„Seelenheilung“ in Schamanismus und Psychoanalyse

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„Seelenheilung“ in Schamanismus und Psychoanalyse – nebst einem Blick auf die
evangelische Theologie. Berührungspunkte und Verschiedenheiten
Bernd Rieken
Einleitung
Zunächst werden einige Unterschiede zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften
skizziert, die für Schamanismus bzw. Neoschamanismus von Bedeutung sein können. Dabei
wird unter anderem auf das Egozentrismus-Konzept des Schweizer Entwicklungspsychologen
Jean Piaget zurückgegriffen. Im Anschluss daran werden zunächst indigener Schamanismus
und Psychoanalyse verglichen, und zwar mit Schwerpunkt auf der Ausbildung zum
Schamanen bzw. Psychoanalytiker sowie einem Vergleich der Krankheitserklärungen. Im
Anschluss daran werden psychische Störungen in Beziehung gesetzt zum Sündenbegriff der
Kirche und mit der Phänomenologie der sieben Todsünden verglichen. In Abgrenzung dazu
wird danach das Weltbild des Neoschamanismus umrissen. Abschließend wird ein Fallbeispiel
aus der eigenen psychoanalytischen Praxis präsentiert, in dem es um schwarze Magie im
Kontext einer rigiden calvinistischen Erziehung geht.
Unterschiede zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften
Der Zulauf, dessen sich der Schamanismus in der Gegenwart der westlichen Welt erfreut, hat
mannigfache Ursachen. Er ist begründet zum einen in den Lebensbedingungen der modernen
Industriegesellschaften und zum anderen in einem Grundbestand des Denkens und
Empfindens, welcher Teil der Conditio humana ist. Mit den „Lebensbedingungen der
modernen Industriegesellschaften“ sind in erster Linie die Prozesse der Rationalisierung und
Mechanisierung gemeint, welche auf ein verändertes Wissenschaftsverständnis zu Beginn der
Frühen Neuzeit zurückgehen und ihr geistesgeschichtliches Pendant in der Philosophie der
Aufklärung haben. Das Beweis- und Sichtbare wurde zur Maxime erhoben, und das
wissenschaftliche Denken verpflichtete sich auf den kausalanalytisch-nomothetischen Konnex
zwischen Ursache und Wirkung, der nach dem Vorbild der klassischen Physik einen
mathematisch berechenbaren Zusammenhang zwischen abhängigen und unabhängigen
Variablen herstellt und gegenwärtig unter anderem in der Forderung nach Evidenzbasierung
von Forschungsergebnissen, zum Beispiel in Medizin und Bildungswissenschaften, seinen
sichtbaren Ausdruck findet (vgl. Rieken und Gelo 2015, S. 67–74). Alternative
wissenschaftliche Denkformen (vgl. ebd., S. 77–87), etwa Finalismus (Teleologie,
Intentionalität) und der damit verbundene Holismus sowie der „analogische
Rationalitätstypus“ (Gloy 2001, S. 207–276), das heißt das Ähnlichkeitsdenken, wurden
dergestalt im Laufe der Neuzeit an den Rand gedrängt (vgl. ebd., S. 77–87), haben aber als
naturphilosophische Strömungen im Idealismus, in der Klassik und Romantik als „Ideen von
der Natur als lebendigem Ganzen“ weitergewirkt (Gloy 1996, S. 155) und prägen damit
alternative Bewegungen der Gegenwart, unter anderem den Schamanismus westlicher
Provenienz.
Die „Natur als lebendiges Ganzes“ ist ein wichtiges Stichwort, denn es nimmt Bezug auf den
zweiten Aspekt, welcher helfen soll, die Verbreitung des Schamanismus zu erklären, nämlich
einen Grundbestand im Denken und Empfinden, der zur Conditio humana zählt. Damit sind in
erster Linie Animismus und Magie gemeint, bei denen es sich um ubiquitäre Phänomene
indigener Kulturen handelt (Müller 1987), die indes in der Gegenwart der westlichen
Gesellschaften keinesfalls belanglos geworden sind. Magie stellt ein System von Handlungen
dar, bei denen übernatürliche Kräfte beansprucht werden. Das setzt eine innige Beziehung
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zwischen Innenwelt und Außenwelt voraus, die unter anderem mit einer behaupteten
Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos zu tun hat (Petzoldt 1999, S. 4) und, damit
zusammenhängend, von der Vorstellung begleitet wird, dass alle Erscheinungsformen der
Natur belebt und beseelt seien, was gemeinhin als Animismus bezeichnet wird (Müller 1971).
Dabei wollen wir jedoch nicht der älteren Forschung folgen, welche gemäß einem
evolutionistischen Verständnis von „primitiven“ Erscheinungsformen „rückständiger“
„Naturvölker“ ausging. Vielmehr wollen wir uns auf die genetische Theorie Jean Piagets
beziehen, die in der modernen Entwicklungspsychologie nach wie vor zum fixen Bestandteil
akzeptierten Wissens zählt. Piaget spricht vom epistemologischen Egozentrismus, womit kein
moralisches Verdikt gemeint ist, sondern der Umstand, dass es dem kindlichen Denken
aufgrund mangelnder kognitiver Entwicklung anfangs nur möglich ist, alles, was um es herum
geschieht, aus seiner engen Perspektive heraus zu verstehen, indem es sie auf sich bezieht
(Piaget 1980; Piaget, Inhelder u.a. 1999, S. 251–254). Im Weltbild des Kindes werden
nämlich die Dinge dieser Welt in Sonderheit magisch-animistisch und intentional interpretiert,
was bedeutet, dass ihnen Leben eingehaucht wird und sie bestimmte Funktionen zu erfüllen
haben. Die Sonne lebt, und sie ist dazu da, um den Menschen Licht zu bringen und sie zu
wärmen. Wenn man einen Tisch zertrümmert, spürt er es, und wenn man ein Kraut ausreißt,
ebenfalls, weil man an ihm zieht (Piaget 1980, S. 149.). Piaget erklärt das mithilfe der
Neigung, sich im Mittelpunkt der Welt zu sehen und all das, was sich um einen herum
abspielt, auf sich zu beziehen; daher der Begriff „Egozentrismus“. Gleichzeitig projiziert man
aber auch seine eigene Vorstellungswelt auf die Umgebung: Weil ich mich selber als
lebendiges Wesen betrachte, gilt das ebenso für die Objekte, welche um mich herum
vorhanden sind. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass den Dingen auch ein Gefahrenpotential
innewohnt, zumal sie es im Sinne des Egozentrismus auf mich abgesehen haben können. Eine
Tür ist bösartig, weil ich mich an ihr gestoßen habe, und wenn ich nicht brav bin, straft mich
am Vorabend des Nikolaustages der Krampus.
