Die Neue Kirche im deutschsprachigen Südwesten des 19. Jahrhunderts Johann Friedrich Immanuel Tafel - Friede Gustav Werner - Liebe Johann Gottlieb Mittnacht - Lehre Erweiterte Fassung eines Vortrags bei dem Schwedisch-deutschen Arbeitsgespräch "Emanuel Swedenborg" in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Mai 1988 von Eberhard Zwink. Im Druck erschienen: Stuttgart : Tempelgesellschaft ; Bund für Freies Christentum, 1993 (Forum Freies Christentum ; Heft 26) Swedenborg in Deutschland Die theologische und ekklesiologische Swedenborg-Rezeption hat in Deutschland nicht zu den sichtbaren Erfolgen geführt wie in England oder Nordamerika. Man wird darauf nur eine hypothetische Antwort finden können. 1 Daß Kant mit seiner Kritik manches in der Entwicklung verhindert hat, ist unbestritten. Nur waren die potentiellen Rezipienten keine Kantianer; und Breitenwirkung, Popularisierung einer neuen religiösen Idee ist nicht Sache des Philosophen, sondern des Missionars oder gar des Charismatikers. Fehlten nun in Deutschland entsprechende Persönlichkeiten, die von Swedenborgs Lehre von der Neuen Kirche hätten durchdrungen sein können oder gab es strukturelle Hemmnisse? Wenn man die Swedenborgfreundlichen Theologen in Deutschland, in der Schweiz und im Elsaß auf ihr Verhältnis zu Swedenborg befragt, kommt heraus, daß kaum einer von ihnen ein vollkommener Swedenborgianer war, wie es sie in England und Nordamerika zahlreich gegeben hatte und heute noch gibt. Vorbehalte blieben gegenüber dem Gesamten, wie es Swedenborg besonders im Alter systematisch entwickelt hatte. Friedrich Christoph Oetinger2 und sein Vikar Philipp Matthäus Hahn3 auch der Elsässer Johann Friedrich Oberlin 4 distanzierten sich von Swedenborgs spiritueller Bibelauslegung, waren sie doch Kinder des deutschen lutherischen Pietismus, der einen strengen realen Biblizismus hervorgebracht hatte. 1 Immanuel Kant war in seiner Abhandlung Träume eines Geistersehers (Königsberg 1766) mit Swedenborgs Arcana coelestia scharf ins Gericht gegangen, ohne dabei aber die übersinnliche Erkenntnis negiert zu haben. Neuerdings haben sich einige Forscher dem Thema Kant/Swedenborg wieder gewidmet, so vor allem: Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland, F. C. Oetingers und Immanuel] Kants Auseinandersetzung mit... Swedenborg. Frankfurt/M. 1947. - Ferner: Roland Begenat: Swedenborg und Kant. In: Emanuel Swedenborg 1688-1772, Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe der Württ. Landesbibliothek Stuttgart, hrsg. von Horst Bergmann und Eberhard Zwink. Stuttgart 1988. (Swedenborg in der Württ. Landesbibliothek, Bd. 1), S. 74-76. - Gottlieb Florschütz: Emanuel Swedenborgs mystisches Menschenbild und die Doppelnatur des Menschen bei Immanuel Kant. In: Offene Tore. Zürich 1991, 5, S. 188199. - Ders.: Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer. Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992. (Epistemata Reihe Philosophie ; Bd. 106) - Kiel, Diss. 2 Zu Oetinger u.a.: Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland (s. Anm. 1) - Eberhard Gutekunst: Spötter, die mich um ihrer willen für einen Fanatiker ausrufen. Swedenborg und Oetinger. In: Emanuel Swedenborg 16881772. Stuttgart 1988, S. 77-81. 3 Zu Hahn u.a.: Walter Stäbler: Hahn und Swedenborg. In: Emanuel Swedenborg 1688-1772. Stuttgart 1988, S. 82-88. - Ders.: Wenn man uns recht bey Licht ansiehet, sind wir alle heterodox. Ph. M. Hahn und seine Abkehr von der reinen Lehre. In: Philipp Matthäus Hahn 1739-1790. Ausstellung des Württ. Landesmuseums Stuttgart und der Städte Ostfildern, Albstadt, Kornwestheim, Leinfelden-Echterdingen. Teil 2. Aufsätze. Stuttgart 1989. (Quellen und Schriften zu Philipp Matthäus Hahn, Bd. 7), S. 247-257. - Ders.: Hahns Verhältnis zu Swedenborg. In: ebenda, S. 341-356. - Ders.: Pietistische Theologie im Verhör : das System Ph. M. Hahns und seine Beanstandung durch das württ. Konsistorium. - Stuttgart : Calwer Verlag, 1992. (Quellen und Forschungen zur württ. Kirchengeschichte ; 11) - Münster, Diss. 4 Zu Oberlin u.a.: Alfons Rosenberg: J. F. Oberlin. Die Bleibstätten der Toten. Bietigheim (1974). - Horand K. Gutfeldt: J. F. Oberlin. Eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Gedankenwelt, seiner Pädagogik und seines Einflusses auf die Welt. Mit einer kurzen Biographie. Urbana/Ohio (1973). - Weitere Literatur bei: Oberlin, Johann Friedrich (E. Zwink) in: Theologische Realenzyklopädie. Berlin. - Bd. 24 (1994). - S. 720-723. Hingegen machen uns die über Gustav Werner5 vorhandenen Quellen glauben, daß er nach somnambuler Zeugenschaft ein distanziertes, besser unausgesprochenes Verhältnis zu Swedenborgs Geisterverkehr entwickelt hatte. Die profilierten Swedenborgianer, die professionelle Theologen oder als Laien theologisch gebildet waren, hatten, da sie der lutherisch-pietistischen Kirche entstammten, offen oder verdeckt mit der orthodoxen Dogmatik zu brechen, was zum Ausschluß vom Pfarramt bzw. der ,,Predigtamtskandidatenliste" führte wie bei Johann Friedrich Immanuel Tafel oder Gustav Werner6 . Der universalgelehrte Theosoph und Prälat Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) erlangte Amt und Würden, weil Herzog Carl Eugen seine bergwerkstechnischen Kenntnisse ausnutzen wollte. Gustav Werner (1809-1887) mußte auf Drängen der im Konsistorium sitzenden Pietisten nunmehr konservativer Prägung das Pfarramt verlassen, weil seine Umtriebe eine gefährliche Breitenwirkung zeigten und scheinbar die Kirche bedrohten. Andere Swedenborgianer wie etwa der Freund Werners, Johann Jakob Wurster7 (1811-1675) wurde auf dem Dienstwege ermahnt, die rechte Lehre zu verkünden. Die swedenborgische Theologie war trotz der interessanten Einzelfälle nie eine ernste Gefahr für die Staatskirchen, auch nicht in Württemberg, hatte man es doch meist mit einer partiellen Swedenborg-Rezeption zu tun, überdies waren die meisten Exponenten der Neuen Kirche, außer Joh. Fr. Immanuel Tafel keine studierten Theologen, wie Ludwig Wilhelm Hofaker8 , Theodor Müllensiefen9 , Johann Gottlieb Mittnacht10 oder Fedor Görwitz. Zwei Persönlichkeiten verdankt die Neue Kirche in Deutschland ihre Ausprägung und ihr Fortbestehen: Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796-1863> und Johann Gottlieb Mittnacht (18311892) dessen handschriftlicher und Büchernachlaß in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart bewahrt wird, wodurch sich dort die unangefochten größte Sammlung an Swedenborg11 und neu-kirchlicher Literatur sowie an Quellen zur Neuen Kirche im 19. Jahrhundert befindet. Man wird sich mit Recht fragen, wie Swedenborg in Deutschland zwischen Oetingers teilweise gescheitertem Einführungsversuch und der planvollen Swedenborg-Übersetzung und -Edition durch Tafel, die einherging mit der Gründung einer neukirchlichen Gemeinde, aufgenommen wurde. Zwischen den Übersetzungen, die von Oetinger stammen bzw. von ihm veranlaßt wurden und sich vornehmlich auf die Werke Swedenborgs nach seiner Vision von 1757 aus dem Jahr 1758 beziehen, und Tafels sowie Ludwig Hofakers Übertragungen erschienen im Jahr 1784 in deutscher Sprache drei Ausgaben und dann 1769 in Leipzig eine Teilsammlung aus den theologischen Werken mit dem Titel: Emanuel Swedenborgs theologische Werke oder dessen Lehre von Gott, der Welt, dem Himmel, der Hölle, der Geisterwelt und dem zukünftigen Leben usw. Es handelt sich beim Original um eine Übertragung ins Französische, die ihrerseits der französische Poet Jean François Daillant de la Touche (1744-l828)12 aus einer englischen Vorlage hergestellt hat. Der deutsche Übersetzer blieb anonym. 5 Zu Werner u.a.: Paul Wurster: Gustav Werners Leben und Wirken. Reutlingen 1888. - Karlheinz Bartel.: Gustav Werner. Stuttgart 1990. - Eberhard Zwink: Gustav Werner und die Neue Kirche. Die Auseinandersetzung mit dein Swedenborgianer Johann Gottlieb Mittnacht. Reutlingen: Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus, 1989 (Swedenborg in der Württ. Landesbibliothek, Bd. 2) - im folgenden zitiert als: Zwink: Werner. 6 Zu beiden s.u., Anm. 15 und 42. 7 Zu Johann Jakob Wurster, dem Vater von Paul Wurster, (s. Anm. 5) vgl. Zwink: Werner, S. 31ff. 8 s. u. 9 Zu Müllensiefen vgl. Zwink: Werner, S. 3Sf u. ö. 10 Zu Mittnacht u.a.: Eberhard Zwink: Gustav Werner und Johann Gottlieb Mittnacht. Eine Auseinandersetzung um die von Emanuel Swedenborg gelehrte Neue Kirche. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 88 (1988), S. 402-427. - Ders.: Johann Gottlieb Mittnacht and Gustav Werner. Forms of open and hidden Swedenborgianism in l9th century German Southwest. In: Swedenborg and his influence. Swedenborg Symposium '88 Bryn Athyn, Pennsylvania 1988, S. 405-424. - Ders. Gustav Werner und die Neue Kirche (s. Anm. 5) 11 Handschriften: Papiere zur Geschichte der Neuen Kirche der Swedenborgianer und ihrer Buchhandlung (Nachlaß von Johann Gottlieb Mittnacht): Cod.hist.fol.944. Darin: Nr. Id: Briefe von, an und über Gustav Werner und sein Rettungshaus in Reutlingen (11 Nummern). - Otto Leuze: Eine Sammlung von Swedenborg-Literatur in der Württembergischen Landesbibliothek. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 37 (1933), S. 83-87. . 12 vgl. Archives biographiques françaises, Mikrofiche Nr. 273, S. 283-285. Dort werden die literarischen Leistungen von Daillant de la Touche teilweise als schal und farblos bezeichnet. 2 Hingegen kennt man den Urheber der 1795 in zwei Teilen erschienenen deutschen Vera Christiana Religio (des dogmatischen Haupt- und Alterswerkes Swedenborgs) mit dem Titel Die ganze Theologie der Neuen Kirche, Basel, gedruckt bei Samuel Flick. Die große SwedenborgBibliographie von James Hyde13 nennt: Translated by Pastor C. A. Donat and published by an 14 association of readers of Swedenborg at Basle. Carl August Donat (geboren 1758) war Pfarrer in wendisch Ossig/Oberlausitz. Basel scheint ein wenn auch bescheidenes Zentrum swedenborgischer Aktivitäten gewesen zu sein, erschienen doch dort um die Wende zum 19. Jahrhundert sowohl deutsche als auch französische Swedenborg-Übersetzungen. Von 1784 ist uns eine deutsche Übersetzung der Vera Christiana Religio überkommen, die nach dem Titelblatt auch 1784 erstellt worden ist. Oetinger (gest. 1782) scheidet demnach als Übersetzer aus. Er ist nur für die Übertragung der 1758 erschienenen Hauptschriften Swedenborgs verantwortlich, als er in den sechziger Jahren Dekan in Herrenberg war. Die Vorrede des anonymen deutschen Werkes läßt auf einen uneingeschränkten Bewunderer des Schweden schließen. Allerdings gehört das Werk in den popularphilosophisch-aufklärerischen Bereich des Zeitalters der Empfindsamkeit, heißt es doch am Ende der Vorrede: Wer dem Menschen die Gelegenheit gibt zu lernen, der hat ein Verdienst... und weiter: Ich schließe hier meine Vorrede. Man halte sie, wofür man will, so ist sie wahre Empfindung, und ruhet einmal Swedenborgs Geist auf mir, so will ich das vielleicht deutlicher darlegen, was mir nur dunkel zu sagen erlaubt ist. Sieht man von Donat ab, der in seiner Edition anonym blieb, tat sich um die Jahrhundertwende keine Einzelpersönlichkeit hervor, die sich im neukirchlichen Sinne wirkungsvoll profiliert hätte. Sie wäre gewiß kirchlicher Bedrängnis ausgesetzt gewesen. Der Swedenborgianismus blühte vereinzelt - im Verborgenen. Geblüht aber haben muß er, wie sollten wir sonst die Kontinuität und Wirkung auf Johann Friedrich Immanuel Tafel erklären? 