zertifizierte fortbildung cme spezial Nr. 2/05 Diagnose vonbei Antikoagulation Hepatitis B und C Vorhofflimmern Volkskrankheit Vorhofflimmern Richtige Behandlung hilft, Schlaganfälle zu vermeiden Vorhofflimmern macht sich für den Patienten vor allem durch eine ungenügende Frequenzkontrolle und die unregelmäßige ventrikuläre Überleitung unangenehm bemerkbar. Noch schwerer wiegt, dass Vorhofflimmern mit einem auf das Doppelte erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert ist. Vor allem haben Patienten mit Vorhofflimmern im Vergleich zu Patienten mit Sinusrhythmus ein vier- bis fünffach erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden. Die orale Antikoagulation von Patienten mit Vorhofflimmern ist damit ein wesentlicher Faktor zur Verhinderung der gefürchteten thromboembolischen Komplikationen. Definition Vorhofflimmern ist eine supraventrikuläre Tachyarrhythmie, die durch unkoordinierte atriale Kontraktionen mit konsekutiver Verschlechterung der atrialen Funktion charakterisiert ist. Im EKG sieht man den Ersatz der normalen P-Welle durch Oszillationen oder Fibrillationen, die in Form und Frequenz variieren können. In Abhängigkeit von der Intaktheit der AV-Überleitung können Frequenzen von bis zu 200 oder mehr Schlägen pro Minute erreicht werden (Abb. 1). Klassifikation von Vorhofflimmern Der Konsensus der Leitlinien von ACC, AHA und ESC (American College of Cardiology, American Heart Association und European Society of Cardiology) orientiert sich an einer einfachen Einteilung, die die klinische Relevanz und Anwendbarkeit berücksichtigt. Hat ein Patient mindestens zwei Episoden von Vorhofflimmern durchgemacht, be- schreibt man diesen Status als „rekurrent“. Ist das Vorhofflimmern selbstterminierend, spricht man von „paroxysmalem“ Vorhofflimmern. Vorhofflimmern, welches nicht selbstterminierend ist, wird unabhängig von einer pharmakologischen oder elektrischen Kardioversion als „persistierend“ bezeichnet. Der behandelnde Arzt sollte sich darüber im Klaren sein, dass ein erstmals festgestelltes Vorhofflimmern, ob symptomatisch oder nicht, natürlich auch früher schon einmal stattgefunden haben kann. Besteht Vorhofflimmern länger als ein Jahr, und eine Kardioversion wird als nicht indiziert oder erfolglos angesehen, spricht man von „permanentem“ Vorhofflimmern (Abb. 2). Der in der heutigen Zeit immer wieder verwendete Ausdruck „lone atrial fibrillation“ kennzeichnet relativ junge Patienten unter 60 Jahren mit spontanen Episoden von Vorhofflimmern ohne klinische oder echokardiogra- Foto: Archiv/Lipah Von Frank Isgro ˚ Vorhofflimmern geht mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko einher. Zum Inhalt ÿ Volkskrankheit Vorhofflimmern: Richtige Behandlung hilft, Schlaganfälle zu vermeiden Seite 1 ÿ Fragen zur Zertifizierung Seite 9 ÿ Therapieerfolg durch Zusammenarbeit Seite 11 MMW-Fortschritte der Medizin_cme spezial 2/2005 1 – MMW-Fortschritte der Medizin ÿ Die Prävalenz von Vorhofflimmern liegt bei den über 55-Jährigen bei über 5%. phisch nachweisbare kardiopulmonale Grunderkrankung. Die auch immer wieder anzutreffende Unterscheidung von valvulärem und nicht valvulärem Vorhofflimmern bezieht sich ausschließlich auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines rheumatischen Mitralvitiums oder die Implantation einer künstlichen Herzklappe. Epidemiologie ÿ Bei Patienten mit