schlief ein. * Zu ihrer Verwunderung sah sie ihren eigenen Körper lang ausgestreckt auf einem Bett liegen, als wäre sie gestorben. „Es ist doch sonderbar, dass ich mich selbst betrachten kann wie durch einen Spiegel“, sagte sie zu sich und dachte an Frischmann, dessen Anwesenheit sie kurz danach empfand. „Mein Leib ruht im Gefängniskrankenhaus unter scharfer Bewachung“, sagte er ohne irgendwelche Erregung. „Die Freiheit werde ich auf Erden wohl nie wieder zurück bekommen. Auf Mord steht lebenslange Haft.“ „Hast du Clara wirklich umgebracht?“, fragte Helena leise, aber ohne jegliche Regung von Abscheu oder Schrecken. „Meine Frau starb unter meinen Händen“, antwortete er. „Jedes Mal, wenn ich mit ihr schlief, packte mich eine derartige Leidenschaft, dass ich fast ohnmächtig wurde. Ich war gerade in sie eingedrungen und sie fühlte sich so herrlich weich, so fantastisch an. 83 Es war ein so irres Gefühl. Als mein Orgasmus nahte, umklammerte ich sie und drückte wohl zu fest zu. Sie wehrte sich, aber ich dachte, sie sei ebenso leidenschaftlich verrückt nach mir, wie ich nach ihr. Dann, als ich wieder bei klarem Verstand war, sah ich, was ich angerichtet hatte. Ich floh aus dem Haus und irrte umher. Ich konnte nicht fassen, wie das passieren konnte. Nach meiner Rückkehr wurde mir die ganze Schwere meiner Schuld bewusst. Ich hatte meine geliebte Frau umgebracht, hatte meinen Stiefkindern ihre Mutter genommen. Meine Nerven waren am Ende der Kraft und dann bekam ich diesen ersten Anfall. Im Traum landete ich auf dem Midgard und traf Claras ersten Mann wieder. Clara ist auf Erden tot, aber dort oben wird sie wieder geboren. Lass uns hier bleiben, Helena. Lass und bleiben und hier leben!“ „Ja, ich wäre bereit, Max. Wir könnten hier leben. Was wollen wir noch auf der Erde?“ „Clara verlässt den Schoß der Mutter“, sagte David zu seinen beiden Gästen. „Das ist doch trübe, finstere Nacht. Ich sehe Malve nicht. Wo ist sie?“ fragte Helena. „Der Wind heult furchtbar. Hoch oben in den Lüften jagen Wolken eilig vorüber und verhüllen das Firmament. Doch da, ein Lichtmeer auf dem Land!“ rief Frischmann. „Da ist ein Wald mit uralten Bäumen und in seiner Mitte befinden sich viele palastartige Gebäude.“ 84 „Dort wohnen Lanus und Malve.“ „Lasst uns hingehen!“, sagte Helena. „Ich will Malve sehen, wenn sie ihr Kind bekommt.“ „Sehen Sie, Lanus betritt Malves Zimmer“, sagte sie. „Er begrüßt seine Gattin, nimmt sie am Arm und begleitet sie in das andere Zimmer. Dort befindet sich alles, was für die Geburt notwendig ist. Ein Bett, Bad, Instrumente aller Art.“ Frischmann sah, wie zwei Männer mit langen schwarzen Bärten in den Raum traten, sich die Hände am Waschbecken wuschen und erwartungsvoll stehen blieben. Als Malve und Lanus eintraten, verbeugten sie sich höflich und sagten etwas zu ihnen. „Wer sind sie?“, fragte Frischmann leise. „Zwei der besten Geburtshelfer auf dem Midgard“, sagte David. Lanus verließ den Raum und Malve begann, auf und ab zu gehen. Sie schien Schmerzen und Schwäche zu empfinden, wollte sich auf das Bett legen, doch einer der Männer hinderte sie daran. Er nahm sie am Arm und lief mit ihr im Raum auf und ab. „Gleich wird es soweit sein“, flüsterte David. „Nach Voraussagen der Ärzte muss das Kind in zehn Minuten kommen.“ 85 Frischmann, dem das Zusehen der Kreißenden peinlich wurde und der nicht mit ansehen konnte, wenn jemand Schmerzen hatte, wandte sich David zu. „Es ist schon ein seltsames Gefühl sehen zu müssen, wie eine Frau, die man kannte, als Säugling wieder geboren wird. Wird Clara mich wiedererkennen, David?" fragte er und blickte wieder in das Zimmer hinein, wo Malve immer noch hin und her lief. „Nach zehn bis fünfzehn Jahren schon und in ihrer Erinnerung wird vieles auftauchen, was sie vor ihrer Geburt während ihres Erdendaseins erlebt hat.“ „Sehen Sie nur, das Kind ist geboren!“, rief Helena, die beiden unterbrechend. „Ist es ein Mädchen?“, rief Frischmann aufgeregt. „Bleiben Sie ruhig, Frischmann“, warnte David. „Womöglich wachen Sie auf und müssen auf die Erde zurück!“ „Ist es Clara?“ „Ohne Zweifel. Sehen Sie doch nur. Jetzt schlägt das Kind die Augen auf. Es sind Claras Augen." 