13 James Hyde: A bibliography of the works of Emanuel Swedenborg. London 1906. Mit Supplement: A list of additions to the bibliography... Comp. by A. S. Wainscot. London 1967. 14 vgl. Deutsches Biographisches Archiv, Mikrofiche, Nr. 247, S. 309-312. 3 Johann Friedrich Immanuel Tafel und die neukirchliche Irenik Walter Dress verweist in seiner Tafel-Biographie15 mit Recht auf die rationalistischsupranaturalistische Richtung der Tübinger Fakultät zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die beherrscht war von Gottlob Christian Storr und seiner, der Ersten Tübinger Schule. Sie vertrat einen aus Kants Vernunftkritik geborenen biblischen Rationalismus, die dem antitrinitarischen Unitarismus und damit auch der swedenborgischen Dreieinigkeitslehre durchaus positiv gegenüberstehen konnte. Der spätere Professor Johann Friedrich Flatt war dem Sozianismus nicht abhold. Sein jüngerer Bruder Karl Christian Flatt lehrte eine ebenfalls von Kants Ethik beeinflußte pelagianistische Versöhnungstheologie, die zur Sündenvergebung auch die sittliche Besserung forderte. Swedenborg wäre hier in guter Gesellschaft gewesen. Sogar der Oberkonsistorialrat Georg Friedrich Griesinger ließ sich von Tafel dessen Übersetzung Lehre des Neuen Jerusalem schenken und bedankte sich brieflich dafür. Der Rationalismus, dem man Swedenborgs Theologie eigentlich zuordnen muß, konnte also auch in Württemberg für kurze Zeit zwischen Orthodoxie und Pietismus Platz greifen. Wenn Oetinger und Swedenborg selbst an den Mauern der Orthodoxie scheiterten, so gerieten Tafel und dreißig Jahre später Gustav Werner in die Fänge des immer mehr erstarkenden und sich mit der Restauration verbündenden Pietismus. Trotzdem konnte der 1796 geborene und einem pietistisch gefärbten Pfarrhaus entstammende Johann Friedrich Immanuel Tafel Swedenborgianer 16 werden , der als Schüler, als er sich schon ungewöhnlich umfassend bildete, zunächst Swedenborg ablehnte, dann aber auf der Suche nach der absoluten Wahrheit auch den zeitgenössischen Idealismus, vor allem Hegel, verwarf und in der durch Swedenborg entsiegelten Schrift schließlich den Zugang zur Wahrheit fand. Wahrheit ist ja auch der Inbegriff der swedenborgischen Lehre. Von Grund-Wahrheiten hört man bei den Epigonen, so etwa bei Gustav Werner und bei Johann Gottlieb Mittnacht. Von Tafel haben wir aus dem Jahr 1821 ein erstes Bekenntnis an einen Freund. Der damals fünfundzwanzigjährige Theologe schreibt: Du wirst nie zur klaren Erkenntnis der Wahrheit kommen, schwerlich die Hauptwahrheiten richtig auffassen, noch das Erkannte sicher besitzen, wenn Du zu Deinem Zweck nicht auch die Mittel wählst, wenn Du nicht das von ihm selbst geschenkte Mittel gebrauchst; und dieses Mittel ist nach meiner festen, nicht auf bloßen Autoritätsglauben, nicht auf bloßen Gefühlen, sondern auf lebendiger Erfahrung beruhenden Überzeugung kein anderes, als die Lehre der Neuen Kirche, des Neuen Jerusalems; die von Jesus Christus selbst durch Swedenborg der Christenheit geoffenbarten Lehren, welche an Erhabenheit und Heiligkeit alle bisher der Kirche bekannt gemachten Wahrheiten übertreffen, sind das einzige Mittel, eine klare, zusammenhängende und in sich selbst vollendete Erkenntniß und eine unverwüstliche Überzeugung von der göttlichen Wahrheit hervorzubringen; sie sind das einzige Mittel, der Lauigkeit im Christentum und dem überhandnehmenden Sittenverderbniß zu steuern, das einzige Mittel, jene Einheit des Glaubens, jene warme brüderliche Liebe wieder herzustellen, welche in den ersten Zeiten des Christenthums die Herzen verband und unwiderstehlich festhielt. Diese Lehren, wenn sie aufs Leben angewendet werden, enthalten alles was nach den Weissagungen des A. und N.T. der christlichen Kirche nach jenen, nun in der Vergangenheit liegenden, durch das Papstthum und die falsche Orthodoxie entstandenen Stürmen, Herrliches und Göttliches zu Theil werden sollte. Warum willst du dieses Mittel nicht prüfen? ...?17 Tafel verschrieb sich als Theologe und hochbegabter Philologe der Übersetzung des monumentalen Oeuvre Swedenborgs und kündigte das Vorhaben über den Buchhandel bereits 1821 an. Inzwischen wohnte er in Tübingen in der Neckarhalde, im Hause der Familie Hofa(c)ker. Der Vater Hofacker war Juraprofessor und wohl Swedenborgianer gewesen. Sein Sohn Ludwig Wilhelm (1780-1840) schrieb sich zeitlebens nur mit "k", also Hofaker, 15 Walter Dreß: Johann Friedrich Immanuel Tafel. Zürich 1979, S. 29-33. Neben der Biographie von Dreß vgl. auch: Leben und Wirken von Johann Friedrich Immanuel Tafel. Hrsg. von Christian Düberg. Wismar 1864. - Dass. hrsg. von Theodor Müllensiefen, 2., verb. Aufl. Basel 1768.- Die Biographie von Dreß auch zusammengefaßt von Horst Bergmann: J. F. Immanuel Tafel, Initiator einer Bewegung. In: Emanuel Swedenborg. 1688-1772. Stuttgart 1988, S. 93-96. 17 Nach Dreß, S. 41f. 16 4 wie er sich auch sonst einer eigentümlichen Orthographie bediente. So läßt er sich aber leichter von dem geschätzten Pietistenprediger Ludwig Hofacker (1798-1828) unterscheiden. Hofaker 18 übte den Beruf eines Justizprokurators aus. Er widersetzte sich zunächst den Bekehrungsversuchen seines Vaters, wandte sich aber durch seinen Mieter Tafel dem Swedenborgianismus zu. Er hatte jedoch keine (neu-) kirchlichen Interessen wie Tafel. In einem Hause wohnten nun die später wegen der Verschiedenartigkeit ihrer Charaktere auseinanderdriftenden Freunde, die in Konkurrenz zueinander Swedenborg übersetzten und herausgaben. Hofaker war in Fragen der Geistererscheinungen und des Mystizismus ein interessierter Mann. Die Württembergische Landesbibliothek verwahrt aus seinem Nachlaß zahlreiche Manuskripte, die 19 ursprünglich wohl aus einem schwäbischen Nonnenkloster/Dominikanerinnen stammten. Es handelt sich inhaltlich um Biographien, Hagiographien von Heiligen, Seligen, Mystikern, wie etwa von Margarete von Ungarn, Heinrich Seuse, Christina Ebner, Johannes Tauler, Meister Eckart u. a. Hofaker bescherte der Nachwelt antiquierende Übertragungen aus den swedenborgischen lateinischen Originalen, die jedoch nicht von großer Wirkung gewesen sind. Tafels nüchterner, wissenschaftlicher Stil, der dem Swedenborgs angemessen ist, überdauerte, werden doch heute noch im Swedenborgverlag Zürich Tafels Übersetzungen angeboten, sofern nicht von Friedemann Horn revidierte Neuübertragungen entstanden sind.20 Aber Tafel hatte seine Schwierigkeiten mit der württembergischen Amtskirche. Das Pfarramt war ihm wegen seines persönlichen offenen Bekenntnisses zur Theologie der Neuen Kirche und wegen der Weigerung, sich auf die reformatorischen Bekenntnisschriften zu verpflichten, verschlossen. Die Chance, 1824 Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Tübingen zu werden, brachte ihm zwar eine feste Stellung ein, aber zugleich auch die Auflage, auf die Publikation swedenborgischer Werke zu verzichten. Erst als König Wilhelm I. 1829 das Veröffentlichungsverbot aufhob, konnte Tafel mit seiner missionarisch-wissenschaftlichen Tätigkeit fortfahren. Allerdings hatte er später unter den Intrigen und Anfeindungen seines Vorgesetzten Robert von Mohl sehr zu leiden. Mohl entstammte als Jurist einer Stuttgarter Honoratiorenfamilie und hatte als Vertreter der württembergischen und damit gut kirchlichen "Ehrbarkeit" kein Verständnis für den andersdenkenden Immanuel Tafel. Dieser blieb ein Außenseiter. Interessant für das geistige Umfeld jener Zeit ist, daß Tafel auch mit Justinus Kerner und Friederike Hauffe, der "Seherin von Prevorst", in Verbindung stand, Besuche im Arzthause in Weinsberg machte und mit Kerner über das Phänomen des Hellsehens diskutierte. Walter Dress veröffentlichte die im Deutschen Literaturarchiv Marbach/N. erhaltenen Briefe von Tafel an Kerner21 , denen wir dreierlei entnehmen: 1. Der Briefkontakt währte über acht Jahre von 1826 bis 1834. Bemerkenswert ist u.a., daß die Seherin Immanuel Tafel mitteilen ließ, er solle sich weiterhin mit Swedenborg beschäftigen. Das habe sie aus dem Jenseits erfahren. Aus verschiedenen Verlautbarungen Tafels ist jedoch deutlich zu entnehmen, daß er sich als getreuer Swedenborgianer jeder Art von Spiritismus verschloß und daher in der dringlichen Mahnung der Seherin keine Autorität für sich erkennen wollte. Tafel schrieb kurz vor seinem Tode im Mai 1863: Es wird Ihnen bekannt sein, daß Swedenborg den Verkehr mit den Geistern nicht nur als seelengefährlich, sondern auch als leicht ins Irrenhaus führend bezeichnet hat, was leider auch durch neue Erfahrungen auf dem Gebiete des Spiritualismus bestätigt worden ist. Für besonders gefährlich halte ich die Mittheilung von Geistern über Religionslehren, und besonders die sogenannten unmittelbaren Offenbarungen, für die nur wir die sicheren Kriterien haben, und die, wie Swedenborg zeigt, gar nicht mehr möglich sind, weil sie gegen die unwandelbaren Gesetze der göttlichen Ordnung verstoßen. 18 Zu Ludwig Hofaker vgl. Zwink: Werner, s. 25-28 u.ö. Württ. Landesbibliothek Stuttgart: So der Katalogeintrag bei Cod.theol.et philos.fol., 281-284. 20 Zu der Fülle deutscher Swedenborg-Ausgaben siehe die Bibliographie von James Hyde (Anm. 13). 21 Walter Dreß: Immanuel Tafel und Justinus Kerner. Sechs Briefe von Immanuel Tafel an Justinus Kerner. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 77 (1977) , S. 132-148. 