Der Ethnologe Klaus E. Müller hat Piagets Überlegungen auf die kulturelle Entwicklung
übertragen. Er geht davon aus, dass nach dem „Gesetz der Sympathie“ Mensch und Natur in
einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen und in der Natur alles miteinander verwandt
ist (Müller 1987, S. 202; Rieken 2000, S. 193–203). Daraus leiten sich die magischen
Grundsätze ab, allem voran die Ähnlichkeits- (similia similibus) und Gegensatzregel
(contraria contrariis), ferner die kontagiöse Magie (Einfluss durch Berührung), der Grundsatz
pars pro toto und die imitative Magie (Analogiezauber). „Im Grunde genommen handelt es
sich“, so Müller, „bei allen derartigen Anschauungen [...] lediglich um Varianten ein und
desselben Betrachtungsansatzes […]: den Bedingungen des Orientierungsvermögens, der
daraus sich zwingend entfaltenden ego- bzw. ethnozentrischen Optik und der Notwendigkeit,
den konstituierenden Orientierungssystemen Stabilität, d.h. der Erscheinungswelt in ihrer
Gesamtheit Sinn zu verleihen – Voraussetzungen, die zwangsläufig zu irgendeiner Form von
‚Panrelationismus‘ oder Allbeziehungslehre führen müssen“ (Müller 1987, S. 198).
Wenn man davon ausgeht, dass die Lebenswelt sich als ein sinnvoll geordnetes Ganzes
konstituieren muss, um sich verlässlich in ihr orientieren zu können, bedeutet das in erster
Linie, dass sie für den einzelnen bzw. die Gruppe sinnvoll sein muss und man die Dinge zu
sich in Beziehung setzt. „Es vermittelt sich ihm der Eindruck, als ‚drehe sich‘ letztlich ‚alles
um ihn‘, als habe er teil auch am Fluss der Kräfte, die in den Bewegungen seiner Umwelt
wirksam sind“ (ebd., S. 198). Die Dinge um uns herum geschehen nicht zufällig, sondern
wollen uns etwas mitteilen. Wenn ein Buschmann einem Chamäleon mit gekrümmtem
Schwanz begegnet, muss er auf der Hut sein (ebd., S. 200.), und wenn ein Gewitter tobt,
handelt es sich um intentionale Akte böswilliger Wetterhexen oder um den Ausdruck
göttlichen Zornes aufgrund unserer Sündhaftigkeit.
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Aus der Perspektive des Egozentrismus im Sinne Piagets bestehen daher Analogien zwischen
dem Weltbild des Kindes und dem in archaischen Kulturen, indem die Umwelt magischanimistisch aufgeladen und eine intime Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, zwischen
Subjekt und Objekt, hergestellt wird. Das hat zu tun mit einem Selbstbild, das als wenig
abgegrenzt von der Umwelt empfunden wird und daher poröser ist und offener für
mannigfache Einflüsse von außen.
Demgegenüber ist das Selbstbild der westlichen Moderne geprägt durch eine stärkere
Abgrenzung gegenüber der Außenwelt in Gestalt von Individualisierungsprozessen, welche,
abgesehen von wenigen Vorläufern im Mittelalter, in der Kultur der Renaissance ihren
Ausgang nahmen, in der Zeit der Aufklärung und Romantik in je unterschiedlicher
Akzentuierung weiteren Auftrieb erhielten und im Laufe des 20. Jahrhunderts insbesondere
durch die Institutionalisierung und Realisierung liberaler und sozialer Grundrechte
breitenwirksamer wurden. Individualisierung ist aber verbunden mit einer
Komplexitätszunahme, denn Sinnsuche und Identitätsfindung auf eigene Faust setzen ein
höheres Maß an Ressourcen voraus als das mehr oder weniger klanglose Sich-Einfügen in
vorgegebene Gemeinschaften. So waren Berufs- und Partnerwahl früher weitaus
eingeschränkter als heute, das gleiche galt für die Religion, deren „Richtigkeit“ kaum
angezweifelt wurde. Heute sind die Wahlmöglichkeiten hingegen ungleich größer; das
bewirkt eine Verunsicherung und eine Zunahme innerer Konflikte, die auszugleichen mehr
Anstrengung bedeutet und höhere Komplexität abverlangt. Aus der Systemtheorie wissen wir
jedoch, dass Komplexitätszunahme mit einer vermehrten Anfälligkeit einhergeht. Das ist einer
der Gründe dafür, weswegen die psychischen Erkrankungen in den westlichen Gesellschaften
während der letzten Jahrzehnte zugenommen haben – und damit auch die Anzahl der
diesbezüglichen Spezialisten, der Psychotherapeuten bzw. Psychoanalytiker. Demnach ist
diese Profession eine Frucht der Individualisierungsprozesse der Moderne.
Schamanismus und Psychoanalyse
Der traditionelle Schamane ist hingegen einer Profession verpflichtet, welche auf archaische,
indigene Kulturen zugeschnitten ist, in denen der Einzelne auf das Eingebunden-Sein in eine
schützende Gruppe angewiesen ist. Für diese übernimmt er bestimmte Aufgaben, indem er
zum Beispiel als Mittler zwischen der Gemeinschaft und den übernatürlichen Mächten
fungiert, Einfluss auf die Jagd, das Wetter oder die Ernte nimmt, aber auch als Heiler und
Helfer in gefährlichen oder schwierigen Lebenslagen fungiert (Kraft 1995, S. 17). Den Aspekt
der Heilung teilt er sowohl mit Psychotherapeuten als auch mit Priestern, denn die
gemeinsame Schnittmenge besteht, um es mit einem bewusst allgemeinen Begriff
auszudrücken, in der Erlangung oder Wiedererlangung des „Seelenheils“. Das ist im Fall des
Schamanen buchstäblich zu nehmen, denn traditioneller Auffassung nach setzt sich der
menschliche Leib aus drei Elementen zusammen, und zwar 1.) dem vergänglichen Körper, 2.)
der weniger vergänglichen Vitalseele, welche die Funktionsfähigkeit des Organismus
gewährleistet, und 3.) der vom Leib unabhängigen sowie unvergänglichen Freiseele (Müller
2006, S. 11). Letztere kann durch widrige Umstände verlorengehen, wodurch Krankheiten
hervorgerufen werden, und es gehört dann zu den Hauptaufgaben des Schamanen, sich um sie
zu kümmern.