86 „Muss man bei der Wiedergeburt eigentlich geboren werden, wie man war, oder kann man auch als etwas anderes geboren werden, zum Beispiel, ich als Frau?“, fragte Frischmann gespannt und beobachtete einen der Ärzte, die das Kind badeten und in ein weißes Tuch wickelten. „Der Wille ist ausschlaggebend. Hat eine Frau den heißen Wunsch, ein Mann zu werden, so geschieht es bei der Wiedergeburt, ebenso umgekehrt.“ „Demnach wäre der Wille allmächtig, er kann bewirken, dass jeder hier als Midgards geboren werden kann?“, fragte Frischmann. „Wenn die geistigen Fähigkeiten in der Seele vorhanden sind, schon. Der Wille überwindet Not und Tod. Er besiegt alle Hindernisse und Gefahren. Wer einfach so dahin lebt ohne Streben nach Höherem, der stirbt, und kehrt immer in der Form wieder, die er verlassen hat. Wer sich aber ein Ziel setzt und fest daran glaubt, der erreicht es.“ Sie sahen, wie mehrere Frauen und Männer in das Geburtenzimmer traten. Sie beglückwünschten Malve und bewunderten das Baby. „Wer sind diese Leute?“, fragte Helena verwundert. „Das sind GARDAs aus anderen Ländern. Sie wollen Lanus und Malve zu ihrer Tochter gratulieren.“ 87 „Aus anderen Ländern? Wie kommen sie so schnell hierher?“ „Die Macht des Geistes über den Körper. Die Allgewalt des Willens hat die MIDGAS dahin entwickelt, dass sie sich nicht allein geistig, sondern auch körperlich, ohne ein besonderes materielles Fortbewegungsmittel zu benutzen, gedankenschnell überallhin versetzen können, wo sie zu sein wünschen.“ „Das zu begreifen, fällt mir schwer", sagte Frischmann sarkastisch. „Um bei solchen Fahrten nicht zu verunglücken, muss der Zusammenstoß mit Dingen vermieden werden, welche dichter als die Luft sind. Schon das schnelle Durchschneiden der Atmosphäre ist nur für Geübte gefahrlos“, fuhr David unbeirrt fort. „Hören Sie auf mit diesen unglaublichen Geschichten“, sagte Frischmann ärgerlich. „Sagen Sie mir lieber, warum die Herrschaften jetzt in den großen Saal gehen und wir zurückbleiben?" „Bei den Midgards besitzt der Geist eine solche Kraft über den Körper, dass jener diesen blitzschnell aufwärts in dünne Luftschichten führt. Dort treibt er ihn mit der gleichen Geschwindigkeit dem Ziel zu und lässt ihn bei Ankunft, ohne ihm Schaden zu verursachen, niedergleiten. Und das alles in einem flüchtigen Augenblick." 88 David sprach mit Stolz und Selbstgefühl, wie wenn diese Leistungen sogar für die Midgards als hervorragende Errungenschaften anzusehen seien. Siege des Geistes über die materielle Schwerkraft. Doch Frischmann achtete nicht auf die Worte Davids. Er hielt alles für einen ausgemachten Unsinn. Helena war vorausgegangen, sie strebte den Versammelten nach. Frischmann ging ihr nach. Er hoffte, Näheres über das Kind zu erfahren. In der Mitte des großen Saales stand Lanus auf einem Podest von wenigen Stufen. „Der schöne Mann hält eine Ansprache“, flüsterte Helena. „Ich verstehe nichts. Die Sprache erscheint mir wie Musik. Warum spricht er überhaupt. Es sind doch nur MIDGAS hier anwesend, die der Worte nicht bedürfen?“ „Sobald es sich darum handelt, Gefühle und Gedanken, die uns bewegen, einem größeren Kreis gleichzeitig mitzuteilen, bedienen wir uns auch gerne der Stimme“, sagte David, der längst wieder neben Helena und Frischmann stand. „Lanus spricht in der Weltsprache des Midgard.“ „Was sagt er?“, fragte Frischmann neugierig. 89 „Er dankt in ergreifenden Worten für die Glückwünsche, die ihm von den Freunden persönlich zur Geburt seiner Tochter dargebracht worden sind. Er spricht von der Freude, die ihn und Malve erfüllt ..." „Also, tatsächlich eine Tochter“, sagte Frischmann betroffen. „Da liegt Malve, das Kind im Arm!“, rief Helena und deutete nach einer Stelle der Wand, durch die ihre Blicke drangen. „Sehen Sie nur, das süße Baby! Ich will es mir mal von nahen anschauen.“ Frischmann sah, wie Helena plötzlich im Zimmer von Malve stand. Sie beugte sich über das Kind, nahm es dann auf den Arm und lächelte glücklich. Was für eine Frau? dachte Frischmann. Ich möchte auch auf den Midgard wiedergeboren werden, damit ich mit dieser Frau leben kann. „Vorsicht mit Ihren Gedanken, Frischmann“, sagte David. „Sie wissen, dass Sie vorher auf der Erde sterben müssen, bevor Sie für immer hierher kommen dürfen.