19 5 Einst wurde der Freund einer angeblichen Seherin in Wien in unserer Versammlung in Stuttgart eingeführt, und bat nach meinem Vortrag um das Wort, worauf er unter Anderem sagte: es gebe gegenwärtig nur Ein Mitglied der Neuen Kirche, eine Seherin in Wien, die vom Herrn täglich unmittelbar belehrt werde. Ich bemerkte darauf, Swedenborg habe auf den Grund von Daniel 9,24. und Luk. 16,27-31 bewiesen (in dem Werk von der Vorsehung 134-136), daß der Herr nicht mehr unmittelbar lehre, sondern bloß mittelbar durch das Wort, auch nicht durch Geister und Engel; er selbst habe nun schon so lange Umgang gehabt mit Geistern und Engeln, aber kein Geist habe gewagt und kein Engel gewünscht, ihm Belehrungen zu geben über das Wort oder über eine Lehre aus dem Worte, sondern es habe ihn der Herr selbst gelehrt, aber mittelbar durch das Wort in der Erleuchtung. - Die Resultate seiner Beobachtungen, die er im Jenseits gemacht, sind sonach nicht eine neue Erkenntnisquelle der Religion, sondern kommen nur, als eine bis in's Jenseits erweiterte Erfahrung, gleich den Vernunftqründen in erläuternder und bestätigender 22 Weise hinzu... Diese zum Grundsätzlichen der swedenborgischen Neuoffenbarung sich äußernde Briefstelle Tafels mag gleichzeitig auch als Legitimation für die Exklusivität der Neuen Kirche stehen. Tafel konnte damit immer noch die Verbindung zur protestantischen Kirche halten. Aber der Keim für die Radikalisierung in der Neuen Kirche war gelegt. 2. Der Briefnachlaß verweist uns darauf, mit wem und wie Tafel sich verheiratete. Es ist im Zusammenhang mit der Verbreitung der swedenborgischen Theologie in der kleinen Gemeinde der Neuen Kirche wichtig, daß hierbei nur wenige Personen führend waren, die oft in engem verwandtschaftlichen Verhältnis standen. Das galt für Deutschland, wie es für Nordamerika galt und heute, z.B. in Bryn Athyn, noch gilt. Tafel heiratete die Tochter Wilhelmine23 des Landrats von Iserlohn, Peter Eberhard Müllensiefen24 , eines reichen Industriellen, der seinen Kindern ein großes Erbe hinterlassen hatte. Wir finden den Sohn Theodor (1802-1879), also den Schwager Tafels, als ehemaligen preußischen Abgeordneten auf seinem Theodorshof bei Rheinfelden in der Schweiz, wo der Privatier sein Vermögen für Druck und Verbreitung der swedenborgischen Lehre einsetzte. Müllensiefens Buchhandlung wurde 1872 von Johann Gottlieb Mittnacht übernommen, nachdem Müllensiefen 1863 seinen Schwager Immanuel Tafel beerbt hatte. So ist über den Nachlaß Mittnacht die Württ. Landesbibliothek in den Besitz Tafelscher Bücher und auch Manuskripte gelangt.25 3. Der Briefnachlaß mit Kerner wirft auch ein Licht auf das Verhältnis zu dem bereits erwähnten Ludwig Hofaker, der als Konkurrent in der Swedenborg-Übersetzung gegenüber Tafel auftrat. Tafel kommt in einem Brief von 1829 darauf zu sprechen, daß Swedenborg ein theologisches System entworfen habe, und fährt dann fort: Der Umstand, daß jene Schriften ein System enthalten, verleitet aber, wie ich glaube, unsern H[ofaker] zu einem Fehlgriff in seinen Übersetzungen, der nachtheilige Folgen hat. Er meint, wo ein System sei, müsse auch eine abgeschlossene Terminologie sein, und man dürfe deswegen wo S[wedenborg] ein Wort gebraucht, auch im Deutschen nur ein Wort brauchen; ich dagegen bin der Meinung, daß der Geist sich nicht so bannen lasse an bestimmte Wörter... Er nimmt wie ich glaube zu wenig auf den Sprachgebrauch, besonders auf den philosophischen u. theologischen, Rücksicht, und trägt zu wenig Bedenken, neue Wörter zu machen, die die Sprachanalogie nicht für sich haben, z.B. für Draconi = Drachenanhänger, hat er Drachlinge; ... Divinum Verum - das Göttlich Wahre, Divinum Bonum = das Göttlich Gute, übersetzt er mit Wahrgöttlich u [sic] Gutgöttlich...26 22 Nach Müllensiefen: Tafel, S. 64f. Neben dieser Quelle vgl. auch den Brief Theodor Müllensiefens an Mittnacht in dessen Nachlaß: Württ. Landesbibliothek: Cod.hist.fol.944, Ia. 24 Zu Müllensiefen vgl. Zwink: Werner, S. 35f u.ö 25 s. a. Anm. 11. 26 Dreß: Tafel und Kerner, S. 136 (Brief Nr. 2). 23 6 Hofakers erste Swedenborg-Übersetzung erschien nachweislich erst 1830, also ein Jahr nach dem zitierten Brief, und zwar war es eine Übertragung der Vera Christiana Religio, die er Die Christenreligion in ihrer Ächtheit nannte. Im õ86 begegnen uns eben diese Begriffe, die Tafel nannte: Quod Jehovah Deus in mundum ut Divinum Verum descenderit, erat causa ut Redemptionem ageret, et Redemptio fuit subjugatio Infernorum, et ordinatio caelorum, et post has instauratio Ecclesiae: ad efficiendum illa, non valet Divinum Bonum, sed Divinum Verum ex Divino 27 Bono. Bei Tafel heißt dieser zentrale Satz swedenborgischer Christologie 1855: Daß Jehovah Gott als das Göttliche Wahre in die Welt herabstieg, das geschah, um die Erlösung zu vollbringen, und die Erlösung war die Unterjochung der Höllen, und das Ordnen der Himmel und nach diesen die Gründung der Kirche: dies zu bewerkstelligen vermag das Göttlich Gute nicht, sondern das Göttlich Wahre aus dem Göttlich Guten...28 Hofaker publizierte 1831 folgende Fassung: Daß Jehovah Gott in die Welt als das Göttliche Wahre niederkam, geschah des Endes, um die Erlösung auszuführen; und die Erlösung war Unterwerfung der Höllen, und Anordnung der Himmel und sofort Gründung der Kirche: dieß zu bewerkstelligen, kommt nicht dem Göttlichen Guten zu, sondern dem Göttlichen Wahren aus dem 29 Göttlichen Guten... Im Ganzen ist Hofakers Stil hymnischer, aber die Wortungetüme, die Tafel Kerner gegenüber nannte, sind verschwunden. Tafel - oder Gustav Werner (s.u.) - hatten wohl vor der Drucklegung mit Hofaker gestritten und Einfluß ausgeübt. Fazit dieses Exkurses: In der Neckarhalde in Tübingen arbeiteten zwei Swedenborgianer in Konkurrenz einerseits und wohl auch in gegenseitiger Einflußnahme andererseits. Hofaker, vor allem aber Tafel, leisteten die Infrastrukturarbeit für die systematische Erschließung und Verbreitung von Swedenborgs Werk im deutschsprachigen Raum. Hofaker wird uns im Zusammenhang mit dem jungen Gustav Werner noch einmal begegnen. Tafels Verdienst um die Neue Kirche liegt nicht nur auf dem bleibenden Ergebnis der Übersetzungen - und nicht zu vergessen - der Editionen bisher unpubliziert gebliebener lateinischer Manuskripte, er wirkte gleichfalls als Apologet der neukirchlichen Lehre, war doch die Neue Kirche selbstverständlich dauernder Polemik seitens der lutherischen und pietistischen Evangelischen, aber auch der Katholiken ausgesetzt. Der große katholische Theologe an der neugegründeten Tübinger Fakultät, Johann Adam Möhler (1796-1838), kritisierte Swedenborg und damit Tafel als Vermittler in seinem Hauptwerk Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach öffentlichen Bekenntnisschriften (1. Aufl. 1832). Das Werk ist sachlich und unpolemisch, aber scharfsinnig und weitsichtig formuliert. Über Swedenborg soll aus dem Schlußkapitel folgender Satz für die gesamte Swedenborgkritik stehen: Denken sollte man doch, wenn Gott spricht, sei das Wort so dauernd, als wenn ein Mensch lallt, auch wenn diesem im Himmel alle Geheimnisse aufgeschlossen würden. Christi Werk dauerte etwa dreihundert Jahre, ein kurzer Frühling, bis sich endlich mit Swedenborg Alles in einen ewigen Frühling verwandelt. Möhler bezieht sich hier auf das von Swedenborg grundsätzlich verdammte Dogma der Trinität, verstanden als eine Lehre von drei Personen, wie sie sich im Konzil von Nicäa 325 unter dem Einfluß des Athanasius herausgebildet hatte. Ist dies nicht die offenbarste Blasphemie? Swedenborg ist eigentlich zum Mittelpunkt der Geschichte und zum wahren Erlöser erhoben: mit ihm, nicht erst mit 30 Christus, kehrt die goldene Zeit zurück. 27 Emanuel Swedenborg: Vera Christiana Religio. Edidit. So. Fr. Im. Tafel. Tubingae, Londini 1857. - Tom. 1, S. 113. 28 S. 188f. 29 S. 167f. 30 Möhler: Symbolik, S. 479. 7 Dies ist der Inbegriff an Kritik allen sogenannten Neuoffenbarungsreligionen gegenüber. Nun war Tafel aufgerufen zu antworten. Er zog seinerseits die Konsequenz aus der neuen Lehre, die in der Theorie gerade das nicht sein sollte, was die Praxis leider in ihr Gegenteil verkehrte: die Neue Kirche sollte jenseits der Konfessionen stehen, sie hinter sich zurückgelassen haben als die Alte Kirche im swedenborgischen Sinne. Diese erwies sich jedoch - wie schon oft in der Geschichte bis heute als hartnäckiger: die Neue Kirche geriet aus Sicht der traditionellen Staatskirchen zur Sekte. Mittnachts separatistischer Fanatismus, wie er im Briefwechsel mit Gustav Werner zum Ausdruck kommt, ist Beleg dafür. Tafel jedoch war es um die Überwindung der Konfessionsgegensätze zu tun, wie es ähnlich auch das Anliegen von Gustav Werner war. Tafel veröffentlichte u.a. 1852 eine Monographie mit dem Titel: Friedens-Theologie (Irenik) oder Untersuchungen in wie fern 1. bei aller Verschiedenheit der Ansichten eine innere Vereinigung aller wahren Christen schon besteht; 2. unter Beibehaltung der Verschiedenheit in Lehren und Gebräuchen eine gewisse äußere Veränderung der getrennten Religionsparteien sofort zu Stande kommen, und 3. eine innere und äußere Vereinigung auf den Grund einer und derßelben Lehre allmählig angebahnt werden könnte und sollte; nebst einer Widerlegung der unrichtigen Darstellung dieser 31 erweislich wahren christlichen Lehre in Dr. Möhlers Symbolik etc... Tafel hatte erkannt, daß der Gedanke der Neuen Kirche nur auf dem Boden der Toleranz und Religionsfreiheit gedeihen konnte, wie es in Nordamerika, wohin sein Bruder Johann Friedrich 32 Leonhard 1853 mit Familie auswanderte, der Fall war. Das Jahr 1848 mit seinen liberalisierenden Ereignissen gab Hoffnung, dem Ziel freier Religionsausübung auch für die Neue Kirche näher zu kommen. Tafel versammelte am 1. Oktober 1848 in Cannstatt (heute Teilort von Stuttgart als Bad Cannstatt) seine Anhänger, Deutsche und Schweizer, zu einer Generalversammlung der Neuen Christlichen Kirche. Dort wählte man Tafel zum Vorstand und beschloß, seine Übersetzungen weiterhin finanziell zu fördern, insbesondere die Arbeit an den Arcana Coelestia, deren vollständige Übersetzung durch Tafels Tod 1863 unterbrochen wurde. Überdies wurde ein Bekenntnis formuliert, das in vier Grundsätzen die Neue Kirche und ihre Lehre definierte. Die Versammlung beschloß: 1) sie glauben, daß Jesus Christus der geoffenbarte alleinige Gott des Himmels und der Erde und in ihm eine Dreiheit sei; 2) daß wir, um selig zu werden, notwendig Seine Gebote halten müssen, und sie mit Seinem Beistand auch halten können; 3) daß die heilige Schrift Gottes Wort und einzige Erkenntnisquelle der christlichen Religion sei; 4) sie fühlen sich verpflichtet, die Grundsätze und die Schriften der von ihnen als wahr erkannten 33 Religionslehre nach Kräften zu verbreiten. Die vier Punkte erinnern an drei von Swedenborgs vier Programmschriften, die nach seinem Tode als die Vier Hauptlehren der Neuen Kirche zusammengefaßt erschienen: 1. Doctrina Novae Hierosolymae de Domino, wo Swedenborg seine eigene antiathanasianische Dreieinigkeitslehre entwickelte. Es heißt in der Tafelschen Übersetzung in § 57: Daß dies alles in dieser (athanasianischen) Lehre bis auf die einzelnen Worte derselben wahr sei, wenn man nur statt der Dreiheit der Personen eine Dreiheit der Person setzt, kann aus ebenderselben, wenn sie aufs neue abgeschrieben, und diese Dreiheit statt jener gesetzt worden ist, ersehen. Die Dreieinheit der Person ist diese, daß das Göttliche des Herrn der Vater, das göttliche Menschliche der Sohn, und das ausgehende Göttliche der Heilige Geist sei. Wenn diese Dreieinheit verstanden wird, dann kann der Mensch 34 Einen Gott denken, und zugleich auch einen Gott aussprechen... 