Vorhofflimmern beträgt die Schlaganfallrate rund 5% pro Jahr. Vorhofflimmern ist die häufigste anhaltende Herzrhythmusstörung mit einer Prävalenz von über 5% bei den über 55-Jährigen. Epidemiologischen Studien zufolge leiden etwa 2,2 Millionen Amerikaner und über 3 Millionen Europäer an Vorhofflimmern. In Deutschland – Abbildung 1 Vorhofflimmern im EKG I II III aVR aVL aVF V1 V2 V3 V4 V5 V6 2 MMW-Fortschritte der Medizin_ cme spezial 2/2005 sind laut Schätzungen mehr als 650 000 Menschen davon betroffen. Das Risiko, im Laufe des Lebens ein Vorhofflimmern zu entwickeln, liegt bei über 40-Jährigen, unabhängig vom Geschlecht, bei 25%. Die Prävalenz von Vorhofflimmern steigt mit zunehmendem Alter an (Abb. 3, S. 4). Man geht davon aus, dass bei 20–30% aller Schlaganfallpatienten zum Zeitpunkt des Ereignisses Vorhofflimmern vorgelegen hat. Solche kardioembolisch bedingten Schlaganfälle sind mit einer höheren Mortalität assoziiert als durch andere Ursachen bedingte ischämische Insulte. Prognose Die Schlaganfallrate beträgt bei Patienten mit Vorhofflimmern durchschnittlich 5% pro zertifizierte fortbildung cme spezial – VORHOFFLIMMERN – Abbildung 2 Klassifikation von Vorhofflimmern paroxysmal (selbstterminierend) persistierend (nicht selbstterminierend) permanent Foto: Archiv Erstdiagnose ˚ Das zusätzliche Vorliegen einer Herzinsuffizienz erhöht das Schlaganfallrisiko Jahr. Das ist ein bis zu fünffach erhöhtes Insultrisiko im Vergleich zu Patienten ohne Vorhofflimmern. Eine Anzahl von Risikofaktoren erhöht das Insultrisiko bei Patienten mit Vorhofflimmern deutlich (vgl. Tabelle 1): _ Zustand nach zerebralem Insult oder TIA _ Alter _ Hypertonus _ Diabetes mellitus _ Herzinsuffizienz. Andere Risikofaktoren, die identifiziert wurden, sind: _ Klappenerkrankung des Herzens _ Koronare Herzerkrankung _ Schlaf-Apnoe-Syndrom. Je nach Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter Risikofaktoren lassen sich drei Risikostufen unterscheiden (Tabelle 1). Myokardiale und hämodynamische Konsequenzen Bei Vorhofflimmern beeinflussen drei Faktoren die hämodynamische Funktion: _ der Verlust der synchronisierten atrialen mechanischen Aktivität, _ die unterschiedliche ventrikuläre Reaktion und _ die inadäquat hohe Herzfrequenz. Der Verlust der synchronisierten atrialen Kontraktion kann zu einem signifikanten Abfall des Herzminutenvolumens führen, und das insbesondere bei Patienten mit gestörter diastolischer Funktion, hypertensiver Herzerkrankung, Mitralstenose oder hypertroph obstruktiver Kardiomyopathie. Auch die Variabilität der R-R-Intervalle bei Vorhofflimmern kann zu einer Beeinträchti- gung der hämodynamischen Funktion führen. So konnte gezeigt werden, dass der irreguläre ventrikuläre Rhythmus zu einem Abfall des Herzzeitvolumens (HZV) von bis zu 9% im Vergleich zum regulären Rhythmus führen kann. Das bedeutet, sowohl der Verlust der AVSynchronität als auch die irreguläre ventrikuläre Antwort können eine kumulativ verschlechterte Hämodynamik hervorrufen. Eine Herzfrequenz von mehr als 130 Schlägen pro Minute kann die Entwicklung einer dilatativen Kardiomyopathie unterstützen. So konnte allein durch eine Frequenzkontrolle eine Verbesserung der LV-Funktion von einer Auswurffraktion (EF) von 25% auf 52% erreicht werden. beträchtlich. – Tabelle 1 Schlaganfallrisiko bei Patienten mit Vorhofflimmern Risikolevel und Risikofaktoren Hohes