Die Neue Kirche im deutschsprachigen Südwesten des 19

Werbung
Die Neue Kirche im deutschsprachigen Südwesten des 19. Jahrhunderts
Johann Friedrich Immanuel Tafel - Friede
Gustav Werner - Liebe
Johann Gottlieb Mittnacht - Lehre
Erweiterte Fassung eines Vortrags bei dem Schwedisch-deutschen Arbeitsgespräch "Emanuel Swedenborg" in
der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Mai 1988 von Eberhard Zwink.
Im Druck erschienen: Stuttgart : Tempelgesellschaft ; Bund für Freies Christentum, 1993
(Forum Freies Christentum ; Heft 26)
Swedenborg in Deutschland
Die theologische und ekklesiologische Swedenborg-Rezeption hat in Deutschland nicht zu den
sichtbaren Erfolgen geführt wie in England oder Nordamerika. Man wird darauf nur eine
hypothetische Antwort finden können.
1
Daß Kant mit seiner Kritik manches in der Entwicklung verhindert hat, ist unbestritten. Nur waren
die potentiellen Rezipienten keine Kantianer; und Breitenwirkung, Popularisierung einer neuen
religiösen Idee ist nicht Sache des Philosophen, sondern des Missionars oder gar des
Charismatikers. Fehlten nun in Deutschland entsprechende Persönlichkeiten, die von Swedenborgs
Lehre von der Neuen Kirche hätten durchdrungen sein können oder gab es strukturelle
Hemmnisse? Wenn man die Swedenborgfreundlichen Theologen in Deutschland, in der Schweiz
und im Elsaß auf ihr Verhältnis zu Swedenborg befragt, kommt heraus, daß kaum einer von ihnen
ein vollkommener Swedenborgianer war, wie es sie in England und Nordamerika zahlreich gegeben
hatte und heute noch gibt. Vorbehalte blieben gegenüber dem Gesamten, wie es Swedenborg
besonders im Alter systematisch entwickelt hatte. Friedrich Christoph Oetinger2 und sein Vikar
Philipp Matthäus Hahn3 auch der Elsässer
Johann Friedrich Oberlin 4 distanzierten sich von Swedenborgs spiritueller Bibelauslegung, waren
sie doch Kinder des deutschen lutherischen Pietismus, der einen strengen realen Biblizismus
hervorgebracht hatte.
1
Immanuel Kant war in seiner Abhandlung Träume eines Geistersehers (Königsberg 1766) mit Swedenborgs
Arcana coelestia scharf ins Gericht gegangen, ohne dabei aber die übersinnliche Erkenntnis negiert zu haben.
Neuerdings haben sich einige Forscher dem Thema Kant/Swedenborg wieder gewidmet, so vor allem: Ernst
Benz: Swedenborg in Deutschland, F. C. Oetingers und Immanuel] Kants Auseinandersetzung mit...
Swedenborg. Frankfurt/M. 1947. - Ferner: Roland Begenat: Swedenborg und Kant. In: Emanuel Swedenborg
1688-1772, Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Begleitbuch zu einer Ausstellung und Vortragsreihe der
Württ. Landesbibliothek Stuttgart, hrsg. von Horst Bergmann und Eberhard Zwink. Stuttgart 1988. (Swedenborg
in der Württ. Landesbibliothek, Bd. 1), S. 74-76. - Gottlieb Florschütz: Emanuel Swedenborgs mystisches
Menschenbild und die Doppelnatur des Menschen bei Immanuel Kant. In: Offene Tore. Zürich 1991, 5, S. 188199. - Ders.: Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der
Sicht von Kant und Schopenhauer. Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992. (Epistemata Reihe
Philosophie ; Bd. 106) - Kiel, Diss.
2
Zu Oetinger u.a.: Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland (s. Anm. 1) - Eberhard Gutekunst: Spötter, die
mich um ihrer willen für einen Fanatiker ausrufen. Swedenborg und Oetinger. In: Emanuel Swedenborg 16881772. Stuttgart 1988, S. 77-81.
3
Zu Hahn u.a.: Walter Stäbler: Hahn und Swedenborg. In: Emanuel Swedenborg 1688-1772. Stuttgart 1988,
S. 82-88. - Ders.: Wenn man uns recht bey Licht ansiehet, sind wir alle heterodox. Ph. M. Hahn und seine
Abkehr von der reinen Lehre. In: Philipp Matthäus Hahn 1739-1790. Ausstellung des Württ. Landesmuseums
Stuttgart und der Städte Ostfildern, Albstadt, Kornwestheim, Leinfelden-Echterdingen. Teil 2. Aufsätze.
Stuttgart 1989. (Quellen und Schriften zu Philipp Matthäus Hahn, Bd. 7), S. 247-257. - Ders.: Hahns Verhältnis
zu Swedenborg. In: ebenda, S. 341-356. - Ders.: Pietistische Theologie im Verhör : das System Ph. M. Hahns
und seine Beanstandung durch das württ. Konsistorium. - Stuttgart : Calwer Verlag, 1992. (Quellen und
Forschungen zur württ. Kirchengeschichte ; 11) - Münster, Diss.
4
Zu Oberlin u.a.: Alfons Rosenberg: J. F. Oberlin. Die Bleibstätten der Toten. Bietigheim (1974). - Horand K.
Gutfeldt: J. F. Oberlin. Eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Gedankenwelt, seiner Pädagogik und
seines Einflusses auf die Welt. Mit einer kurzen Biographie. Urbana/Ohio (1973). - Weitere Literatur bei:
Oberlin, Johann Friedrich (E. Zwink) in: Theologische Realenzyklopädie. Berlin. - Bd. 24 (1994). - S. 720-723.
Hingegen machen uns die über Gustav Werner5 vorhandenen Quellen glauben, daß er nach
somnambuler Zeugenschaft ein distanziertes, besser unausgesprochenes Verhältnis zu
Swedenborgs Geisterverkehr entwickelt hatte.
Die profilierten Swedenborgianer, die professionelle Theologen oder als Laien theologisch gebildet
waren, hatten, da sie der lutherisch-pietistischen Kirche entstammten, offen oder verdeckt mit der
orthodoxen Dogmatik zu brechen, was zum Ausschluß vom Pfarramt bzw. der
,,Predigtamtskandidatenliste" führte wie bei Johann Friedrich Immanuel Tafel oder Gustav Werner6 .
Der universalgelehrte Theosoph und Prälat Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) erlangte Amt
und Würden, weil Herzog Carl Eugen seine bergwerkstechnischen Kenntnisse ausnutzen wollte.
Gustav Werner (1809-1887) mußte auf Drängen der im Konsistorium sitzenden Pietisten nunmehr
konservativer Prägung das Pfarramt verlassen, weil seine Umtriebe eine gefährliche Breitenwirkung
zeigten und scheinbar die Kirche bedrohten. Andere Swedenborgianer wie etwa der Freund
Werners, Johann Jakob Wurster7 (1811-1675) wurde auf dem Dienstwege ermahnt, die rechte
Lehre zu verkünden.
Die swedenborgische Theologie war trotz der interessanten Einzelfälle nie eine ernste Gefahr für
die Staatskirchen, auch nicht in Württemberg, hatte man es doch meist mit einer partiellen
Swedenborg-Rezeption zu tun, überdies waren die meisten Exponenten der Neuen Kirche, außer
Joh. Fr. Immanuel Tafel keine studierten Theologen, wie Ludwig Wilhelm Hofaker8 , Theodor
Müllensiefen9 , Johann Gottlieb Mittnacht10 oder Fedor Görwitz.
Zwei Persönlichkeiten verdankt die Neue Kirche in Deutschland ihre Ausprägung und ihr
Fortbestehen: Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796-1863> und Johann Gottlieb Mittnacht (18311892) dessen handschriftlicher und Büchernachlaß in der Württembergischen Landesbibliothek
Stuttgart bewahrt wird, wodurch sich dort die unangefochten größte Sammlung an Swedenborg11
und neu-kirchlicher Literatur sowie an Quellen zur Neuen Kirche im 19. Jahrhundert befindet.
Man wird sich mit Recht fragen, wie Swedenborg in Deutschland zwischen Oetingers teilweise
gescheitertem Einführungsversuch und der planvollen Swedenborg-Übersetzung und -Edition durch
Tafel, die einherging mit der Gründung einer neukirchlichen Gemeinde, aufgenommen wurde.
Zwischen den Übersetzungen, die von Oetinger stammen bzw. von ihm veranlaßt wurden und sich
vornehmlich auf die Werke Swedenborgs nach seiner Vision von 1757 aus dem Jahr 1758
beziehen, und Tafels sowie Ludwig Hofakers Übertragungen erschienen im Jahr 1784 in deutscher
Sprache drei Ausgaben und dann 1769 in Leipzig eine Teilsammlung aus den theologischen
Werken mit dem Titel: Emanuel Swedenborgs theologische Werke oder dessen
Lehre von Gott, der Welt, dem Himmel, der Hölle, der Geisterwelt und dem zukünftigen Leben usw.
Es handelt sich beim Original um eine Übertragung ins Französische, die ihrerseits der französische
Poet Jean François Daillant de la Touche (1744-l828)12 aus einer englischen Vorlage hergestellt
hat. Der deutsche Übersetzer blieb anonym.
5
Zu Werner u.a.: Paul Wurster: Gustav Werners Leben und Wirken. Reutlingen 1888. - Karlheinz Bartel.:
Gustav Werner. Stuttgart 1990. - Eberhard Zwink: Gustav Werner und die Neue Kirche. Die
Auseinandersetzung mit dein Swedenborgianer Johann Gottlieb Mittnacht. Reutlingen: Gustav Werner Stiftung
zum Bruderhaus, 1989 (Swedenborg in der Württ. Landesbibliothek, Bd. 2) - im folgenden zitiert als: Zwink:
Werner.
6
Zu beiden s.u., Anm. 15 und 42.
7
Zu Johann Jakob Wurster, dem Vater von Paul Wurster, (s. Anm. 5) vgl. Zwink: Werner, S. 31ff.
8
s. u.
9
Zu Müllensiefen vgl. Zwink: Werner, S. 3Sf u. ö.
10
Zu Mittnacht u.a.: Eberhard Zwink: Gustav Werner und Johann Gottlieb Mittnacht. Eine Auseinandersetzung
um die von Emanuel Swedenborg gelehrte Neue Kirche. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 88
(1988), S. 402-427. - Ders.: Johann Gottlieb Mittnacht and Gustav Werner. Forms of open and hidden
Swedenborgianism in l9th century German Southwest. In: Swedenborg and his influence. Swedenborg
Symposium '88 Bryn Athyn, Pennsylvania 1988, S. 405-424. - Ders. Gustav Werner und die Neue Kirche (s.