31 Hervorhebungen in der Quelle. zu Johann Friedrich Leonhard Tafel vgl. Zwink: Werner, S. 37f u.ö. 33 Müllensiefen: Tafel, S. 38. 34 Emanuel Swedenborg: Die Lehre des Neuen Jerusalem vom Herrn. Übers. (von J. F. Im. Tafel]. Stuttgart 1876, S. 81. 32 8 2. Der zweite Punkt bezieht sich auf Swedenborgs Schrift Doctrina Vitae pro Nova Hierosolyma ex praeceptis dacalogi, von Tafel übersetzt als die Lebenslehre für das neue Jerusalem aus den Geboten des Decalogus. Hier entzündet sich Swedenborgs Widerspruch zum reformatorischen sola fide und der Lehre Luthers vom unfreien Willen. Swedenborgs Anthropologie kennt keine Erbsünde und damit auch nicht die Rechtfertigung aus Glauben allein. Der Mensch habe im Glauben das Böse zu meiden und hernach das Gute zu tun. Hieraus geht deutlich hervor, daß der Mensch in so weit, als er das Böse flieht, beim Herrn und im Herrn ist, und in so weit, als er im Herrn ist, das Gute nicht aus sich, sondern aus dem Herrn thut. Hieraus ergibt sich das allgemeine Gesetz: daß man in so weit das Gute thut, als man das Böse flieht.... Daß, wenn der Mensch das Gute will und thut, bevor er das Böse als Sünde flieht, sein Gutes nicht gut ist... Wenn er daher den Armen gibt, den Dürftigen Hülfe leistet... gleichwohl aber das Böse, z.B. die Betrügereien, die Ehebrüche, den Haß, die Gotteslästerungen und Anderes dergleichen als Sünde gering achtet, so kann er kein anderes Gutes thun, als was inwendig böse ist, denn er thut es aus sich, und nicht aus dem Herrn, folglich ist nicht der Herr, sondern er selbst in demselben, und all das Gute, in dem der Mensch selbst ist, ist mit seinen Bösen besudelt, und zielt auf ihn selbst und 35 die Welt. Trotzdem gilt: Es ist der göttlichen Ordnung gemäß, daß der Mensch mit Freiheit nach der Vernunft handle, weil mit Freiheit nach der Vernunft handeln aus sich handeln heißt. Aber jene zwei Vermögen, die Freiheit und die Vernunft sind nicht Eigenthum des Menschen, sondern des Herrn beim Menschen; und sofern er Mensch ist, werden sie ihm nicht entzogen, weil er ohne sie nicht umgebildet werden kann... Der Herr liebt den Menschen und will bei ihm wohnen; Er kann ihn aber nicht lieben und bei ihm wohnen, wenn er keine Aufnahme und Gegenliebe findet. Daher und sonst nirgends kommt die Verbindung. Der Herr hat aus diesem Grunde dem Menschen Freiheit und Vernunft gegeben...36 3. Zum dritten Punkt scheint zunächst keine Differenz zum sonstigen Protestantismus zu bestehen. Nur kommt hier implizit Swedenborgs doppelter Schriftsinn zum Ausdruck: Swedenborg hatte in seinem Monumentalwerk Arcana Coelestia und in der Apocalypsis Explicata die Auslegung der Schrift nach dem ihm visionär mitgeteilten spirituellen oder inneren Sinn exemplifiziert. Das Wesentliche seiner vom Herrn an ihn ergangenen Offenbarung war gewesen, daß ihm aufgeschlossen wurde, wie mit Hilfe der Entsprechungslehre die nach dem geistigen Sinn verfaßten Bibelbücher zu verstehen seien. In dem Werk Doctrina Novae Hierosolymae de Scriptura Sacra begründet Swedenborg seine geistige Sicht und belegt die Methode mit zahlreichen Beispielen. So erklärt er etwa die vier Pferde in der Offenbarung als Zustände der Kirche in ihrer Geschichte des Abfalls von Gott etc. Damit gelingt es Swedenborg, die durch den Rationalismus aufkommende Literarkritik überflüssig werden zu lassen. Sogar die Verbalinspiration kann vor der Vernunft standhalten: Man sagt in der Kirche, das Wort sei heilig, weil Jehovah Gott es gesprochen habe; da aber sein Heiliges in dem blosen Buchstaben nicht sichtbar ist, so bestärkt sich derjenige, der aus diesem Grunde einmal an der Heiligkeit des Wortes zweifelt, nachher, wenn er es liest, durch vieles in demselben in seinem Zweifel; denn er denkt dann: ist dies heilig, ist dies göttlich? Damit nun ein solcher Gedanke nicht bei vielen Eingang finde, und nachher sich immer mehr festsetze, hierdurch aber die Verbindung des Herrn mit der Kirche, in welcher das Wort ist, zu Grunde gehe, so hat es dem Herrn gefallen, den geistigen Sinn jetzt (Swedenborg!) zu offenbaren, damit man wisse, wo jenes Heilige im Worte verborgen ist.37 ...Was die Entsprechung sei, hat man bisher nicht gewußt; in den ältesten Zeiten hingegen war sie sehr bekannt, denn bei denjenigen, welche damals lebten, war die Wissenschaft der Entsprechungen eine Wissenschaft der Wissenschaften, und so allgemein, daß alle ihre Schriften und Bücher in Entsprechungen geschrieben sind. Das Buch Hiob, ein altes Buch, ist voll von Entsprechungen...38 35 Emanuel Swedenborg: Die Lebenslehre für das Neue Jerusalem aus den Geboten des Decalogus. Übers. [von J. F. Im. Tafel]. Stuttgart 1876, S. 13f. 36 Ebenda, S. 17. 37 Emanuel Swedenborg: Die Lehre des neuen Jerusalems von der Heiligen Schrift. übers. [von J. F. Im. Tafel]. Stuttgart 1876, S. 19. 38 Ebenda, S. 21. 9 Die Neue Kirche konnte mit diesen Grundsätzen in den traditionell landeskirchlichen Gefilden nicht gedeihen, besonders nicht in Württemberg, wo ein strenger Biblizismus - von Johann Albrecht Bengel gelehrt - sich über den konservativen Pietismus auch in der Amtskirche und der Universität Eingang verschaffte. Swedenborgianer mußten sich trotz Religionsfreiheit bedeckt halten. Einzige Unterstützung kam von England oder Nordamerika. Da war es klüger und der Sache zuträglicher, dorthin auszuwandern, wie die Angehörigen von Joh. Friedr. Leonhard Tafel bewiesen. Trotzdem gab es auch helle Momente im Leben Tafels und in der kurzen Geschichte der deutschen Neuen Kirche. Anläßlich der Weltausstellung 1851 in London lud die englische Neue Kirche Glaubensbrüder aus aller Welt nach dorthin ein. Dieser Besuch in dem glücklichen England, wo schon die Wahrheiten der reinen christlichen Lehre Wurzel geschlagen und sich verbreitet haben, dieses freudige Begegnen und herzliche Zusammensein mit zum Theil persönlich, zum Theil durch schriftlichen Verkehr bekannten, im Geiste der Liebe innig verbundenen Brüdern im Herrn war einer der Lichtblicke im Leben Tafels, an denen sein Herz sich sonnte und erquickte.39 Die grenzenüberschreitende Einheit der Neuen Kirche kam hoffnungsvoll im Jahr 1857 noch einmal zum Ausdruck, als eine Synode in Manchester eine Erklärung der Neuen Kirche an die Menschheit verabschiedete, die für Deutschland und die Schweiz von Johann Friedrich Immanuel Tafel unterzeichnet wurde.40 Diese Erklärung, deren Wortlaut hier folgen soll, ist einmal ein positives Zeugnis einer sich noch einig wissenden Religionsgemeinschaft, die sich - Schicksal der meisten religiösen Gruppen - in zwei Lager spalten sollte, als sich die General Church of the New Jerusalem in Bryn Athyn bei Philadelphia von der liberalen General Convention of the New Church absetzte und sich eine episkopale Verfassung gab. Zum anderen ist hier ein Glaubensbekenntnis formuliert, das die swedenborgische Theologie treffend zusammenfaßt: 39 Müllensiefen: Tafel, S. 41. Im Untertitel: nebst einer Nachweisung der dicken Finsterniß, welche bis vor hundert Jahren [Swedenborgs Vision des Jüngsten Gerichts in der geistigen Welt, 1757] in Beziehung auf die Hauptwahrheiten der universellen Religion und die einfachsten Forderungen des Gewissens allenthalben geherrscht hatte, seitdem aber allmählig dem damahls erschienenen Lichte zu weichen begann. Hrsg. von Joh. Fried. Immanuel Tafel. Tübingen, London 1858. 40 10 Erklärung der Mitglieder der Neuen Kirche, als Synode versammelt zu Manchester im August 1857. Wir die Geistlichen und die Abgeordneten der durch das Neue Jerusalem in der Offenbarung bezeichneten Neuen Kirche, versammelt Gott, Christus, Heiliger aus verschiedenen Provinzen Großbritanniens zusammt mit Brüdern aus verschiedenen Theilen der Welt, die sich mit uns in unsern, zur Geist: hundertjährigen Jubelfeier der Neuen Kirche abgehaltenen Versammlungen vereinigten, fühlen uns verpflichtet, unsere volle und innige Ueberzeugung zu erklären, daß der göttliche Heiland der Welt, Jesus Christus, der einzige Gott des Himmels und der Erde, und so der einzige Quell des Segens für die Menschheit ist. Die ganze Dreieinheit Dreieinheit in einer ist in Ihm. Seine unendliche Liebe ist der Vater, Seine göttliche Person Menschheit ist der Sohn, und Sein ausfließender Geist der Liebe, Heiligkeit und Macht ist der Heilige Geist. Wir laden alle Menschen ein, Ihm denselben Gottesdienst zu weihen, den die Engel des Himmels Ihm weihen. Ihn verehren wir, Ihn beten wir an, und Ihm verlangen wir in allen Dingen und zu allen Zeiten zu gehorchen. Mensch: Vernunft und Freiheit des Willens und des Tuns Liebespraxis aus Freiheit Zehn Gebote Er hat den Menschen zu seinem Ebenbild und zu seiner Aehnlichkeit erschaffen, daß er möge auf Erden erzogen werden, ein Engel des Himmels zu werden. Er hat den Menschen die zwei großen Vermögen des Willens und des Verstandes gegeben, daß sie mögen gelehrt und in Freiheit dahin geleitet werden, alles, was gut ist, zu wollen, alles, was wahr ist, zu erkennen und hieraus in Freiheit mit Vernunft zu handeln. Liebe ist das große Prinzip der Religion, Liebe zu Gott, und Liebe zum Menschen; allein damit die Liebe im menschlichen Charakter sich entwickeln könne, muß der Mensch frei sein. Die Gebote unseres anbetungswürdigen Heilandes, zuerst gegeben von Ihm als Jehovah im Alten Testament, und bestätigt