Risiko Jährliche Schlaganfallrate > 7,5% - Frauen > 75 Jahre - 75 Jahre und Hypertonus - Herzinsuffizenz - LVEF < 25% - Systolischer Blutdruck > 160 mmHg Mittleres Risiko > 2,6% - < 75 Jahre und Hypertonus - Diabetes mellitus - Diabetes mellitus und Hypertonus Niedriges Risiko > 0,9% - Keine der oben genannten Faktoren MMW-Fortschritte der Medizin_cme spezial 2/2005 3 – MMW-Fortschritte der Medizin Foto: Archiv Thromboembolische Konsequenzen ˚ Ischämischer Schlaganfall in 3-D-Darstellung. ÿ Bei Vorhofflimmern immer nach zugrunde liegenden Herzerkrankungen forschen! Verallgemeinernd wird der zerebrale Insult oder die systemische arterielle Embolie bei Patienten mit Vorhofflimmern oftmals der Embolisierung von thrombotischem Material aus dem linken Vorhof zugeschrieben. Die Pathogenese der thromboembolischen Komplikationen bei Vorhofflimmern ist aber multifaktoriell. Bis zu 25% der mit Vorhofflimmern assoziierten Insulte sind primär zerebrovaskulär bedingt oder es handelt sich um die Verschleppung von atherothrombotischem Material aus arteriosklerotischen Plaques der proximalen Aorta. Die Häufigkeit von Schlaganfällen steigt bei Patienten mit Vorhofflimmern mit zunehmendem Alter an, und zwar bis auf eine Inzidenz von 36% bei den 80- bis 89-Jährigen. Etwa die Hälfte dieser älteren Patienten haben als unabhängigen Risikofaktor für das Entstehen einer zerebrovaskulären Erkrankung einen arteriellen Hypertonus und bei ca. 12% liegt eine relevante Arteria-carotisinterna-Stenose vor. Dennoch bleibt die Thrombusentstehung im linken Vorhof bei Patienten mit Vorhofflimmern eine der wesentlichen Ursachen für die Entwicklung von zerebralen Insulten. Die Thrombusformation im linken Vorhof beruht auf der Virchow'schen Trias von _ Stase, _ endothelialer Dysfunktion und _ hyperkoagulabilem Status. Thromben, die im Rahmen von Vorhofflimmern entstehen, sind in den meisten Fällen im linken Vorhofohr lokalisiert. Dort kommt es bei Vorhofflimmern zu einer signifikanten Blutflussverlangsamung. – Abbildung 3 4 Prävalenz [%] Quelle: Framingham-Studie Prävalenz von Vorhofflimmern in Abhängigkeit vom Alter 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 50-59 60-69 70-79 Altersgruppe MMW-Fortschritte der Medizin_ cme spezial 2/2005 80-89 Normalerweise wird davon ausgegangen, dass die Thrombusentstehung mindestens 48 Stunden in Anspruch nimmt. Es gibt aber auch Studien, die zeigen, dass schon kürzere Episoden von Vorhofflimmern eine Thrombusformation nach sich ziehen können. Klinische Evaluation Zunächst sollte im Gespräch mit dem Patienten versucht werden zu klären, ob es sich um eine paroxysmale oder persistierende Arrhythmie handelt. Typischerweise tritt Vorhofflimmern bei Patienten mit zugrunde liegender Herzerkrankung auf, sodass speziell nach klinischen Manifestationen der koronaren Herzerkrankung, nach Herzklappendysfunktion und hypertensiver Herzerkrankung geforscht werden sollte. Allerdings sollte auch an andere auslösende Ursachen gedacht werden. So kann durchaus auch übermäßiger Alkoholkonsum, Schlafentzug oder Stress zur Auslösung von Vorhofflimmern führen. Ebenso sollten metabolische Störungen ausgeschlossen werden (vgl. Tabelle 2). Die Diagnose wird durch eine EKG-Untersuchung gesichert und dokumentiert. Eine transthorakale echokardiographische Untersuchung dient der morphologischen Bestimmung von Vorhof- und