Schamanismus und Psychotherapie scheinen demnach Heilmethoden ohne gemeinsame
Schnittmengen zu sein, beruhen sie doch auf gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen,
denn es steht ein magisch-animistisches Weltbild einem rationalen gegenüber sowie ein
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Menschenbild, das schwerpunktmäßig entweder in der Kollektiv-Identität oder in der IchIdentität (Hernegger 1978) verwurzelt ist.
Überraschenderweise existieren aber auch einige essentielle Analogien oder
Gemeinsamkeiten (das Folgende nach Rieken 2015, S. 13f. u. S. 18ff.). Diese betreffen
zunächst die Ausbildung zum Schamanen bzw. Psychoanalytiker. Um den Aufgaben als
Schamane gewachsen zu sein, benötigte man bestimmte Fähigkeiten und eine besondere
Ausbildung, die eine grundlegende Verwandlung zum Ziel hatte. Dazu zählten in der Regel:
1.) Berufung durch die jenseitige Welt in Form von Krankheiten, Visionen, Träumen, aber
auch aus eigenem Antrieb, etwa infolge sozialer Ausgrenzung. 2.) Lehrzeit bei anderen
Schamanen, um die Strukturen der unsichtbaren Welt kennenzulernen, Krankheiten zu
diagnostizieren und therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können. Dazu war es 3.)
notwendig, sich die Fähigkeit anzueignen, in Trance zu fallen, sie willentlich zu steuern und
sie willentlich auch wieder verlassen zu können. 4.) Öffentliche Prüfung, um die erworbenen
Fähigkeiten zu demonstrieren. 5.) Schwur, dieselben zum Wohle der Allgemeinheit
einzusetzen (Müller-Ebeling 2002, S. 19).
Diese eher nüchterne Aufzählung deutet bereits an, dass nicht jeder zum Schamanen berufen
wurde und dass es spezifischer Persönlichkeitsmerkmale und biographischer Besonderheiten
bedurfte, die gewisse Ähnlichkeiten mit denen von Psychotherapeuten aufweisen. So wirkten
Schamanen oftmals von klein auf „unausgeglichen und nervös […] und waren
verschlossenen, ernsten Wesens, nachdenklich bis vergrübelt, nicht verspielt und heiter wie
andere Kinder“ (Müller 2006, S. 51). Die Berufung erfolgte in der Regel während und nach
der Pubertät, zumeist zwischen 15 und 30, und sie war von Krisen begleitet, zumal
Ausbildung und künftiger Beruf Entbehrungen, Mühsal und Qual mit sich brachten (Müller
2006, S. 51; S. 54). Die Initiation war verbunden mit einer Isolierung von der Umwelt,
oftmals war eine tiefgreifende Veränderung des Anwärters erforderlich, indem er sich auf
Jenseitsreisen begab und sein altes Wesen töten musste, um einem neuen Platz zu machen,
das, von Grund auf verwandelt, seiner veränderten beruflichen Tätigkeit entsprach (vgl. Kraft
1995, S. 20–33; Müller 2006, S. 54–61).
Die Parallelen zur therapeutischen Ausbildung liegen auf der Hand, denn auch sie ist
verbunden mit einer Isolation von der Umwelt, indem man jahrelang psychotherapeutische
Selbsterfahrung macht und viel Zeit zum Verarbeiten auch zwischen den Therapiestunden
benötigt. Der Kandidat tritt ebenfalls eine Reise an, die ihn zwar nicht ins Jenseits führt, aber
in das „weite Land der Seele“, wo er gleichfalls unheimlichen Mächten begegnet und eine
Verwandlung erlebt, die ihn befähigt, mit sich sowie mit seiner künftigen Klientel und ihren
„Dämonen“ besser als bisher umzugehen. Als Psychotherapeut nimmt er, ähnlich wie der
Schamane, eine Sonderstellung ein; er hat zwar seine seelischen Wunden produktiv
verwandelt, indem er sie als Therapeut zum Nutzen der Gemeinschaft einsetzt, aber oftmals
bleibt er bis zu einem gewissen Grad ein Gezeichneter, da die aus der eigenen
Lebensgeschichte resultierende seelische Not nie vollständig geheilt werden kann (vgl. FürstPfeifer 2013). Außerdem besteht die therapeutische Arbeit auch darin, das Leiden des
Patienten zumindest teilweise zu übernehmen (Stichwort Empathie/Distanz), sodass er
prinzipiell gefährdet bleibt und es auch sein muss (vgl. Jung 2006, S. 175; Sedgwick 1994).
Insgesamt kann man also festhalten, dass Schamanen mit Blick auf ihre Biografie und
Tätigkeit gewisse Ähnlichkeiten mit Psychotherapeuten aufweisen und insofern als Vorläufer
derselben betrachtet werden können. Hinzugefügt sei, dass hinsichtlich der Initiation einige
Parallelen zum Leben Jesu existieren. Besonders prägnant zeigen sie sich an jener Episode,
als er vom Geist Gottes in die Wüste geführt wird und 40 Tage und Nächte fastet. Dort ist er
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nicht nur vollkommen von der Umwelt abgeschieden, sondern muss auch den Versuchungen
des Teufels widerstehen. Erst im Anschluss daran ist er dazu bereit, das ihm vorbestimmte
Schicksal auf sich zu nehmen (Matthäus 4,1–11; Markus 1,12–13; Lukas 4,1–13; vgl. FürstPfeifer 2013, S. 46ff.; Kraft 1995, S. 96–107). Isolation, Prüfungen und die Bereitschaft, das
Leid der Menschen auf sich zu nehmen, sind Parallelen zur Initiation der Schamanen und
Psychotherapeuten. Sie entsprechen jener Dreiteilung, welche der Ethnologe Arnold van
Gennep in seinem Klassiker „Übergangsriten“ beschrieben hat (van Gennep 1999): 1.)
Séparation, das heißt Loslösung vom alten Zustand, unterstützt von Trennungsriten, 2.)
Marge, das heißt Übergangszeit, 3.) Agrégation, das heißt Einführung in den neuen Zustand
mit entsprechenden Riten.
Analogien zwischen schamanistischer und psychotherapeutischer Tätigkeit existieren aber
auch hinsichtlich archaischer Krankheitserklärungen. Im Folgenden seien die wichtigsten
genannt; sie sind weit verbreitet, man findet sie in verschiedenen Teilen der Welt, unter
anderem auch im traditionellen Volksglauben und in der traditionellen Volksmedizin des
Westens (das Folgende nach Rieken 2015, S. 14–18).
