Anthropologische Implikationen des christlichen Glaubens und ihre

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Anthropologische Implikationen des christlichen
Glaubens und ihre Relevanz für die christliche Ethik
Koreferat im Rahmen des „Innsbrucker Kreises“
Innsbruck, 3. Jänner 2009
Walter Schaupp
Katholisch-Theologische Fakultät Graz
1. Die Rückkehr anthropologischer Fragen in die Bioethik
1) Omnipräsenz anthropologische Fragen in ethisch-moralischen Kontexten
 Nicht ob, sondern wie sie bedeutsam sind, ist die Frage
 Jedoch: Kein Zurück hinter die Einsicht in die geltungslogische Differenz von
Sein- und Sollensaussagen
2) Renaissance anthropologischer Reflexion im Kontext bioethischer
Herausforderungen
„Vor allem in Krisenzeiten und an Epochenschwellen stellt sich immer wieder die Frage, was der
Mensch „eigentlich“ sei. Es sollte daher nicht überraschen, dass diese Frage auch in der
Gegenwart wieder eine zunehmende Aufmerksamkeit findet. Nach langen Jahren eines nur
zurückhaltenden Interesses findet die philosophische Anthropologie wieder stärkere
Aufmerksamkeit ... Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist die nach dem normativen
Status der menschlichen Natur.“ (Kurt Bayertz (Hg.) : Die menschliche Natur, 2005)
2
Beispiele aktueller anthropologischer Herausforderungen:
–
Personstatus des Embryos / Personstatus komatöser Menschen
( Was ist eine „Person“?)
–
Hirntodkriterium
( Wann ist der Mensch tot? Gibt es eine „Rückenmarksseele“?)
–
Chimären / Hybride
( Frage der Artgrenzen)
–
Reproduktionstechniken
( Soll es überhaupt weiter sexuelle Fortpflanzung geben?)
–
Enhancement und Transhumanismus (Gentechnik)
( Ist die menschliche „Natur“ normativ?)
–
Organhandel
( Status des menschlichen Körpers im Verhältnis zur Person (Subjekt)
3) Klassische ethische Lösungsansätze reichen nicht aus zur Lösung dieser
Fragen (transzendentale sittliche Vernunft (Kant); liberales Ethos von
Autonomie und Gerechtigkeit)
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2. Mehrdeutigkeit des Begriffs „Anthropologie“/
„anthropologisches Wissen“
Wissen über den Menschen existiert auf mehreren „Ebenen“ (ist pluriform u. „analog“):
a) Fachwissen empirischer Einzelwissenschaften
-
Z.B. Klärung zellbiologischer Vorgänge
Empirisch/deskriptiv – Verpflichtung auf empirische Kausalität - Anspruch auf universelle Gültigkeit –
verschiedene Komplexitätsstufen (vgl. Komplexität neuronaler Prozesse im Gehirn)
b) Wissen der Sozial- und Kulturanthropologie
-
Beschreibung umfassender kultureller Sinnsysteme / Selbstdeutungen / Lebensformen
Inklusive moralischer Vorstellungen
Deskriptiv (ohne universale Geltung) – plural – partikular
c) Philosophische Anthropologie
- Allgemein-überzeitliches „Wesen“ des Menschen – universal – synthetisch-integrativ
- Implizite Sinnbestimmungen / Wertungen (!)
 Der „Sprung“ v. Sein z. Sollen geschieht bereits hier!
d) Theologisches Wissen über den Menschen
-
Umfassend-integrativ – universal (aus Innenperspektive) / partikular (Außenperspektive)
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3. Anthropologische „Wahrheit“ und aktuelle Wissenschaftskultur
Merkmale der aktuellen Wissenschaftskultur:

Faszination der „hard facts“ (universal gültige „empirische Evidenz“)

Faszination des Pluralen auf Ebene kultureller Lebensformen u. Interpreta-tionssysteme
(Hintergrund: Wittgenstein  linguistic turn  cultural turn u. Postmoderne)
 Misstrauen gegenüber allgemeinen „Wesensbestimmungen“ des Menschen:
-
Problem d. naturalistischen Fehlschlusses
-
Abhängigkeit von nicht objektivierbaren Sinn- und Zielvorstellungen v. Menschs.
-
Unterdrückung des Differenten (Pluralismusfeindlichkeit)
Jedoch …

Empirische Teilerklärungen werden unter der Hand zu allumfassenden Erklärungen v.
Menschsein (z.B. Neurobiologie)

Neigung zur Universalisierung partikularer Menschenbilder
(Stilisierung des westlichen Individuums zum allgemein Menschlichen)

