Psychiatrie Vor 22 Psychiatrische Notfall-Therapie Die wichtigsten psychiatrischen Notfälle sind: -Erregungszustände, akute Suizidalität, Angst- und Panikstörungen -Bewusstseinsstörungen/Delir, Drogen-Notfälle, Stupor, Katatonie, -(Psycho-)Pharmakainduzierte Notfälle (Dyskinesie, malignes neuroleptisches Syndrom) Kenntnisse über die Erstversorgung psychiatrischer Notfälle sind für jeden Arzt von Bedeutung. Die akute Symptomatik und eine evtl. Fremd- oder Selbstgefährdung müssen schnell und sicher erkannt werden. Die Ursache kann nicht nur im psychiatrischen Bereich selbst bestehen. Es ist auch an neurologische und internistische Erkrankungen zu denken sowie an Nebenwirkungen von Pharmaka. Eine internistische und neurologische Untersuchung sollte grundsätzlich durchgeführt werden. Ein grundsätzlicher Bestandteil der Notfall-Therapie ist das ärztliche Gespräch. Durch ruhiges und professionelles Auftreten kann die Situation oft entschärft werden. Die Beobachtung des Umfeldes sowie die Angaben von Angehörigen und Nachbarn können wertvolle Hinweise auf die Ursache und für die Therapie geben. Rechtliche Aspekte In akuten Notfällen kann zur sofortigen Gefahrenabwehr evtl. ein Handeln ohne ausdrückliche Zustimmung des Patienten nötig sein („Geschäftsführung ohne Auftrag"). Direkt im Anschluss daran muss eine ausreichende rechtliche Grundlage geschaffen werden (z. B. Betreuung nach dem Betreuungsgesetz, Unterbringung nach den LUG oder PsychKG der Länder). Abb. 7.1 gibt eine Übersicht über die medikamentöse Therapie psychiatrischer Notfälle. Obligat ist eine exakte Dokumentation (äußere Situation des Notfalls, Befunde, Fremdanamnese, Namen und Telefonnummern von Bezugspersonen Erregungszustände Definition: Hauptcharakteristika von Erregungszuständen sind eine meist ziellose Steigerung von Antrieb und Psychomotorik, affektive Enthemmung und Kontrollverlust. Es kann zu ausgeprägter Gereiztheit und aggressiven Äußerungen bis hin zu unvermittelten Gewalttätigkeiten kommen. Erregungszustände können bei den meisten psychischen Störungen (manische, schizophrene und depressive Psychosen, Belastungsreaktionen, Persönlichkeitsstörungen und Minderbegabungen) sowie bei organischen Grunderkrankungen (hirnorganische Störungen, endokrine Störungen, Intoxikationen, Entzugssyndrome und Rauschzustände) auftreten. In der akuten Situation kann mit Worten eine Beruhigung versucht werden („talk down"). Zur pharmakologischen Behandlung werden niederpotente und hochpotente Neuroleptika eingesetzt. Bei vorherrschender Angst kann Diazepam gegeben werden. Akute Suizidalität zählt zu den häufigsten psychiatrischen Notfällen Im Gespräch mit dem Patienten muss eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Der Patient und seine Situation müssen ernst genommen werden. Das „Krisenmodell" geht von einer psychisch unauffälligen Persönlichkeit aus. Suizidales Handeln resultiert aus einem nicht bewältigbar erscheinenden Lebensereignis. Grundprinzipien der Krisenintervention: frühe Kontaktaufnahme, Zeit zum Sich-Aussprechen, Akzeptieren des suizidalen Verhaltens als Notsignal, Suizidgedanken offen und direkt, ernst nehmend erfragen, Trauer, Wut etc. zulassen, Anlass/Auslöser klären, Kriseninhalte erkennen und ausführlich besprechen, Stützung in der emotionalen Situation, Ansprechen von Bindungen (z.B. Familie, Religion), Entpathologisierung von suizidalem Verhalten, Verhaltensalternativen erörtern, Zukunftsorientierung, Klärung weitere Hilfen, ggf. Einbeziehung der Familie, Ausschluss psychiatrischer Erkrankungen, Indikation für stationäre Einweisung (z. B. Rezidivgefahr). Das „Krankheitsmodell" sieht suizidales Verhalten als Folge psychischer Erkrankung (z.B. im Rahmen depressiver Hoffnungslosigkeit). Eine Depression mit Suizidalität wird mit einem Antidepressivum kombiniert mit einem Benzodiazepin behandelt, eine schizophrene Psychose mit einem Neuroleptikum (Antipsychotikum). Obligat ist ein psychotherapeutisches Basisverhalten. V. a. bei neurotischen Störungen muss eine Einzel- oder GruppenPsychotherapie eingeleitet werden, ebenso die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe. Angst- und Panikstörungen Ein Notfall liegt vor, wenn der Patient meint die Kontrolle über sich zu