Ventrikeldurchmesser sowie zum Ausschluss einer Klappenerkrankung. Mithilfe der transösophagealen Echokardiographie lässt sich feststellen, ob sich bereits Thromben im linken Vorhofohr gebildet haben. Management von Vorhofflimmern Rhythmus- versus Frequenzkontrolle Die grundsätzlichen Aufgaben bei der Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern sind die Therapie der Rhythmusstörung selbst und die Verhinderung thromboembolischer Komplikationen. Bei der Therapie der Rhythmusstörung gibt es zwei unterschiedliche Strategien: zum einen, den Sinusrhythmus wiederherzustellen und zu erhalten, oder zum anderen, das Vorhofflimmern zu akzeptieren und die ventrikuläre Frequenz zu kontrollieren. Die Gründe, die für die eine oder andere Strategie sprechen können, sind komplex. Für die Rhythmuskontrolle, also die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des normalen Sinusrhythmus, sprechen die Ver- zertifizierte fortbildung cme spezial – – Tabelle 2 Auslösemechanismen von Vorhofflimmern - Koronare Herzerkrankung - Herzklappendysfunktion - Hypertensive Herzerkrankung - Alkoholkonsum - Schlafentzug - Stress - Hyperthyreose - Elektrolytverschiebung besserung der klinischen Symptomatik und Hämodynamik sowie die Reduktion des Schlaganfallrisikos. Kontrovers wird allerdings die Frage diskutiert, ob man alle diese gewünschten Ziele mit der Kardioversion erreicht. Umgekehrt spricht die größere Sicherheit der Medikamente, die zur Frequenzkontrolle verwendet werden, im Vergleich zu den hochpotenten antiarrhythmischen Medikamenten für die Frequenzkontrolle. In einer aktuell publizierten Metaanalyse wurde festgestellt, dass die Frequenzkontrolle bei Patienten mit persistierendem Vorhofflimmern in Kombination mit einer adäquaten Antikoagulation im Hinblick auf Mortalität und Morbidität mit einer antiarrhythmischen Therapie mindestens vergleichbar ist. Kurative Optionen und Operationen Die Maze-Prozedur ist ein chirurgisches Verfahren, bei dem durch eine spezielle Inzisionsführung in den Vorhöfen und um die Pulmonalvenen eine Unterbrechung der Reizleitungswege erreicht wird, die für das Vorhofflimmern verantwortlich sind. Die klassische chirurgische Maze-Prozedur wird immer mehr von modifizierten Operationstechniken abgelöst. Auch epikardiale und endokardiale Ablationen mit unterschiedlichen Energiequellen haben gute Ergebnisse gezeigt. Die Konversionsrate zum Sinusrhythmus liegt bei den chirurgischen Verfahren bei 50–90%. Allerdings ist auch hier die Gefahr von Rezidiven relativ groß. Die perkutane Katheterablation wird auch bei Vorhofflimmern immer häufiger angewendet und befindet sich in permanenter Entwicklung. Die Erfolgsraten liegen hier im Kurzzeitbereich zwischen 60% und 90%. Durchgeführt werden sowohl isolierte Pulmonalvenenseparationen als auch komplette intraatriale Ablationen. Die Vorhofohrexklusion ist ein bewährtes Verfahren bei Patienten mit Vorhofflimmern, die sich einem herzchirurgischen Eingriff mit der Herz-Lungen-Maschine unterziehen müssen. Es ist gezeigt worden, dass durch dieses Manöver eine signifikante Reduktion thromboembolischer Ereignisse erreicht werden kann. Der Verschluss des Vorhofohrs kann in jüngster Zeit auch interventionell mit dem Katheter erreicht werden. Die Erfolgsrate ist mit fast 98% hoch, allerdings gibt es in einer Reihe von Fällen nur inkomplette Verschlüsse. Die Antikoagulation nach