Anm. 5)
11
Handschriften: Papiere zur Geschichte der Neuen Kirche der Swedenborgianer und ihrer Buchhandlung
(Nachlaß von Johann Gottlieb Mittnacht): Cod.hist.fol.944. Darin: Nr. Id: Briefe von, an und über Gustav Werner
und sein Rettungshaus in Reutlingen (11 Nummern). - Otto Leuze: Eine Sammlung von Swedenborg-Literatur
in der Württembergischen Landesbibliothek. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 37 (1933), S.
83-87. .
12
vgl. Archives biographiques françaises, Mikrofiche Nr. 273, S. 283-285. Dort werden die literarischen
Leistungen von Daillant de la Touche teilweise als schal und farblos bezeichnet.
2
Hingegen kennt man den Urheber der 1795 in zwei Teilen erschienenen deutschen Vera Christiana
Religio (des dogmatischen Haupt- und Alterswerkes Swedenborgs) mit dem Titel Die ganze
Theologie der Neuen Kirche, Basel, gedruckt bei Samuel Flick. Die große SwedenborgBibliographie von James Hyde13 nennt: Translated by Pastor C. A. Donat and published by an
14
association of readers of Swedenborg at Basle. Carl August Donat (geboren 1758) war Pfarrer in
wendisch Ossig/Oberlausitz.
Basel scheint ein wenn auch bescheidenes Zentrum swedenborgischer Aktivitäten gewesen zu
sein, erschienen doch dort um die Wende zum 19. Jahrhundert sowohl deutsche als auch
französische Swedenborg-Übersetzungen.
Von 1784 ist uns eine deutsche Übersetzung der Vera Christiana Religio überkommen, die nach
dem Titelblatt auch 1784 erstellt worden ist. Oetinger (gest. 1782) scheidet demnach als Übersetzer
aus. Er ist nur für die Übertragung der 1758 erschienenen Hauptschriften Swedenborgs
verantwortlich, als er in den sechziger Jahren Dekan in Herrenberg war. Die Vorrede des anonymen
deutschen Werkes läßt auf einen uneingeschränkten Bewunderer des Schweden schließen.
Allerdings gehört das Werk in den popularphilosophisch-aufklärerischen Bereich des Zeitalters der
Empfindsamkeit, heißt es doch am Ende der Vorrede: Wer dem Menschen die Gelegenheit gibt zu
lernen, der hat ein Verdienst... und weiter: Ich schließe hier meine Vorrede. Man halte sie, wofür
man will, so ist sie wahre Empfindung, und ruhet einmal Swedenborgs Geist auf mir, so will ich das
vielleicht deutlicher darlegen, was mir nur dunkel zu sagen erlaubt ist.
Sieht man von Donat ab, der in seiner Edition anonym blieb, tat sich um die Jahrhundertwende
keine Einzelpersönlichkeit hervor, die sich im neukirchlichen Sinne wirkungsvoll profiliert hätte. Sie
wäre gewiß kirchlicher Bedrängnis ausgesetzt gewesen. Der Swedenborgianismus blühte vereinzelt - im Verborgenen. Geblüht aber haben muß er, wie sollten wir sonst die Kontinuität und
Wirkung auf Johann Friedrich Immanuel Tafel erklären?
13
James Hyde: A bibliography of the works of Emanuel Swedenborg. London 1906. Mit Supplement: A list of
additions to the bibliography... Comp. by A. S. Wainscot. London 1967.
14
vgl. Deutsches Biographisches Archiv, Mikrofiche, Nr. 247, S. 309-312.
3
Johann Friedrich Immanuel Tafel und die neukirchliche Irenik
Walter Dress verweist in seiner Tafel-Biographie15 mit Recht auf die rationalistischsupranaturalistische Richtung der Tübinger Fakultät zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die
beherrscht war von Gottlob Christian Storr und seiner, der Ersten Tübinger Schule. Sie vertrat
einen aus Kants Vernunftkritik geborenen biblischen Rationalismus, die dem antitrinitarischen
Unitarismus und damit auch der swedenborgischen Dreieinigkeitslehre durchaus positiv
gegenüberstehen konnte. Der spätere Professor Johann Friedrich Flatt war dem Sozianismus
nicht abhold. Sein jüngerer Bruder Karl Christian Flatt lehrte eine ebenfalls von Kants Ethik
beeinflußte pelagianistische Versöhnungstheologie, die zur Sündenvergebung auch die sittliche
Besserung forderte. Swedenborg wäre hier in guter Gesellschaft gewesen. Sogar der
Oberkonsistorialrat Georg Friedrich Griesinger ließ sich von Tafel dessen Übersetzung Lehre des
Neuen Jerusalem schenken und bedankte sich brieflich dafür. Der Rationalismus, dem man
Swedenborgs Theologie eigentlich zuordnen muß, konnte also auch in Württemberg für kurze Zeit
zwischen Orthodoxie und Pietismus Platz greifen.
Wenn Oetinger und Swedenborg selbst an den Mauern der Orthodoxie scheiterten, so gerieten
Tafel und dreißig Jahre später Gustav Werner in die Fänge des immer mehr erstarkenden und sich
mit der Restauration verbündenden Pietismus. Trotzdem konnte der 1796 geborene und einem
pietistisch gefärbten Pfarrhaus entstammende Johann Friedrich Immanuel Tafel Swedenborgianer
16
werden , der als Schüler, als er sich schon ungewöhnlich umfassend bildete, zunächst
Swedenborg ablehnte, dann aber auf der Suche nach der absoluten Wahrheit auch den
zeitgenössischen Idealismus, vor allem Hegel, verwarf und in der durch Swedenborg entsiegelten
Schrift schließlich den Zugang zur Wahrheit fand. Wahrheit ist ja auch der Inbegriff der
swedenborgischen Lehre. Von Grund-Wahrheiten hört man bei den Epigonen, so etwa bei Gustav
Werner und bei Johann Gottlieb Mittnacht.
Von Tafel haben wir aus dem Jahr 1821 ein erstes Bekenntnis an einen Freund. Der damals
fünfundzwanzigjährige Theologe schreibt:
Du wirst nie zur klaren Erkenntnis der Wahrheit kommen, schwerlich die Hauptwahrheiten richtig
auffassen, noch das Erkannte sicher besitzen, wenn Du zu Deinem Zweck nicht auch die Mittel
wählst, wenn Du nicht das von ihm selbst geschenkte Mittel gebrauchst; und dieses Mittel ist nach
meiner festen, nicht auf bloßen Autoritätsglauben, nicht auf bloßen Gefühlen, sondern auf
lebendiger Erfahrung beruhenden Überzeugung kein anderes, als die Lehre der Neuen Kirche, des
Neuen Jerusalems; die von Jesus Christus selbst durch Swedenborg der Christenheit
geoffenbarten Lehren, welche an Erhabenheit und Heiligkeit alle bisher der Kirche bekannt
gemachten Wahrheiten übertreffen, sind das einzige Mittel, eine klare, zusammenhängende und in
sich selbst vollendete Erkenntniß und eine unverwüstliche Überzeugung von der göttlichen
Wahrheit hervorzubringen; sie sind das einzige Mittel, der Lauigkeit im Christentum und dem
überhandnehmenden Sittenverderbniß zu steuern, das einzige Mittel, jene Einheit des Glaubens,
jene warme brüderliche Liebe wieder herzustellen, welche in den ersten Zeiten des Christenthums
die Herzen verband und unwiderstehlich festhielt. Diese Lehren, wenn sie aufs Leben angewendet
werden, enthalten alles was nach den Weissagungen des A. und N.T. der christlichen Kirche nach
jenen, nun in der Vergangenheit liegenden, durch das Papstthum und die falsche Orthodoxie
entstandenen Stürmen, Herrliches und Göttliches zu Theil werden sollte. Warum willst du dieses
Mittel nicht prüfen? ...?17
Tafel verschrieb sich als Theologe und hochbegabter Philologe der Übersetzung des
monumentalen Oeuvre Swedenborgs und kündigte das Vorhaben über den Buchhandel
bereits 1821 an. Inzwischen wohnte er in Tübingen in der Neckarhalde, im Hause der Familie
Hofa(c)ker. Der Vater Hofacker war Juraprofessor und wohl Swedenborgianer
gewesen. Sein Sohn Ludwig Wilhelm (1780-1840) schrieb sich zeitlebens nur mit "k", also Hofaker,
15
Walter Dreß: Johann Friedrich Immanuel Tafel. Zürich 1979, S. 29-33.
Neben der Biographie von Dreß vgl. auch: Leben und Wirken von Johann Friedrich Immanuel Tafel. Hrsg.
von Christian Düberg. Wismar 1864. - Dass. hrsg. von Theodor Müllensiefen, 2., verb. Aufl. Basel 1768.- Die
Biographie von Dreß auch zusammengefaßt von Horst Bergmann: J. F. Immanuel Tafel, Initiator einer
Bewegung. In: Emanuel Swedenborg. 1688-1772. Stuttgart 1988, S. 93-96.
17
Nach Dreß, S. 41f.
16
4
wie er sich auch sonst einer eigentümlichen Orthographie bediente. So läßt er sich aber leichter
von dem geschätzten Pietistenprediger Ludwig Hofacker (1798-1828) unterscheiden. Hofaker 18
übte den Beruf eines Justizprokurators aus. Er widersetzte sich zunächst den
Bekehrungsversuchen seines Vaters, wandte sich aber durch seinen Mieter Tafel dem
Swedenborgianismus zu. Er hatte jedoch keine (neu-) kirchlichen Interessen wie Tafel. In einem
Hause wohnten nun die später wegen der Verschiedenartigkeit ihrer Charaktere
auseinanderdriftenden Freunde, die in Konkurrenz zueinander Swedenborg übersetzten und
herausgaben.
Hofaker war in Fragen der Geistererscheinungen und des Mystizismus ein interessierter Mann. Die
Württembergische Landesbibliothek verwahrt aus seinem Nachlaß zahlreiche Manuskripte, die
19
ursprünglich wohl aus einem schwäbischen Nonnenkloster/Dominikanerinnen stammten. Es
handelt sich inhaltlich um Biographien, Hagiographien von Heiligen, Seligen, Mystikern, wie etwa
von Margarete von Ungarn, Heinrich Seuse, Christina Ebner, Johannes Tauler, Meister Eckart u.
a. Hofaker bescherte der Nachwelt antiquierende Übertragungen aus den swedenborgischen
lateinischen Originalen, die jedoch nicht von großer Wirkung gewesen sind. Tafels nüchterner,
wissenschaftlicher Stil, der dem Swedenborgs angemessen ist, überdauerte, werden doch heute
noch im Swedenborgverlag Zürich Tafels Übersetzungen angeboten, sofern nicht von Friedemann
Horn revidierte Neuübertragungen entstanden sind.20
Aber Tafel hatte seine Schwierigkeiten mit der württembergischen Amtskirche. Das Pfarramt war
ihm wegen seines persönlichen offenen Bekenntnisses zur Theologie der Neuen Kirche und
wegen der Weigerung, sich auf die reformatorischen Bekenntnisschriften zu verpflichten,
verschlossen. Die Chance, 1824 Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Tübingen zu werden,
brachte ihm zwar eine feste Stellung ein, aber zugleich auch die Auflage, auf die Publikation
swedenborgischer Werke zu verzichten. Erst als König Wilhelm I. 1829 das
Veröffentlichungsverbot aufhob, konnte Tafel mit seiner missionarisch-wissenschaftlichen Tätigkeit
fortfahren. Allerdings hatte er später unter den Intrigen und Anfeindungen seines Vorgesetzten
Robert von Mohl sehr zu leiden. Mohl entstammte als Jurist einer Stuttgarter Honoratiorenfamilie
und hatte als Vertreter der württembergischen und damit gut kirchlichen "Ehrbarkeit" kein
Verständnis für den andersdenkenden Immanuel Tafel. Dieser blieb ein Außenseiter.