von Ihm als der Heiland des Neuen, sind der wahre Weg der Seliqmachung und Glückseligkeit, das einzige bleibende Heilmittel für menschlichen Kummer. Wir laden alle Menschen dringend ein, sie täglich in Ausübung zu bringen, und allein zu dem Herrn Jesus Christus um die fortwährende Kraft hiezu zu beten. Das Wort Gottes, welches, in seinem geistigen Sinn verstanden, in jeder Sylbe heilig ist, ist das große Licht des geistigen Lebens, die Karte des Schriftverständnis nicht wahren Fortschrittes, kann aber nur in so weit verstanden und geliebt werden, als die Menschen in Freiheit dazu geliebt werden, ihre aus Gnade, sondern Gemüther zu öffnen seine Weisheit zu verstehen und seine Belehrungen aus freiem anzunehmen. Erkenntnisvermögen Heilige Schrift Religionsfreiheit Da aber niemand wahrhaft weise und gut werden kann, wenn er nicht in der Freiheit ist, so erklären wir, daß unser fester Glaube ist, daß alle Menschen frei sein sollten im möglichst grösten Umfang, um Gott zu verehren, ihre Ansichten zu veröffentlichen, und ihre gewissenhaften Ueberzeugungen von dem Pflichtmäßigen in Ausübung zu bringen. Wir laden alle Menschen sowohl die Herrscher, als die Völker ein, allen Andern bereitwillig die volleste Freiheit zu geben, ihre religiösen Rechte zu üben, als Gebote Dessen, der allweise und allgut ist. Wir erklären, daß unser fester Glaube ist, daß jeder Mensch nur in so weit selbst gesegnet sein kann, als er sucht Andern Segen mitzutheilen, und daß daher die großmüthige und brüderliche Anerkennung der Rechte Anderer, besonders derjenigen wahrer Glaubens- und Religionsfreiheit, das große Gesetz der Vorsehung für die Wiedergeburt Wiedergeburt (regeneratio) durch die der Einzelnen, für das Glück der Gesellschaft und den nationalen Fortschritt ist. Tat Wir wünschen daher, der Aufmerksamkeit aller Menschen einzuschärfen, daß sie einander dienen sollen in Liebe, besonders in der 11 Beförderung ihrer heiligsten Rechte, ohne Rücksicht auf Glaubensbekenntniß, Stand oder Farbe; im vollen Glauben, daß die Erfüllung dieses Gebotes des Himmels nur zum Guten führen kann. Irenik: Religionsausgleich Völkerverständigung Reich Gottes 41 So werden die Familien der Erde für einander die Beförderer des Fortschritts und der Glückseligkeit werden, und die 'Reiche dieser Welt werden die Reiche unseres Herrn und Seines Christus werden, und er wird regieren immer und ewiglich.' So wird das menschliche Geschlecht wahrhaft verwirklichen 'Ehre für Gott in der höchsten Höhe, und auf Erden Frieden und Wohlgefallen an den Menschen.41 Erklärung, S. 3-5. 12 Gustav Werner und die swedenborgische Liebesethik 42 Die Sonderrolle, die Gustav Werner (1809-1887) mit seinem Mutterhaus in Reutlingen und den Zweiganstalten im württembergischen Land spielte, erwächst aus der Bekanntschaft des jungen Werner während seiner Studentenzeit in Tübingen mit Johann Friedrich Immanuel Tafel und Ludwig Hofaker. Tafel wurde 1848 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Tübingen. Doch schon vorher hielt er als Bibliothekar der Universitätsbibliothek philosophische Vorlesungen. So gehörte auch zu seinen Zuhörern 1827/28 der junge Gustav Werner, der an der Theologie, wie sie damals in Tübingen gelehrt wurde, nichts Begeisterndes fand, weder im Rationalismus, noch im Pietismus. Er suchte nach Neuem. Daß Gott die Liebe sei, das war dem Studenten bereits ein inniger Glaube. Er wurde mit Tafel bekannt, verließ die ehrwürdige Wohnstätte für die Theologiestudenten, das Tübinger Stift, und zog als Stadtstudent in das Haus in der Neckarhalde ein. Tafel, Hofaker und Werner bildeten dort zusammen mit dem späteren lebenslangen Freund Werners, Johannes Rommelsbacher,43 einen neukirchlichen Erbauungszirkel, wo aus Swedenborg gelesen, d. h. übersetzt wurde. Wegen seiner nunmehr gefaßten Neigung zu Swedenborg geriet der Theologiestudent Werner in Konflikt mit Elternhaus und theologischen Lehrern. Es wurde ihm nahegelegt, sich von Swedenborg zu distanzieren, wenn er ein Examen ablegen wolle. Wir müssen annehmen, daß auch Werner schon als Student mit an den Übersetzungs- und Editionswerken seiner beiden älteren Hausbewohner beteiligt war. Der 1809 geborene Werner bestand 1832 sein Examen mit einer leidlichen Note. Er hatte sich aber inzwischen die Arcana Coelestia gekauft und sich unter dem Einfluß von Hofaker weiterhin mit Swedenborg eingelassen, wobei er sich vornehmlich in einer eigenen Bibelübersetzung, welche die lutherische ablösen sollte, versuchte. Publiziert wurde davon aber nichts. Manuskripte sind dem Verf. nicht bekannt. Die Württ. Landesbibliothek besitzt nur den Versuch einer Evangelienübersetzung von Tafel, die Fragment blieb. Erst der Bruder von Immanuel Tafel, Johann Friedrich Leonhard, brachte 1675 in Philadelphia eine deutsche Bibelübersetzung heraus.44 Auf Drängen Hofakers und wohl auch, um dem nun sich unvermeidlich anschließenden Vikariat in der württembergischen Landeskirche zu entgehen, begab sich Werner - ordnungsgemäß beurlaubt - nach Straßburg, um dort an der Universitätsbibliothek weiter nach Swedenborg zu forschen. Seinen Unterhalt verdiente er als Privatlehrer. Der Straßburg-Aufenthalt Werners war die entscheidende Phase für sein weiteres Leben und sein Wirken. Er machte die Bekanntschaft von Kaspar Wegelin und seiner Familie. Wegelin war ein enger Freund von Johann Friedrich Oberlin gewesen. Ihm hatte Oberlin vor seinem Tode seinen Ring, wohl seinen Ehering übergeben. Im Hause Wegelin fand Werner eine beschauliche herrnhutische Frömmigkeit. Hier begegnete Werner aber auch eine von der seither hier beschriebenen abweichende Swedenborgpflege, wie sie in spekulativ-pietistischen Kreisen durchaus anzutreffen war: Oberlins Frau war nach einer harmonischen und glücklichen Ehe allzufrüh verstor-ben45 . Oberlin bezeugt, daß er in häufigem, jedoch immer mehr verblassendem spirituellem Kontakt mit seiner verstorbenen Frau gestanden habe, die ihm den Zustand des Himmels in ähnlicher Weise beschrieb, wie es die in Pietistenkreisen (Collenbusch, Hasenkamp, Oetinger, Lavater) 42 Zu Gustav Werner vgl. Anm. 5 und Anm. 10. - Ferner wird die Bibliographie von Stefan Vida: Gustav-Werner-Bibliographie (in: Blätter für württ. Kirchengeschichte 75 (1975), S. 118-165) ergänzt durch die Quellenpublikation in Zwink: Werner. 43 Zu Rommelsbacher vgl. Zwink: Werner, S. 26 u.ö. 44 Zu Bibelübersetzungen in der Neuen Kirche vgl. Zwink: Werner, S. 64, Anm. 6. 45 Unter dem in Anm. 4 genannten Oberlin-Biographien sei besonders verwiesen auf: Alfons Rosenberg: J. F. Oberlin. Die Bleibstätten der Toten. Bietigheim (1974). Rosenberg legt das Schwergewicht seiner Darstellung nicht so sehr auf die nicht zu unterschätzende philanthrophische und pädagogische Leistung des Steintaler Pfarrers, sondern auf Oberlins Jenseitslehre (mit Abbildung und Erläuterung von Oberlins Jenseitskarte und die spiritistische Verbundenheit mit seiner Frau. 13 geschätzte Jungfer Dorothea Wippermann aus Duisburg getan hatte. Sie ihrerseits bestätigte eine Kongruenz ihrer Anschauungen mit denen Swedenborgs.46 In diesem spirituellen Umfeld lebte auch die Familie Wegelin, in Sonderheit die Nichte Nanette. Es trug sich zu, daß der Onkel Kaspar im folgenden Jahr nach der Ankunft Gustav Werners, 1833, starb, nachdem er seinerseits kurz vor seinem Tode an den jungen Mann Oberlins Ring vererbt hatte. Man mag ermessen, welche Bedeutung Gustav Werner in der Familie Wegelin, vor allem auch für die Nichte, gehabt hatte. Man hat in der Gustav-Werner-Biographie, die bis vor kurzem aus dem Geiste eines landeskirchlichen Pietismus getragen war, die swedenborgischen und die spirituellen oder gar 47 spiritistischen Elemente verdrängt. Das Erbe von Oberlins Ring hat man nur so deuten wollen, daß Werner zum Erbe des Oberlinschen philanthropischen Lebenswerks geworden sei, was uneingeschränkt gilt. Nur braucht es keiner Symbole, um eine diakonische Aufgabe fortzuführen. Hinter Werners Liebtätigkeit, wie die swedenborgische Caritas im 19. Jahrhundert in Deutschland genannt wurde, stand eine sich immer mehr verselbständigende, auf Swedenborg beruhende Theologie, die sich in einer ekklesiologischen Verwirklichung des Gottesreiches zentrierte. Werner sollte Oberlins theologischer und in der Folge auch diakonischer Erbe sein. Wie sich Werner zum Spiritismus stellte, den ja Swedenborg und die Anhänger der orthodoxen Neuen Kirche (wie z.B. Tafel) scharf verdammten48 , ist nicht eindeutig. Vermutlich hat er sich später - theologisch selbständig geworden - vom Geisterverkehr distanziert und ihn als nichtssagend betrachtet. Er mußte aber, von Hofaker dazu verleitet, der Nachwelt eine Quelle hinterlassen, was ihn zumindest in die Reihe derer stellt, die Zeugen von Geistererscheinungen gewesen sind/sein wollten. Die Nichte Nanette zeigte nach dem Tode des Onkels somnambules Verhalten. Bei ihren nächtlichen Wandlungen verkehrte sie mit dem Verstorbenen und gab Werner das aus dem Jenseits Gehörte zu Protokoll. Diese Dokumentation wurde von Ludwig Hofaker herausgegeben und in seine spirituelle Publikationsserie Elilytha49 übernommen mit dem Titel: Er bei uns! Durch Annchen Lineweg in St. Gallen ...50 Im Vorwort heißt es: Als Lineweg [Wegelin!] dem Tod schon nahe war, rief er den jungen Gustav aus Teutschland, welchen er gar lieb gewonnen, zu sich her, und gab ihm seinen Seegen; mit einer Hinreißung, die seine Stimme erstikte. Sofort stekte er ihm sein irdisches Kleinod, einen Ring von Oberlin mit dessen Haaren, an, und fügte zur Erklärung bei, er komme nach seinem Hingange zu ihm, wenn der Herr es erlaube; denn Er habe sie beide auf eine überaus innige Weise verbunden... Es heißt weiter über das Medium Annchen (Nanette): Frau Lineweg nahm mich beiseits, und vertraute mir: Freilich doch hätten sie Nachrichten von dem lieben Seligen; eben über Annchen nehmlich komm' es je und je mit einer Art Entwordenheit; und da sei er bei ihr Herr im Hause; und dan spreche er, und auch andere Seelige seiner und ihrer Bekanntschaft, ja zuweilen der Herr Selbst, durch sie: nemlich mit Annchens Organ, indessen sie, während des Redens, und nachher, gar um den 51 Innhalt nichts wüßte. 46 Rosenberg: Oberlin, S. 143f. Besonders in den Arbeiten von Werner-Nachkommen oder Bruderhaus-Vorstehern, voran des Urgroßneffen Werners, Paul Krauß. Bibliographische Hinweise in: Zwink: Werner, S. 117f, zur Beurteilung: S. 7-10. 