kathetergestützter Vorhofohrexklusion wird mit 300 mg ASS plus 75 mg Clopidogrel pro Tag vorgeschlagen, zusätzlich wird eine Antibiotikaprophylaxe für sechs Monate empfohlen. Derzeit fehlt aber noch der Nachweis der Effektivität im Hinblick auf die Verhinderung von Schlaganfällen – insbesondere im Langzeitverlauf. Orale Antikoagulation Die Wirksamkeit der oralen Antikoagulation bei Patienten mit Vorhofflimmern zur Verhinderung des thromboembolisch bedingten ischämischen Schlaganfalls konnte in mehreren randomisierten, klinischen Studien und in Metaanalysen eindeutig nachgewiesen werden. So konnte unter anderem gezeigt werden, dass eine orale Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten eine Reduktion des Risikos für einen ischämischen Schlaganfall um 68% und eine Abnahme der Mortalitätsrate um 67% bewirkt. Allerdings ist und bleibt die Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten durch ein zwar kleines, aber trotzdem signifikantes Blutungsrisiko belastet. Deshalb ist eine Risikostratifikation zur Einschätzung der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines thromboembolisch bedingten Schlaganfalls von entscheidender Bedeutung für die Therapieempfehlung. Grundsätzlich gilt: Eine antithrombotische Therapie sollte für alle Patienten mit Vorhofflimmern in Erwägung gezogen werden. Ausgenommen davon sind Patienten mit isoliert aufgetretenem Vorhofflimmern („lone atrial fibrillation“) unter 60 Jahren Foto: Arteria Photography, Dr. Eberhardt VORHOFFLIMMERN ˚ Erhöhter Alkoholgenuss gehört zu den bekannten Auslösemechanismen von Vorhofflimmern. ÿ Frequenzkontrolle plus adäquate Antikoagulation sind der Rhythmuskontrolle prognostisch ebenbürtig. ÿ Die orale Antikoagulation reduziert bei Vorhofflimmern das Risiko eines ischämischen Schlaganfalls um rund 70%. MMW-Fortschritte der Medizin_cme spezial 2/2005 5 – MMW-Fortschritte der Medizin ÿ Die meisten Patienten können auf einen INR-Wert von 2–3 eingestellt werden. ÿ Nur Patienten mit ausgesprochen niedrigem Risiko sollten auf ASS eingestellt werden. *Im Unterschied zu den Leitlinien empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie in ihrem Kommentar, dass stabile Zielwerte angestrebt werden sollten und keine Zielbereiche. So sollte nach dieser Empfehlung der Patient mit mittlerem Risiko auf einen Zielwert von 2,5 eingestellt werden. Patienten mit Kunstklappen sind demzufolge bei Klappen in Mitralposition auf einen Zielwert von 3,0 und in Aortenposition von 2,5 einzustellen. und ohne klinischen oder echokardiographischen Hinweis auf eine kardiopulmonale Grunderkrankung. Zur Einschätzung des Schlaganfallrisikos verwendet man das in Tabelle 1 dargestellte Schema. Die Frage, welche Art von antithrombotischer Therapie man dem jeweiligen Patienten anbietet, muss patientenspezifisch getroffen werden und erfordert die individuelle Einschätzung des Blutungsrisikos und des Schlaganfallrisikos. Daraus abgeleitet gibt es für die praktische Therapie eine Empfehlung der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zur risikoadjustierten oralen Antikoagulation (vgl. Tabelle 3)*. _ Zusammenfassend sollten Patienten mit niedrigem Risiko auf 325 mg/d Azetylsalizylsäure (ASS) eingestellt werden oder keine antithrombotische Therapie erhalten. _ Patienten mit mittlerem Risiko sollen eine orale Antikoagulation mit Vitamin-KAntagonisten erhalten