(1) Projektil: Krankheiten können durch eine schädigende Substanz hervorgerufen werden,
die als Projektil in den Körper eines Menschen eingedrungen ist. Es handelt sich dabei um
eine der ältesten und am weitest verbreiteten Vorstellungen, wie der finnische Ethnologe Lauri
Honko nachgewiesen hat (Honko 1959). Noch heute heißt es im Volksmund, etwas oder ein
Leiden sei „in jemanden gefahren“ oder habe ihn „angeflogen“. Einen Nachhall solcher
Vorstellungen finden wir zum Beispiel im gebräuchlichen Begriff „Hexenschuss“ für
Lumbago. Bekannt ist Martin Luthers Auffassung, nach welcher der plötzlich auftretende
Kreuz- oder Lendenschmerz durch Geschosse verursacht wird, die von Hexen herrühren (s.
Grabner 1997, S. 127).
Die Aufgabe des Heilers besteht darin, das Projektil aus dem Körper des Betroffenen
herauszusaugen, um es dann zu vernichten oder an den Absender zurückzuschicken. Derartige
Vorstellungen mögen uns merkwürdig oder absurd erscheinen, doch wenn man als Patient
zum Beispiel von einem faulen Zahn befreit worden ist und der Arzt ihn uns zeigt, wird sich
wahrscheinlich eine ähnliche Erleichterung einstellen wie beim leidenden Menschen in
archaischen Gesellschaften, der des Krankheitsprojektils ansichtig wird. Analoges gilt für die
Psychotherapie, wenn belastende Erlebnisse, die bisher verdrängt wurden, durchgearbeitet
werden und man ein Gefühl der Befreiung von etwas bisher Bedrückendem oder
Vergiftendem erfährt. Auch die Übertragungsneurose lässt sich zur Projektil-Erklärung analog
setzen, denn wie dieses kann jene dem Patienten „gezeigt“ werden1 und dadurch Linderung
ermöglichen.
(2) Verlust der Seele: Dass die „Seele“ als eine für die Lebenskraft unersetzliche Substanz den
Körper selbsttätig verlassen kann, ist eine Auffassung, die den meisten Völkern der Erde
bekannt ist (vgl. Honko 1959, S. 27ff.). Sie ist bereits abstrakter als die noch stark an die
Materie gebundene Projektilerklärung. Die Seele kann zum Beispiel verlorengehen, wenn
man sich zu Tode erschreckt, wenn man niest oder wenn man schläft, doch kann sie auch von
bösen Geistern gestohlen werden. Auch hier existieren Parallelen zur Psychotherapie, geht es
doch immer wieder darum, „verirrte Seelen“ auf den „rechten“ Pfad zurückzuführen. Wir
sprechen von Entfremdung und meinen damit, dass den Patienten etwas fehlt, weil sie den
1Dieses geschieht, indem der Patient erkennt, dass er Vorstellungen von zumeist negativer Natur, die er in der
Kindheit von bedeutenden Bezugspersonen, vor allem den Eltern, entwickelt hat, bisher unreflektiert auf
Personen aus seiner Gegenwart, in dem Fall den Analytiker, übertragen hat, mithin ein verzerrtes und
gleichzeitig belastendes Bild von Anderen hatte.
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Bezug zu sich selber verloren haben, und dass es darum geht, sich wiederzufinden (s.
Ellenberger 1996, 30).
(3) Eindringen eines Geistes: In der Vorstellungswelt der meisten Völker existiert eine
Vielzahl an Geistern, von denen einigen gute, anderen hingegen böse Eigenschaften
zugesprochen werden. Übel wollende Wesen können, wenn sie in den Körper eines Menschen
eindringen, von ihm Besitz ergreifen, dieser wird dann zu einem „Besessenen“. Es ist nun die
Aufgabe des Heilers, mithilfe von Zaubersprüchen, Befehlen, Verwünschungen und
ähnlichem den Dämon zu vertreiben, was in der christlichen Variante als Exorzismus
bezeichnet und bis heute von der katholischen Kirche praktiziert wird. Ein verbreitetes
Heilverfahren ist die Übertragung der Krankheit, indem der Geist etwa auf ein Tier übertragen
wird, wofür ein bekanntes Beispiel aus der Bibel die Heilung des besessenen Geraseners
durch Jesus ist. „Niemand“, heißt es in der Schrift, „konnte ihn bändigen“, und „er schrie und
schlug sich mit Steinen“ (Markus 5, 4f.). Jesus vertreibt nun die „unreinen Geister“ und
erlaubt ihnen, in eine Schweineherde zu fahren. Diese „stürmte den Abhang hinunter in den
See, etwa zweitausend, und sie ersoffen im See“ (Markus 5, 11–13).
Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Heiler den Dämon in sich aufnimmt und ihn
dann vertreibt. Auch dazu ein Beispiel:
„Bei den Jakuten berührt der Zauberer nach langem, in vielen Phasen erfolgendem
Schamanisieren den Patienten mit dem Munde, indem er den Krankheitsdämon in sich
hineinzuschlucken scheint, worauf er sich windend und Beschwörungen ausstoßend den
Dämon gleichsam auf den Fußboden spuckt, um ihn dann mit Fußtritten und Schlägen aus
der Jurte zu vertreiben“ (Honko 1959, S. 31).
Auch in diesen Fällen, so fremd sie uns erscheinen mögen, existieren Parallelen zur
Psychotherapie, vor allem zu denen mit schwerer Symptomatik, etwa
Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen. Solche Patienten fühlen sich oftmals wie von
fremden, unheimlichen und destruktiven Kräften heimgesucht, mitunter verhalten sie sich, als
wären sie „besessen“ oder „wie von allen guten Geistern verlassen“, und doch hoffen sie auf
„Erlösung“ von ihrem Leid. An den Therapeuten werden dabei große Anforderungen gestellt,
er muss mit destruktivem Agieren umgehen und massive Formen projektiver Identifikation
aushalten, bei der unerträgliche Affekte des Patienten auf den Analytiker gewissermaßen
einströmen. Das eigentlich Unverdauliche wird nämlich auf ihn „übertragen“, er muss
gleichsam, wie es bei Honko heißt, „den Krankheitsdämon in sich hineinschlucken“, um ihn
später, „sich windend und Beschwörungen ausstoßend […] aus der Jurte zu vertreiben“ oder
in eine „Schweineherde“ fahren lassen.
Ein berühmtes Beispiel aus neuerer Zeit ist der Fall einer 28-jährigen Frau namens Gottliebin
Dittus, die von Dämonen besessen war und vom evangelischen Pastor Johann Christoph
Blumhardt erfolgreich behandelt wurde. Die Geschichte spielte sich in Möttlingen, einem Ort
im Schwarzwald, in den Jahren 1842 und 1843 ab und ist dokumentiert durch die
Aufzeichnungen des Geistlichen (Blumhardt 1979; vgl. Ising 2002, S. 148–169). Aufmerksam
wird er auf sie, weil es in dem Haus der Gottliebin poltert und rumort, kurzum es spukt.