“ „Mit Freuden gebe ich mein irdisches Leben her, wenn Helena meine Frau wird.“ „Gehen wir und begrüßen Malve, beglückwünschen wir sie zu ihrem Kind", sagte David freundlich. 90 Helena sah sich lächelnd um, als sie Frischmann eintreten sah. „Ich habe deine Worte wohl vernommen, Max. Auch ich bin bereit, ein Leben mit dir zu teilen, doch bis dahin, bis wir soweit sind, wird noch viel Zeit vergehen, es sei denn ..." „Was, sprich weiter, Helena, bitte!“ Es schien ihm, als gerate er in einen Sog. „Komm, mit mir, Helena, wir müssen wieder fort! Komm, Helena, komm!“ Es schien Helena, als zöge sie Frischmann weg, hinab ins Dunkle. 91 VI. Es war Fasching in Berlin. Helena war mit den Lehmanns zum Faschingsball gegangen. „Warum kommen Sie so spät, Helena?“, fragte Lehmann vorwurfsvoll. „Es fiel mir schwer, die Kinder zu verlassen. Sie fühlen sich so alleine.“ „Nun, so klein sind die Kinder ja nicht mehr“, beruhigte sie Frau Lehmann. „Ich schäme mich fast, hier zu sein“, fuhr Helena ernst fort, „aber seit Max seiner Verurteilung vor einem Jahr, bin ich nie ausgegangen. Ich habe nicht mal ein Kino besucht.“ „Vielleicht bringt das Wiederaufnahmeverfahren Erfolg und er wird begnadigt“, sagte Lehmann. „Nun ja, das glaube ich weniger. Man wird ihn in eine Psychiatrische Klinik einweisen, wo er dann den Rest seines Lebens verbringt. Wissen Sie, Herr Lehmann, egal, was Max Frischmann gemacht hat, ich liebe ihn. Ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben.“ „Sie sind noch jung, Helena, kaum zwanzig Jahre alt. Sie werden andere Männer kennenlernen und sich wieder verlieben.“ „Nein!“, sagte sie bestimmt. 92 „Ich werde nie wieder einen Mann so lieben können, wie ihn!“ Kurz nach Mitternacht fuhr Helena wieder nach Hause. Sie hatte plötzlich die Lust am Feiern verloren. Sie ging in die Küche, um sich ein Glas Milch warm zu machen, als sie den Brief liegen sah. Sofort erkannte sie die Schrift. Es war Max Frischmanns Schrift. Sie setzte sich an den Tisch und riss den Brief auf. Es war ein Abschiedsbrief. Er gab sie frei. Sie sollte sich ein neues Leben aufbauen. Aber eine Bitte hatte er, sie sollte sich um die Kinder von Clara kümmern. Frischmann vermachte Helena eine Million Euro und das Sorgerecht für die beiden Kinder. Helena drehte den Brief hin und her. Sie überlegte fieberhaft. Wollte er Selbstmord begehen? Aber dann dachte sie daran, was David auf dem Midgard gesagt hatte. Selbstmörder sind unerwünscht. Was hatte Max Frischmann vor? Sie trank die Milch aus und ging ins Zimmer, wo die Kinder schliefen. Einen Moment stand sie an ihren Betten, dann ging sie leise hinaus und schloss die Tür. * 93 Die kahlen grauen Wände des Gefängnishofes leuchteten im goldenen Morgensonnenschein. Ein schöner Tag des Vorfrühlings lockte zum Spazieren gehen und Wandern. Die Türen der Zellen wurden geöffnet und einzeln traten die Gefangenen heraus. Frischmann lief ganz vorne, danach kamen noch drei andere Männer. Sie liefen ihre Runden. An einer Biegung blieb Frischmann abrupt stehen, sodass der andere Mann hinter ihm ihn anrempelte. Einen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Frischmann flüsterte: „Bei der nächsten Runde, ok? Das Geld kriegst du von meiner Verlobten, Helena Rüschel. Sag, dass du von mir kommst, dann wird sie dir das Geld geben.“ Der Mann nickte. Wieder gingen die Männer eine Runde. Frischmann warf einen Blick auf die Wachtposten auf den Türmen. Sie rauchten und unterhielten sich. Die bewusste Biegung kam. Wieder blieb Frischmann stehen, wieder rempelte ihn sein Hintermann an. „Jetzt stich zu!“, flüsterte Frischmann und der Mann hinter ihm stach zu. Der Stich drang direkt ins Herz. Rasch ließ der Mörder das Messer in Frischmanns Jackentasche gleiten. 94 Frischmann lief noch zwei, drei Schritte, dann sackte er zusammen. Der Mörder überholte ihn und lief zu den anderen, die an einer Stelle geblieben waren. Ein gellender Pfiff ertönte, dann kamen Wachtposten auf den Hof gerannt. Sie hoben Frischmann auf und trugen ihn ins Haus. „Selbstmord!“, sagte der Gefängnisarzt. „Er hatte es wohl nicht mehr aushalten können!