verlieren oder lebensbedrohlich erkrankt zu sein. Es kommt zu panikartigen Verhaltensweisen mit hochgradiger Erregung und Unruhe. Zur Akutkupierung können Benzodiazepine verabreicht werden. Bewusstseinsstörungen/Delir Definition: Bewusstseinsstörungen sind das Leitsymptom der akuten organisch bedingten psychischen Störungen; quantitativ äußern sie sich in der Regel als Einschränkungen der Wachheit („Bewusstseinshelligkeit"). Je nach Ausprägung sind leichte Benommenheit, Somnolenz (Schläfrigkeit), Sopor oder Koma (Bewusstlosigkeit) zu unterscheiden. Die Bewusstseinsstörung ist eine unspezifische Reaktionsweise des Gehirns und hat meist körperliche Ursachen. Mögliche Ursachen: -zentralnervöse Erkrankungen, systemische Erkrankungen, Medikamente und Drogen. Das therapeutische Verfahren orientiert sich zunächst an den allgemeinen Prinzipien der Notfall-Therapie: Stabilisierung von Atmung und Herz-Kreislauf-Funktionen, Flüssigkeitszufuhr, Elektrolytausgleicht etc. Delir Definition: Das delirante Syndrom (Delir) ist hauptsächlich durch Desorientiertheit, Verkennung der Umgebung, halluzinatorische Erlebnisse (vorwiegend optisch) und Unruhe bis hin zu starker Erregung gekennzeichnet. Es handelt sich dabei um eine akute organische Psychose, die nicht nur bei Alkoholentzug („Delirium tremens"), sondern auch bei Medikamentenentzug, Allgemeinerkrankungen und Einnahme zentral wirksamer Pharmaka auftreten kann Das delirante Syndrom ist ein vital bedrohlicher Zustand und muss in einer Fachklinik stationär behandelt werden. Im stationären Rahmen ist Clomethiazol meist das Mittel der Wahl. An Nebenwirkungen sind das Abhängigkeitspotenzial und die Atemdepression zu beachten. Als Notfallmedikation kann ambulant Haloperidol angewendet werden. Drogen-Notfälle Definition: Drogen-Notfälle zeigen sich vorwiegend als akute Intoxikationen oder Entzugserscheinungen sowie als psychotische Reaktionen (z. B. „Horrortrip„). Das Erscheinungsbild kann sich auf vielfältige Weise als Bewusstseinsstörung, als delirantes Syndrom oder auch als Erregungszustand zeigen. Die Behandlung eines Drogen-Notfalls richtet sich nach der im Vordergrund stehenden Symptomatik. Es muss berücksichtigt werden, dass oft eine Polytoxikomanie vorliegt. Eine Bestimmung des Urin- bzw. Plasmaspiegels sollte baldmöglichst erfolgen. Auch andere Ursachen für die Symptomatik müssen erwogen werden (z. B. metabolische Störung, Mangelernährung, Sepsis). Eine stationäre Abklärung sowie die Akutbzw. Entzugsbehandlung sind dringend angezeigt. Stupor und Katatonie Definition: Unter Stupor versteht man einen Zustand reduzierter bzw. aufgehobener psychomotorischer Aktivität („Erstarren") ohne Bewusstseinsstörung mit einer Dauer von wenigen Minuten bis zu mehreren Wochen. Es liegt somit eine Kommunikations/ Kontaktstörung vor. Eine minderschwere Ausprägungsform stellt in vielen Fällen der Mutismus (Nicht-Sprechen) dar. Das katatone Syndrom ist durch ausgeprägte Störungen der Motorik gekennzeichnet und kann bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Ein stuporöses Syndrom kann auftreten bei: ZNS-Erkrankungen, fortgeschrittener Demenz, malignem neuroleptischem Syndrom, Arzneimittelnebenwirkungen, Drogenmissbrauch. Zunächst müssen allgemeinmedizinische Maßnahmen zum Einsatz kommen (z.B. Elektrolyt- und Flüssigkeitsausgleich). Psychopharmakologisch erfolgt bei katatonem Syndrom und depressivem Stupor primär ein Behandlungsversuch mit Lorazepam. Bei katatoner Schizophrenie: Gabe hochpotenter Neuroleptika. Depressiver Stupor und katatone Schizophrenie werden mit Elektrokrampftherapie behandelt. Auch bei der seltenen perniziösen (febrilen) Katatonie ist sie das Mittel der Wahl. Psychopharmaka-induzierte Notfälle Eine Neuroleptika bedingte Frühdyskinesie kann durch ein Anticholinergikum kupiert werden. Therapie: sofortiges Absetzen der Neuroleptika, körpertemperatursenkende und intensivmedizinische Maßnahmen, Therapieversuch mit dopaminergen Substanzen und Muskelrelaxanzien (z.B. Dantrolen). Das maligne neuroleptische Syndrom ist selten. Symptome sind motorische Störungen, Fieber, Bewusstseinsstörungen und vegetative Dysfunktionen. Laborchemisch werden CK-Anstieg, Erhöhungen der Transaminasen und Elektrolytstörungen beobachtet.