48 Für Swedenborg seien nur zwei Belegstellen angegeben: Arcana Coelestia, 5862f. und das postume Werk Scriptura Sacra seu Verbum Domini (Hyde, Nrn. 3160-3164), in Auszügen übersetzt bei Joh. Gottl. Mittnacht (Hrsg.): Em. Swedenborgs Leben und Lehre. Frankfurt am Main 1880, S. 586f - Zu Tafel vgl. Anm. 21. 49 Elilytha oder Halle der Gottgelehrten. Ein Sammelwerk in Bezug auf Entsprechungskunde und geistigen Schriftsinn. Tübingen, Leipzig 1838-1841, Gabe 1-7. U.a. als Nr. 2 von dem Nürnberger Mystiker Johannes Tennhardt (1661-1720) die Schriften aus Gott. 50 Elilytha: 5. Gabe. 1839. 51 Ebendort, S. 3. 47 14 Als Werner 1834 Straßburg verließ, hörten die Absonderlichkeiten der Nanette Wegelin auf. Sie heiratete schließlich später Werners schon erwähnten Freund Johannes Rommelsbacher, der als ein aufrechter Swedenborgianer in Tübingen, dann in Stuttgart eine Buchhandlung und einen Verlag mit neukirchlicher Literatur führte. Werner hatte inzwischen sein religiöses Durchbruchserlebnis. Am Weihnachtsabend 1833 bei einem Abendmahl im häuslichen Kreise der Restfamilie Wegelin sprangen auf einmal die Fesseln von meiner zerdrückten Seele... Zum erstenmal fühlte ich in seiner ganzen Fülle, daß Gott mich liebe!52 Werner ging nun einen anderen Weg als Wegelin oder Hofaker. Äußerungen über Geistererscheinungen oder auch über Swedenborgs Jenseitsschau gibt es nicht mehr. Er beschritt einen anderen Weg als Tafel, da er dessen Dogmatismus ablehnte. Die Tafel-Gemeinde sei wie in Amerika und England eine reine 53 Bekenntniskirche geworden. Werner war es um die Vollendung der Kirche zu tun, ihr Wesen und ihren Zweck. Swedenborg hatte in Anlehnung an die Äonenlehre das Ende der Alten Kirche erschaut und verkündigte das Neue Jerusalem als nun in der geistigen Welt errichtet, den Anbruch der Neuen Kirche54 . Werner wollte diese Kirche auf Erden verwirklichen. Der Inbegriff von Kirche war ihm Liebe, die tätige Liebe. So nannte er mit Blick auf die Zeitalterlehre des Joachim von Fiore und Schellings Philosophie der Offenbarung den neuen Äon die Johanneische Kirche. Ihr vorausgegangen sei nach der Auferstehung die Petrinische, nach der 55 Reformation die Paulinische Epoche. Dies hat nun Gustav Werner mit Swedenborg gemeinsam, daß die - nach Swedenborg im Jahr 1757 von ihm in der geistigen Welt geschaute - überwundene reformatorische Phase mit dem Grundsatz des Sola Fide nunmehr einmünde in das dritte und letzte Zeitalter inniger Verschmelzung von Glauben und Liebe. Es heißt in Swedenborgs Dogmatik, der Wahren Christlichen Religion: Die Nächstenliebe allein bringt keine guten Werke hervor, noch weniger der Glaube allein, sondern nur Nächstenliebe und Glaube gemeinsam. Im Sinne der Korrespondenzlehre heißt es dann weiter unten: Die Verbindung von Nächstenliebe und Glauben gleicht der Ehe zwischen Mann und Weib. Aus dem Manne als dem Vater und aus dem Weib als der Mutter entstehen alle natürlichen Sprößlinge... Die Glaubenswahrheiten erleuchten aber nicht allein die Nächstenliebe, sie verleihen ihr darüber hinaus ihre Beschaffenheit, ja sie nähren sie auch...56 Werners Theologie und seine Lebenspraxis sind ein Paradigma für diesen Glaubenssatz. Seine vom Konsistorium wohlwollend genehmigten Urlaubsgesuche ermöglichten ihm, längere Zeit dem Kirchendienst als Vikar fernzubleiben. Nun hatte er schließlich doch das 52 Paul Wurster: G. Werners Leben und Wirken, S. 47. Vgl. u. den Briefwechsel mit Mittnacht: ausführlich in Zwink: Werner, S. 46, 59 und 63. 54 Sowohl aus dem historischen als auch aus dem prophetischen Teil des Wortes, besonders aber aus Daniel, geht hervor, daß es nach der Schöpfung auf dieser Erde im allgemeinen vier Kirchen gegeben hat, von denen immer die eine die andere ablöste. Bei Daniel werden diese vier Kirchen im zweiten Kapitel durch jene Bildsäule beschrieben, die dem König Nebukadnezar im Traum erschien, und hernach im siebten Kapitel durch die vier aus dem Meer heraufsteigenden Tiere. Die erste Kirche, wir wollen sie als die älteste bezeichnen, bestand vor der Sintflut; ihr Ende oder Auszug wird durch die Sintflut beschrieben. Die zweite Kirche, wir wollen sie die alte Kirche nennen, erstreckte sich über Asien und einen Teil von Afrika; sie wurde vollendet und ging unter durch Götzendienst. Die dritte Kirche war die israelitische: sie begann mit der Verkündigung der zehn Gebote auf dem Berg Sinai, setzte sich fort durch das von Moses und den Propheten geschriebene Wort und wurde vollendet bzw. kam zu ihrem Ende durch die Entweihung des Wortes; diese aber erreichte ihren Gipfel zu der Zeit, als der Herr in die Welt kam, weshalb sie Ihn, der das Wort selbst war, kreuzigten. Die vierte Kirche ist die Christliche, vom Herrn durch die Evangelisten und Apostel gegründet. Sie durchlief zwei Epochen, die erste von der Zeit des Herrn bis zum Konzil von Nicäa, die zweite von da bis auf den heutigen Tag... (Emanuel Swedenborg: Vera Christiana Religio... Die Wahre Christliche Religion. Neu übertr. von Friedemann Horn. Zürich 1964, Band 3, S. 924, § 760). 55 Vgl. Gustav Werner: Der Friedensbote Reutlingen 1851, S. 17. Dazu auch Zwink: Werner, S. 11 nebst Anm. 56 Emanuel Swedenborg: Die Wahre Christliche Religion. Übertr. von F. Horn, Band 2, 8. 482f (§ 377, III). 53 15 Predigt- und Seelsorgeamt als Vikar anzutreten, und zwar in Walddorf bei Tübingen. Dort predigte er - anders als seine vom Pietismus oder gar vom Rationalismus durchdrungenen Amtsbrüder. Seine Theologie war die der Liebe, der Liebestat. Er predigte swedenborgisch, ohne die Autorität seiner Quelle namentlich zu nennen, was ihn seine Stellung gekostet hätte. Werner hatte Zulauf und nutzte seine Predigtgabe, nicht nur in seiner eigenen Ortsgemeinde, sondern auch als Reiseprediger draußen im württembergischen Land. Argwohn kam auf und Anfeindung dazu. Die Personalakten des Landeskirchlichen Archivs Stuttgart57 zeigen uns einige Quellen, Zirkulationskorrespondenzen u.a., in denen vor der sektiererischen Predigt Werners gewarnt wird. Werners Wirken nach außen war um so mehr suspekt, als man absichtlich oder unabsichtlich das verkennen wollte, was sichtbares Hauptanliegen seines Wirkens werden sollte, der Betrieb nämlich von Rettungsanstalten zur Fürsorge von Armen, Waisen und Behinderten. Doch der äußere Schein trügt. Werners Anstalt mit den Filialen im Lande waren etwas anderes als die aus der Praxis Pietatis herrührenden Bewahranstalten58 . Er war kein geistiges Kind von August Hermann Francke und nur interessierter Korrespondent mit Hinrich Wichern. Er verfolgte mit seinen Anstalten unter dem Ziel, die Neue Kirche zu verwirklichen, zweierlei: 1. Er wollte sich die Industrieproduktion und den Kapitalismus unter ethischen Grundsätzen zueigen machen, indem er meinte, die zunächst mit beträchtlichen Krediten erworbenen Fabriken würden soviel Gewinn abwerfen, daß sich eine 59 Hausgenossenschaft tragen, ernähren, kleiden und versorgen konnte. Dies sollte eine Lösung der sozialen Frage mit sich bringen. Dazu war es 2.notwendig, dieser Genossenschaft eine Verfassung zu geben, die ordensähnlich bestimmte, daß Mitglieder der Genossenschaft unentgeltlich arbeiteten, aber von der Kommunität in allem Notwendigen versorgt würden. Eingebrachtes Privatvermögen wurde zwar nicht verzinst, jedoch beim Ausscheiden zurückbezahlt. Dieses funktionierte eine Zeitlang gut. Die Wernerschen Anstalten, besonders das Mutterhaus in Reutlingen boten unverheirateten Frauen Gelegenheit zu sozialer Tätigkeit und zu religiöser Verinnerlichung. Werner war 1851 auf Betreiben der pietistischen Funktionsträger in der Kirchenleitung wegen seiner swedenborgischen Predigt und wegen der unnachgiebigen Weigerung, sich auf die reformatorischen Bekenntnisse verpflichten zu lassen, aus der Liste der Pfarramtskandidaten gestrichen worden. So hatte er sich und seine Anstalten selbst zu unterhalten. Doch der Mangel an Spezialisten in seiner Papierfabrik in Reutlingen, die bereit gewesen wären, den Status eines Hausgenossen anzunehmen, insbesondere dann, wenn schon eine Familie da war, ließ den notwendigen finanziellen Umschwung zum Gewinn hin nicht aufkommen Die Zweiganstalten, die Werner draußen in den landwirtschaftlichen Notstandsgebieten des Schwarzwaldes oder des Schwäbischen Waldes vornehmlich erworben hatte, mußten teilweise veräußert oder in eine gewisse Autonomie entlassen werden. In den Krisenzeiten der sechziger Jahre war Hilfe von außen notwendig. Hilfs- und Aktienvereine wurden gegründet. Bei allem Außenseitertum hatte Werner doch Rückhalt in der Bevölkerung, auch beim Staat, d. h. bei König Wilhelm 1. selbst, der aus liberaler Gesinnung und Staatsräson separatistische Bewegungen im Lande durch Förderung kanalisierte, wie z. B. die Gründungen der Brüdergemeinden von Korntal und Wilhelmsdorf oder der Erwerb des Bades Boll durch Johann Christoph Blumhardt zeigen. Trotz aller finanziellen Nöte funktionierte zu Lebzeiten Werners die Hausgenossenschaft einigermaßen, in der Betreuer(innen), Lehrer(innen) und qualifizierte Arbeiter zusammen mit Verwahrlosten, körperlich und geistig Behinderten und den vielen Waisenkindern eine große Familie mit dem Oberhaupt Vater Werner bildeten. Von Oberlin hatte Werner die Idee übernommen, die schulische Erziehung Frauen zu überlassen. Werner war zeitlebens von engagierten Frauen umgeben, deren pädagogische und 57 Landeskirchliches Archiv Stuttgart: A 26, 480, 2 - A 27, 3535, I-III-C4, IV, 12,1. Vgl. dazu auch Bartel: Werner, S. 169-176. 59 Ausführlich dazu. Paul Krauß: Gustav Werner und seine Hausgenossen. Geschichte einer christlichen Genossenschaft des 19. Jahrhunderts. Metzingen 1977. 