“ Damit war die Sache abgetan. Zwei Stunden später erhielt Helena Rüschel die Nachricht, dass ihr Verlobter, Max Frischmann, sich das Leben genommen hatte. Ohnmächtig sank sie bei dieser Nachricht zusammen. * „Was sind Dome und Türme? Was sind die gewaltigsten Kunstwerke von Stein und Erz aus Menschenhand im Vergleich zu der Größe und Erhabenheit dieser Riesen unter den Bäumen?“ sagte Helena zu David und Frischmann, die neben ihr auf dem Midgard gingen und mit ihr in den Schatten eines Gehölzes traten, das auf Erden nicht seinesgleichen hat. 95 „Angesichts dieser schönen Bäume fühlt sich meine Seele erhoben“, sprach Frischmann träumerisch. „Wohin führen Sie uns, David?“ „Zum See des ewigen Lebens“, antwortete David. „Aber ich bin tot“, sagte Frischmann. „Man hat mir das Messer mitten ins Herz gestoßen.“ „Und doch scheint es mir, als ob du leben würdest, Max“, sagte Helena. Inzwischen waren sie an einem Haus gelangt. Es war breit und flach und sah sehr hübsch aus. „Gehen wir ins Haus!“, sagte David und schritt voran. Frischmann bewunderte die geschmackvolle Ausstattung mit Kunstwerken und Möbeln. Überall standen Blumen und es duftete nach Frühling. „Wem gehört das Haus?“, fragte Frischmann. „Hier wohnen Claras Großeltern. Breton und Thekla, zwei berühmte Wissenschaftler. Doch jetzt bereiten sie sich auf ihre letzte Stunde vor. In ein paar Minuten kommen geladene Gäste. Dann wird Breton seine Abschiedsrede halten." 96 „Sie sehen doch gar nicht krank aus“, sagte Frischmann und betrachtete interessiert das alte Paar. Der Mann mit dem Silberhaar schien voller Feuer zu sein und die zierliche Gefährtin wirkte frisch und froh. „Ehren und Ansehen der MIDGARDS erfordern das Hinscheiden durch Selbsttötung“, sagte David und betonte jedes Wort. „Selbstmord? Sie sagten doch, Selbstmord sei Sünde ...?“ Frischmann fehlten die Worte. „Die MIDGARDS wollen nicht an Altersschwäche oder Alterskrankheiten sterben“, antwortete David und sah zum Himmel, an dem jetzt Luftfahrzüge zu sehen waren. „Jetzt kommen die Gäste!“, rief David und zeigte nach oben. Ein Flugfahrzug kam langsam nach unten. Türen öffneten sich und ein Dutzend Männer traten heraus. Sie waren alle in Weiß gekleidet und blickten ernst und ehrfürchtig drein. Dann standen sie alle in einem großen Raum und Breton richtete herzliche Worte des Abschieds an die treuen Gehilfen seiner letzten Lebensjahre. In der klangvollen Weltsprache der Midgards dankte er jedem Einzelnen für alles Gute, für die Liebe und Treue. 97 „Das MIFZ bringt uns nachher alle auf die Insel der Nächte, sagte David, „wo die beiden alten Leute sterben werden“. „Wozu brauchen sie überhaupt ein Fahrzeug?“, fragte Frischmann. „Ich denke, die MIDGARDS können sich allein durch ihre geistigen Kräfte überallhin versetzen?“ „Die Elastizität des Körpers nimmt auch bei uns im Alter ab“, antwortete David. „Die Kraft des Geistes ist geblieben, ja gesteigert, aber die Unbeweglichkeit der Glieder behindert unsere alten Leute.“ „Mich wundert, dass sie so gelassen wirken“, meinte Frischmann. „Es muss ihnen doch schwer werden, aus dem Leben zu scheiden, wenn sie nachher, hoch über den duftenden blühenden Wiesen im hellen Sonnenschein, im Flugfahrzug sitzen und über den Wolken segeln.“ „Unseren Wissenschaftlern ist es gelungen, das Lebensalter bis auf zweihundert Jahre zu verlängern.“ „Das ist enorm alt. Wie haben Ihre Wissenschaftler das geschafft?" „Sie haben lange studiert, sich genaue Kenntnisse erworben, was der Mensch in verschiedenen Altersperioden benötigt. Infolge der günstigen sozialen Einrichtungen auf dem Midgards sind wir in der Lage, unser Leben jederzeit entsprechend diesen Bedürfnissen einzurichten." 98 „So ist es also soweit gekommen, dass Sie sich selbst töten müssen, um überhaupt sterben zu können“, sagte Frischmann zynisch. „War es das wert?