Obendrein wird die Gottliebin von Krämpfen geschüttelt, und es fließt Schaum aus ihrem
Mund. Einige Tage später hört Blumhardt eine fremde Stimme aus ihr sprechen. Als er sie
anredet, erfährt er, dass es sich um den Geist einer Verstorbenen handelt, die ihre zwei Kinder
ermordet hat und daher keine Ruhe finden kann. Die Gottliebin berichtet dann von vielen
weiteren Dämonen, die um sie herum und in ihr drinnen sind, wobei sich durch sein
Einwirken ihr Zustand zunächst verschlechtert: „Sie zerschlug sich die Brust, raufte sich die
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Haare aus, krümmte sich wie ein Wurm und schien eine völlig verlorene Person zu sein“
(Blumhardt 1979, Bd. 1, S. 44). Dennoch hält der Pastor ihr die Treue, und allmählich fast
auch sie Vertrauen zu ihm, zumal schmerzhafte Blutungen, von denen sie geplagt worden sei
und denen der herbeigeholte Arzt nichts entgegenzusetzen gewusst habe, „mit dem Tage
aufgehört [hätten], da ich zum ersten Male mich ernstlich ihrer angenommen hätte“ (ebd., S.
45). Am Ende ist sie ganz geheilt und kommt wieder zu Kräften.
Es existieren einige Ähnlichkeiten zwischen dem Verhalten des evangelischen Geistlichen und
dem eines Psychotherapeuten., denn das Charakteristische am Bericht des Pastors ist, dass er
nicht eigentlich einen Exorzismus durchführt – also gewaltsam Kraft gegen Kraft setzt –,
sondern zunächst einmal nur für die Gottliebin da ist, indem er sie seelsorgerisch begleitet und
sie sowie ihre Dämonen aushält, und zwar, wie er des Öfteren betont, durch Beten und Fasten.
Erst nachdem sie Vertrauen zu ihm gefasst hat, wird er aktiver und setzt sich mit den
numinosen Gestalten auseinander. Das führt zunächst zu einer Verschlechterung ihres
Zustandes, wie es mitunter auch in Psychotherapien der Fall ist, wenn die Sensibilität des
Patienten für seinen Leidenszustand stärker in sein Bewusstsein gerückt ist, doch hält er allen
Anfeindungen stand. Das vermag er aufgrund seines Weltbilds, welches ihm Identität
vermittelt und Stabilität verleiht, nämlich dass das Gute, wenn man sich Mühe gibt, das Böse
am Ende besiegen kann, ähnlich wie ja auch der Therapeut von der Wirksamkeit seines
Handelns überzeugt sein sollte. Blumhardt ist aber nicht nur standfest, sondern, wie jeder
erfahrene Therapeut, im Falle ungewöhnlicher Fragen auch flexibel, indem er zum Beispiel
einem reumütigen Dämon gestattet, sich in das Kirchengebäude zurückzuziehen, sofern Jesus
es erlaubt.
Weitere Ähnlichkeiten mit einer professionellen psychotherapeutischen Haltung bestehen
darin, dass Blumhardt die Gottliebin, aus deren Munde übelste Verleumdungen kommen,
nicht verurteilt, sondern diesen standhält und sie zu verstehen sucht: Es sind die Dämonen,
welche aus ihr sprechen, nicht sie selber. Daher sieht er, ohne sie verurteilen, auch die
Ambivalenz, in der sie sich befindet: „Sie fühlte sich nach der einen Seite, dem Satanischen,
mit einer gewissen Gewalt festgehalten; und ihr Inneres suchte die andere Seite, das
Göttliche“ (ebd., S. 72).
(4) Das Tabuverbrechen: Allgemein verbreitet ist die Vorstellung, dass man durch die
Übertretung von Verhaltensvorschriften bzw. durch den Verstoß gegen Sitte, Moral und
Gesetz höhere Mächte auf den Plan ruft, welche als Bestrafung körperliches oder seelisches
Siechtum vorsehen. Um eine Heilung zu ermöglichen, sind Verhör und Geständnis notwendig,
wobei verschiedene Versöhnungs- oder Reinigungsrituale auferlegt werden können (Honko
1959, S. 24). „Dies ist“, schreibt Henry F. Ellenberger, „keine ‚Krankheits-Theorie‘, sondern
eine offenkundige Tatsache; viele zuverlässige Augenzeugenberichte haben sie bestätigt“
(Ellenberger 1996, S. 49). Ellenberger hat völlig Recht, aus Geschichte und Gegenwart lässt
sich eine Fülle entsprechender Berichte anführen. Besonders ausgeprägt war diese
Krankheitsvorstellung etwa in der Inkakultur, die neben üblichen Untaten wie Mord,
Diebstahl oder Unzucht auch den Ungehorsam an den Staatsführern und sogar den bloßen
Gedanken an derartige Taten als Tabuverbrechen ansah (Honko 1959, S. 24). Das ruft
Assoziationen an moderne Überwachungsstaaten wach, aber auch im religiösen Bereich sind
derartige Vorstellungen nach wie vor en vogue, wenn man sich vor Augen hält, dass man zum
Beispiel nach der katholischen Lehre nicht einmal in Gedanken (neben Worten und Taten)
sündigen darf.
Das zweite Beispiel, welches wir erwähnen wollen, entstammt hingegen dem weltlichen
Bereich: Als eine 42-jährige Patientin mit linksseitiger Oberlappenpneumonie im Spital zu
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sterben droht, sagt sie dem diensthabenden Arzt, dass sie nun die gerechte Strafe erfahre.
Dieser entgegnet souverän: „Also! Sie werden nun nicht sterben! Wir werden dafür sorgen,
dass Sie diese Strafe, die Sie erwähnen, oberhalb des Rasens und nicht unterhalb absolvieren“
(Ellenberger 1996, S. 53). Daraufhin erzählt sie, dass die Pneumonie sie genau an jenem Ort
befallen habe, wo sie ihren Mann betrogen habe. Unmittelbar darauf lassen die
Krankheitssymptome nach, und die Patientin wird rasch wieder gesund (ebd.).
Die genannten Beispiele werden wahrscheinlich unmittelbarere Verbindungslinien zur
Psychopathologie bzw. Psychotherapie hervorrufen als in den davor genannten
Krankheitserklärungen. Denn es gehört zu den grundlegenden Elementen psychodynamischer
Theorien, Konflikte als Ursachen seelischer Erkrankungen anzusehen, seien es nun Konflikte
zwischen Es und Über-Ich bzw. Trieb und Moral oder zwischen Minderwertigkeitsgefühl und
Machtstreben.