Unausweichliche moralische Diskurse erzwingen de facto immer auch eine
intersubjektive/interkulturelle Verständigung über anthropologische Fragen
5
4. Strategien einer (vermeintlich) anthropologiefreien Ethik
Aufgrund der Pluralität und Nicht-“Beweisbarkeit“ von Menschenbildern
Versuch des Entwurfs „anthropologiefreier“ Ethiken:
a) Entwicklung formaler Gerechtigkeitstheorien
-
Trennung von „Gerechtem“ (formal u. unabhängig von Vorstellungen des Guten) und „Gutem“ (sinnund wertbezogene Anschauungen)
-
Konkret: Diskursethiken – liberale Ansätze
b) Vordringen prozeduraler Ansätze
c) Konzentration auf Bereitstellung basaler und fundamentaler Güter
-
Suche nach Grundwerten/-gütern, die nicht umstritten sind, weil sie die Bedingung für verschiedenste
Entfaltungen von Menschsein darstellen (z.B. Ernährung, physisches Leben u.a.)
Beispiel Homosexualität:
-
Verzicht auf Diskussion anthropologischer Sinnwerte - Rückzug auf formale Werte der
Selbstbestimmung und Gerechtigkeit
-
Rückzug auf Bereitstellung und Schutz fundamentaler Güter
(z.B. Schutz physischer und psychischer Integrität)
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5. Erhebung u. Artikulation impliziter anthropologischer Inhalte
1) Anthropologische Inhalte sind unausweichlich:
–
Kein Ethikentwurf kommt ohne (minimale) anthropologische Prämissen aus
–
Explizite od. implizite Präsenz anthropologischer Inhalte in konkreten moralischen Diskursen
2) Aufgabe der Erhebung (Artikulation) impliziter anthropologischer Inhalte und
Eröffnung eines entsprechenden Diskursfeldes
3) Diskursive Bearbeitung der anthropologischen Inhalte
Beispiele impliziter anthropologischer Inhalte:
a) Liberale Ethik: Postulat, dass der Sinn von Menschsein in freier Selbstentfaltung besteht –
Postulat der Universalität dieser Fähigkeit und Sinnbestimmung
b) Bruno Schüller: Menschliche Person als absoluter Wert (Kant) – hinter Vorzugsregeln
verbergen sich vom jeweiligen Menschenbild abhängige Güterhierarchien
c) Michel Foucault: Ethisch-anthropologische Implikationen einer „Ästhetik d. Existenz“
(gleiches Recht von Individuen)
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6. Zum Problem von „Sein und Sollen“
Der Übergang vom Sein zum Sollen entspricht dem Übergang von Faktizität zu einer
qualitativ gedeuteten, sinnerfüllten Wirklichkeit

Ausgangspunkt ist das Phänomen spontaner Wertungen in unserem Alltag; die praktische
Unhintergehbarkeit qualitativer Selbstauslegung im menschlichen Lebensvollzug

Die Sinn- und Bedeutungsdimension in unserem Leben ist einerseits unausweichlich und
gleichzeitig logisch irreduzibel (im Hinblick auf empirische Ebene)

Sie entspricht keiner in sich abgeschlossenen „Wertewelt“ – „Bedeutung“ ist immer
rückgebunden an ein empirisch konstatierbares „Etwas“, das Bedeutung f. uns hat

Der „Übergang“ ist zunächst ein Faktum, kann u. muss jedoch rational aufgehellt und
„kontrolliert“ werden – er ist weder beliebig noch willkürlich!
Belege: Klaus Demmer u. (neuerdings) Eberhard Schockenhoff (Status moralischer Wahrheit
ergibt sich aus im Licht anthropologischer Prämissen gedeuteter Empirie)
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7. Christlicher Glaube und anthropologische
Rahmenbedingungen einer Ethik
Relevant im Hinblick auf die aktuelle Diskussion erscheinen:

Schöpfung als „sinnvolle“ / „gute“ Schöpfung  Phänomen des Evaluativen entspringt nicht
rein menschlicher „Setzung“

Affirmation von Personalität / Individualität (z.B. Freiheit u. Verantwortung): Gottes- und
Inkarnationsglaube erzwingen eine Auszeichnung des Menschen in seiner Personalität /
Subjektivität als „Bild Gottes“

Integration menschlicher Ganzheit vom „Geistigen“ her (geg. mechanistischer Anthropologie)

Relationalität u. Selbsttranszendenz als konstitutiv f. Menschsein (vgl. z.B. Zentralität des
Liebesgebotes)
Postulat eines möglichen ethischen Universalismus u. einer mögl. universalmenschlichen
Kommunikation  kein letzter „clash of civilizations“; kein radikaler Kulturalismus


