Einführung in die Germanistische Linguistik14 – Pragmatik

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Einführung in die Germanistische Linguistik
Prof. Dr. Wolfgang Wildgen
Einführung in die
Germanistische Linguistik
14. Sitzung
Pragmatik, Sprechakttheorie
und Gesprächsanalyse
Einführung in die Germanistische Linguistik, 14
Prof. Dr. Wolfgang Wildgen
• Dass Sprache im Gespräch stattfindet, dass sie in
Lebenszusammenhänge eingebunden ist, mit sozialen
Prozessen (in Familie, Ausbildung, Beruf, Freizeit) einhergeht
oder für diese konstitutiv ist, dies erscheint allzu offensichtlich, als dass man es lange problematisieren müsste.
Selbst die klassischen Gattungen Epik — Dramatik (Tragödie,
Komödie) haben mit der Gattung des Dramas einen Ort für
die Gestaltung von Viel-Personen-Interaktionen, die Sprache
(außerdem Gestik, Mimik, Bewegung) in konkrete
Handlungszusammenhänge stellen.
• Die Rhetorik, klassisch als forensische oder politische, später
als homiletische Rhetorik, betrieben, führt in die
Rechtswissenschaft oder Theologie, teils in die Psychologie
(Überzeugen, Überreden) und die Werbebranche.
• Das interaktive Handlungsmoment, die Zwecke und Ziele im
sozialen Kontext, werden zum Gegenstand der Soziologie,
als Wissenschaft des sozialen Handelns.
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Die Abstraktionshierarchie der Semiotik
nach Charles Morris
• Die Pragmatik umfasst bei der Sprachanalyse Sprecher,
Hörer (deren Motivationen, Intentionen,
Verstehenshorizonte) und die Situation, in welche die
Sprechhandlung eingebettet ist.
• Die Semantik abstrahiert von den Gebrauchsumständen
und betrachtet nur den Welt- bzw. Vorstellungsbezug (die
Referenz als Extension, den Sinn als Intension).
• Die Syntaktik untersucht nur das Zeichen selbst als
Gegenstand sui generis.
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Hauptrichtungen
• Eine mit Phänomenologie und Gestaltpsychologie verbundene
Richtung entwickelt Karl Bühler (1934) in seiner Sprachtheorie.
Das sogenannte Organon(Werkzeug)-Modell der Sprache
nimmt Ideen des Platonischen Dialoges „Kratylos“ wieder auf
und korrigiert die einseitige Konzentration auf die Darstellungsfunktion der Sprache durch die Einführung der
komplementären Ausdrucksfunktion und Appellfunktion.
• Die funktionale Sprachwissenschaft, die sich aus dem Prager
Funktionalismus (über Jakobson von Bühler geprägt) ergibt,
wird zu einer europäischen Bewegung mit vielen Varianten.
• Neben der Prager Schule ist die neuere soziolinguistisch und
diskursanalytisch ausgerichtete englisch-australische Schule
um Halliday zu nennen. Sie ist wohl derzeit die aktivste im
Bereich der Gesprächsanalyse
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Sprechakttheorie
• In zeitlicher Parallelität zu Bühler und der Prager Schule entstand die
Sprachphilosophie des Wiener Kreises, die vorwiegend idealsprachlich
ausgerichtet war.
• Der spätere Wittgenstein übernimmt Positionen der „Ordinary Language
Philosophy“ in England, die durch Sprachanalyse Prinzipien des natürlichen
Schließens, aber auch der Ethik erschließt. In diesem philosophischen
Kontext steht die Vorlesung, die John L. Austin] 1955 gehalten und 1962
publiziert hat: How to do things with words (deutsch: Zur Theorie der
Sprechakte). Er entwirft auch ein System der Klassifikation und Typisierung
von Sprechakten.
• Im Prinzip in Austins Fußstapfen, aber auf dem Hintergrund der
sprachanalytischen Philosophie, wandelt der amerikanische Philosoph John
Searle. In seinem Regelwerk für das Gelingen von Sprechakten spielen
performative Verben, z.B. „versprechen“ in ihrer typischen Verwendung: „Ich
verspreche Dir, X zu tun“, eine zentrale Rolle.