58 16 sozialpädagogische Überlegenheit vor den Männern erst erkannt sein wollte. Werner gehörte mit Oberlin zu den Vorreitern dieser Sache. Dies ist denn auch eine indirekte Wirkung von Swedenborgs Liebesethik! Geheiratet hat Werner eine dieser Frauen, Albertine Zwißler, mit der er aber vermutlich nie geschlechtlich verkehrt hat. Er wollte nur den bürgerlich geforderten Schein wahren. Werner war aller Voraussicht nach homoerotisch veranlagt60 . Dies beweisen uns Äußerungen gegenüber seinem Freund, dem Maler Robert Heck (1831-1889)61 , von dem die zumindest in Württemberg bekannten Werner-Porträts stammen. Swedenborg hatte einen starken Geschlechtstrieb, wie sein Traumtagebuch Drömmar62 beweist. Was Swedenborg nach seiner religiösen Wende über Mann und Frau, Männlich und Weiblich, über die Monogamie und die Fortsetzung der geschlechtlichen Ehe in der geistigen Welt dargelegt hat, gehört zum Besten, was er anthropologisch und ethisch geleistet hat. Die heutigen Swedenborgianer, besonders die Mitglieder der Neuen Kirche, zeichnen sich in der Regel durch ein intaktes Familienleben und intensive Verwandtschaftspflege aus An Werner scheint das alles vorbeigegangen zu sein. Er, der Asket, gab nichts auf die traditionelle Familie, sondern machte seine Gemeinde dazu. 1863 gründete er die Neue Brüdergemeinde. Interessant ist das Gründungsdatum: der 30. August; einen Tag nach Johann Immanuel Tafels Tod datiert die Satzung: Zufall, Fügung oder Absicht? Letzteres möchten wir hypothetisch annehmen. Werner verstand sich als das Haupt einer ihm eigenen Verkörperung der Neuen Kirche, die er bei Tafels Religionsgemeinschaft, die ihr bürgerliches Leben wie die übrigen Protestanten führte, nicht erblicken konnte. Bemerkenswert ist aus der Satzung von 1863 nicht sosehr der geschäftliche Teil, in dem es wieder einmal um die Rettung der Anstalten durch Zuwendungen von außen geht, diesmal durch die Möglichkeit, in Werners Gemeinde Mitglied zu sein, ohne sich dem Reglement der Hausgenossenschaft zu beugen (die Idee eines Tertiaren-Ordens!). Es ist zunächst theologisch bedeutsam - man erinnere sich an die Erklärung der Neuen Kirche von 1857, daß der erste Satz der Präambel unvermittelt auf den dreieinen Herrn in einer Person abhebt. Swedenborgs theologisches Programm steht vornean. Die Neue Brüder-Gemeinde anerkennt die Liebe zu Gott, dem Einen, der sich in Christo geoffenbart hat, und zu dem Nächsten als das erste Gebot, in welchem alle übrigen enthalten sind. Jeder strebt dasselbe in seinem Kreise, die Gemeinde in dem ihrigen in Ausübung zu bringen. - Aufgabe der Gemeinde ist die Bethätigung dieses Grundsatzes in größtmöglicher Ausdehnung, namentlich die Verbreitung des reinen Bibelworts; Die Gründung von Anstalten zur Erziehung und Bildung der Jugend; die Versorgung von Arbeits-Unfähigen; die Beförderung allgemein nützlicher Zwecke; - ausnahmsweise die Führung von 63 Geschäften . Werner hatte auf den eigentlichen Gründungszweck in seiner Vorrede hingewiesen: Viele wohlwollende Freunde haben den Entwicklungsgang derselben (meiner Bestrebungen und Unternehmungen) in den letzten Jahren mit Besorgniß betrachtet, weil er mehr auf den Aufbau eines Bruderhauses, dem sich Manche nicht anschließen konnten, als auf die Herstellung einer Brüder-Gemeinde zu zielen schien.64 60 Vgl. Joachim Trautwein: Gustav Werner. Theologische, sozialpolitische und psychologische Aspekte. In: Blätter für württ. Kirchengeschichte 80/81 (1980/81) , bes. S. 29Sf. 61 Nekrolog in: Schwäbische Kronik (1889) vom 14.12., S. 2459. - Paul Krauß: Der Maler Robert Heck und seine Beziehungen zu Gustav Werner und dem Bruderhaus. In: Das Bruderhaus, Reutlingen 1961, März. - Ferner: Ute Esbach: Robert Heck. Gedächtnisausstellung zum 100. Todestag. 12. November - 3. Dezember 1989. Gerlingen: Stadt und Verein der Heimatpflege, 1989. 62 Svedenborgs drömmar 1744. Hrsg. von Gustav Edvard Klemming. Stockholm 1859. Deutsch: Das Traumtagebuch. Zürich 1978. - Der Mittnacht-Nachlaß birgt einen frühen (fragmentarischen) Übersetzungsversuch (Württ. Landesbibliothek: Cod.hist.fol.944, IIa) von Julie Conring. Sie war Mitarbeiterin von J. F. Immanuel Tafel in dessen letztem Lebensjahr 1863 gewesen und ging dann J. G. Mittnacht in der Verwaltung der Neuen Kirche in Stuttgart zur Hand (vgl. Zwink: Werner, S. 36f). 63 Verfassungsbestimmungen für die neue Brüder-Gemeinde. Reutlingen 1863, Bl. 1 (Württ. Landesbibliothek: Kleine württ. Drucksachen). 64 Ebendort, Die neue Brüder-Gemeinde und ihre Verfassung, B1. 1. 17 Und bei anderer Gelegenheit heißt es: Wir suchten eine unserm wahren Zweck und Wesen entsprechende Form und konnten sie lange nicht herausfinden.... Es ist...seit mehreren Jahren eine etwas einseitige Richtung, die nur das Emporkommen des Hauses und seiner Zweiganstalten im Auge hatte, von uns eingeschlagen worden, die Pflege der eigentlichen Gemeinde und ihr Aufbau wurde versäumt65 . Für den Unvoreingenommenen ist die Tendenz klar: Seine Anstalten und seine Hausgenossenschaft waren für Werner das Sichtbarwerden der Neuen Kirche, die sich unabhängig von allen Konfessionen auf das Reich Gottes hin entwickeln sollte unter Einbeziehung all der säkularen Fortschritte wie Industrie und Technik, die - anfänglich auf alle Fälle - für Werner Zeichen nicht nur des äußeren, sondern auch eines eschatologischen Fortschritts waren. Werner stand außerhalb der Landeskirche. Ohne die Kirche jedoch nebst deren diakonischer Organisation und Finanzierung konnten Werner und sein Werk die Zeiten nicht überdauern, genug damit, daß schon zu seinen Lebzeiten die Verfassung der Hausgenossenschaft geändert werden mußte in den Status einer Stiftung, die sich heute dem Diakonischen Werk zugehörig weiß. Fazit für die biographisch-theologische Aufarbeitung: Werner sei stets ein Kind der Kirche, sogar der reformatorischen Theologie gewesen. So konnte man ihn und sein Werk in die Arme der Landeskirche zurückholen, bis die Biographie der letzten Jahre anders darüber entschied. Einmal ist die Dissertation von Karlheinz Bartel66 zu nennen, der den Einfluß Swedenborgs auf Werner aus den meist gedruckten Quellen ableitet, die schon seit hundert Jahren durch die Biographie von Paul Wurster und die Primärquellen wie Predigten oder die Sendbriefe aus dem Mutterhause (und ähnliche Titel)67 zugänglich sind. Dem Verfasser ist es gelungen, aus dem Nachlaß von Johann Gottlieb Mittnacht einen Briefwechsel zwischen Mittnacht und Werner publik68 zu machen, der zum einen die These untermauert, daß Werner zeitlebens einem eigenen, quasi KryptoSwedenborgianismus huldigte, zum anderen zeigt, wie sich Werner durch einen Angriff seitens der orthodoxen Richtung der Neuen Kirche in seiner Eigenständigkeit gegenüber allem Dogmatismus behauptete, gleichzeitig aber offenlegt, daß Werner stets in Kontakt mit den Anhängern der Neuen Kirche, d. h. mit Freunden um Immanuel Tafel stand. Mehr noch: über den Briefwechsel gelangen wir zu einer Beschäftigung mit den Quellen der Neuen Kirche der siebziger Jahre in Deutschland. 65 Gustav Werner: Sendbrief an die Neue Brüder-Gemeinde, Nr. 1, Mitte September 1863, S. 1. Vgl. Anm. 42. 67 Zu Werners Periodicum vgl. Zwink: Werner, S. 18. 68 Vollständig abgedruckt und kommentiert in: Zwink: Werner, S. 43-112. 66 18 Johann Gottlieb Mittnacht und die neukirchliche Lehre Es wurde die These vertreten, daß Werner nach Tafels Tod sich nun in seiner Art zum Oberhaupt einer neukirchlichen Gemeinde machte, zumal es für Tafel keinen Nachfolger in Deutschland gegeben hätte. Doch von Nordamerika, von Philadelphia aus, beobachtete man auch die Entwicklung der Neuen Kirche in der alten Heimat und hatte allen Anlaß zur Sorge. Hier meinte nun die dritte Hauptperson der Neuen Kirche in Deutschland, helfend 69 eingreifen zu müssen: Johann Gottlieb Mittnacht . Er wurde 1831 in Flacht geboren, wo zwanzig Jahre vorher Immanuel Tafels Vater, Johann Friedrich Tafel, Pfarrer gewesen war. In einigen der Gäugemeinden, so auch in Rutesheim (nordwestlich von Stuttgart) hatte Swedenborg einige Anhänger. Immanuel Tafel war in Merklingen zum Bekenner der Neuen Kirche geworden. Der streitbare und selbstbewußte Johann Gottlieb Mittnacht wurde schon früh zu Swedenborg bekehrt und focht seinen Streit mit dem Flachter Ortspfarrer aus, bis er sich entschloß, nach Amerika auszuwandern, wo er in Philadelphia eine Baumwollspinnerei erwarb und es bald zu ansehnlichem Reichtum brachte. Mit seinem Geld wirkte er energisch für die deutschsprachige neukirchliche Gemeinde. In seinem Haus hielt er Andachten ab, predigte, las aus Swedenborg und befreundete sich mit den Angehörigen der Tafel-Familie, so besonders mit dem gleichaltrigen Rudolph Leonhard Tafel. Was den Deutschamerikaner schließlich veranlaßte, mit 39 Jahren (schon), im Jahr 1870 nach Deutschland zurückzukehren, ist nur zu vermuten. Fr selbst schreibt, er habe nach einem würdigen und fähigen Nachfolger für Immanuel Tafel gesucht, nachdem sich nach dessen Tod die neukirchliche Gemeinde aufgeläst habe. Schuld mag aber auch der inzwischen in Philadelphia ausgebrochene Streit gewesen sein, in dem es einer strengeren neukirchlichen Gruppe um die Etablierung eines Bischofsamtes und die Neukirchliche Wiedertaufe ging. Mittnacht nahm in dieser Frage eine liberale Haltung ein: Vielleicht war doch noch ein Rest von lutherischer Erziehung in ihm, so sehr er sich später Gustav Werner gegenüber unnachgiebig und neukirchlich-orthodox gab. Mit Rudolph Leonhard Tafel70 , dem Sohn des Sprachgenies und Pfarrers der Neuen Kirche in New York, Johann Friedrich Leonhard Tafel (1800-l880) zusammen gründete Mittnacht 1872 die Wochenschrift für die Neue Kirche, die als Ersatzpublikation den in Philadelphia erscheinenden deutschsprachigen Boten für die Neue Kirche ablöste, so daß auch in Deutschland ein eigenes neukirchliches Organ erschien. In Stuttgart betrieb Mittnacht eine Neukirchliche Buchhandlung. Er hatte die Geschäfte des bereits genannten Theodor Müllensiefen aus Rheinfelden übernommen und besaß damit das neukirchliche Informationsmonopol für den deutschsprachigen Raum. Konsequenterweise machte sich der theologische Laie, der es zu imponierenden Swedenborg-Kenntnissen gebracht hatte, an die Revision der Tafelschen Übersetzungen und verlegte die Neuauflagen selbst. Die Neue Kirche in Deutschland begann wieder zu florieren. Zum Streit mit dem Jugendfreund Rudolph Leonhard Tafel kam es, als dieser sich nicht nur für die Wiedertaufe aussprach und die Taufe der Alten Kirche für nichtig erklärte, sondern auch durch Deutschland, Österreich und die Schweiz zog und dort wirklich Mitglieder der Neuen Kirche ein zweites Mal taufte.71 Die gemeinsame Herausgeberschaft der Wochenschrift erlosch. Mittnacht begründete eine neue Zeitschrift, die Neukirchenblätter (1875-1883). 69 Mittnachts Biographie in: Monatblätter für die Neue Kirche 9 (1892), S. 151-155 (Nekrolog). Ferner der Brief an Johann Jakob Wurster, in: Zwink: Werner, S. 32-34. 70 Zu Rudolph Leonhard Tafel, vgl. Zwink: Werner, S. 37 u.ö. 71 Über den Taufstreit liegt im Nachlaß Mittnacht ein ausführlicher bis jetzt noch nicht erschlossener Briefwechsel vor (Württ. Landesbibliothek: Cod. hist. fol. 944, Ic (18 Stück). 