Erstaunlicherweise hat die europäische Kirche im Laufe ihrer Geschichte aus den drei
Elementen Sünde, Beichte und Buße kein Heilverfahren in Form einer regulären Institution
geschaffen, obgleich der Beichte durchaus ein die Seele entlastendes Potential innewohnt (s.
Honko 1959, S. 25). Über die Gründe mag man spekulieren, vielleicht sah man es als
hinreichend an, pädagogisch-moralisch zu belehren, vielleicht fürchtete man aber auch eine
„Verunreinigung“ mit Elementen aus dem Bereich der Volksmedizin, da weltliche Heiler im
alten Europa zumeist „synkretistisch“ handelten, indem sie christliche mit magischen
Heilritualen vermengten und darin nichts Anstößiges sahen.
Am Schnittpunkt zwischen Schamanismus, Theologie und Psychoanalyse: Sünde,
Schuld, Konflikt
Mit dem Tabuverbrechen als der zuletzt genannten Krankheitserklärung befinden wir uns an
einer bedeutenden Schnittstelle zwischen Schamanismus, Religion und Psychoanalyse. Die
Übertretung eines Tabus wird in den monotheistischen Hochreligionen als Sünde bezeichnet
und ruft aus psychologischer Sicht in der Regel Schuldgefühle hervor, in psychoanalytischer
Lesart, wie bereits erwähnt, innere Konflikte. Die Sündenlehre ist in unserer Kultur tief
verankert, und das seit langer Zeit. Vor allem das Mittelalter brachte eine Kultur hervor, „die
ihre Immanenz derart fundamental auf das Göttliche transzendierte, dass nahezu alle
Lebensbereiche davon betroffen waren“ (Melville 2010, S. 388). Diese aber waren
überschattet durch den Sündenfall und die daraus folgende Erbsünde, weswegen Luther
betont, dass das Böse gleich zwiefach in der Welt sei, nämlich durch Adams Fall sowie unsere
Schuld in Form der Sünde (nach Hügli 1980, Sp. 686). Doch auch in der evangelischen
Theologie der Gegenwart spiele die Sündenlehre eine bedeutende Rolle, so der emeritierte
Professor für Systematische Theologie in Erlangen, Walter Sparn, und sie sei durch die
folgenden vier Elemente charakterisiert: „1. Sündenerkenntnis ist Glaubenserkenntnis; 2.)
Sünde ist Unglaube; 3.) Alle Menschen sind Sünder; 4. Auch Christenmenschen bleiben
Sünder“ (nach Wenz 2013, S. 27). Indes, so der Theologe Gunther Wenz, bedeute das nicht,
dass „Besserungsfortschritte partieller Art“ nicht ausgeschlossen seien; vielmehr würden sie
dadurch ermöglicht, dass „alles Vertrauen auf Christus“ ausgerichtet werde (Wenz 2013, S.
27).
All diese Elemente finden wir, wenngleich in anderer Begrifflichkeit, überraschenderweise
auch in der Psychoanalyse wieder. Allerdings existiert ein markanter Unterschied gegenüber
der Theologie oder auch der Pädagogik, denn in der Psychotherapie wird das Verhalten der
ihnen anvertrauten Personen, also der Patienten, nicht beurteilt, sondern man versucht es zu
verstehen, ohne es zu werten. Dadurch kann ebenfalls im Patienten Einsicht hervorgerufen
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und als problematisch erlebtes Verhalten, das mit Schuldgefühlen einhergeht, verringert
werden.
Das Kernelement der psychoanalytischen Neurosenlehre ist, wie bereits mehrfach erwähnt,
die Konflikttheorie. So heißt es im „Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe“: „Die
Psychoanalyse betrachtet den Menschen als Konfliktwesen“, wobei „innere unbewusste
Konflikte […] als konstitutiv für das menschliche Leben und als ursächlicher Faktor in der
Entstehung von Neurosen angesehen werden“ (Schüßler 2008, S. 400). Diese aber sind eng
mit Schuldgefühlen verbunden, die verborgenen Wünschen oder latenten Aggressionen
entspringen (Hirsch 2008, S. 671). Das Schuldgefühl wird als irrational bezeichnet und ist in
der Psychoanalyse unterschieden vom Schuldbewusstsein, dem die Anerkennung realer
Schuld zugrunde liegt und mit dem Affekt der Reue verbunden ist. Beides aber spielt in der
psychoanalytischen Therapie eine große Rolle und hat Ähnlichkeiten mit dem
althergebrachten Katalog der sieben Hauptsünden (Geiz/Habgier, Neid, Völlerei,
Stolz/Hochmut, Zorn, Trägheit, Wollust). Dazu möchte ich nur einige Stichworte aufzählen
(vgl. dazu ausführlich Bucher 2012).
Geiz und zum Teil auch Neid stehen in der psychoanalytischen Lehre in enger Beziehung zum
so genannten analen Charakter, der zwanghaft penibel auf Ordnung schaut und sich bzw.
anderen kaum etwas gönnt. Völlerei kann unter anderem bezogen werden auf die Zunahme an
Essstörungen in den Überflussgesellschaften der Spätmoderne; Stolz und Hochmut weisen
Ähnlichkeiten auf mit dem Geltungsstreben im Sinne der individualpsychologischen Theorie
als Überkompensation von Minderwertigkeitsgefühlen, und mit narzisstischen Tendenzen.
Zorn hat unter anderem zu tun mit verschiedenen Persönlichkeitsstörungen, denn diese sind
allzumal charakterisiert durch eine „deutliche Unausgeglichenheit […] in mehreren
Funktionsbereichen“ wie Affektivität oder Impulskontrolle“ (Dilling u.a. 1993, S. 227).
Trägheit wiederum findet sein Pendant unter anderem im pathologischen Aufschieben von
Aufgaben (Prokrastination), vor allem aber im depressiven Formenkreis bzw. in dem, was
bereits Freud, jedoch in Verkennung der Begriffsgeschichte, als Melancholie bezeichnet hat
(Freud 1917e). Last but not least die Wollust, die in Freuds Libidotheorie mit ihrem
Konfliktpotential zwischen sexuellen Wünschen und Über-Ich-Vorgaben Auferstehung feiert.