Interessant für das geistige Umfeld jener Zeit ist, daß Tafel auch mit Justinus Kerner und
Friederike Hauffe, der "Seherin von Prevorst", in Verbindung stand, Besuche im Arzthause in
Weinsberg machte und mit Kerner über das Phänomen des Hellsehens diskutierte. Walter Dress
veröffentlichte die im Deutschen Literaturarchiv Marbach/N.
erhaltenen Briefe von Tafel an Kerner21 , denen wir dreierlei entnehmen:
1. Der Briefkontakt währte über acht Jahre von 1826 bis 1834. Bemerkenswert ist u.a., daß die
Seherin Immanuel Tafel mitteilen ließ, er solle sich weiterhin mit Swedenborg
beschäftigen. Das habe sie aus dem Jenseits erfahren. Aus verschiedenen Verlautbarungen
Tafels ist jedoch deutlich zu entnehmen, daß er sich als getreuer
Swedenborgianer jeder Art von Spiritismus verschloß und daher in der dringlichen
Mahnung der Seherin keine Autorität für sich erkennen wollte. Tafel schrieb kurz vor seinem Tode
im Mai 1863:
Es wird Ihnen bekannt sein, daß Swedenborg den Verkehr mit den Geistern nicht nur als
seelengefährlich, sondern auch als leicht ins Irrenhaus führend bezeichnet hat, was leider auch
durch neue Erfahrungen auf dem Gebiete des Spiritualismus bestätigt worden ist. Für besonders
gefährlich halte ich die Mittheilung von Geistern über Religionslehren, und besonders die
sogenannten unmittelbaren Offenbarungen, für die nur wir die sicheren Kriterien haben, und die,
wie Swedenborg zeigt, gar nicht mehr möglich sind, weil sie gegen die unwandelbaren Gesetze
der göttlichen Ordnung verstoßen.
18
Zu Ludwig Hofaker vgl. Zwink: Werner, s. 25-28 u.ö.
Württ. Landesbibliothek Stuttgart: So der Katalogeintrag bei Cod.theol.et philos.fol., 281-284.
20
Zu der Fülle deutscher Swedenborg-Ausgaben siehe die Bibliographie von James Hyde (Anm. 13).
21
Walter Dreß: Immanuel Tafel und Justinus Kerner. Sechs Briefe von Immanuel Tafel an Justinus Kerner. In:
Blätter für württembergische Kirchengeschichte 77 (1977) , S. 132-148.
19
5
Einst wurde der Freund einer angeblichen Seherin in Wien in unserer Versammlung in Stuttgart
eingeführt, und bat nach meinem Vortrag um das Wort, worauf er unter Anderem sagte: es gebe
gegenwärtig nur Ein Mitglied der Neuen Kirche, eine Seherin in Wien, die vom Herrn täglich
unmittelbar belehrt werde. Ich bemerkte darauf, Swedenborg habe auf den Grund von Daniel 9,24.
und Luk. 16,27-31 bewiesen (in dem Werk von der Vorsehung 134-136), daß der Herr nicht mehr
unmittelbar lehre, sondern bloß mittelbar durch das Wort, auch nicht durch Geister und Engel; er
selbst habe nun schon so lange Umgang gehabt mit Geistern und Engeln, aber kein Geist habe
gewagt und kein Engel gewünscht, ihm Belehrungen zu geben über das Wort oder über eine
Lehre aus dem Worte, sondern es habe ihn der Herr selbst gelehrt, aber mittelbar durch das Wort
in der Erleuchtung. - Die Resultate seiner Beobachtungen, die er im Jenseits gemacht, sind
sonach nicht eine neue Erkenntnisquelle der Religion, sondern kommen nur, als eine bis in's
Jenseits erweiterte Erfahrung, gleich den Vernunftqründen in erläuternder und bestätigender
22
Weise hinzu...
Diese zum Grundsätzlichen der swedenborgischen Neuoffenbarung sich äußernde Briefstelle
Tafels mag gleichzeitig auch als Legitimation für die Exklusivität der Neuen Kirche stehen. Tafel
konnte damit immer noch die Verbindung zur protestantischen Kirche halten. Aber der Keim für die
Radikalisierung in der Neuen Kirche war gelegt.
2. Der Briefnachlaß verweist uns darauf, mit wem und wie Tafel sich verheiratete. Es ist im
Zusammenhang mit der Verbreitung der swedenborgischen Theologie in der kleinen Gemeinde
der Neuen Kirche wichtig, daß hierbei nur wenige Personen führend waren, die oft in engem
verwandtschaftlichen Verhältnis standen. Das galt für Deutschland, wie es für Nordamerika galt
und heute, z.B. in Bryn Athyn, noch gilt. Tafel heiratete die Tochter Wilhelmine23 des Landrats von
Iserlohn, Peter Eberhard Müllensiefen24 , eines reichen Industriellen, der seinen Kindern ein
großes Erbe hinterlassen hatte. Wir finden den Sohn Theodor (1802-1879), also den Schwager
Tafels, als ehemaligen preußischen Abgeordneten auf seinem Theodorshof bei Rheinfelden in der
Schweiz, wo der Privatier sein Vermögen für Druck und Verbreitung der swedenborgischen Lehre
einsetzte. Müllensiefens Buchhandlung wurde 1872 von Johann Gottlieb Mittnacht übernommen,
nachdem Müllensiefen 1863 seinen Schwager Immanuel Tafel beerbt hatte. So ist über den
Nachlaß Mittnacht die Württ. Landesbibliothek in den Besitz Tafelscher Bücher und auch
Manuskripte gelangt.25
3. Der Briefnachlaß mit Kerner wirft auch ein Licht auf das Verhältnis zu dem bereits erwähnten
Ludwig Hofaker, der als Konkurrent in der Swedenborg-Übersetzung gegenüber Tafel auftrat.
Tafel kommt in einem Brief von 1829 darauf zu sprechen, daß Swedenborg ein theologisches
System entworfen habe, und fährt dann fort:
Der Umstand, daß jene Schriften ein System enthalten, verleitet aber, wie ich glaube, unsern
H[ofaker] zu einem Fehlgriff in seinen Übersetzungen, der nachtheilige Folgen
hat. Er meint, wo ein System sei, müsse auch eine abgeschlossene Terminologie sein, und man
dürfe deswegen wo S[wedenborg] ein Wort gebraucht, auch im Deutschen nur
ein Wort brauchen; ich dagegen bin der Meinung, daß der Geist sich nicht so bannen lasse an
bestimmte Wörter... Er nimmt wie ich glaube zu wenig auf den Sprachgebrauch, besonders auf
den philosophischen u. theologischen, Rücksicht, und trägt zu wenig Bedenken, neue Wörter zu
machen, die die Sprachanalogie nicht für sich haben, z.B. für Draconi = Drachenanhänger, hat er
Drachlinge; ... Divinum Verum - das Göttlich Wahre, Divinum Bonum = das Göttlich Gute,
übersetzt er mit Wahrgöttlich u [sic] Gutgöttlich...26
22
Nach Müllensiefen: Tafel, S. 64f.
Neben dieser Quelle vgl. auch den Brief Theodor Müllensiefens an Mittnacht in dessen Nachlaß: Württ.
Landesbibliothek: Cod.hist.fol.944, Ia.
24
Zu Müllensiefen vgl. Zwink: Werner, S. 35f u.ö
25
s. a. Anm. 11.
26
Dreß: Tafel und Kerner, S. 136 (Brief Nr. 2).
23
6
Hofakers erste Swedenborg-Übersetzung erschien nachweislich erst 1830, also ein Jahr nach dem
zitierten Brief, und zwar war es eine Übertragung der Vera Christiana Religio, die er Die
Christenreligion in ihrer Ächtheit nannte. Im õ86 begegnen uns eben diese Begriffe, die Tafel
nannte: Quod Jehovah Deus in mundum ut Divinum Verum descenderit, erat causa ut
Redemptionem ageret, et Redemptio fuit subjugatio Infernorum, et ordinatio caelorum, et post has
instauratio Ecclesiae: ad efficiendum illa, non valet Divinum Bonum, sed Divinum Verum ex Divino
27
Bono.
Bei Tafel heißt dieser zentrale Satz swedenborgischer Christologie 1855: Daß Jehovah Gott als
das Göttliche Wahre in die Welt herabstieg, das geschah, um die Erlösung zu vollbringen, und die
Erlösung war die Unterjochung der Höllen, und das Ordnen der Himmel und nach diesen die
Gründung der Kirche: dies zu bewerkstelligen vermag das Göttlich Gute nicht, sondern das
Göttlich Wahre aus dem Göttlich Guten...28
Hofaker publizierte 1831 folgende Fassung: Daß Jehovah Gott in die Welt als das Göttliche Wahre
niederkam, geschah des Endes, um die Erlösung auszuführen; und die Erlösung war
Unterwerfung der Höllen, und Anordnung der Himmel und sofort Gründung der Kirche: dieß zu
bewerkstelligen, kommt nicht dem Göttlichen Guten zu, sondern dem Göttlichen Wahren aus dem
29
Göttlichen Guten...
Im Ganzen ist Hofakers Stil hymnischer, aber die Wortungetüme, die Tafel Kerner gegenüber
nannte, sind verschwunden. Tafel - oder Gustav Werner (s.u.) - hatten wohl vor der Drucklegung
mit Hofaker gestritten und Einfluß ausgeübt.
Fazit dieses Exkurses: In der Neckarhalde in Tübingen arbeiteten zwei Swedenborgianer in
Konkurrenz einerseits und wohl auch in gegenseitiger Einflußnahme andererseits. Hofaker, vor
allem aber Tafel, leisteten die Infrastrukturarbeit für die systematische Erschließung und
Verbreitung von Swedenborgs Werk im deutschsprachigen Raum. Hofaker wird uns im
Zusammenhang mit dem jungen Gustav Werner noch einmal begegnen.
