Das menschliche Gedächtnis Vorlesung 5 an der ETHZ Prof. Rolf Reber 1 Beispiel: Gedächtnis unter Alkoholeinfluss Es ist bekannt, dass alkoholkranke Personen im Rausch Geld oder Schnaps verstecken. Sind diese Personen wieder nüchtern, haben sie keine Ahnung, wo das Geld oder der Schnaps ist. Wenn sie wieder betrunken sind, finden sie das Geld oder den Schnaps wieder. Wie kann man dieses Phänomen gedächtnispsychologisch erklären? Welche anderen Phänomene gibt es, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren? © Rolf Reber 2 Das menschliche Gedächtnis: Literatur Ich lese... Tavris, C., & Wade, C. (1999). Introduction à la psychologie: les grandes perspectives. Louvain-la-Neuve: De Boeck (Chapitre 10: La mémoire, pp. 311-323). © Rolf Reber 3 Das menschliche Gedächtnis: Lernziele Allgemeines Lernziel: Ich kenne die verschiedenen Gedächtnissysteme und deren Funktion Ich kann... • sensorisches, Kurz- und Langzeitgedächtnis unterscheiden; • die Funktionen des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses erklären; • den Unterschied zwischen episodischem, semantischem und prozeduralem Gedächtnis erklären; • verschiedene Arten von Schemata unterscheiden; • erklären, was zustands- und kontextabhängiges Lernen ist. © Rolf Reber 4 Stufen des menschlichen Gedächtnisses Lernen (Enkodierung) Speicherung © Rolf Reber Abruf 5 Verschiedene Arten von Gedächtnis Information Sensorisches Gedächtnis KurzzeitGedächtnis LangzeitGedächtnis Bis 500 ms 100 Buchstaben/sec. Mehrere Sekunden 7±2 Chunks Sekunden bis Jahre Sehr gross (Gibt es Vergessen?) Kurze Speicherung des Materials bis zur Weiterverarbeitung Speicherung und Verarbeitung; „Arbeitsgedächtnis“ Speicherung des Materials bis zum Abruf (nicht perfekt) © Rolf Reber 6 Sensorisches Gedächtnis Beispiel: Bengalische Zündhölzchen am 1. August: So sehen wir die bengalischen Zündhölzer nicht! © Rolf Reber 7 Sensorisches Gedächtnis Beispiel: Bengalische Zündhölzchen am 1. August: Es entstehen Nachbilder. © Rolf Reber 8 Sensorisches Gedächtnis Der Nachweis des sensorischen Gedächtnisses: Hoher Ton —> Mittlerer Ton —> Tiefer Ton —> 5 9 6 2 3 5 8 7 1 5 1 4 Die Zahlen wurden für 50 ms präsentiert. Die Versuchspersonen konnten etwa 4 bis 5 Zahlen behalten (aus drei Zeilen —> ca. 1.5 Zahlen pro Zeile). © Rolf Reber 9 Sensorisches Gedächtnis Der Nachweis des sensorischen Gedächtnisses: Hoher Ton —> Tiefer Ton —> 5 9 6 2 3 5 8 7 1 5 1 4 Die Zahlen wurden für 50 ms präsentiert. Der Ton erfolgte unmittelbar vor oder unmittelbar nach(!) der Präsentation der Zahlen. In beiden Fällen wurden etwa 3 bis 4 Zahlen behalten (aus einer Zeile!). Wenn der Ton 1 sec nach den Zahlen erschien —> 1.5 Zahlen pro Zeile. © Rolf Reber 10 Das Kurzzeitgedächtnis Früher war es üblich, sich von einer Telefonzentrale verbinden zu lassen. Man rief an und gab die Nummer durch, mit der man verbunden werden wollte. „Hallo, hier ist Reber, bitte verbinden sie mich mit 031 631 36 44.