“ „Es gibt keine Ewigkeit für Formen, für körperliche Dinge“, entgegnete David. „Also, auch nicht für das Dasein des Körpers. Wir haben aber den Zeitpunkt unserer natürlichen Auflösung so weit hinausgerückt, dass uns nur in den seltensten Ausnahmefällen eine derartig ausgedehnte leibliche Existenz erwünscht ist. Die Kindheit der MIDGARDS ist kurz. Schon nach wenigen Jahren geht sie in die bewusste Entwicklung, die Jugendzeit mit ihrem Durst nach Leben über. Das Mannesalter bringt das Hochgefühl des Besitzes von Kräften, die alle Schwierigkeiten überwinden können. Bei den Frauen ist dieser Abschnitt für Heiraten und Geburten zuständig. Bei körperlichen Arbeiten und Sport, beim Lenken und Leiten von großen Gemeinschaften und Betrieben der Staatengemeinschaft gehen die Mannesjahre in jene der bleibenden Reife über. Gleich den Riesenbäumen dieses Landes vergleichbar, verharren wir in dieser Periode so lange, bis uns der wissenschaftliche Forschungseifer für irgendein Gebiet ergreift. Dann ziehen wir uns in die Einsamkeit, in das Land der Nächte zurück, und meistens ist der MIDGARD von seiner Ehefrau begleitet, von einer Seelenfreundin, die er in den vergangenen Daseinsperioden gefunden hat. 99 Halten wir auch für die Aufgabe dieses Lebensalters für beendet, weil unsere Arbeitskraft abgenommen hat, so trennen wir uns von unserem alt gewordenen Körper, wie es jetzt Breton und Thekla tun will.“ „Warum wollen sie gerade heute sterben?“ wand Frischmann ein. „Sie haben selbst den Entschluss gefasst und die Stunde festgesetzt. Trotzdem würde niemand ein Stein auf sie werfen“, belehrte David, „wenn sie im letzten Augenblick zurücktreten sollten. Der Fall ist gar nicht so selten. Plötzlich, kurz vor dem Tod, erwacht der Trieb zum Leben. Man fühlt sich nicht mehr alt und möchte noch dies und jenes tun. Erst kürzlich hatten wir so einen Fall. Ein Geschichtsprofessor. Mit hundertsiebendundneunzig Jahren fiel ihm ein, ein neues Buch über unseren Planeten zu schreiben ..." David lachte. „Ja, so etwas gibt es auch. Aber irgendwann sterben muss er doch. Es gilt nämlich als Schande, durch einen Unglücksfall oder durch Altersschwäche zu sterben. Die MIDGARDS wollen bei vollem Bewusstsein und mit der Beruhigung sterben, ein darauf folgendes Dasein unserer Seele schon vor dem Scheiden aus der Midgardwelt eingeleitet und vorbereitet zu haben. Der Zufall ist dem MIDGARD ein unbekannter Begriff, ein Wort, das gleichbedeutend mit Unkenntnis und Unwissenheit ist.“ 100 „Aber euer Planet heißt Midgard oder der Bezwinger des Todes. Und doch müsst ihr auch sterben, wie die Menschen.“ „Es stirbt nur die äußerliche Hülle, der Geist bleibt. Schon nach kurzer Zeit werden sie wieder geboren werden. Entweder als das, was sie waren oder in einer noch höheren Stufe.“ Frischmann sah, wie Breton die Ansprache beendete und die Gäste sich alle wieder zum Luftfahrzug bewegten. „Kommen Sie!“, rief David. „Wir fahren auch mit.“ Sie stiegen mit den anderen Leuten ein und suchten sich einen Fensterplatz. Helena saß neben Frischmann. Schüchtern nahm sie seine Hand und drückte sie sanft. „Da, unten, sieh, Markus, die kleine Stadt. Hübsch nicht? Wie schön sie zwischen den hohen Bäumen gebettet liegt. Wir steigen hinab!“ „Dieser Ort heißt Stätte der Weisheit, erklärte David. „Das ausgedehnte schlossartige Gebäude in der Mitte könnte man mit einer der größten Hochschulen auf der Erde vergleichen. Die Gelehrten unter den MIDGARDS tauschen hier Resultate ihrer Forschungen aus. Viele von den Wissenschaftlern wohnen in dem Universitätsgebäude selbst, andere in den Häusern des Städtchens. In dieser Universität gibt es die modernsten Laboratorien und Apparate, wie nirgendwo auf dem Midgards." 101 Inzwischen landete das Flugfahrzug auf dem Landeplatz, dem Dach der Universität. Während Thekla und Breton ausstiegen und die übrigen Insassen nachfolgten, sagte Frischmann erstaunt: „Wo kommen die ganzen Personen her? Und sieh, Helena, da sind auch Malve und Lanus mit ihrem Kind." Nach dem Austausch lebhafter Begrüßungen stiegen alle Anwesenden eine schöne, breite Treppe hinab und begaben sich in das Innere des Hauses nach einem großen Saal. Frischmann war erstaunt. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt. „Wer sind all diese Leute?“, fragte er und sah verwundert auf die vielen alten Leute. „Das sind alles Bewohner aus dieser Stadt und anliegenden Städten. Schon lange findet ein Gedankenaustausch zwischen Breton, Thekla und den hier anwohnenden Menschen statt. Thekla ist eine bekannte Medizinerin gewesen. Sie hat revolutionierende Errungenschaften in der Gynäkologie erreicht. Und Breton war einer der berühmtesten Wissenschaftler des Midgards. Aber das erzähle ich Ihnen nachher.