Tafels Verdienst um die Neue Kirche liegt nicht nur auf dem bleibenden Ergebnis der
Übersetzungen - und nicht zu vergessen - der Editionen bisher unpubliziert gebliebener
lateinischer Manuskripte, er wirkte gleichfalls als Apologet der neukirchlichen Lehre, war doch die
Neue Kirche selbstverständlich dauernder Polemik seitens der lutherischen und pietistischen
Evangelischen, aber auch der Katholiken ausgesetzt.
Der große katholische Theologe an der neugegründeten Tübinger Fakultät, Johann Adam Möhler
(1796-1838), kritisierte Swedenborg und damit Tafel als Vermittler in seinem Hauptwerk Symbolik
oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach öffentlichen
Bekenntnisschriften (1. Aufl. 1832). Das Werk ist sachlich und unpolemisch, aber scharfsinnig und
weitsichtig formuliert. Über Swedenborg soll aus dem Schlußkapitel folgender Satz für die gesamte
Swedenborgkritik stehen:
Denken sollte man doch, wenn Gott spricht, sei das Wort so dauernd, als wenn ein Mensch lallt,
auch wenn diesem im Himmel alle Geheimnisse aufgeschlossen würden.
Christi Werk dauerte etwa dreihundert Jahre, ein kurzer Frühling, bis sich endlich mit Swedenborg
Alles in einen ewigen Frühling verwandelt. Möhler bezieht sich hier auf das von Swedenborg
grundsätzlich verdammte Dogma der Trinität, verstanden als eine Lehre von drei Personen, wie sie
sich im Konzil von Nicäa 325 unter dem Einfluß des
Athanasius herausgebildet hatte. Ist dies nicht die offenbarste Blasphemie? Swedenborg ist
eigentlich zum Mittelpunkt der Geschichte und zum wahren Erlöser erhoben: mit ihm, nicht erst mit
30
Christus, kehrt die goldene Zeit zurück.
27
Emanuel Swedenborg: Vera Christiana Religio. Edidit. So. Fr. Im. Tafel. Tubingae, Londini 1857. - Tom. 1,
S. 113.
28
S. 188f.
29
S. 167f.
30
Möhler: Symbolik, S. 479.
7
Dies ist der Inbegriff an Kritik allen sogenannten Neuoffenbarungsreligionen gegenüber. Nun war
Tafel aufgerufen zu antworten. Er zog seinerseits die Konsequenz aus der neuen Lehre, die in der
Theorie gerade das nicht sein sollte, was die Praxis leider in ihr Gegenteil verkehrte: die Neue
Kirche sollte jenseits der Konfessionen stehen, sie hinter sich zurückgelassen haben als die Alte
Kirche im swedenborgischen Sinne. Diese erwies sich jedoch - wie schon oft in der Geschichte bis heute als hartnäckiger: die Neue Kirche geriet aus Sicht der traditionellen Staatskirchen zur
Sekte. Mittnachts separatistischer Fanatismus, wie er im Briefwechsel mit Gustav Werner zum
Ausdruck kommt, ist Beleg dafür.
Tafel jedoch war es um die Überwindung der Konfessionsgegensätze zu tun, wie es ähnlich auch
das Anliegen von Gustav Werner war. Tafel veröffentlichte u.a. 1852 eine Monographie mit dem
Titel: Friedens-Theologie (Irenik) oder Untersuchungen in wie fern
1. bei aller Verschiedenheit der Ansichten eine innere Vereinigung aller wahren Christen schon
besteht;
2. unter Beibehaltung der Verschiedenheit in Lehren und Gebräuchen eine gewisse äußere
Veränderung der getrennten Religionsparteien sofort zu Stande kommen, und
3. eine innere und äußere Vereinigung auf den Grund einer und derßelben Lehre allmählig
angebahnt werden könnte und sollte; nebst einer Widerlegung der unrichtigen Darstellung dieser
31
erweislich wahren christlichen Lehre in Dr. Möhlers Symbolik etc...
Tafel hatte erkannt, daß der Gedanke der Neuen Kirche nur auf dem Boden der Toleranz und
Religionsfreiheit gedeihen konnte, wie es in Nordamerika, wohin sein Bruder Johann Friedrich
32
Leonhard 1853 mit Familie auswanderte, der Fall war.
Das Jahr 1848 mit seinen liberalisierenden Ereignissen gab Hoffnung, dem Ziel freier
Religionsausübung auch für die Neue Kirche näher zu kommen. Tafel versammelte am 1. Oktober
1848 in Cannstatt (heute Teilort von Stuttgart als Bad Cannstatt) seine Anhänger, Deutsche und
Schweizer, zu einer Generalversammlung der Neuen Christlichen Kirche. Dort wählte man Tafel
zum Vorstand und beschloß, seine Übersetzungen weiterhin finanziell zu fördern, insbesondere
die Arbeit an den Arcana Coelestia, deren vollständige Übersetzung durch Tafels Tod 1863
unterbrochen wurde.
Überdies wurde ein Bekenntnis formuliert, das in vier Grundsätzen die Neue Kirche und ihre Lehre
definierte. Die Versammlung beschloß:
1) sie glauben, daß Jesus Christus der geoffenbarte alleinige Gott des Himmels und der Erde und
in ihm eine Dreiheit sei;
2) daß wir, um selig zu werden, notwendig Seine Gebote halten müssen, und sie mit Seinem
Beistand auch halten können;
3) daß die heilige Schrift Gottes Wort und einzige Erkenntnisquelle der christlichen Religion sei;
4) sie fühlen sich verpflichtet, die Grundsätze und die Schriften der von ihnen als wahr erkannten
33
Religionslehre nach Kräften zu verbreiten.
Die vier Punkte erinnern an drei von Swedenborgs vier Programmschriften, die nach seinem Tode
als die Vier Hauptlehren der Neuen Kirche zusammengefaßt erschienen:
1. Doctrina Novae Hierosolymae de Domino, wo Swedenborg seine eigene antiathanasianische
Dreieinigkeitslehre entwickelte. Es heißt in der Tafelschen Übersetzung in § 57: Daß dies alles in
dieser (athanasianischen) Lehre bis auf die einzelnen Worte derselben wahr sei, wenn man nur
statt der Dreiheit der Personen eine Dreiheit der Person setzt, kann aus ebenderselben, wenn sie
aufs neue abgeschrieben,
und diese Dreiheit statt jener gesetzt worden ist, ersehen. Die Dreieinheit der Person ist diese, daß
das Göttliche des Herrn der Vater, das göttliche Menschliche der Sohn, und das ausgehende
Göttliche der Heilige Geist sei. Wenn diese Dreieinheit verstanden wird, dann kann der Mensch
34
Einen Gott denken, und zugleich auch einen Gott aussprechen...
31
Hervorhebungen in der Quelle.
zu Johann Friedrich Leonhard Tafel vgl. Zwink: Werner, S. 37f u.ö.
33
Müllensiefen: Tafel, S. 38.
34
Emanuel Swedenborg: Die Lehre des Neuen Jerusalem vom Herrn. Übers. (von J. F. Im. Tafel]. Stuttgart
1876, S. 81.
32
8
2. Der zweite Punkt bezieht sich auf Swedenborgs Schrift Doctrina Vitae pro Nova Hierosolyma ex
praeceptis dacalogi, von Tafel übersetzt als die Lebenslehre für das neue Jerusalem aus den
Geboten des Decalogus. Hier entzündet sich Swedenborgs Widerspruch zum reformatorischen
sola fide und der Lehre Luthers vom unfreien Willen. Swedenborgs Anthropologie kennt keine
Erbsünde und damit auch nicht die Rechtfertigung aus Glauben allein. Der Mensch habe im
Glauben das Böse zu meiden und hernach das Gute zu tun. Hieraus geht deutlich hervor, daß der
Mensch in so weit, als er das Böse flieht, beim Herrn und im Herrn ist, und in so weit, als er im
Herrn ist, das Gute nicht aus sich, sondern aus dem Herrn thut. Hieraus ergibt sich das allgemeine
Gesetz: daß man in so weit das Gute thut, als man das Böse flieht.... Daß, wenn der Mensch das
Gute will und thut, bevor er das Böse als Sünde flieht, sein Gutes nicht gut ist...
Wenn er daher den Armen gibt, den Dürftigen Hülfe leistet... gleichwohl aber das Böse, z.B. die
Betrügereien, die Ehebrüche, den Haß, die Gotteslästerungen und Anderes dergleichen als Sünde
gering achtet, so kann er kein anderes Gutes thun, als was inwendig böse ist, denn er thut es aus
sich, und nicht aus dem Herrn, folglich ist nicht der Herr, sondern er selbst in demselben, und all
das Gute, in dem der Mensch selbst ist, ist mit seinen Bösen besudelt, und zielt auf ihn selbst und
35
die Welt.
Trotzdem gilt: Es ist der göttlichen Ordnung gemäß, daß der Mensch mit Freiheit nach der
Vernunft handle, weil mit Freiheit nach der Vernunft handeln aus sich handeln heißt. Aber jene
zwei Vermögen, die Freiheit und die Vernunft sind nicht Eigenthum des Menschen, sondern des
Herrn beim Menschen; und sofern er Mensch ist, werden sie ihm nicht entzogen, weil er ohne sie
nicht umgebildet werden kann... Der Herr liebt den Menschen und will bei ihm wohnen; Er kann ihn
aber nicht lieben und bei ihm wohnen, wenn er keine Aufnahme und Gegenliebe findet. Daher und
sonst nirgends kommt die Verbindung. Der Herr hat aus diesem Grunde dem Menschen Freiheit
und Vernunft gegeben...36
3. Zum dritten Punkt scheint zunächst keine Differenz zum sonstigen Protestantismus zu
bestehen. Nur kommt hier implizit Swedenborgs doppelter Schriftsinn zum Ausdruck: Swedenborg
hatte in seinem Monumentalwerk Arcana Coelestia und in der Apocalypsis Explicata die
Auslegung der Schrift nach dem ihm visionär mitgeteilten spirituellen oder inneren Sinn
exemplifiziert. Das Wesentliche seiner vom Herrn an ihn ergangenen Offenbarung war gewesen,
daß ihm aufgeschlossen wurde, wie mit Hilfe der Entsprechungslehre die nach dem geistigen Sinn
verfaßten Bibelbücher zu verstehen seien. In dem Werk Doctrina Novae Hierosolymae de
Scriptura Sacra begründet Swedenborg seine geistige Sicht und belegt die Methode mit
zahlreichen Beispielen. So erklärt er etwa die vier Pferde in der Offenbarung als Zustände der
Kirche in ihrer Geschichte des Abfalls von Gott etc.