und auf einen INR- – Tabelle 3 Risikoadjustierte Therapieempfehlung für Patienten mit Vorhofflimmern Patientencharakteristik Antithrombotische Therapie Alter < 60 Jahre, keine Herzerkrankung, „lone atrial fibrillation“ ASS 325 mg/die oder keine Therapie Alter < 60 Jahre, kardiale Grunderkrankung, keine Risikofaktoren oder Alter > 60 Jahre, keine Risikofaktoren ASS 325 mg/die Alter > 75 Jahre, Frauen Orale Antikoagulation Phenprocoumon Y INR 2,0 Alter > 60 Jahre + Diabetes mellitus oder koronare Herzerkrankung Orale Antikoagulation Phenprocoumon Y INR 2,0-3,0 Optional zusätzlich ASS 81-162 mg/die Herzinsuffizienz, LVEF ≤ 35% Thyreotoxikose Hypertonus Orale Antikoagulation Phenprocoumon Y INR 2,0-3,0 Rheumatische Herzerkrankung Mitralstenose Mechanischer Herzklappenersatz Thromboembolische Komplikation Persistierender Vorhofthrombus im TEE Orale Antikoagulation Phenprocoumon Y INR 2,5-3,5 oder höherer INR bis 4,5 ó 6 Wert zwischen 2,0 und 3,0 eingestellt werden. Optional können diese Patienten auch zusätzlich 81–162 mg ASS/d bekommen. _ Patienten mit rheumatischer Herzerkrankung, Mitralstenose, mechanischem Herzklappenersatz, thromboembolischen Komplikationen und persistierendem Vorhofthrombus im TEE sollten einen INRWert zwischen 2,5 und 4,5 erreichen. Die Effektivität von oralen Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern in der Verhinderung von thromboembolischen Komplikationen wird unterschiedlich bewertet. So geht man von einer Senkung des Schlaganfallrisikos unter Phenprocoumon um 62–68% aus, während die Therapie mit ASS nur eine Risikoreduktion um etwa 22% bewirkt. Auf der anderen Seite der Nutzen-Risiko-Analyse steht bei der Phenprocoumontherapie die Steigerung des Risikos für eine intrakranielle Blutung um 0,3% bis über 2% bei älteren Patienten. MMW-Fortschritte der Medizin_ cme spezial 2/2005 zertifizierte fortbildung cme spezial – VORHOFFLIMMERN Trotzdem geht man davon aus, dass der Nutzen der Phenprocoumontherapie bei den meisten Patienten das Risiko übertrifft. Bei der Behandlung mit Phenprocoumon ist die exakte Einstellung des INR-Zielwerts entscheidend für den therapeutischen Erfolg. Hierzu ist ein engmaschiges Monitoring unerlässlich (s. Kasten/Abb. 4). Einen wesentlichen Beitrag zur Einhaltung des angestrebten INR-Wertes bietet das Gerinnungs-Selbstmanagement. Hier kontrolliert der Patient in enger Abstimmung mit seinem Arzt und nach entsprechender Schulung seine INR-Werte in regelmäßigen Abständen selbst. Dadurch kann eine zeitnahe Anpassung der Phenprocoumondosis gewährleistet werden. Es konnte gezeigt werden, dass bei Patienten, die ein Gerinnungs-Selbstmanagement durchführen, 80% aller Werte im therapeutischen Bereich liegen. So wird nicht nur Effektivität gewährleistet, sondern auch das Risiko von Blutungskomplikationen reduziert. Eine Langzeituntersuchung von Patienten nach mechanischem Herzklappenersatz konnte nachweisen, dass das Gerinnungs- ÿ Die exakte Einstellung auf die adäquaten INR-Zielwerte entscheidet über den therapeutischen Erfolg. Antikoagulation bei elektrischer Kardioversion Entschließt man sich bei einem Patienten zu einer elektrischen Kardioversion, bei dem das Vorhofflimmern länger als 48 Stunden angedauert hat, oder von dem man nicht weiß, wie lange das Vorhofflimmern besteht, ist eine akute Antikoagulation erforderlich. Bei Sorgfältige Antikoagulation macht