Ähnlich wie aus Sicht der evangelischen Theologie „Besserungsfortschritte“ in Hinblick auf
sündiges Verhalten möglich sind, sind in der psychoanalytischen Therapie gleichfalls
„Besserungsfortschritte“ vorhanden, und zwar in Bezug auf die Entneurotisierung, sprich
Entschärfung des Konfliktpotentials und des Schuldgefühls. Aber gemeinsam ist beiden
Lehren doch ein skeptizistischer Blick auf das menschliche Vermögen: Versprechen auf ein
„heiles“ Leben im Diesseits werden nicht gegeben, der Mensch bleibt, um es mit dem
Philosophen Arnold Gehlen zu formulieren, ein „Mängelwesen“ (Gehlen 1997), und das steht
auch in Einklang mit den wichtigsten Strömungen der europäischen Kulturgeschichte,
abzulesen unter anderem in Philosophie und Dichtung.
Neoschamanismus
Weniger düster oder zumindest skeptizistisch erscheint dagegen der Neoschamanismus. Er ist,
wie bereits eingangs erwähnt, als Gegenbewegung zur Mechanisierung und Industrialisierung,
zu verstehen, die unter anderem eine Distanz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch
und Natur, zur Folge hatten. Wie im magisch-animistischen Weltbild ist er demgegenüber
charakterisiert durch eine innige Beziehung zwischen Mensch und Natur (Picard 2014, S. 87)
und steht damit in der Tradition naturphilosophischer Alternativkonzepte der Neuzeit
(Idealismus, Klassik, Romantik) sowie der ökologisch inspirierten Alternativbewegung der
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Gegenwart. Bei den Heilungskonzepten wird teilweise auf traditionelle
Krankheitserklärungen zurückgegriffen, etwa den Verlust der Seele bzw. von Seelenteilen
(ebd., S. 189ff.) oder auf schwarze Magie (ebd., S. 199f.). Indes ist der Neoschamanismus
gleichzeitig eine Frucht der neuzeitlichen Individualisierungsprozesse. Er ist zum Unterschied
vom traditionellen Schamanismus nicht an die Gruppe gebunden, welche eine kulturelle und
rituelle Einheit bildet, sondern zielt auf die Verwirklichung individueller Bedürfnisse ab.
Dementsprechend sind es auch nicht wenige Auserwählte, welche in einem umfassenden und
langwierigen Prozess zu Schamanen ausgebildet werden, denn im Neoschamanismus wird
jedem Menschen das Vermögen zugeschrieben, „Visionen zu haben, heilen zu können und
sich auf den Weg des Schamanen zu begeben“ (Lademann-Priemer o.J., S. 4). Entsprechend
dem Selbstverständnis unserer beschleunigten Kultur erfolgt die Ausbildung in einem weitaus
kürzeren Zeitrahmen als im traditionellen Schamanismus oder der Psychoanalyse (vgl.
ausführlicher zum Neoschamanismus Lindquist 1998; von Stuckrad 2003; Znamenski 2007).
All die genannten Faktoren machen sicher einen Teil der Attraktivität aus, doch ein weiterer,
bedeutender Aspekt dürfte darin begründet sein, dass im Gegensatz zur Psychoanalyse und
zum Christentum der Fokus weniger auf den Defiziten und den problematischen Anteilen der
Persönlichkeit liegt, sondern in einer positiveren Weltsicht, verbunden mit paradiesischen
Vorstellungen, die psychoanalytisch als Wunsch nach Rückkehr in den Mutterleib interpretiert
werden können. Das gilt insbesondere für die romantische Vorstellung von der Hinwendung
zum Ursprung, „zu den Quellen alter Weisheit und zur Einheit mit der Natur“ (LademannPriemer o.J., S. 6). Wenn man etwa die einschlägige Publikation „Schamanismus und
Psychotherapie“ von Winfried Picard zur Hand nimmt, erfährt man sehr viel über „Helfer“,
über „Krafttiere“, über die „Nähe zu den Kräften der Natur“ und Ähnliches, aber nur recht
wenig über die problematischen, konflikthaften oder gar tragischen Seiten der menschlichen
Existenz. Insofern bietet der Neoschamanismus eine Lösung an, die sich nicht mit dem
steinigen Weg einer mühsamen Annäherung an erträglichere Zustände zufriedengibt, wie es in
der Psychoanalyse und im Christentum der Fall ist, sondern auf Heilsversprechungen
ausgerichtet ist, um der Unwirtlichkeit der technisierten Industriegesellschaft zu entkommen
oder, um es mit Freud zu formulieren, „dem Unbehagen in der Kultur“ zu entfliehen (Freud
1930a).
Die evangelische Kirche dürfte sich diesbezüglich in einer etwas brisanteren Position
befinden als die katholische, da die Kirche dem Protestanten nicht so sehr als „Mutter“ gilt,
die Geborgenheit spendet, sondern als „Wegweiserin“ zum auferstandenen Christus (Frieling
1999, S. 62f.). Dementsprechend ist stärker der Intellekt gefragt, zumal Gott dem Gläubigen
„nicht im priesterlichen Wirken, sondern im verkündigten Wort begegnet“ (ebd., S. 63). Hier
wird also mehr die rationale Seite betont und weniger die emotionale, die etwas stärker in der
katholischen Kirche berücksichtigt wird, vor allem aber im Neoschamanismus. Doch auch zur
Psychoanalyse besteht ein Unterschied: Zwar handelt es sich ebenfalls um ein Wirken mithilfe
des Wortes, um eine „Redekur“, wie Freud sagt (Freud u. Breuer 1895, S. 23), aber
entscheidender sind die emotionalen Prozesse, die Gefühle, welche an den Worten haften,
sowie die emotional verankerte Beziehung zwischen Analytiker und Patient, um eine, wie es
in der Fachsprache heißt, „emotional korrigierende Erfahrung“ zu machen (Alexander 1950).
Doch kommen wir wieder zur positiven Tönung des neoschamanistischen Weltbildes zurück.
Folgerichtig und aufschlussreich zugleich ist, dass in dem Buch von Picard über
„Schamanismus und Psychotherapie“ primär die positiven Aspekte geschildert werden, indes
der Geisterglaube gar nicht problematisiert und schwarze Magie auf nur wenigen Zeilen,
genauer auf einer Viertelseite, abhandelt werden (Picard 2014, S. 199f.). Das ist brisant,
sowohl aus theologischer als auch aus psychotherapeutischer Sicht. So heißt es in einem Text
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der Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Nordelbischen Ev.-luth. Kirche,
dass ausdrücklich davor gewarnt werde, in Kontakt zu treten mit der Welt der Geister, weil
das dem Gebot widerspreche, „Gott allein anzubeten“, (Lademann-Priemer o.J., S. 8). Aus
psychotherapeutisch-psychiatrischer Perspektive handelt es sich ebenfalls um ein Problem,
weil schwere seelische Störungen oftmals mit irrationaler Dämonenfurcht verbunden sein und
daher schamanistische Wochenend-Workshops spezifische Störungsbilder begünstigen oder
gar psychotische Schübe oder Wahnvorstellungen auslösen können.