Damit gelingt es Swedenborg, die durch den Rationalismus aufkommende Literarkritik überflüssig
werden zu lassen. Sogar die Verbalinspiration kann vor der Vernunft standhalten: Man sagt in der
Kirche, das Wort sei heilig, weil Jehovah Gott es gesprochen habe; da aber sein Heiliges in dem
blosen Buchstaben nicht sichtbar ist, so bestärkt sich derjenige, der aus diesem Grunde einmal an
der Heiligkeit des Wortes zweifelt, nachher, wenn er es liest, durch vieles in demselben in seinem
Zweifel; denn er denkt dann: ist dies heilig, ist dies göttlich? Damit nun ein solcher Gedanke nicht
bei vielen Eingang finde, und nachher sich immer mehr festsetze, hierdurch aber die
Verbindung des Herrn mit der Kirche, in welcher das Wort ist, zu Grunde gehe, so hat es dem
Herrn gefallen, den geistigen Sinn jetzt (Swedenborg!) zu offenbaren, damit man
wisse, wo jenes Heilige im Worte verborgen ist.37 ...Was die Entsprechung sei, hat man bisher
nicht gewußt; in den ältesten Zeiten hingegen war sie sehr bekannt, denn bei denjenigen, welche
damals lebten, war die Wissenschaft der Entsprechungen eine Wissenschaft der Wissenschaften,
und so allgemein, daß alle ihre Schriften und Bücher in Entsprechungen geschrieben sind. Das
Buch Hiob, ein altes Buch, ist voll von Entsprechungen...38
35
Emanuel Swedenborg: Die Lebenslehre für das Neue Jerusalem aus den Geboten des Decalogus. Übers.
[von J. F. Im. Tafel]. Stuttgart 1876, S. 13f.
36
Ebenda, S. 17.
37
Emanuel Swedenborg: Die Lehre des neuen Jerusalems von der Heiligen Schrift. übers. [von J. F. Im.
Tafel]. Stuttgart 1876, S. 19.
38
Ebenda, S. 21.
9
Die Neue Kirche konnte mit diesen Grundsätzen in den traditionell landeskirchlichen Gefilden nicht
gedeihen, besonders nicht in Württemberg, wo ein strenger Biblizismus - von Johann Albrecht
Bengel gelehrt - sich über den konservativen Pietismus auch in der Amtskirche und der Universität
Eingang verschaffte. Swedenborgianer mußten sich trotz Religionsfreiheit bedeckt halten. Einzige
Unterstützung kam von England oder Nordamerika. Da war es klüger und der Sache zuträglicher,
dorthin auszuwandern, wie die Angehörigen von Joh. Friedr. Leonhard Tafel bewiesen.
Trotzdem gab es auch helle Momente im Leben Tafels und in der kurzen Geschichte der
deutschen Neuen Kirche. Anläßlich der Weltausstellung 1851 in London lud die englische Neue
Kirche Glaubensbrüder aus aller Welt nach dorthin ein. Dieser Besuch in dem glücklichen
England, wo schon die Wahrheiten der reinen christlichen Lehre Wurzel geschlagen und sich
verbreitet haben, dieses freudige Begegnen und herzliche Zusammensein mit zum Theil
persönlich, zum Theil durch schriftlichen Verkehr bekannten, im Geiste der Liebe innig
verbundenen Brüdern im Herrn war einer der Lichtblicke im Leben Tafels, an denen sein Herz sich
sonnte und erquickte.39
Die grenzenüberschreitende Einheit der Neuen Kirche kam hoffnungsvoll im Jahr 1857 noch
einmal zum Ausdruck, als eine Synode in Manchester eine Erklärung der Neuen Kirche an die
Menschheit verabschiedete, die für Deutschland und die Schweiz von Johann Friedrich Immanuel
Tafel unterzeichnet wurde.40
Diese Erklärung, deren Wortlaut hier folgen soll, ist einmal ein positives Zeugnis einer sich noch
einig wissenden Religionsgemeinschaft, die sich - Schicksal der meisten religiösen Gruppen - in
zwei Lager spalten sollte, als sich die General Church of the New Jerusalem in Bryn Athyn bei
Philadelphia von der liberalen General Convention of the New Church absetzte und sich eine
episkopale Verfassung gab. Zum anderen ist hier ein Glaubensbekenntnis formuliert, das die
swedenborgische Theologie treffend zusammenfaßt:
39
Müllensiefen: Tafel, S. 41.
Im Untertitel: nebst einer Nachweisung der dicken Finsterniß, welche bis vor hundert Jahren [Swedenborgs
Vision des Jüngsten Gerichts in der geistigen Welt, 1757] in Beziehung auf die Hauptwahrheiten der
universellen Religion und die einfachsten Forderungen des Gewissens allenthalben geherrscht hatte, seitdem
aber allmählig dem damahls erschienenen Lichte zu weichen begann. Hrsg. von Joh. Fried. Immanuel Tafel.
Tübingen, London 1858.
40
10
Erklärung der Mitglieder der Neuen Kirche, als Synode versammelt zu
Manchester im August 1857.
Wir die Geistlichen und die Abgeordneten der durch das Neue
Jerusalem in der Offenbarung bezeichneten Neuen Kirche, versammelt
Gott, Christus, Heiliger aus verschiedenen Provinzen Großbritanniens zusammt mit Brüdern aus
verschiedenen Theilen der Welt, die sich mit uns in unsern, zur
Geist:
hundertjährigen Jubelfeier der Neuen Kirche abgehaltenen
Versammlungen vereinigten, fühlen uns verpflichtet, unsere volle und
innige Ueberzeugung zu erklären, daß der göttliche Heiland der Welt,
Jesus Christus, der einzige Gott des Himmels und der Erde, und so der
einzige Quell des Segens für die Menschheit ist. Die ganze Dreieinheit
Dreieinheit in einer
ist in Ihm. Seine unendliche Liebe ist der Vater, Seine göttliche
Person
Menschheit ist der Sohn, und Sein ausfließender Geist der Liebe,
Heiligkeit und Macht ist der Heilige Geist. Wir laden alle Menschen ein,
Ihm denselben Gottesdienst zu weihen, den die Engel des Himmels Ihm
weihen. Ihn verehren wir, Ihn beten wir an, und Ihm verlangen wir in
allen Dingen und zu allen Zeiten zu gehorchen.
Mensch: Vernunft und
Freiheit des Willens
und des Tuns
Liebespraxis aus
Freiheit
Zehn Gebote
Er hat den Menschen zu seinem Ebenbild und zu seiner Aehnlichkeit
erschaffen, daß er möge auf Erden erzogen werden, ein Engel des
Himmels zu werden. Er hat den Menschen die zwei großen Vermögen
des Willens und des Verstandes gegeben, daß sie mögen gelehrt und in
Freiheit dahin geleitet werden, alles, was gut ist, zu wollen, alles, was
wahr ist, zu erkennen und hieraus in Freiheit mit Vernunft zu handeln.
Liebe ist das große Prinzip der Religion, Liebe zu Gott, und Liebe zum
Menschen; allein damit die Liebe im menschlichen Charakter sich
entwickeln könne, muß der Mensch frei sein. Die Gebote unseres
anbetungswürdigen Heilandes, zuerst gegeben von Ihm als Jehovah im
Alten Testament, und bestätigt von Ihm als der Heiland des Neuen, sind
der wahre Weg der Seliqmachung und Glückseligkeit, das einzige
bleibende Heilmittel für menschlichen Kummer. Wir laden alle Menschen
dringend ein, sie täglich in Ausübung zu bringen, und allein zu dem
Herrn Jesus Christus um die fortwährende Kraft hiezu zu beten.
Das Wort Gottes, welches, in seinem geistigen Sinn verstanden, in jeder
Sylbe heilig ist, ist das große Licht des geistigen Lebens, die Karte des
Schriftverständnis nicht wahren Fortschrittes, kann aber nur in so weit verstanden und geliebt
werden, als die Menschen in Freiheit dazu geliebt werden, ihre
aus Gnade, sondern
Gemüther zu öffnen seine Weisheit zu verstehen und seine Belehrungen
aus freiem
anzunehmen.
Erkenntnisvermögen
Heilige Schrift
Religionsfreiheit
Da aber niemand wahrhaft weise und gut werden kann, wenn er nicht in
der Freiheit ist, so erklären wir, daß unser fester Glaube ist, daß alle
Menschen frei sein sollten im möglichst grösten Umfang, um Gott zu
verehren, ihre Ansichten zu veröffentlichen, und ihre gewissenhaften
Ueberzeugungen von dem Pflichtmäßigen in Ausübung zu bringen. Wir
laden alle Menschen sowohl die Herrscher, als die Völker ein, allen
Andern bereitwillig die volleste Freiheit zu geben, ihre religiösen Rechte
zu üben, als Gebote Dessen, der allweise und allgut ist.
Wir erklären, daß unser fester Glaube ist, daß jeder Mensch nur in so
weit selbst gesegnet sein kann, als er sucht Andern Segen mitzutheilen,
und daß daher die großmüthige und brüderliche Anerkennung der
Rechte Anderer, besonders derjenigen wahrer Glaubens- und
Religionsfreiheit, das große Gesetz der Vorsehung für die Wiedergeburt
Wiedergeburt
(regeneratio) durch die der Einzelnen, für das Glück der Gesellschaft und den nationalen
Fortschritt ist.
Tat
Wir wünschen daher, der Aufmerksamkeit aller Menschen
einzuschärfen, daß sie einander dienen sollen in Liebe, besonders in der
11
Beförderung ihrer heiligsten Rechte, ohne Rücksicht auf
Glaubensbekenntniß, Stand oder Farbe; im vollen Glauben, daß die
Erfüllung dieses Gebotes des Himmels nur zum Guten führen kann.
Irenik:
Religionsausgleich
Völkerverständigung
Reich Gottes
41
So werden die Familien der Erde für einander die Beförderer des
Fortschritts und der Glückseligkeit werden, und die 'Reiche dieser Welt
werden die Reiche unseres Herrn und Seines Christus werden, und er
wird regieren immer und ewiglich.' So wird das menschliche Geschlecht
wahrhaft verwirklichen 'Ehre für Gott in der höchsten Höhe, und auf
Erden Frieden und Wohlgefallen an den Menschen.41
Erklärung, S. 3-5.
12
Gustav Werner und die swedenborgische Liebesethik
42
Die Sonderrolle, die Gustav Werner (1809-1887) mit seinem Mutterhaus in Reutlingen
und den Zweiganstalten im württembergischen Land spielte, erwächst aus der
Bekanntschaft des jungen Werner während seiner Studentenzeit in Tübingen mit Johann
Friedrich Immanuel Tafel und Ludwig Hofaker.
Tafel wurde 1848 ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Tübingen.
Doch schon vorher hielt er als Bibliothekar der Universitätsbibliothek philosophische
Vorlesungen. So gehörte auch zu seinen Zuhörern 1827/28 der junge Gustav Werner, der
an der Theologie, wie sie damals in Tübingen gelehrt wurde, nichts Begeisterndes fand,
weder im Rationalismus, noch im Pietismus. Er suchte nach Neuem. Daß Gott die Liebe
sei, das war dem Studenten bereits ein inniger Glaube. Er wurde mit Tafel bekannt,
verließ die ehrwürdige Wohnstätte für die Theologiestudenten, das Tübinger Stift, und
zog als Stadtstudent in das Haus in der Neckarhalde ein.