“ Die Telefonistin stellte dann die Nummer durch. Psychologen interessierten sich nun dafür, wie Telefonnummern im Gedächtnis gespeichert werden und mit welchen Mitteln man die Leistung des Kurzzeitgedächtnisses verbessern kann. © Rolf Reber 11 Wie konnte das Kurzzeitgedächtnis nachgewiesen werden? In der folgenden Demonstration werde ich Ihnen Wörter vorsprechen. Wenn ich fertig bin, fangen wir alle (ALLE!) an, von 1000 in Dreierschritten rückwärts zu zählen. Also: 1000, 997, 994 ... Sobald ich sage „jetzt“, schreiben Sie diese Wörter aus Ihrem Gedächtnis auf. Sind Sie bereit? © Rolf Reber 12 Nachweis des Kurzzeitgedächtnisses: Test Wenn ich fertig bin, fangen wir alle (ALLE!) an, von 1000 in Dreierschritten rückwärts zu zählen. Also: 1000, 997, 994 ... © Rolf Reber 13 Nachweis des Kurzzeitgedächtnisses : Lösungen Lösungen 1 (ohne Zählen): Becher Buch Frosch Stuhl Haus Hagel Segel Vogel Tram Auto Pult Knabe Löffel Türe Lösungen 2 (mit Zählen): Mantel Hand Schwamm Ring Bahn Treppe Besen Fisch Seil Maus Tisch Vogel Teller Türe © Rolf Reber 14 Nachweis des Kurzzeitgedächtnisses Wie Sie auf der Begleitfolie sehen können, gibt es beim unmittelbaren Abruf bessere Erinnerungsleistungen am Anfang und am Schluss der Wortkette. Die bessere Leistung am Anfang nennt man Primäreffekt (primacy effect). Dieser Effekt spielt auch beim berühmten ersten Eindruck beim Kennenlernen von Personen. Die bessere Leistung am Schluss nennt man Rezenzeffekt (recency effect). Der Rezenzeffekt verschwindet, wenn die Personen zwischen Lernen und Abruf zuwarten und andere Information aufgenommen wird. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Information in einem Kurzzeitspeicher bewahrt wird, bis sie durch andere Information verdrängt wird. Folie Baddeley, 2000, 33 © Rolf Reber 15 Nachweis des Kurzzeitgedächtnisses Hand Ring Treppe Fisch Maus Vogel Türe Ring Treppe Fisch Maus Vogel Türe 1000 Trepp e Fisch Maus Vogel Türe 1000 997 Fisch Maus Vogel Türe 1000 997 994 Maus Vogel Türe Vogel Türe 1000 Türe 1000 997 1000 997 994 997 994 991 994 991 988 991 988 985 1000 997 994 991 988 985 982 Folie Baddeley, 2000, 33 © Rolf Reber 16 Kurzzeitgedächtnis Es konnte gezeigt werden, dass der Mensch rund 7 ± 2 Chunks behalten kann. In der folgenden Demonstration werde ich Ihnen Zahlen vorsprechen. Wiederholen Sie diese Zahlen folgendermassen: Wenn ich sage „5 8 2“, dann wiederholen Sie „5 8 2“; wenn ich sage „5 8 2 9“, dann wiederholen Sie „5 8 2 9“, usw. Sobald ich sage „jetzt“, schreiben Sie diese Zahlen aus Ihrem Gedächtnis auf. Sind Sie bereit? © Rolf Reber 17 Kurzzeitgedächtnis: Test Sobald ich sage „jetzt“, schreiben Sie diese Zahlen aus Ihrem Gedächtnis auf. © Rolf Reber 18 Kurzzeitgedächtnis: Lösungen Anzahl Ziffern 3 4 5 6 7 8 9 Lösungen: 3 2 9 5 0 3 9 3 8 1 5 9 1 2 5 7 3 2 6 6 1 8 3 4 5 8 2 © Rolf Reber 2 1 4 6 5 8 9 3 9 6 9 5 1 0 3 19 Kurzzeitgedächtnis Fazit: Die Kurzzeitgedächtnisspanne des Menschen beträgt ca. 7±2 Chunks Chunks sind Informationspakete. Wir behalten 7±2 einzelne Ziffern, können aber nur unwesentlich weniger dreistellige Zahlen behalten (257 834 ...916). Allerdings hängt die Kurzzeitgedächtnisspanne auch von der Länge des Aussprechens der Information ab. So hat man festgestellt, dass Waliser eine kleinere Zahlenspanne haben als Engländer, weil das Aussprechen walisischer Ziffern länger dauert als das Aussprechen englischer Ziffern. © Rolf Reber 20 Kurzzeitgedächtnis: Was man wissen muss Ist Wissen über das Kurzzeitgedächtnis heutzutage wichtig (Wir haben ja keine Telefonzentralen