Sinn – auch gesundheitsökonomisch In den USA werden die Kosten, die durch Patienten mit Schlaganfällen verursacht werden, auf 54 Milliarden Dollar geschätzt. Die Mehrheit dieser Kosten ist durch Patienten mit schweren Schlaganfällen bedingt. Schlaganfälle auf der Basis von Vorhofflimmern haben oft einen sehr schweren Verlauf. Es ist nachgewiesen worden, dass eine gut eingestellte Phenprocoumontherapie das Schlaganfallrisiko bei Patienten mit Vorhofflimmern effektiv reduzieren kann. Außerdem nimmt die Schwere des Schlaganfalls zu, wenn der INR-Wert bei Aufnahme unter 2,0 liegt. Ein hoher Anteil von Patienten hat einen supra- oder subtherapeutischen INRWert (Abb. 4). Das ist von großer Tragweite. Denn das Schlaganfallrisiko steigt bei INRWerten unter 2,0 dramatisch an; das Blutungsrisiko nimmt bei INR-Werten über 3,0 kontinuierlich zu. Untersuchungen aus den USA gehen von 2,3 Millionen Patienten mit Vorhofflimmern aus, von denen etwas mehr als die Hälfte keine orale Antikoagulation mit Phenprocoumon erhält. Von Letzteren bekommen wiederum zirka die Hälfte zumindest ASS. Die Kosten der durch Vorhofflimmern verursachten Schlaganfälle schlagen sehr stark zu Buche. Im Vergleich hierzu sind die Kosten, die durch phenprocoumonbedingte Blutungskomplikationen entstehen, den Berechnungen zufolge eher niedrig. Auch wenn das Modell nicht 1:1 auf die Verhältnisse in Deutschland übertragbar ist, belegen die Zahlen die Notwendigkeit einer adäquaten, sorgfältig eingestellten Antikoagulation – auch aus gesundheitsökonomischer Sicht. – Abbildung 4 Antikoagulation in der Praxis Mod. n. Bungard TJ et al.: Pharmacotherapy 2000;20:1060–1065 – Selbstmanagement Morbidität und Mortalität signifikant reduziert und die Therapiequalität steigert. Voraussetzung für eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist, dass die Patienten folgende Anforderungen erfüllen: Erkrankung, die eine voraussichtlich lebenslange Antikoagulation erfordert, Angabe einer medizinischen Begründung (z. B. schlechte Venenverhältnisse), erfolgreiche Teilnahme an strukturierter Patientenschulung nach einem evaluierten Schulungsprogramm, Führen eines Patientenausweises und Weiterbetreuung durch den behandelnden Arzt. Ambulante Schulungen werden bundesweit in verschiedenen regionalen Zentren angeboten. Subtherapeutischer INR 15% Therapeutischer INR 12% Supratherapeutischer INR 9% Kein Phenprocoumon 64% MMW-Fortschritte der Medizin_cme spezial 2/2005 7 MMW-Fortschritte der Medizin Foto: Arteria Photography – ˚ Thromben im rechten Vorhof. ÿ Heparin und niedermolekulare Heparine können in bestimmten Situationen die orale Antikoagulation ersetzen. ÿ Ximelagatran, ein neues Antithrombotikum, wird noch in Studien geprüft. 8 Patienten, die ohne vorherige Antikoagulation elektrisch kardiovertiert werden, treten in bis zu 7% thromboembolische Komplikationen auf. Daher wird in den Leitlinien empfohlen, Patienten drei bis vier Wochen vor und nach der Kardioversion mit Phenprocoumon zu antikoagulieren. Der INR-Zielwert sollte zwischen 2,0 und 3,0 liegen. Diese gängige Praxis kann heute mithilfe der transösophagealen Echokardiographie (TEE) durch eine alternative Vorgehensweise ersetzt werden. Bei der TEE-basierten Strategie werden zunächst bestehende Thromben im Vorhof und insbesondere im linken Vorhofohr ausgeschlossen. Danach werden die Patienten heparinisiert, kardiovertiert