Tafel, Hofaker und Werner bildeten dort zusammen mit dem späteren lebenslangen
Freund Werners, Johannes Rommelsbacher,43 einen neukirchlichen Erbauungszirkel, wo
aus Swedenborg gelesen, d. h. übersetzt wurde. Wegen seiner nunmehr gefaßten
Neigung zu Swedenborg geriet der Theologiestudent Werner in Konflikt mit Elternhaus
und theologischen Lehrern. Es wurde ihm nahegelegt, sich von Swedenborg zu
distanzieren, wenn er ein Examen ablegen wolle. Wir müssen annehmen, daß auch
Werner schon als Student mit an den Übersetzungs- und Editionswerken seiner beiden
älteren Hausbewohner beteiligt war.
Der 1809 geborene Werner bestand 1832 sein Examen mit einer leidlichen Note. Er hatte
sich aber inzwischen die Arcana Coelestia gekauft und sich unter dem Einfluß von
Hofaker weiterhin mit Swedenborg eingelassen, wobei er sich vornehmlich in einer
eigenen Bibelübersetzung, welche die lutherische ablösen sollte, versuchte. Publiziert
wurde davon aber nichts. Manuskripte sind dem Verf. nicht bekannt. Die Württ.
Landesbibliothek besitzt nur den Versuch einer Evangelienübersetzung von Tafel, die
Fragment blieb. Erst der Bruder von Immanuel Tafel, Johann Friedrich Leonhard, brachte
1675 in Philadelphia eine deutsche Bibelübersetzung heraus.44 Auf Drängen Hofakers
und wohl auch, um dem nun sich unvermeidlich anschließenden Vikariat in der
württembergischen Landeskirche zu entgehen, begab sich Werner - ordnungsgemäß
beurlaubt - nach Straßburg, um dort an der Universitätsbibliothek weiter nach
Swedenborg zu forschen. Seinen Unterhalt verdiente er als Privatlehrer.
Der Straßburg-Aufenthalt Werners war die entscheidende Phase für sein weiteres Leben
und sein Wirken. Er machte die Bekanntschaft von Kaspar Wegelin und seiner Familie.
Wegelin war ein enger Freund von Johann Friedrich Oberlin gewesen. Ihm hatte Oberlin
vor seinem Tode seinen Ring, wohl seinen Ehering übergeben. Im Hause Wegelin fand
Werner eine beschauliche herrnhutische Frömmigkeit. Hier begegnete Werner aber auch
eine von der seither hier beschriebenen abweichende Swedenborgpflege, wie sie in
spekulativ-pietistischen Kreisen durchaus anzutreffen war: Oberlins Frau war nach einer
harmonischen und glücklichen Ehe allzufrüh verstor-ben45 . Oberlin bezeugt, daß er in
häufigem, jedoch immer mehr verblassendem spirituellem Kontakt mit seiner
verstorbenen Frau gestanden habe, die ihm den Zustand des Himmels in ähnlicher Weise
beschrieb, wie es die in Pietistenkreisen (Collenbusch, Hasenkamp, Oetinger, Lavater)
42
Zu Gustav Werner vgl. Anm. 5 und Anm. 10. - Ferner wird die Bibliographie von Stefan Vida:
Gustav-Werner-Bibliographie (in: Blätter für württ. Kirchengeschichte 75 (1975), S. 118-165)
ergänzt durch die Quellenpublikation in Zwink: Werner.
43
Zu Rommelsbacher vgl. Zwink: Werner, S. 26 u.ö.
44
Zu Bibelübersetzungen in der Neuen Kirche vgl. Zwink: Werner, S. 64, Anm. 6.
45
Unter dem in Anm. 4 genannten Oberlin-Biographien sei besonders verwiesen auf: Alfons
Rosenberg: J. F. Oberlin. Die Bleibstätten der Toten. Bietigheim (1974). Rosenberg legt das
Schwergewicht seiner Darstellung nicht so sehr auf die nicht zu unterschätzende philanthrophische
und pädagogische Leistung des Steintaler Pfarrers, sondern auf Oberlins Jenseitslehre (mit
Abbildung und Erläuterung von Oberlins Jenseitskarte und die spiritistische Verbundenheit mit
seiner Frau.
13
geschätzte Jungfer Dorothea Wippermann aus Duisburg getan hatte. Sie ihrerseits
bestätigte eine Kongruenz ihrer Anschauungen mit denen Swedenborgs.46
In diesem spirituellen Umfeld lebte auch die Familie Wegelin, in Sonderheit die Nichte
Nanette. Es trug sich zu, daß der Onkel Kaspar im folgenden Jahr nach der Ankunft
Gustav Werners, 1833, starb, nachdem er seinerseits kurz vor seinem Tode an den
jungen Mann Oberlins Ring vererbt hatte. Man mag ermessen, welche Bedeutung Gustav
Werner in der Familie Wegelin, vor allem auch für die Nichte, gehabt hatte. Man hat in der
Gustav-Werner-Biographie, die bis vor kurzem aus dem Geiste eines landeskirchlichen
Pietismus getragen war, die swedenborgischen und die spirituellen oder gar
47
spiritistischen Elemente verdrängt. Das Erbe von Oberlins Ring hat man nur so deuten
wollen, daß Werner zum Erbe des Oberlinschen philanthropischen Lebenswerks
geworden sei, was uneingeschränkt gilt. Nur braucht es keiner Symbole, um eine
diakonische Aufgabe fortzuführen. Hinter Werners Liebtätigkeit, wie die swedenborgische
Caritas im 19. Jahrhundert in Deutschland genannt wurde, stand eine sich immer mehr
verselbständigende, auf Swedenborg beruhende Theologie, die sich in einer
ekklesiologischen Verwirklichung des Gottesreiches zentrierte.
Werner sollte Oberlins theologischer und in der Folge auch diakonischer Erbe sein. Wie
sich Werner zum Spiritismus stellte, den ja Swedenborg und die Anhänger der
orthodoxen Neuen Kirche (wie z.B. Tafel) scharf verdammten48 , ist nicht eindeutig.
Vermutlich hat er sich später - theologisch selbständig geworden - vom Geisterverkehr
distanziert und ihn als nichtssagend betrachtet. Er mußte aber, von Hofaker dazu
verleitet, der Nachwelt eine Quelle hinterlassen, was ihn zumindest in die Reihe derer
stellt, die Zeugen von Geistererscheinungen gewesen sind/sein wollten.
Die Nichte Nanette zeigte nach dem Tode des Onkels somnambules Verhalten. Bei ihren
nächtlichen Wandlungen verkehrte sie mit dem Verstorbenen und gab Werner das aus
dem Jenseits Gehörte zu Protokoll. Diese Dokumentation wurde von Ludwig Hofaker
herausgegeben und in seine spirituelle Publikationsserie Elilytha49 übernommen mit dem
Titel: Er bei uns! Durch Annchen Lineweg in St. Gallen ...50 Im Vorwort heißt es: Als
Lineweg [Wegelin!] dem Tod schon nahe war, rief er den jungen Gustav aus Teutschland,
welchen er gar lieb gewonnen, zu sich her, und gab ihm seinen Seegen; mit einer
Hinreißung, die seine Stimme erstikte. Sofort stekte er ihm sein irdisches Kleinod, einen
Ring von Oberlin mit dessen Haaren, an, und fügte zur Erklärung bei, er komme nach
seinem Hingange zu ihm, wenn der Herr es erlaube; denn Er habe sie beide auf eine
überaus innige Weise verbunden... Es heißt weiter über das Medium Annchen (Nanette):
Frau Lineweg nahm mich beiseits, und vertraute mir: Freilich doch hätten sie Nachrichten
von dem lieben Seligen; eben über Annchen nehmlich komm' es je und je mit einer Art
Entwordenheit; und da sei er bei ihr Herr im Hause; und dan spreche er, und auch andere
Seelige seiner und ihrer Bekanntschaft, ja zuweilen der Herr Selbst, durch sie: nemlich
mit Annchens Organ, indessen sie, während des Redens, und nachher, gar um den
51
Innhalt nichts wüßte.
46
Rosenberg: Oberlin, S. 143f.
Besonders in den Arbeiten von Werner-Nachkommen oder Bruderhaus-Vorstehern, voran des
Urgroßneffen Werners, Paul Krauß. Bibliographische Hinweise in: Zwink: Werner, S. 117f, zur
Beurteilung: S. 7-10.
48
Für Swedenborg seien nur zwei Belegstellen angegeben: Arcana Coelestia, 5862f. und das
postume Werk Scriptura Sacra seu Verbum Domini (Hyde, Nrn. 3160-3164), in Auszügen übersetzt
bei Joh. Gottl. Mittnacht (Hrsg.): Em. Swedenborgs Leben und Lehre. Frankfurt am Main 1880, S.
586f - Zu Tafel vgl. Anm. 21.
49
Elilytha oder Halle der Gottgelehrten. Ein Sammelwerk in Bezug auf Entsprechungskunde und
geistigen Schriftsinn. Tübingen, Leipzig 1838-1841, Gabe 1-7. U.a. als Nr. 2 von dem Nürnberger
Mystiker Johannes Tennhardt (1661-1720) die Schriften aus Gott.
50
Elilytha: 5. Gabe. 1839.
51
Ebendort, S. 3.
47
14
Als Werner 1834 Straßburg verließ, hörten die Absonderlichkeiten der Nanette Wegelin
auf. Sie heiratete schließlich später Werners schon erwähnten Freund Johannes
Rommelsbacher, der als ein aufrechter Swedenborgianer in Tübingen, dann in Stuttgart
eine Buchhandlung und einen Verlag mit neukirchlicher Literatur führte.
Werner hatte inzwischen sein religiöses Durchbruchserlebnis. Am Weihnachtsabend
1833 bei einem Abendmahl im häuslichen Kreise der Restfamilie Wegelin sprangen auf
einmal die Fesseln von meiner zerdrückten Seele... Zum erstenmal fühlte ich in seiner
ganzen Fülle, daß Gott mich liebe!52 Werner ging nun einen anderen Weg als Wegelin
oder Hofaker. Äußerungen über Geistererscheinungen oder auch über Swedenborgs
Jenseitsschau gibt es nicht mehr. Er beschritt einen anderen Weg als Tafel, da er dessen
Dogmatismus ablehnte. Die Tafel-Gemeinde sei wie in Amerika und England eine reine
53
Bekenntniskirche geworden.
Werner war es um die Vollendung der Kirche zu tun, ihr Wesen und ihren Zweck.
Swedenborg hatte in Anlehnung an die Äonenlehre das Ende der Alten Kirche erschaut
und verkündigte das Neue Jerusalem als nun in der geistigen Welt errichtet, den Anbruch
der Neuen Kirche54 .