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Soziologische Ansätze
• Die von Husserl ausgehende phänomenologische Soziologie und
Ethnomethodologie (historisch vermittelt durch Alfred Schütz,
1899-1959) führte in den USA und England zu einer am Gespräch
als grundlegendem Phänomen gesellschaftlichen Handelns
ausgerichteten Soziologie. Deren empirische Arbeiten waren bis in
die 70er Jahre vollkommen losgelöst von philosophischen und
sprachwissenschaftlichen Arbeiten zum gleichen Gegenstand.
Sprache wurde primär als Aktualisierung mikrosoziologischer
Prozesse (in Familie, Kleingruppe, Nachbarschaft) angesehen und
nur in dieser sozialen Dimension analysiert. Dabei konnten aber
grundlegende Mechanismen, wie der Sprecherwechsel, die
Sequenzierung von Teilfunktionen, das Aushandeln von
Alltagsinterpretationen aufgedeckt werden.
• Der ebenfalls im amerikanischen Kontext entstandene
„symbolische Interaktionismus“ fand im Werk von Goffmann
großartige Anwendungen.
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Sprachwissenschaftliche Ansätze
• Die Sprachwissenschaft der 70er und 80er Jahre griff diese
vielfältigen Ansätze auf, konzentrierte sich aber stärker auf
die sprachlichen Aspekte, d.h. auf das Wie der sprachlichen
Realisierung. So sagt Hindelang (1983: 2) in seiner
„Einführung in die Sprechakttheorie“:
• „Die Linguisten haben bei ihren Beschreibungen immer das
Gesamtsystem einer bestimmten Einzelsprache vor Augen
und interessieren sich deshalb für alle sprachlichen
Ausdrücke in gleicher Weise bzw. sie versuchen, traditionelle
sprachwissenschaftliche Probleme mit Hilfe der
Sprechhandlungstheorie zu lösen.“
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Hauptaufgaben einer sprachwiss.
Gesprächsanalyse
Die folgenden zentralen Aufgaben bleiben dennoch eher im
Fokus der Sprachwissenschaft als der anderen Disziplinen:
• Die Semantik und Syntax von Sprechaktverben und die der
speziellen Gesprächsindikatoren.
• Die grundlegenden Regularitäten des Gesprächs (sozusagen
deren Diskursgrammatik), wobei der wesentlich offenere
Charakter dieser „Regeln“ zu beachten ist.
• Die soziolinguistische Variabilität von Diskursregularitäten (in
Abhängigkeit von regionalen/dialektalen Traditionen,
Geschlechts-/Schicht- und Altersunterschieden).
• Die eher philosophischen, soziologischen und
psychologischen Fragestellungen sind interdisziplinär zu
klären.
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Die soziologische Konversationsanalyse
• Diese Richtung entwickelt sich aus der Soziologie des
Alltags (in England). Harold Garfinkel forderte, dass die
Soziologen den anscheinend belanglosen, ständig
ablaufenden Ereignissen des Alltags ihre Aufmerksamkeit
schenken sollten. Eine damit vergleichbare Entwicklung in
der Geschichtswissenschaft ist die Biographieforschung
oder „Oral History“. Diese Wende hin zum Alltag, weg von
den spektakulären Umwälzungen (Revolutionen),
politischen Konflikten (Kriegen, Wahlkämpfen, Skandalen)
oder globalen Strukturen (Institutionen, sozialen Schichten,
sozialer Ungleichheit, Unterdrückung, Emanzipation) und
hin zur akribisch in die Mikrowelt der face-to-faceKommunikation eintauchenden Analyse, markiert die, sich
an das Garfinkel-Programm anschließende, amerikanische
Konversationsanalyse (Conversational Analysis).
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Ethnomethodologie
• Garfinkels Programm wurde auch mit dem Begriff
„Ethnomethodologie“ verknüpft, meint aber zuerst die
„Methoden“ der Beteiligten im Alltag, in ihrem Tun und
Sprechen, die Methode, dem Tun der anderen Sinn
zuzuordnen, diesen Sinn zu erkennen, eventuell zu
verhandeln. Dabei werden (versuchsweise) Voraussetzungen
gemacht, Interpretationsrahmen benützt, geschaffen,
verändert, Regeln der Sinnzuordnung befolgt oder verworfen.