und erhalten anschließend für vier Wochen eine orale Antikoagulation. Mit dieser Vorgehensweise konnte man eine gleiche Effektivität bei der Vermeidung thromboembolischer Komplikationen erreichen, die Rate an erfolgreichen Kardioversionen erhöhen und die Zahl der Blutungskomplikationen reduzieren. Welche der genannten Strategien für den jeweiligen Patienten geeignet ist, muss jedoch weiterhin individuell entschieden werden. Im Hinterkopf behalten sollte man allerdings, dass weniger als die Hälfte der Patienten nach primär erfolgreicher Kardioversion nach einem Jahr noch einen Sinusrhythmus hat. Neuere Entwicklungen zur Antikoagulation bei Vorhofflimmern Heparin ist Mittel der Wahl, wenn die Thromboembolieprophylaxe während der An- und Absetzphase von Phenprocoumon – z. B. im Rahmen eines notwendigen chirurgischen Eingriffs – aufrechterhalten werden soll. Niedermolekulare Heparine werden in jüngster Zeit allerdings auch für eine langfristige Antikoagulation bei den Patienten propagiert, bei denen eine Unterbrechung der oralen Antikoagulation notwendig wurde. Die Effektivität dieser Art von Antikoagulation ist durchaus mit der einer Phenprocoumontherapie vergleichbar; es kommt allerdings häufiger zu Blutungskomplikationen, sodass die Behandlung mit Heparinen nicht für eine dauerhafte Therapie empfohlen werden kann. Ximelagatran ist ein viel versprechendes neues antithrombotisches Medikament, das oral verabreicht wird. Der aktive Wirkstoff MMW-Fortschritte der Medizin_ cme spezial 2/2005 Melagatran inhibiert direkt gebundenes und freies Thrombin. Die maximale Plasmakonzentration des Thrombininhibitors wird schon nach 1,5–2 Stunden erreicht. Die SPORTIF-Studienserie hat die prinzipielle Wirksamkeit von Ximelagatran zur Verhinderung thromboembolischer Komplikationen bei Vorhofflimmern gezeigt. Auch wurde nachgewiesen, dass unter Ximelagatran signifikant weniger Blutungskomplikationen auftraten als unter Phenprocoumon. Einschränkungen stellen allerdings die Erhöhung der Leberwerte unter Ximelagatran und die renale Elimination dar (Vorsicht bei der häufigen Einschränkung der Nierenfunktion bei älteren Patienten). Vor langfristigem Einsatz von Ximelagatran bei Patienten mit Vorhofflimmern sind daher weitere Studien erforderlich. Resümee Die Schlaganfallprophylaxe ist bei Patienten mit Vorhofflimmern – neben der Behandlung der Rhythmusstörung selbst und unabhängig davon, ob Rhythmus- oder Frequenzkontrolle angestrebt werden – der entscheidende Faktor für ein komplikationsfreies Leben. Phenprocoumon war und ist momentan Mittel der Wahl für Patienten ohne Kontraindikationen. Der therapeutische Bereich liegt für die meisten Patienten bei einem INR-Wert von 2,0–3,0. Bei isoliertem Vorhofflimmern des jungen Patienten ohne kardiale Grunderkrankung („lone atrial fibrillation“) oder Patienten mit niedrigem Schlaganfallrisiko kann unter Umständen auf eine Antikoagulation verzichtet oder nur ASS gegeben werden. Alle anderen Patienten mit Vorhofflimmern sollten einer risikoadjustierten oralen Antikoagulation mit Phenprocoumon zugeführt werden. Mit dem Gerinnungs-Selbstmanagement lässt sich der Anteil der INRWerte im therapeutischen Bereich deutlich erhöhen. Literatur beim Verfasser Anschrift des Verfassers: Priv.-Doz. Dr. med. Frank Isgro Klinikum der Stadt Ludwigshafen Bremserstr. 79.1 D-67063 Ludwigshafen [email protected]