Werner wollte diese Kirche auf Erden verwirklichen. Der Inbegriff von Kirche war ihm
Liebe, die tätige Liebe. So nannte er mit Blick auf die Zeitalterlehre des Joachim von
Fiore und Schellings Philosophie der Offenbarung den neuen Äon die Johanneische
Kirche. Ihr vorausgegangen sei nach der Auferstehung die Petrinische, nach der
55
Reformation die Paulinische Epoche.
Dies hat nun Gustav Werner mit Swedenborg gemeinsam, daß die - nach Swedenborg im
Jahr 1757 von ihm in der geistigen Welt geschaute - überwundene reformatorische Phase
mit dem Grundsatz des Sola Fide nunmehr einmünde in das dritte und letzte Zeitalter
inniger Verschmelzung von Glauben und Liebe. Es heißt in Swedenborgs Dogmatik, der
Wahren Christlichen Religion: Die Nächstenliebe allein bringt keine guten Werke hervor,
noch weniger der Glaube allein, sondern nur Nächstenliebe und Glaube gemeinsam. Im
Sinne der Korrespondenzlehre heißt es dann weiter unten: Die Verbindung von
Nächstenliebe und Glauben gleicht der Ehe zwischen Mann und Weib. Aus dem Manne
als dem Vater und aus dem Weib als der Mutter entstehen alle natürlichen Sprößlinge...
Die Glaubenswahrheiten erleuchten aber nicht allein die Nächstenliebe, sie verleihen ihr
darüber hinaus ihre Beschaffenheit, ja sie nähren sie auch...56
Werners Theologie und seine Lebenspraxis sind ein Paradigma für diesen Glaubenssatz.
Seine vom Konsistorium wohlwollend genehmigten Urlaubsgesuche ermöglichten ihm,
längere Zeit dem Kirchendienst als Vikar fernzubleiben. Nun hatte er schließlich doch das
52
Paul Wurster: G. Werners Leben und Wirken, S. 47.
Vgl. u. den Briefwechsel mit Mittnacht: ausführlich in Zwink: Werner, S. 46, 59 und 63.
54
Sowohl aus dem historischen als auch aus dem prophetischen Teil des Wortes, besonders aber
aus Daniel, geht hervor, daß es nach der Schöpfung auf dieser Erde im allgemeinen vier Kirchen
gegeben hat, von denen immer die eine die andere ablöste. Bei Daniel werden diese vier Kirchen
im zweiten Kapitel durch jene Bildsäule beschrieben, die dem König Nebukadnezar im Traum
erschien, und hernach im siebten Kapitel durch die vier aus dem Meer heraufsteigenden Tiere. Die
erste Kirche, wir wollen sie als die älteste bezeichnen, bestand vor der Sintflut; ihr Ende oder
Auszug wird durch die Sintflut beschrieben. Die zweite Kirche, wir wollen sie die alte Kirche
nennen, erstreckte sich über Asien und einen Teil von Afrika; sie wurde vollendet und ging unter
durch Götzendienst. Die dritte Kirche war die israelitische: sie begann mit der Verkündigung der
zehn Gebote auf dem Berg Sinai, setzte sich fort durch das von Moses und den Propheten
geschriebene Wort und wurde vollendet bzw. kam zu ihrem Ende durch die Entweihung des
Wortes; diese aber erreichte ihren Gipfel zu der Zeit, als der Herr in die Welt kam, weshalb sie Ihn,
der das Wort selbst war, kreuzigten. Die vierte Kirche ist die Christliche, vom Herrn durch die
Evangelisten und Apostel gegründet. Sie durchlief zwei Epochen, die erste von der Zeit des Herrn
bis zum Konzil von Nicäa, die zweite von da bis auf den heutigen Tag... (Emanuel Swedenborg:
Vera Christiana Religio... Die Wahre Christliche Religion. Neu übertr. von Friedemann Horn. Zürich
1964, Band 3, S. 924, § 760).
55
Vgl. Gustav Werner: Der Friedensbote Reutlingen 1851, S. 17. Dazu auch Zwink: Werner, S. 11
nebst Anm.
56
Emanuel Swedenborg: Die Wahre Christliche Religion. Übertr. von F. Horn, Band 2, 8. 482f (§
377, III).
53
15
Predigt- und Seelsorgeamt als Vikar anzutreten, und zwar in Walddorf bei Tübingen. Dort
predigte er - anders als seine vom Pietismus oder gar vom Rationalismus
durchdrungenen Amtsbrüder. Seine Theologie war die der Liebe, der Liebestat. Er
predigte swedenborgisch, ohne die Autorität seiner Quelle namentlich zu nennen, was ihn
seine Stellung gekostet hätte. Werner hatte Zulauf und nutzte seine Predigtgabe, nicht
nur in seiner eigenen Ortsgemeinde, sondern auch als Reiseprediger draußen im
württembergischen Land. Argwohn kam auf und Anfeindung dazu. Die Personalakten des
Landeskirchlichen Archivs Stuttgart57 zeigen uns einige Quellen,
Zirkulationskorrespondenzen u.a., in denen vor der sektiererischen Predigt Werners
gewarnt wird. Werners Wirken nach außen war um so mehr suspekt, als man absichtlich
oder unabsichtlich das verkennen wollte, was sichtbares Hauptanliegen seines Wirkens
werden sollte, der Betrieb nämlich von Rettungsanstalten zur Fürsorge von Armen,
Waisen und Behinderten. Doch der äußere Schein trügt. Werners Anstalt mit den Filialen
im Lande waren etwas anderes als die aus der Praxis Pietatis herrührenden
Bewahranstalten58 . Er war kein geistiges Kind von August Hermann Francke und nur
interessierter Korrespondent mit Hinrich Wichern. Er verfolgte mit seinen Anstalten unter
dem Ziel, die Neue Kirche zu verwirklichen, zweierlei:
1. Er wollte sich die Industrieproduktion und den Kapitalismus unter ethischen
Grundsätzen zueigen machen, indem er meinte, die zunächst mit beträchtlichen
Krediten erworbenen Fabriken würden soviel Gewinn abwerfen, daß sich eine
59
Hausgenossenschaft tragen, ernähren, kleiden und versorgen konnte. Dies
sollte eine Lösung der sozialen Frage mit sich bringen. Dazu war es
2.notwendig, dieser Genossenschaft eine Verfassung zu geben, die
ordensähnlich bestimmte, daß Mitglieder der Genossenschaft unentgeltlich
arbeiteten, aber von der Kommunität in allem Notwendigen versorgt würden.
Eingebrachtes Privatvermögen wurde zwar nicht verzinst, jedoch beim
Ausscheiden zurückbezahlt.
Dieses funktionierte eine Zeitlang gut. Die Wernerschen Anstalten, besonders das
Mutterhaus in Reutlingen boten unverheirateten Frauen Gelegenheit zu sozialer Tätigkeit
und zu religiöser Verinnerlichung. Werner war 1851 auf Betreiben der pietistischen
Funktionsträger in der Kirchenleitung wegen seiner swedenborgischen Predigt und
wegen der unnachgiebigen Weigerung, sich auf die reformatorischen Bekenntnisse
verpflichten zu lassen, aus der Liste der Pfarramtskandidaten gestrichen worden. So
hatte er sich und seine Anstalten selbst zu unterhalten. Doch der Mangel an Spezialisten
in seiner Papierfabrik in Reutlingen, die bereit gewesen wären, den Status eines
Hausgenossen anzunehmen, insbesondere dann, wenn schon eine Familie da war, ließ
den notwendigen finanziellen Umschwung zum Gewinn hin nicht aufkommen Die
Zweiganstalten, die Werner draußen in den landwirtschaftlichen Notstandsgebieten des
Schwarzwaldes oder des Schwäbischen Waldes vornehmlich erworben hatte, mußten
teilweise veräußert oder in eine gewisse Autonomie entlassen werden.
In den Krisenzeiten der sechziger Jahre war Hilfe von außen notwendig. Hilfs- und
Aktienvereine wurden gegründet. Bei allem Außenseitertum hatte Werner doch Rückhalt
in der Bevölkerung, auch beim Staat, d. h. bei König Wilhelm 1. selbst, der aus liberaler
Gesinnung und Staatsräson separatistische Bewegungen im Lande durch Förderung
kanalisierte, wie z. B. die Gründungen der Brüdergemeinden von Korntal und
Wilhelmsdorf oder der Erwerb des Bades Boll durch Johann Christoph Blumhardt zeigen.
Trotz aller finanziellen Nöte funktionierte zu Lebzeiten Werners die Hausgenossenschaft
einigermaßen, in der Betreuer(innen), Lehrer(innen) und qualifizierte Arbeiter zusammen
mit Verwahrlosten, körperlich und geistig Behinderten und den vielen Waisenkindern eine
große Familie mit dem Oberhaupt Vater Werner bildeten. Von Oberlin hatte Werner die
Idee übernommen, die schulische Erziehung Frauen zu überlassen. Werner war
zeitlebens von engagierten Frauen umgeben, deren pädagogische und
57
Landeskirchliches Archiv Stuttgart: A 26, 480, 2 - A 27, 3535, I-III-C4, IV, 12,1.
Vgl. dazu auch Bartel: Werner, S. 169-176.
59
Ausführlich dazu. Paul Krauß: Gustav Werner und seine Hausgenossen. Geschichte einer
christlichen Genossenschaft des 19. Jahrhunderts. Metzingen 1977.
58
16
sozialpädagogische Überlegenheit vor den Männern erst erkannt sein wollte. Werner
gehörte mit Oberlin zu den Vorreitern dieser Sache. Dies ist denn auch eine indirekte
Wirkung von Swedenborgs Liebesethik!
Geheiratet hat Werner eine dieser Frauen, Albertine Zwißler, mit der er aber vermutlich
nie geschlechtlich verkehrt hat. Er wollte nur den bürgerlich geforderten Schein wahren.
Werner war aller Voraussicht nach homoerotisch veranlagt60 . Dies beweisen uns
Äußerungen gegenüber seinem Freund, dem Maler Robert Heck (1831-1889)61 , von dem
die zumindest in Württemberg bekannten Werner-Porträts stammen.
Swedenborg hatte einen starken Geschlechtstrieb, wie sein Traumtagebuch Drömmar62
beweist. Was Swedenborg nach seiner religiösen Wende über Mann und Frau, Männlich
und Weiblich, über die Monogamie und die Fortsetzung der geschlechtlichen Ehe in der
geistigen Welt dargelegt hat, gehört zum Besten, was er anthropologisch und ethisch
geleistet hat. Die heutigen Swedenborgianer, besonders die Mitglieder der Neuen Kirche,
zeichnen sich in der Regel durch ein intaktes Familienleben und intensive
Verwandtschaftspflege aus An Werner scheint das alles vorbeigegangen zu sein. Er, der
Asket, gab nichts auf die traditionelle Familie, sondern machte seine Gemeinde dazu.