“ „Schau, was für ein nettes Kind Clara geworden ist“, sagte Helena. Ich muss zu ihr. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Sie lief davon und Frischmann sah, wie sie das Mädchen auf den Arm nahm und Malve und Lanus begrüßte. 102 Frischmann versuchte näher an die Gruppe heranzukommen und drängte sich durch die Massen. David folgte ihm. „Tatsächlich, es ist Clara", sagte Frischmann. „Die gleichen Augen, die Nase, der Mund. Aber sie ist schon so groß, wie ein zweijähriges Mädchen." „Sie weiß schon von der hohen Ehre, die ihr zuteilwird, dass sie ihre Großeltern das letzte Geleit geben darf", sagte David und sah, wie Breton das Mädchen jetzt hochhob und auf die Tribüne schritt. „Dieses Hochheben“, sagte David lächelnd, „ist das Symbol für die eigene bevorstehende Wiedergeburt.“ Breton ließ das Mädchen wieder hinab und richtete ein paar fröhliche Worte an die Anwesenden. Er schloss mit den Worten, dass er wünsche, dass er und seine Frau irgendwann wieder auf dem Midgard geboren werden. Und er würde alle seine lieben Freunde, die hier versammelt wären, gerne wiedersehen. Nach der Rede entstand ein Geraune im Saal und viele riefen: „Aufwiedersehen, Breton, auf Wiedersehen, Thekla!“ Breton ging von der Tribüne, Clara an der Hand und trat zu Malve und Lanus. Nach herzlichen Umarmungen gingen Breton und Thekla zu den beiden Katafalken, die im Saal errichtet waren, und legten sich zu gleicher Zeit hinein. 103 „Wann und wie sterben sie? Oh, mein Gott, Helena! Ich kann das nicht mit ansehen.“ „Hier bin ich, Max. Hier!“ Frischmann fühlte eine sanfte Berührung und sah in die strahlenden Augen von Helena. „Es dauert noch eine Weile, bis sie sterben“, erklärte David. „Der giftige Pflanzensaft tritt nur allmählich durch die Poren der Haut, bahnt sich seine Bahnen durch Venen und Blutgefäße, bis er das Herz erreicht. Doch keine Angst, sie merken nichts. Sie schlafen schon. Süße Träume umwogen sie. Wenn das Gift seine Wirkung getan hat, senken sich die Katafalke hinab und werden ins All hinaus geschleudert.“ „So etwas kann ich mir nicht ansehen, so einen Doppelselbstmord. Gehen wir hinaus, Helena.“ „Das geht nicht, Max. Wir müssen warten, bis Breton und Thekla gestorben und verschwunden sind.“ Gemurmel wurde hörbar. Die Anwesenden unterhielten sich in der Midgardsprache. „Angesichts des Todes dieser beiden lieben alten Menschen ehrt man die Sterbenden nicht gerade“, sagte Frischmann entrüstet zu David. 104 „Man unterhält sich über die Forschungen von Breton. Im Augenblick findet ein lebhafter Meinungsaustausch über die letzten genialen Berechnungen Bretons statt.“ „Was hat er festgestellt?“, fragte Frischmann. „Uns allen ist bekannt, dass der Planet Midgard durch den Zusammensturz zweier beinahe gleich großer Sterne entstanden ist. Umfang und Form des Midgards, die Lage, Richtung und gegenwärtige Höhe seiner Gebirge, die Verteilung von Wasser und Land, die Verschiedenheit der Gesteine auf beiden Halbkugeln beweisen es. Breton hat nun unter Berücksichtigung der jetzigen Entfernung von der Wega, der Schiefe unserer Ekliptik, der Abtragung unserer Gebirge sowie verschiedener anderer wichtiger Momente den Zeitpunkt festgelegt, an welchem die Katastrophe erfolgt ist.“ „Das war eine zwecklose Arbeit, meine ich." „Sie irren. Bretons Arbeit ist für den Midgard von außerordentlicher Wichtigkeit. Denn Breton begnügte sich nicht damit zu erforschen, wann der Planet sich geteilt hatte, er sagte auch voraus, wann der nächste Zusammenstoß mit einem Asteroiden zu erwarten ist.“ „Und wann wäre das?“, fragte Frischmann gespannt. „In circa dreihundertdreißig Jahren. Dieser Umstand beeinflusst die allgemeine Weltpolitik auf dem Midgard außerordentlich, denn der Anprall zieht natürlich selbst die davon entferntesten Punkte unseres Planeten in Mitleidenschaft. 105 Nun beriet man an allen Orten, wie die Katastrophe abgewendet werden kann. Breton machte den Vorschlag, ein Riesenmoor anzulegen.