mehr)? Allgemein sollte man wissen, dass die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses begrenzt ist. Beim Schreiben von Texten sollte man darauf achten, dass die Belastung für das Kurzzeitgedächtnis möglichst klein ist. In seinem Buch „Deutsch fürs Leben“ gibt Wolf Schneider als Faustregel an, dass eingeschobene Sätze nicht mehr als 12 Silben lang sind. Hier einige Beispiele, wie man es nicht machen soll: © Rolf Reber 21 Kurzzeitgedächtnis: Was man wissen muss Dem Dem Raub Raub der Maschinenpistole, die in einem mit einer qualifizierten Diebstahlsicherung versehenen und mit einem mit zwei Millimeter dickem Stahlblech umkleideten Behältnis in einer Seitentür verwahrt wird und zur Standardausrüstung jedes Hamburger Funkstreifenwagens gehört, war ein Notruf über die Polizeinummer 110 vorausgegangen. Zwischen „dem Raub“ als Objekt und dem „Notruf“ als Subjekt sind 32 Wörter eingeschoben, davon 30, die nichts mit der Information des Satzes zu tun haben. FAZ; Quelle: Schneider, 1994, 68 © Rolf Reber 22 Kurzzeitgedächtnis: Was man wissen muss Dem Raub der Maschinenpistole, die in einem mit einer qualifizierten Diebstahlsicherung versehenen und mit einem mit zwei Millimeter dickem Stahlblech umkleidetenBehältnis Behältnis in einer Seitentür verwahrt wird und zur Standardausrüstung jedes Hamburger Funkstreifenwagens gehört, war ein Notruf über die Polizeinummer 110 vorausgegangen. Selbst im Nebensatz sind 14 Wörter mit 35 Silben zwischen Präposition und Substantiv eingefügt. FAZ; Quelle: Schneider, 1994, 68 © Rolf Reber 23 Kurzzeitgedächtnis: Was man wissen muss ...wie ...wiedie dieArbeiten Arbeiten von Klaus Detlef Müller über „Schiller und das Mäzenat“, von Dorothea Kuhn über das „Rollenspiel zwischen Autor und Verleger“, der ergiebige Vergleich von „Iphigenie“ und „Maria Stuart“ durch Peter Pütz, Wilfried Barners sachkundige Darstellung von Goethes und Schillers Briefwechsel über „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Karl-Heinz Hahns erfrischende neue Lesarten zum Briefaustausch der beiden Klassiker, Thomas Saines unterhaltsame Deutung von Goethes „Campagne in Frankreich 1792“ als Roman, Ernst Behlers ausgewogene Bestandsaufnahme der Wirkungsgeschichte von Goethe und Schiller auf die Gebrüder Schlegel und Peter Börners Skizze der „Reaktionen des Auslands auf die Grossen von Weimar“ nachdrücklich belegen. 97 Wörter (201 Silben) bis zum Verb, das den Sinn stiftet; man nur schreiben brauchen: ...wie folgende Arbeiten belegen. FAZ; Quelle: Schneider, 1994, 68 © Rolf Reber 24 Das Langzeitgedächtnis Verschiedenste Erinnerungen sind im Langzeitgedächtnis gespeichert: Zum Beispiel Erinnerungen aus der Kindheit, Wissen über Frankreich, Bilder von Van Gogh, Melodien, Gerüche, Berührungen, Bewegung, Geschmack (en Guete). Allgemein unterscheidet man drei Formen des Langzeitgedächtnisses: • Episodisches Gedächtnis ≈ Deklaratives Wissen • Semantisches Gedächtnis = Prozedurales Wissen • Prozedurales Gedächtnis (vgl. Vorlesung „Lernen von Fertigkeiten“) © Rolf Reber 25 Der Unterschied zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis Episodisches Gedächtnis: Beinhaltet Erinnerungen an Erlebnisse aus der eigenen Vergangenheit, z.B. wie ich als Kind Kaninchen