Spannung v. Pluralität u. Einheit  Glaube impliziert eine (letzte) Sinn-Einheit der
Wirklichkeit; die Realität einer von Gott so gewollten Evolution erzwingt positive Affirmation
von Pluralität

Geschichte als gerichteter Prozess (individuell u. kulturell):  a) Extrapolation von der Logik
der Heilsgeschichte auf eine Logik der Menschheits- / Schöpfungsgeschichte; b)
grundsätzliche Akzeptanz eines Prozessparadigmas!!
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8. Zum Problem der „Unantastbarkeit der menschlichen Natur“
(Selbstevolution des Menschen) aus christlicher Sicht
(1) Es ist der konkrete Mensch, wie wir ihn hier und heute kennen, der im
Mittelpunkt der Heilsgeschichte steht (Ansprechpartner Gottes, Ort seiner
Selbstmitteilung in Jesus Christus u. Ziel seines Heilswillens)
Der menschliche Wunsch nach Perfektion und Selbsttranszendierung findet in
der Bibel eine ethische und spirituelle, nicht biotechnologische Antwort
Ethisch gesehen hat die Sorge um den existenten Menschen Vorrang vor jeder
Neuerfindung des Menschen
(2) Das Postulat einer vollkommen „unantastbaren“ menschlichen Natur ist jedoch
auch aus theologischer Perspektive schwierig:
a) Biologische Natur d. Menschen faktisch nicht unveränderlich
b) Freiheit u. (Selbst-) Kreativität gehören zur gottgewollten Natur des Menschen
c) Evolution muss als von Gott gewollt akzeptiert werden
d) Es gibt kein sicheres theologisches Wissen um die Möglichkeit/Unmöglichkeit weiterer
Evolution
(3) Jenseits der Frage, ob wir die Natur des Menschen verändern dürfen, kann es
sein, dass pluralere u. “vollkommenere“ Formen des Menschen ein zukünftiges
Faktum darstellen
-
Modifizierte Körperlichkeit u. Enhancement bestimmter Fähigkeiten des Menschen
werden mit hoher Sicherheit eine Realität
-
Virtuell wird die Möglichkeit anderer Formen intelligenten Lebens (auf anderen Sternen)
schon lange – auch ethisch – durchgespielt
 Auch wenn eine solche Entwicklung moralisch nicht bejaht werden könnte,
müssten wir uns moralisch mit einer solchen, faktisch gewordenen Welt
moralisch auseinandersetzen!
 Die folgenden Überlegungen stehen unter diesem Vorzeichen!
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9. Versuch eines Ethos der menschlichen Selbstevolution

Die Sorge um Qualität und Richtung des Entwicklungsprozesses hat Vorrang vor
absoluter Bewahrung (wenn diese prinzipiell nicht möglich erscheint)

Es gibt eine neue Dringlichkeit, nach dem theologischen Sinn von Evolution zu
fragen:
-
Prozess d. Subjektivierung, Geistwerdung; Noogenese, Christogenese, Zunahme an
Liebe ...
-
Pluralitätsgewinn (Zunahme des „Reichtums“ der Schöpfung)

Aus dem Hintergrund dieser theologischen Bestimmung muss Selbstevolution
als Zunahme an Gutem in der Schöpfung beschreibbar sein

Zunehmende Bedeutung der Diskussion um den moralischen Status von
Lebewesen innerhalb einer evolutiven Entfaltung des Lebendigen:
-
Qualität von Empfindungsfähigkeit, Bewusstheit, Freiheit und Liebesfähigkeit von
lebendigen Wesen zu fragen
-
Vgl. Lernprozesse im Rahmen der neueren ökologischen Ethik (Status v. Pflanzen,
Tieren, Mensch)

Verbot einer biotechnologischen „Umkehrung“ von Evolution (z.B. als
biotechnologische De-Subjektivierung / Ent-Pluralisierung)

Wachstum universeller moralischer Verantwortlichkeit mit dem
biotechnologischen Können

In Analogie zur Art und Weise Gottes muss der (selbst-) schöpferischen Tätigkeit
des Menschen Liebe zum Geschöpf und Freigabe des Geschaffenen
entsprechen (aktuell eher in künstlerischer Kreativität verwirklicht)

Schutz partikularer Lebensformen
Zusammenfassund erweisen sich die so genannten „Reich-Gottes-Werten“
(Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Liebe) als „stabilere“ Werte:
-
Leidsensibilität
-
Empathiefähigkeit
-
Entgrenzte, universelle Verantwortungsbereitschaft
-
Absage an egozentrische Selbstverwirklichung
-
Verzicht auf zerstörerische Gewalt
-
Universelle Lebensförderlichkeit
-
Beförderung von Freiheit
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