• Die Wörter, die Grammatik der Sprache sind dabei nur ein
grundlegendes Orientierungssystem mit Sinnzuweisungen. In
der Situation, in der Interaktion, in Anbetracht eigener
Intentionen und mutmaßlicher Absichten des anderen,
geschieht erst die Sinnzuweisung, die Bewertung des
kommunikativen Inhalts, dessen, was passiert und auch der
Gesprächspartner.
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Sprecherwechsel
Die grundlegende Regelhaftigkeit betrifft nicht die Grammatik der
benützten Sprache, sondern den Sprecherwechsel, d.h. wie
werden die Handlungen, Sprechakte der einzelnen Beteiligten
in den Fluss der Rede integriert, der quasi das soziale Feld des
Gesprächs (der face-to-face-Kommunikation) konstituiert?
Sachs u.a. (1974) stellten die dynamische Systemhaftigkeit dieser
Interaktionsmechanik heraus (auf der Basis eines großen
Korpus von Alltags-, hauptsächlich Telefongesprächen).
Es gibt zwei Grundprinzipien:
• Nur eine Person spricht zu einer Zeit.
• Sprecherwechsel wiederholen sich.
Daraus ergibt sich die Frage, wie beide Prinzipien koordiniert
werden, wie der Sprecherwechsel geregelt ist.
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Dabei sind folgende Fragen zu beachten:
• An welcher Stelle (im Satz, im Text) passiert ein Sprecherwechsel? Dieser Aspekt bindet die Grammatik der Sprache
ein, da z.B. die Vollständigkeit einer Struktur, die Satzteil- und
Satzgrenzen, die vorkommenden Typen von Sprechakten
(z.B. Frage—Antwort) als Kriterien in Frage kommen.
• Wie wird der nächste Sprecher ausgewählt? Im Prinzip kann
derjenige, welcher den „turn“ hat, die Auswahl bestimmen.
Das Prinzip heißt: „Current speaker selects next“ oder der
Sprecherwechsel erfolgt durch die spontane Aktivität des
nächsten Sprechers. Das Prinzip lautet: „Next speaker selfselects.“ Im Fall der Wahl durch den laufenden Sprecher,
kann dieser auch sich selbst wählen („er beantwortet die
selbst gewählte Frage“, er fährt nach einer Pause und einem
Blickwechsel fort, nachdem andere Sprecher den Faden
nicht aufgenommen haben).
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• Findet keine Sprecherwahl nach einem Punkt des Wechsels
(Pause, Frage, ...) statt, hat das Gespräch eine Lücke („lapse“).
• Da der Wechsel im Prinzip verhandelt wird (angeboten,
angenommen / abgelehnt; angefordert, zurückgewiesen), kann es
auch zum Kampf um das Rederecht kommen, d.h. im Widerspruch
zu Prinzip 1 treten Überlappungen auf.
• Ein sequentielles Grundmuster bilden Nachbarschafts-Paare
(„adjacency pairs“), d.h. eine Äußerung von Sprecher A vor dem
Sprecherwechsel entspricht einer anderen von Sprecher B.
• Beispiel:
Frage — Antwort
•
Vorwurf — Entschuldigung
• Dabei gibt es meist Alternativen für Sprecher B; er kann einen von
A erwarteten Beitrag liefern (z.B. auf die gestellte Frage
antworten). Man spricht von der von A präferierten Reaktion
(„preferred second pair part“) oder von der nicht präferierten
Reaktion (etwa eine Gegenfrage auf eine Frage, oder eine
ironische Kommentierung der Frage).
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• Insgesamt ergeben sich eine Vielfalt von Abfolgeregeln, die
das Gespräch zu einem Spiel nach Regeln (ähnlich einem
Brettspiel) machen. Der Soziologe sieht darin ein
„Grundmuster gesellschaftlicher Regularität“ und die Quelle
gesellschaftlicher Struktur überhaupt. Für den Linguisten
bedeutet dies, dass jenseits von Satz und Text ebenfalls
Regeln/Regelverstöße und somit ein Verhaltenssystem
vorliegt, das allerdings interaktiv ist und in der Situation
(partiell) organisiert wird.