fütterte, wie ich in Dijon war, der erste Kuss, wie ich gestern Bi Bim Bop kochte. Semantisches Gedächtnis: Beinhaltet Wissen über Fakten. Z.B. dass Kaninchen Säugetiere sind, dass Dijon die Hauptstadt des Burgunds ist oder das Rezept für Bi Bim Bop . Oft werden Erinnerungen an Episoden durch Wissen aus dem semantischen Gedächtnis ergänzt. Beispiel: Wenn ich mich erinnern muss, ob ich heute morgen zuerst Hemd oder Krawatte anzog: Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, weiss aber, dass es zuerst das Hemd gewesen sein muss. © Rolf Reber 26 Das semantische Gedächtnis Im semantischen Gedächtnis wird Wissen repräsentiert. Repräsentation: Im Gedächtnis ist nicht das reale Objekt gepeichert, sondern ein Abbild oder ein Begriff. Man stellt sich dies ähnlich vor wie die Datenbank eines Computers: Das Wissen ist vernetzt. Wenn wir Wissen abrufen müssen, werden Begriffe in diesem Netzwerk aktiviert. Schauen wir uns ein hierarchisches semantisches Netzwerk an. (es gibt heute auch sog. Konnektionistische Modelle, die wir nicht behandeln werden, da sie nicht anwendungsrelevant sind). © Rolf Reber 27 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen Hierarchie: hat dünne, Es handelt sich um ein lange Beine ist gross hierarchisches Netzkann nicht fliegen werkmodell des semantischen Gedächtnisses. © Rolf Reber 28 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen Kognitive Ökonomie: hat dünne, Merkmale werden am lange Beine ist gross obersten möglichen Bekann nicht fliegen griff angehängt (nicht an jedem Begriff!) © Rolf Reber 29 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen Merkmale bei untergehat dünne, ordneten Begriffen sind lange Beine ist gross nicht Merkmale bei allen kann nicht fliegen Exemplaren des übergeordneten Begriffs © Rolf Reber 30 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen hat dünne, lange Beine ist gross kann nicht fliegen © Rolf Reber Ausnahmen von der Regel werden beim untergeordneten Begriff gekennzeichnet. 31 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen Somit werden Schlusshat dünne, folgerungen möglich: lange Beine Wenn ich weiss, dass ist gross kann nicht fliegen der Kanarienvogel ein Vogel ist, weiss ich, dass er fliegen kann. © Rolf Reber 32 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Tier Vogel Kanarienvogel hat Flügel kann fliegen Fisch hat Federn kann singen ist gelb hat Haut kann sich bewegen isst atmet Strauss hat Flossen kann schwimmen hat Kiemen Reaktionszeit (Ja/Nein) hat dünne, Kanarienvogel kann singen lange Beine < ist gross kann nicht fliegen Kanarienvogel kann fliegen < Kanarienvogel hat Haut © Rolf Reber 33 Die Organisation des semantischen Gedächtnisses Sekunden 1.5 1.4 1.3 Reaktionszeit (Ja/Nein) Kanarienvogel kann singen 0 1 2 < „Kanarienvogel„Kanarienvogel „Kanarienvogel Kanarienvogel kann fliegen < kann singen“ kann fliegen“ hat Haut“ Kanarienvogel hat Haut 1.2 © Rolf Reber 34 34 Schemata Um Wissen ökonomisch speichern zu können, werden Wisseneinheiten zusammengefasst. Wenn ich Ihnen erzähle, ich hätte vorgestern in einem Restaurant Bratwurst und Rösti gegessen, muss ich nicht in die Einzelheiten über den Restaurantbesuch gehen: Sie können diese Einzelheiten aus ihrem semantischen