Schwarze Magie: ein Fallbeispiel aus der psychoanalytischen Praxis
In der Psychoanalyse wird der Bereich der Dämonen bzw. der schwarzen Magie, zum
Unterschied von Schamanismus und Theologie, ausschließlich in das Innere des Menschen
verlegt. Dämonen und schwarze Magie sind vergegenständlichte Bilder unbewusster
destruktiver Tendenzen, sprich unbewusster aggressiver und libidinöser Triebimpulse. –
Führen wir ein Beispiel aus der eigenen psychoanalytischen Praxis zum Thema schwarze
Magie an:
„Eine circa 25-jährige Frau, die in Wien Geisteswissenschaften studiert [und] das älteste Kind
eines calvinistischen Predigers [ist] […], kommt wegen einer generalisierten Angststörung in
Behandlung und erzählt in der 16. Stunde die folgende Geschichte: Als Schülerin habe sie
stets dem sonntäglichen Gottesdienst ihres Vaters beiwohnen müssen, wobei ihr spätestens
seit der Pubertät seine dogmatische Weltanschauung auf die Nerven gegangen sei. Während
einer Predigt seien ihr ein Mann und eine Frau aufgefallen, gegen die sie zwar keine
feindseligen Gefühle gehegt habe, doch sei ihr aufgestoßen, dass das Paar gleichsam an den
Lippen ihres Vaters gehangen habe und vollkommen überzeugt gewesen sei von dem, was er
predige. Daher habe sie gemeinsam mit ihrer ebenfalls den Gottesdienst besuchenden
Freundin den Plan ausgeheckt, die beiden zu verfluchen. Zunächst hätten sie gewollt, dass der
Mann bei einem Autounfall sterben möge, dann aber doch eine mildere Variante gewählt: Er
solle knapp überleben und die am Unfall nicht beteiligte Frau eine Rachenentzündung
bekommen. Am darauffolgenden Sonntag habe der Vater zu Beginn der Predigt verkündet,
dass der Mann vor kurzem einen Autounfall gehabt und nur deswegen überlebt habe, weil er
einen Schutzengel gehabt habe. Daraufhin habe die Patientin die Frau nach ihrem
Wohlergehen befragt, und diese habe ihr mitgeteilt, dass sie derzeit an einer
Rachenentzündung leide“ (Rieken 2013, S. 132).
An der Beurteilung der Fallgeschichte scheiden sich wohl die Geister. Als Theologe würde
man wahrscheinlich ermahnend eingreifen, indem man auf die Unvereinbarkeit der Handlung
mit der christlichen Weltanschauung hinweisen würde. Als Schamane würde man sich wohl
darum bemühen, den eingedrungenen Geist zu vertreiben, und als Neoschamane die
sogenannten spirituellen Eindringlinge verscheuchen. Als Psychoanalytiker wäre man
zunächst irritiert, denn würde man die Patientin beim Wort nehmen, müsste man, da rational
Unbegreifliches geschehen ist, auf Erklärungen der Parapsychologie zurückgreifen, was aber
im herkömmlichen Wissenschaftssystem nicht akzeptiert wird. Auf jeden Fall würde man sich
indes die Lebensgeschichte erzählen lassen und dabei Folgendes erfahren (das Folgende nach
Rieken 2013, S. 133f.):
Die Patientin ist mit Geistergeschichten aufgewachsen, da ihr Vater eine sehr christlichkonservative Einstellung bewahrt hat, welche vom Glauben an übernatürliche Schattenwesen
und teuflische Mächte geprägt ist. Als ältestes von mehreren Kindern hat sie stets ein Vorbild
sein und sich nicht nur um die jüngeren Geschwister kümmern, sondern auch dem Vater
dienstwillig beiseite stehen müssen – ein Muster, das sich auch in ihren eigenen
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Intimbeziehungen widerspiegelt. Bedenkt man all das, dann kann man vermuten, dass die
Helfer-Attitüde zur Unterdrückung eigener Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen sowie zu
einem erhöhten Aggressionspotential im Unbewussten geführt hat. Gleichzeitig war die
Kindheit von Ängsten geprägt, einerseits hervorgerufen durch das autoritäre Gebaren des
Vaters, andererseits infolge der Vermittlung dämonischer Vorstellungen. Da aus Sicht der
Ethologie und Psychologie ein enger Zusammenhang zwischen Angst und Aggression bzw.
zwischen Frustration und Aggression besteht, ist der Umstand, dass die Patientin einen Fluch
ausspricht, daher weniger bizarr, als es auf den ersten Blick zu sein scheint.
Durch die Aufarbeitung der Lebensgeschichte wird Verständnis geweckt für das
problematische Verhalten, welches unweigerlich innere Konflikte hervorgerufen hat. Das
kann in verein damit, dass der Therapeut eine akzeptierende und nicht eine verurteilende
Einstellung einnimmt, zur Entlastung beitragen. Da man sich dabei ausführlich mit der
individuellen Lebensgeschichte und dem individuellen Unbewussten des Patienten befasst, ist
Psychotherapie eine angemessene Antwort auf seelisches Leiden in den individualisierten
Gesellschaften der Gegenwart. Interessant ist, dass es strukturelle Ähnlichkeiten mit den
Krankheitserklärungen im traditionellen, aber auch modernen Schamanismus gibt.
Andererseits bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Frage nach der Existenz
übernatürlicher Instanzen. Während die Psychoanalyse sie als Projektionen versteht und im
Inneren des Menschen ansiedelt, existieren sie in Schamanismus und Religion real. Auch die
Art der Bezugs-Instanzen ist unterschiedlich: In der Psychotherapie ist es die enge, emotional
getönte Beziehung zwischen Analytiker und Patient, in der Religion der Kontakt mit dem
Geistlichen bzw. die Zwiesprache mit Gott, und im Schamanismus bzw. Neoschamanismus
der Kontakt mit den verbündeten Geistern (vgl. Urban, in: Fugmann 2013, S. 29). Letzteres ist
eine angemessene Sicht für indigene Kulturen und in diesen keineswegs brisant, da dort eine
lange, bewährte Überlieferung im Umgang mit derartigen Phänomenen vorhanden ist. Doch
in der rationalen Welt der Gegenwart fehlen entsprechende Traditionen, weswegen
Geisterglaube und schwarze Magie psychische Belastungen und in schlimmeren Fällen, wenn
der Betreffende von vornherein labil ist, schwere psychische Störungen hervorrufen können.
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