• Die Frage stellt sich, welche Folgen diese soziale
Organisation für die Festlegung von Bedeutungen generell
(als Produkt millionenfacher Verwendungen) hat und ob die
syntaktischen Regularitäten für Texte und Sätze aus der
Systemhaftigkeit des Gesprächs ableitbar ist.
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Empirische Methoden
• Aufnahme, Transkription und Analyse von Alltagsgesprächen.
• Experimentelle Verstöße gegen Regeln, z.B. in inszenierten
Gesprächen.
• Von besonderer Bedeutung in der Dynamik des Redewechsels
sind der (absolute) Beginn und das Ende des Gesprächs sowie
die Einfügung entweder von Nebensequenzen, die den
thematischen Gesprächsfluss vorübergehend auf ein
Seitenthema lenken, das etwa mit spontanen Ereignissen zu
tun hat (jemand schüttet den Kaffee aus, geht hinaus, kommt
herein usw.), oder die Öffnung eines großen monologischen
Raumes, etwa für eine Erzählung.
• Ein mehr inhaltliches Problem ist die Einführung von Themen
(mit Nachweis der Relevanz), die Entwicklung eines Themas
oder der Themenwechsel.
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Gattungen des Gesprächs
• Das Gespräch hat verschiedene Gattungen („genres“). An
einem Ende der Skala liegen spielerisch belanglose
Gelegenheitsgespräche, am anderen Ende gesetzlich
geregelte Gesprächstypen, etwa vor Gericht. Man kann die
Skala als
• informell / frei — formell / institutionell geregelt
auffassen.
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Interaktionsanalyse
• Unabhängig von der soziologischen Konversationsanalyse
entstand die Ethnographie des Sprechens (Hymes,
Gumperz) und die Interaktionsanalyse von Goffmann.
Goffmann untersuchte besonders Ritualisierungen im Alltag
und spezielle Diskurse, z.B. in der Psychiatrie: Wie
interpretiert der Therapeut oder die Familie das Tun und
Sprechen eines psychisch Kranken? In der Ethnographie des
Sprechens werden Sprechweisen, Intonationsmuster,
paralinguistische Signale systematisch genützt als Hinweise,
die dem Analysierenden (teilweise den Beteiligten)
Aufschluss geben über das „was passiert“.
• In dieser Tradition stehen Lakoff, Robin (1975): Language
and Woman’s Place und Tannen (1984): Conversational
Style. Analyzing Talk Among Friends; Tannen, 1989: Talking
Voices und Tannen, 1990: You Just Don't Understand Me!
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Literatur
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Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), 1973. Alltagswissen, Interaktion und
gesellschaftliche Wirklichkeit, Reader, Bd. 1, 2, Rowohlt, Reinbek.
Austin, J. L., 1962. How To Do Things With Words, Oxford U.P., Oxford.
Eggins, Suzanne und Diana Slade, 1997. Analysing Casual Conversation, Cassell, London
Garfinkel, H., 1967. Studies in Ethnomethodology, Prentice Hall, Englewood Cliffs, New Jersey.
Goffmann, E., 1967 (deutsch). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation.
Gumperz J. und Hymes. D. (Hg.), 1964. The ethnography of communication, American
Anthropologist 66 (6): 103-14.
Hindelang, Götz, 1983. Einführung in die Sprechakttheorie, Niemeyer, Tübingen.
Jefferson, 1974.
Lakoff, R , 1975. Language and Woman’s Place, Harper & Row, New York.
Sacks, H., Schegloff, E. und Jefferson, G., 1974. A simplest systematics for the organization of
turn-taking for conversation, Language 50 (4): 696-735.
Schütz, Alfred, 1982. Das Problem der Relevanz, Suhrkamp, Frankfurt/Main.
Searle, J., 1969. Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge U.P.,
Cambridge.
-- , 1976. A classification of illocutionary acts, Language in Society 5: 1-23.
Tannen, D.,1989. Talking Voices: Repetition, Dialogue, and Imagery in Conversational
Discourse, Cambridge U.P., Cambridge.
-- , 1990. You Just Don’t Understand: Men and Women in Conversation, Ballantine Books, New
York.
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