Gedächtnis abrufen. Man unterscheidet zwischen zwei Arten von Schemata: Ereignisschemata (Skripts) (z.B. Restaurantbesuch; zur Arbeit gehen; Einkaufen; eine Bergtour machen) Szenenschemata (z.B. Büro; Küche; Museum; Schule) © Rolf Reber 35 Ereignisschemata: Restaurantskript Restaurant: Szene 1: Platznehmen Bestandteile: Tische, Stühle, Speisekarte, Speisen, Küche Szene 2: Bestellen und Kochen Rollen: Gast, Kellner, Koch Szene 3: Servieren und Essen Szene 4: Bezahlen Folie Wimmer & Perner (1979, 142) © Rolf Reber 36 Szenenschemata Schrank Büro: Bücherregal 1 Bücherregal 2 Hat Türe Schreibtisch Fenster Ist ein Büromöbel Bürostuhl auf PC hinter Besprechungstisch Stuhl 1 Stuhl 2 bei Stuhl 3 © Rolf Reber 37 Mentale Modelle Büro: Türe Stuhl BeStuhl sprechungs- Stuhl tisch © Rolf Reber Bücherregal Schreibtisch Bücherregal Schrank Fenster Bürostuhl 38 Bildliche Repräsentationen Es gibt heute gute Hinweise darauf, dass Menschen Information in einem bildlichen Format abspeichern können. Ein Beispiel, das schwer mittels Netzwerken begrifflicher Information zu erklären ist: Versuchspersonen aus Cambridge und Glasgow erhielten ein Blatt Papier, mit der Aufgabe, die Verbindungen zwischen britischen Städten massstabgetreu einzuzeichnen. Vorgegeben war die Richtung nach Norden und ein Anfangspunkt. Dann sollten sie Linien zeichnen, z.B. zwischen London und Edinburgh, zwischen Edinburgh und Birmingham, usw. Die Resultate sind eindeutig (vgl. Folie) Dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie unsere Gedächtnisinhalte durch unsere eigenen Erlebnisse, Interessen, usw. geprägt werden. (Folie Baddeley, 2000, 158/159) © Rolf Reber 39 Bildliche Repräsentationen Damit gibt es mindestens zwei Arten, Informationen abzuspeichern: Begriffliche (z.B. Skripts) und bildliche Information (z.B. räumliche Vorstellungen). Die Verwendung bildlicher (oder: visueller) Vorstellungen sind in einigen Fällen eine gute Gedächtnisstrategie (vgl. Vorlesung „Strategien des Behaltens“). (Folie Baddeley, 2000, 158/159) © Rolf Reber 40 Das Würfelbeispiel (Psssst)! Stellen Sie sich einen Würfel mit einer Seitenlänge von etwa zehn Zentimetern vor. Der Würfel steht vor Ihnen auf dem Tisch, die vordere untere Kante ist mit der Tischkante bündig. Nun drehen Sie bitte den Würfel um 45° auf die untere, linke Kante. Wenn Sie sich dies vorstellen können, drehen Sie den Würfel um 45° auf die hintere Ecke der unteren Kante. Zeigen Sie nun mit dem linken Zeigefinger die Spitze des Würfels. Eine Ecke steht auf dem Tisch, eine Ecke halten Sie mit Ihrem linken Zeigefinger. Zeigen Sie nun mit dem rechten Zeigefinger die restlichen Ecken. © Rolf Reber 41 Das Würfelbeispiel Diese Demonstration zeigt, dass visuelle Vorstellungsbilder nicht perfekte Abbildungen unserer Aussenwelt sind. Vielmehr handelt es sich um skizzenartige Repräsentationen von Objekten. © Rolf Reber 42 Beispiel: Gedächtnis unter Alkoholeinfluss Es ist bekannt, dass alkoholkranke Personen im Rausch Geld oder Schnaps verstecken. Sind diese Personen wieder nüchtern, haben sie keine Ahnung, wo das Geld oder der Schnaps ist. Wenn sie wieder betrunken sind, finden sie das Geld oder den Schnaps wieder. Wie kann man dieses Phänomen gedächtnispsychologisch erklären? Welche