“ „Eigenartige Sorgen. Es gibt doch keine Mittel, ein solches Ereignis abzuwenden. Der Mensch hat noch nie Naturkatastrophen überwunden und er wird sie nie überwinden, und ich denke, das trifft auch für die Midgardbewohner zu. Und wozu soll das Moor gut sein?" „Sie irren gewaltig, lieber Frischmann. Sobald man nämlich den Eintritt lange genug vorher weiß, kann man sich gegen die Übel schützen. Breton hat genau die Stelle berechnet, wo der Asteroid einschlagen wird. Das Moor wird den Aufprall mildern. Außer der Milderung des Stoßes würde man hierdurch die Einverleibung der Gesamtmasse des Asteroiden erreichen, der den sechshundertsten Teil des Midgardgewichts besitzt. Dieser Zuwachs wäre unserem Planeten in jeder Beziehung vorteilhaft. Er würde aber, wenn das Moor nicht gebaut würde, nur im geringen Umfang eintreten, weil sich jetzt an der Stelle des Einschlags ein Felsengebirge befindet. Die Steine des zersplitterten Asteroiden würden also durch den Aufprall in den Weltenraum zurückgeschleudert werden." „Na ja“, sagte Frischmann und sah zu Malve und Lanus, die gespannt zu den Katafalken sahen. Clara stand stumm daneben, die Hand ihres Vaters umklammert. „Was ich schon immer fragen wollte, David. Wie sieht es mit Ihren Armeen, Ihrer Kriegsmarine aus?“ 106 „Sie haben nun schon so vieles gesehen und erlebt, Frischmann“, sagte David unwirsch. „Und trotzdem stellen Sie solche Fragen. Ich dachte, Sie hätten etwas von unserem Leben und unserem Kulturstand mitbekommen. Seit fast tausend Jahren gibt es auf unserem Planeten keine Einrichtung mehr, die mit Massengewalttätigkeit irgendetwas zu tun hätte.“ David sprach lauter und einige Neugierige versammelten sich um ihn. „Wir haben keine Grenzen, bei uns gibt es keine blutigen Massenkämpfe mehr. Unsere Menschen kämpfen gemeinsam gegen die Unbilden der Natur, der Erhalt des Lebens und der Natur, das ist ihre einzige Sorge. Unsere Midgardbewohner beschäftigt im Moment nur ein Gedanke, dass riesige Gebirge abzutragen, und an seiner Stelle ein ungeheures tiefes Moor zu graben. Kein Erdenmensch ist imstande, sich von der gigantischen Größe dieser Aufgabe eine Vorstellung zu machen. Sie würden nicht einmal die Folgeerscheinungen dieser Tat, die Veränderungen des Klimas und der Bewässerung im Voraus berechnen können." „Das bestreite ich nicht. Ich bin weder Geologe noch Meteorologe“, rief Frischmann dazwischen. „Doch gibt es auf der Erde inzwischen auch superkluge Köpfe, die das bewerkstelligen würden.“ 107 „Mut, Tapferkeit und Intelligenz müssen hierbei in weit höherem Maß aufgewendet werden, als bei Ihren Kriegen. Wer auf Erden die modernsten und am weitesten tragenden Raketen einsetzen wird, wird Sieger! Ich finde es empörend, dass junge Männer gezwungen werden, fremde Menschen aus der Ferne zu erschießen oder umgekehrt, von einem Unbekannten durch ein Geschoss um fünfzig Lebensjahre gebracht zu werden! Weit höherer Mut erfordert die Tat jenes Paares dort auf den Katafalken!" „Sind Breton und Thekla jetzt tot?“, fragte Frischmann. „Sie versinken!“, rief Helena leise. David starrte zu den Katafalken, die langsam in die Erde verschwanden. „Gleich ist es vorbei mit Bretons und Theklas körperlichen Formen. In wenigen Minuten werden sie in Schutt und Asche aufgelöst. Die entwichenen Seelen werden sich aber im Drang nach Leben und Tätigkeit bald wieder mit einem neuen Körper umhüllen. Sie werden eine weitere Sprosse auf der Leiter erklimmen, die hinaufführt zum Gipfel, zum letzten Ziel, zum Eingehen in Gott!“ Frischmann sah David sprachlos an. „So glauben Sie doch an Gott, ich wusste es. Ja, ich wusste es. Sie waren als Mensch religiös und Sie sind es als MIDGARD ... Sie sind ... Helena, wo bist du ... Helena ...!" 108 „Helena geht jetzt zum See des Lebens. Sie wird noch mal auf die Erde zurückkehren, während Sie hier bleiben, Frischmann. Ihr Körper ist jetzt wertlos, Frischmann.“ „Nehmen Sie mich trotzdem mit. Ich möchte Helena bis zu dem See begleiten, David.“ David schritt über eine große Hängebrücke. Frischmann und Helena folgten ihm. Sie kamen an eine Lichtung und dann sahen sie den großen See. Die Wellen kräuselten sich leise und in der Ferne sah man weiße Boote dahin gleiten. „Herrlich!“, rief Helena. „Ganz wunderbar! Warum stehen die vielen Häuschen hier?