19 Gleichzeitig betrieb Mittnacht eine äußere Organisationsform für die Neue Kirche. Noch mit Rudolph Leonhard Tafel zusammen hatte er die Statuten für eine Deutsche Neukirchliche Gesellschaft entworfen (1874), die 1875 in Stuttgart rechtskräftig wurden. Müllensiefen, das große Mäzen, wurde ihr erster Präsident; das geistige Oberhaupt aber blieb Mittnacht. Er hatte sich sofort nach seiner Rückkehr, wie unsere Quellen zeigen, mit Werner in Verbindung gesetzt, Reutlingen und das Mutterhaus besucht und dann von Stuttgart aus korrespondiert. Vermutlich war Müllensiefen der Vermittler. Mittnacht hatte - der reiche Onkel aus Amerika - zu Weihnachten 1870 den Anstaltskindern eine kleine Spieluhr und einen belehrenden Brief geschickt, der uns zwar nicht erhalten ist, aber von Werner in seiner Antwort kommentiert wird. Die Kinder hätten 72 die Wahrheiten, die darin ausgesprochen wurden, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Das zeigt zweierlei: Mittnacht hat seinen Schriftwechsel mit Werner peinlich dokumentiert. Erst vom Antwortbrief Werners an begann ihn die Sache zu fesseln. Zum andern scheint die Theologie Swedenborgs in Werners Anstalten gelehrt worden zu sein, wie anders hätte sie sonst einen zentralen Platz am Heiligen Abend erhalten? Aus dem nunmehr veröffentlichten Briefwechsel seien einige markante Stellen zitiert, welche die Positionen von Werner und Mittnacht erklären: Werner antwortete über Müllensiefen an Mittnacht mit folgendem Grundsatz: So wie die neue Kirche bis jetzt in England und Nordamerika sich entwickelt hat, ist sie eine Bekenntniß- und keine Lebens-Kirche: nicht das, was sie nach Jesajas 60 und Offenbarung 21.22 sein soll: Ob sich aus der Schale dieser Kern einmal entwikkeln wird, müssen wir erwarten: mir ist nur so viel gewiß, daß dieser Entwicklungsgang für Deutschland nicht paßt, bei der Grundlegung für den Bau der neuen Kirche, an welcher wir jetzt noch stehen, kommt gewiß alles darauf an, daß wir den Fels gewinnen, auf welchem dieser Bau allein für die Dauer und in seiner ganzen Vollendung ausgeführt werden kann: dieser Fels sind die Klugen, die Seine Worte hären und auch thun. ... Ich kann immer noch nicht über den Zweifel hinwegkommen, ob denn wir Menschen ohne eine göttliche Autorisation berechtigt sind, eine neue Kirche zu gründen; eine solche Autorisation sehe ich bei der Gründung der ersten Kirche in der Ausgießung des Heiligen Geistes, eine ähnliche, wenn auch in der Form verschiedene, doch den Bedürfnissen unserer Zeit entsprechende Mittheilung des heil. Geistes, die sich unzweifelhaft als eine von Gott ausgesandte und die die Bildung der neuen Kirche anstrebende ankündigt, erwarte ich nach Haggai 2,6.7, wenn der Bau des Tempels beginnen soll. Es ist doch wohl zu beachten, daß Swedenborg nicht das Mindeste für die Bildung einer Gemeinde getan hat und äußerlich das Band mit der Kirche festhielt und noch vor seinem Verscheiden des Heil. Abendmahl von einem Geistlichen derselben empfing... Es sagt uns Swedenborg in der Christenreligion: no 784, daß das Neue nicht eintreten könne, wo die Falsche Frucht eingepflanzt sei, wofern dieses nicht ausgerottet werde, was zuerst bei der Geistlichkeit und sofort bei den Laien geschehen müsse. Dies scheint mir anzudeuten, daß er die Herstellung der neuen Kirche durch die Geistlichen ohne äußere Trennung und Neubildung erwartet; jedenfalls wäre dies der natürliche Weg: die Schriften der neuen Kirche sind für den gemeinen Mann nicht leicht faßlich, auch nicht anziehend wegen ihrer abstrakten Schreibart: es gehört eine höhere Bildung dazu, um 73 ihren tiefen Inhalt zu fassen und zu würdigen. Mittnachts Antwortbrief, in 16 großformatigen Seiten als Abschrift erhalten, enthält ein Trommelfeuer von Gegenargumenten für die Separierung in eine eigene Religionsgemeinschaft, die Neue Kirche, die sich radikal von den traditionellen Konfessionen fernzuhalten habe und die durch Swedenborgs exklusive Offenbarungen zweifelsfrei legitimiert sei: 72 73 Zwink: Werner; Brief Nr. 1, S. 45. Ebenda; Brief Nr. 2, S. 46f. 20 Die vielen Jahre, während welchen Sie sich schon mit derselben (der Lehre) befaßt haben, müßte Ihnen jedoch eine gewiße Ueberzeugung beigebracht haben, daß diese Lehre wahr ist, sonst hätten Sie dieselbe gewiß längst schon auf die Seite gelegt und 74 würden sie nicht Manchem Ihrer Freunde unter der Hand empfohlen haben... Jeder andre Weg, als der nächste Weg der Wahrheit, um die Menschen zu Gott zurück zu bringen, ist ein unnatürlicher und wird nicht zum Ziele führen. Und so auch jeder Weg, die Neue Kirche zu gründen, ohne die Wahrheiten und die Lehre dieser Kirche bekannt zu machen, ist ein verfehlter; und Sie entschuldigen mich, wenn ich hinzufüge: ich glaube daß (Sie) die Neue Kirche und ihre Lehre verkennen; diese Kirche aber auf anderem Wege gründen zu wollen als durch das Lehren, Predigen und Verbreiten ihrer Lehren verkehrt ist, ja nach Umständen kann es ein Unrecht genannt werden.75 Jeder Freund der Neuen Kirche ist unter Repräsentanten der alten Kirche ein Gefangener und fühlt sehr wohl den Druck und Mangel an Freiheit. Ein fortgesetztes Zusammenleben mit ihnen stumpft ab, wirkt erstickend und es ist Gefahr, für das geistige Leben. Die Erfahrung lehrt mich, daß man noch eher mit den Heiden zusammen leben kann, als mit 76 den Christen der alten Kirche. Was Mittnacht in der Praxis bezweckte, war aber, Werner zum geistigen Nachfolger von Johann Friedrich Immanuel Tafel zu machen. Daß er von Werner Widerspruch ernten würde, konnte er sich sicher schon vor seinen Umwerbungen ausmalen. Wollte er also letztlich das Terrain für sich selbst ebnen? Mittnacht endete seinen Brief: Lassen Sie Ihre Anstalt und Alles hinter sich Sie haben Sie gegründet und Sie haben daran wohl gethan; aber Sie haben jetzt Leute um sich, welche dieselbe fortführen, und so, diesen Nutzen erfüllen können Widmen Sie sich einem höheren, ja dem höchsten Nutzzweck, und werden Sie Prediger der Neuen Kirche ... Empfangen Sie die Weihe der Ordination zum Diener der Neuen Kirche des Herrn und gehen Sie und predigen Sie das neue Evangelium und vertheilen Sie die verordneten Sakramente im Geiste des Neuen Jerusalem...77 Daß es anders kam, ist aus Werners Haltung her zu verstehen. Mit Mittnacht hatte er nur seine geistigen Wurzeln gemein, die aber verschiedene Blüten trieben. Mittnacht hätte nun sein Werben um Werner aufgeben und sich seinen Neukirchenfreunden zuwenden können, wenn nicht ein peinlicher Zwischenfall ein letztes Licht auf den Konflikt geworfen hätte. Eine der bedeutendsten Personen der neuen Erweckungs- und Heiligungsbewegung in Amerika, Pearsall Smith, besuchte Deutschland und die deutschsprachige Schweiz während des Frühjahrs 1875. Werner selbst pilgerte nach Basel, um ihn predigen zu 78 hören . Anscheinend hatte Werner in einem öffentlich gemachten Text sich enthusiastisch zu Smith und seiner Heiligungstheologie bekannt. Erweckung und Rechtfertigung durch Glauben, sind für Swedenborgs Theologie fremd. Auch Werner hat so nie gedacht. Darüber äußerte sich Mittnacht in aufgebrachter und beleidigender Weise, was ihn einen Teil der Abonnenten seiner Neukirchenblätter aus der Werner-Gemeinde kostete. Doch was hatte Werner selbst an Pearsall Smith Annehmbares gefunden? In einer Gegendarstellung, die Mittnacht dem Reutlinger in den Neukirchenblättern eingeräumt hatte, schreibt Werner: Er [Smith] dringt vor Allem auf Heiligung durch den Glauben, auf ein thätiges lebendiges Christenthum, und rügt es sehr ernst, daß so viele Gläubige bei der Sündenvergebung stehen bleiben und nicht bis zur Heiligkeit der Gesinnung und des Wandels durchdringen; ihn treffen diese Vorwürfe nicht, die gewöhnlich den religiösen Richtungen in unserer Zeit 74 Ebenda; Brief Nr. 3, S. 50. Ebenda, S. 51. 76 Ebenda, S. 56. 77 Ebenda, S. 61f. 78 Ebenda, S. 88-99. 75 21 gemacht werden. In diesem Hauptpunkt des Christenthums finde ich mich völlig Eins mit ihm... ,79 Werners Einstellung zu Swedenborg wird dadurch, daß er sich dem Weg der Heiligungstheologie verschrieb, noch unklarer. Er versuchte natürlich, den Primat der Liebe zu retten. Ist aber der Streit nicht Ausweis dafür, daß auch Werner im Alter von der Enttäuschung nicht frei war, daß die Entwicklung, der Fortschritt der Neuen Kirche bzw. der Johanneischen Kirche nicht so zunahm, wie er anfangs geglaubt hatte? Dagegen bewahrt das Archiv der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus ein Briefkonvolut Werners an Paul Wurster, seinen Zögling und ersten Biographen, wo es 1883 u.a. heißt: Du weisst, daß ich... der Lehre Swedenborgs zugethan bin und die Grundlehren desselben lehre und ins Leben einzuführen versuche... aber bekennen muß ich dir, daß ich mich - gerade in meiner vieljährigen Wirksamkeit auf dem geistigen Gebiet - von der Wahrheit dieser Lehre mich immer mehr überzeuge und mit innerer Befriedigung wahrnehme, wie die Grundwahrheiten derselben auch von seiten denkender, ernster Christen immer mehr anerkannt und gelehrt werden...80 Seit Mittnachts Rückkehr aus Amerika ist zu konstatieren, daß er ein verhältnismäßig unruhiges Leben führte. Änderungen der Zeitschriftentitel, der immer großer werdende Abstand im Erscheinen der Zeitschriftenhefte, das Ausscheiden von Rudolph Leonhard Tafel aus der Redaktion der Wochenschrift für die Neue Kirche, der mehrfache Wohnsitzwechsel (zuerst in Stuttgart, 1877 im Haus Zum Frieden in Zürich, 1879 in Frankfurt am Main) und der völlige Rückzug aus den Aktivitäten der Deutschen Neukirchlichen Gesellschaft im Jahr 1883, das alles läßt den Rückschluß zu, daß die Neue Kirche in Deutschland und der Schweiz nicht so gedieh, wie Mittnacht es sich vorstellte und wie es sein Glauben an das bereits in der geistigen Welt verwirklichte Neue Jerusalem es forderte. Mittnacht begab sich 1883 auf Weltreise, wohl mit dem Hintergrund, außerhalb Europas für die Verbreitung der Lehren der Neuen Kirche einzutreten. 1886 kehrte er nach Deutschland zurück und nahm seinen Wohnsitz in Biebrich am Rhein (heute Ortsteil von Wiesbaden), wo ihn seine Nichte Magdalene Mittnacht betreute und seine Buchhandels81 und Verlagsgeschäfte führte. 79 Neukirchenblätter 1 (1875), Nr. 20, S. 320. Briefe, gerichtet an den späteren Professor Paul Wurster, erhalten durch dessen Töchter, die Schwestern Wurster. (masch.. Abschrift), Brief 1 vom 11.3.1883. 81 Aus dem Erbe von Magdalene Mittnacht ihrerseits stammt der Nachlaß von Johann Gottlieb Mittnacht in der Württ. Landesbibliothek. 80 22 23