anderen Phänomene gibt es, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren? © Rolf Reber 43 Zustandsabhängiges Lernen Amerikanische Forscher führten folgendes Experiment durch: Personen mussten Wörter lernen und später wieder abrufen. Vier Gruppen: Lernen Abruf Lernen Abruf Lernen Abruf Lernen Abruf Nüchtern Alkohol © Rolf Reber 44 Zustandsabhängiges Lernen Anzahl Fehler (Differenz zu Baseline) © Rolf Reber 45 Zustandsabhängiges Lernen Zustandsabhängiges Lernen besagt, dass Material am besten behalten wird, wenn es im gleichen Zustand gelernt wurde, wie es nun abgerufen wird. Neben Alkohol bewirken vor allem Medikamente (z.B. Schlaf- und Beruhigungsmittel) zustandsäbhängiges Lernen. Gibt es andere Phänomene, die dem zustandsabhängigen Lernen entsprechen? © Rolf Reber 46 Kontextabhängiges Lernen Zwei britische Psychologen führten 1975 folgendes Experiment durch: Taucher mussten Wörter lernen und später wieder abrufen. Vier Gruppen: Lernen Abruf Lernen Abruf Lernen Abruf Lernen Abruf Land Wasser © Rolf Reber 47 Kontextabhängiges Lernen % richtig abgerufener Wörter Achtung: Anzahl Richtige © Rolf Reber 48 Kontextabhängiges Lernen Experiment zum kontextabhängigen Lernen: Personen mussten Wörter lernen und später wieder abrufen. Drei Gruppen: Lernen Abruf Lernen Abruf Lernen Abruf Die dritte Gruppe musste vor dem Abruf sich Keller möglichst genau vorstellen. 5. Stock Keller © Rolf Reber 49 Kontextabhängiges Lernen Anzahl richtig abgerufener Wörter © Rolf Reber 50 Kontextabhängiges Lernen: Anwendung In einer polizeilichen Befragung werden Zeugen oft aufgefordert, den Kontext (z.B. des Unfalls) zu erinnern, um das Abrufen von Information zum Unfall zu erleichtern (vgl. Das Kognitive Interview in der Vorlesung „Zeugenaussagen“). © Rolf Reber 51 Kontextabhängiges Lernen Kontextabhängiges Lernen besagt, dass Material am besten behalten wird, wenn es im gleichen Kontext (zum Beispiel Raum) gelernt wurde, wie es nun abgerufen wird. Man kann dies so erklären, dass Personen Information immer mit ihrem Kontext zusammen abspeichern, nicht isoliert. Dies ergibt ein Netzwerk mit Information plus Kontext. Frage: Müssen Sie nun befürchten, dass Sie im Examen schlechter sind, wenn Sie in einem Raum geprüft werden, in dem Sie nie gelernt haben? Antwort: Nein. Es konnte zwar kontextabhängiges Lernen für Lernsituationen nachgewiesen werden, aber diese Wirkungen sind derart klein, dass sie vernachlässigt werden können. Dies ist ein schönes Beispiel, wie Theorie und Praxis auseinander gehen. © Rolf Reber 52 Das menschliche Gedächtnis: Lernziele Allgemeines Lernziel: Ich kenne die verschiedenen Gedächtnissysteme und deren Funktion Ich kann... • sensorisches, Kurz- und Langzeitgedächtnis unterscheiden; • die Funktionen des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses erklären; • den Unterschied zwischen episodischem, semantischem und prozeduralem Gedächtnis erklären; • verschiedene Arten von Schemata unterscheiden; • erklären, was zustands- und kontextabhängiges Lernen ist. © Rolf Reber 53 Demnächst in diesem Kino... Lernen, Denken, Vergessen. 6. Teil: Erinnern und Vergessen Die allmächtige Vergessenskurve. So wird das Gedächtnis getäuscht! So brodelt die Gerüchteküche. © Rolf Reber 54