“ fragte sie. In diesem Moment kamen einige Frauen und Männer an das Ufer und grüßten David freundlich. „Die Häuser sind für diese Kranken gebaut. Der See hat ihre Wunden geheilt und nun wollen sie nicht mehr von hier weg. Warum sollten sie auch, wo sie doch alle wie in einer Gemeinschaft leben." „Was haben diese Menschen gehabt?“, fragte Frischmann und beobachtete die Gruppe, die sich im Kreis in dem weißen Ufersand niederließen und still vor sich hin starrten. „Was machen sie jetzt?“, flüsterte Helena. 109 „Sie meditieren. Diese ERME waren von einer schweren Krankheit befallen, auf der Erde nennt man sie Lepra. Das Wasser dieses Sees hat sie geheilt. Es heilt alle Wunden, wenn man hineinsteigt.“ „Warum beachten sie uns nicht?“, fragte Helena und war im Begriff das Kleid abzustreifen und in den See zu steigen. „Es sind ERME. Sie können Sie nicht sehen“, antwortete David. „Was willst du tun, Helena?“, fragte Frischmann verwundert, als er sah, dass sie nackt zum Ufer schritt und die Füße ins Wasser hielt. „Ich will meine Wunden heilen, ich will meine Seele heilen“, sagte sie und sprang mit hochgesteckten Armen ins Wasser. „Herrlich warm. Komm rein, Max!“ rief Helena übermütig und planschte mit den Füßen. Frischmann begann sich auszuziehen, doch David hielt ihn zurück. „Für Sie hat es keinen Sinn, Sie sind tot. Sie können nicht auf die Erde zurück, während dessen Helena bald wieder in ihren Körper zurück muss. Bleiben Sie hier, Frischmann und streben Sie nach einer baldigen Wiedergeburt auf dem Midgard.“ „Nein! Bitte lassen Sie mich in den See, damit ich wieder gesund werde. Sie sagten, der See heilt alle Wunden.“ 110 Helena tobte im Wasser herum. „Komm rein, Max!“, rief sie. David hielt Frischmann am Arm fest. „Wollen Sie wirklich wieder auf die Erde zurück? Sie wissen, dass Sie wieder ins Gefängnis zurück müssen, wenn man Sie geheilt hat. Sie werden viele Jahre im Gefängnis bleiben müssen.“ Frischmann nickte. „Ich weiß, aber wenn mein Wiederaufnahmeverfahren durchkommt, werde ich vielleicht begnadigt.“ „Das kann möglich sein. Man wird Sie in eine Psychiatrische Klinik schicken und ein paar Jahre dort behalten. Und was folgt dann? Denken Sie daran, was Sie noch alles erdulden müssen! Neid, Missgunst und immer die Jagd nach Geld wird sie verfolgen.“ „Bitte, David, wenn Helena geht, kann ich noch nicht bleiben. Ich liebe diese Frau, das ist mir in den letzten Minute bewusst geworden. Lassen Sie mich in den See! Machen Sie mich gesund und schicken Sie mich auf die Erde zurück! „Sie wollen auf die Erde zurück und ich soll Sie auch nicht wieder herholen?“ 111 „Nein, David. Erst, wenn meine Zeit gekommen ist, möchte ich auf dem Midgard wiedergeboren werden. Aber jetzt möchte ich noch leben ... leben ... leben. Verzeihen, Sie David, aber ich denke, dass Leben auf der Welt ist, lebenswert, wenn man anfängt, richtig zu leben.“ Noch bevor David etwas antworten konnte, sprang Frischmann in den See und schwamm Helena hinterher. Kurz danach waren beide am Horizont verschwunden. „Mama, Mama! Soeben ist ein Schreiben vom Gericht gekommen!“ rief Maik, der mit einem gelben Brief in das Schlafzimmer getreten war. Helena blickte mit großen Augen auf den siebzehnjährigen Jungen. „Wo ist deine Schwester?“, fragte Helena und öffnete vorsichtig den gelben Brief. „Beim Ballettunterricht. Sie muss aber gleichkommen.“ Helena öffnete den Brief und las. Langsam Zeile für Zeile las sie. Fünf Jahre hatte sie auf diese Antwort gewartet. Fünf lange Jahre gehofft und gebetet. Jetzt war der Augenblick da. Ihr geliebter Max kam wieder nach Hause. Das Gericht hat der vorzeitigen Entlassung zugestimmt! Helena sprang aus dem Bett. 112 „Der Wievielte ist heute, Maik?“, rief sie fröhlich. „Der 13. Mai, Mama!“ „Übermorgen kommt Papa nach Hause! Wir müssen das Haus aufräumen, Maik! Wir müssen einkaufen und alles schön machen! Papa kommt nach Hause. Euer Papa kommt nach Hause!“ Fröhlich lief Helena durchs Haus. Sie ordnete dies und jenes an. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an Max. Fortgerissen von einer unwiderstehlichen Flut heranstürmender Gedanken schrieb und schrieb und schrieb sie. ENDE 113 114