1863 gründete er die Neue Brüdergemeinde. Interessant ist das Gründungsdatum: der
30. August; einen Tag nach Johann Immanuel Tafels Tod datiert die Satzung: Zufall,
Fügung oder Absicht? Letzteres möchten wir hypothetisch annehmen. Werner verstand
sich als das Haupt einer ihm eigenen Verkörperung der Neuen Kirche, die er bei Tafels
Religionsgemeinschaft, die ihr bürgerliches Leben wie die übrigen Protestanten führte,
nicht erblicken konnte.
Bemerkenswert ist aus der Satzung von 1863 nicht sosehr der geschäftliche Teil, in dem
es wieder einmal um die Rettung der Anstalten durch Zuwendungen von außen geht,
diesmal durch die Möglichkeit, in Werners Gemeinde Mitglied zu sein, ohne sich dem
Reglement der Hausgenossenschaft zu beugen (die Idee eines Tertiaren-Ordens!). Es ist
zunächst theologisch bedeutsam - man erinnere sich an die Erklärung der Neuen Kirche
von 1857, daß der erste Satz der Präambel unvermittelt auf den dreieinen Herrn in einer
Person abhebt. Swedenborgs theologisches Programm steht vornean.
Die Neue Brüder-Gemeinde anerkennt die Liebe zu Gott, dem Einen, der sich in
Christo geoffenbart hat, und zu dem Nächsten als das erste Gebot, in welchem
alle übrigen enthalten sind. Jeder strebt dasselbe in seinem Kreise, die
Gemeinde in dem ihrigen in Ausübung zu bringen. - Aufgabe der Gemeinde ist
die Bethätigung dieses Grundsatzes in größtmöglicher Ausdehnung, namentlich
die Verbreitung des reinen Bibelworts; Die Gründung von Anstalten zur
Erziehung und Bildung der Jugend; die Versorgung von Arbeits-Unfähigen; die
Beförderung allgemein nützlicher Zwecke; - ausnahmsweise die Führung von
63
Geschäften .
Werner hatte auf den eigentlichen Gründungszweck in seiner Vorrede hingewiesen: Viele
wohlwollende Freunde haben den Entwicklungsgang derselben (meiner Bestrebungen
und Unternehmungen) in den letzten Jahren mit Besorgniß betrachtet, weil er mehr auf
den Aufbau eines Bruderhauses, dem sich Manche nicht anschließen konnten, als auf die
Herstellung einer Brüder-Gemeinde zu zielen schien.64
60
Vgl. Joachim Trautwein: Gustav Werner. Theologische, sozialpolitische und psychologische
Aspekte. In: Blätter für württ. Kirchengeschichte 80/81 (1980/81) , bes. S. 29Sf.
61
Nekrolog in: Schwäbische Kronik (1889) vom 14.12., S. 2459. - Paul Krauß: Der Maler Robert
Heck und seine Beziehungen zu Gustav Werner und dem Bruderhaus. In: Das Bruderhaus,
Reutlingen 1961, März. - Ferner: Ute Esbach: Robert Heck. Gedächtnisausstellung zum 100.
Todestag. 12. November - 3. Dezember 1989. Gerlingen: Stadt und Verein der Heimatpflege, 1989.
62
Svedenborgs drömmar 1744. Hrsg. von Gustav Edvard Klemming. Stockholm 1859. Deutsch:
Das Traumtagebuch. Zürich 1978. - Der Mittnacht-Nachlaß birgt einen frühen (fragmentarischen)
Übersetzungsversuch (Württ. Landesbibliothek: Cod.hist.fol.944, IIa) von Julie Conring. Sie war
Mitarbeiterin von J. F. Immanuel Tafel in dessen letztem Lebensjahr 1863 gewesen und ging dann
J. G. Mittnacht in der Verwaltung der Neuen Kirche in Stuttgart zur Hand (vgl. Zwink: Werner, S.
36f).
63
Verfassungsbestimmungen für die neue Brüder-Gemeinde. Reutlingen 1863, Bl. 1 (Württ.
Landesbibliothek: Kleine württ. Drucksachen).
64
Ebendort, Die neue Brüder-Gemeinde und ihre Verfassung, B1. 1.
17
Und bei anderer Gelegenheit heißt es: Wir suchten eine unserm wahren Zweck und
Wesen entsprechende Form und konnten sie lange nicht herausfinden.... Es ist...seit
mehreren Jahren eine etwas einseitige Richtung, die nur das Emporkommen des Hauses
und seiner Zweiganstalten im Auge hatte, von uns eingeschlagen worden, die Pflege der
eigentlichen Gemeinde und ihr Aufbau wurde versäumt65 .
Für den Unvoreingenommenen ist die Tendenz klar: Seine Anstalten und seine
Hausgenossenschaft waren für Werner das Sichtbarwerden der Neuen Kirche, die sich
unabhängig von allen Konfessionen auf das Reich Gottes hin entwickeln sollte unter
Einbeziehung all der säkularen Fortschritte wie Industrie und Technik, die - anfänglich auf
alle Fälle - für Werner Zeichen nicht nur des äußeren, sondern auch eines
eschatologischen Fortschritts waren.
Werner stand außerhalb der Landeskirche. Ohne die Kirche jedoch nebst deren
diakonischer Organisation und Finanzierung konnten Werner und sein Werk die Zeiten
nicht überdauern, genug damit, daß schon zu seinen Lebzeiten die Verfassung der
Hausgenossenschaft geändert werden mußte in den Status einer Stiftung, die sich heute
dem Diakonischen Werk zugehörig weiß. Fazit für die biographisch-theologische
Aufarbeitung: Werner sei stets ein Kind der Kirche, sogar der reformatorischen Theologie
gewesen. So konnte man ihn und sein Werk in die Arme der Landeskirche zurückholen,
bis die Biographie der letzten Jahre anders darüber entschied. Einmal ist die Dissertation
von Karlheinz Bartel66 zu nennen, der den Einfluß Swedenborgs auf Werner aus den
meist gedruckten Quellen ableitet, die schon seit hundert Jahren durch die Biographie
von Paul Wurster und die Primärquellen wie Predigten oder die Sendbriefe aus dem
Mutterhause (und ähnliche Titel)67 zugänglich sind.
Dem Verfasser ist es gelungen, aus dem Nachlaß von Johann Gottlieb Mittnacht einen
Briefwechsel zwischen Mittnacht und Werner publik68 zu machen, der zum einen die
These untermauert, daß Werner zeitlebens einem eigenen, quasi KryptoSwedenborgianismus huldigte, zum anderen zeigt, wie sich Werner durch einen Angriff
seitens der orthodoxen Richtung der Neuen Kirche in seiner Eigenständigkeit gegenüber
allem Dogmatismus behauptete, gleichzeitig aber offenlegt, daß Werner stets in Kontakt
mit den Anhängern der Neuen Kirche, d. h. mit Freunden um Immanuel Tafel stand.
Mehr noch: über den Briefwechsel gelangen wir zu einer Beschäftigung mit den Quellen
der Neuen Kirche der siebziger Jahre in Deutschland.
65
Gustav Werner: Sendbrief an die Neue Brüder-Gemeinde, Nr. 1, Mitte September 1863, S. 1.
Vgl. Anm. 42.
67
Zu Werners Periodicum vgl. Zwink: Werner, S. 18.
68
Vollständig abgedruckt und kommentiert in: Zwink: Werner, S. 43-112.
66
18
Johann Gottlieb Mittnacht und die neukirchliche Lehre
Es wurde die These vertreten, daß Werner nach Tafels Tod sich nun in seiner Art zum
Oberhaupt einer neukirchlichen Gemeinde machte, zumal es für Tafel keinen Nachfolger
in Deutschland gegeben hätte.
Doch von Nordamerika, von Philadelphia aus, beobachtete man auch die Entwicklung der
Neuen Kirche in der alten Heimat und hatte allen Anlaß zur Sorge.
Hier meinte nun die dritte Hauptperson der Neuen Kirche in Deutschland, helfend
69
eingreifen zu müssen: Johann Gottlieb Mittnacht . Er wurde 1831 in Flacht geboren, wo
zwanzig Jahre vorher Immanuel Tafels Vater, Johann Friedrich Tafel, Pfarrer gewesen
war. In einigen der Gäugemeinden, so auch in Rutesheim (nordwestlich von Stuttgart)
hatte Swedenborg einige Anhänger. Immanuel Tafel war in Merklingen zum Bekenner der
Neuen Kirche geworden. Der streitbare und selbstbewußte Johann Gottlieb Mittnacht
wurde schon früh zu Swedenborg bekehrt und focht seinen Streit mit dem Flachter
Ortspfarrer aus, bis er sich entschloß, nach Amerika auszuwandern, wo er in Philadelphia
eine Baumwollspinnerei erwarb und es bald zu ansehnlichem Reichtum brachte. Mit
seinem Geld wirkte er energisch für die deutschsprachige neukirchliche Gemeinde. In
seinem Haus hielt er Andachten ab, predigte, las aus Swedenborg und befreundete sich
mit den Angehörigen der Tafel-Familie, so besonders mit dem gleichaltrigen Rudolph
Leonhard Tafel.
Was den Deutschamerikaner schließlich veranlaßte, mit 39 Jahren (schon), im Jahr 1870
nach Deutschland zurückzukehren, ist nur zu vermuten. Fr selbst schreibt, er habe nach
einem würdigen und fähigen Nachfolger für Immanuel Tafel gesucht, nachdem sich nach
dessen Tod die neukirchliche Gemeinde aufgeläst habe. Schuld mag aber auch der
inzwischen in Philadelphia ausgebrochene Streit gewesen sein, in dem es einer
strengeren neukirchlichen Gruppe um die Etablierung eines Bischofsamtes und die
Neukirchliche Wiedertaufe ging. Mittnacht nahm in dieser Frage eine liberale Haltung ein:
Vielleicht war doch noch ein Rest von lutherischer Erziehung in ihm, so sehr er sich
später Gustav Werner gegenüber unnachgiebig und neukirchlich-orthodox gab.
Mit Rudolph Leonhard Tafel70 , dem Sohn des Sprachgenies und Pfarrers der Neuen
Kirche in New York, Johann Friedrich Leonhard Tafel (1800-l880) zusammen gründete
Mittnacht 1872 die Wochenschrift für die Neue Kirche, die als Ersatzpublikation den in
Philadelphia erscheinenden deutschsprachigen Boten für die Neue Kirche ablöste, so
daß auch in Deutschland ein eigenes neukirchliches Organ erschien.
In Stuttgart betrieb Mittnacht eine Neukirchliche Buchhandlung. Er hatte die Geschäfte
des bereits genannten Theodor Müllensiefen aus Rheinfelden übernommen und besaß
damit das neukirchliche Informationsmonopol für den deutschsprachigen Raum.
Konsequenterweise machte sich der theologische Laie, der es zu imponierenden
Swedenborg-Kenntnissen gebracht hatte, an die Revision der Tafelschen Übersetzungen
und verlegte die Neuauflagen selbst.
Die Neue Kirche in Deutschland begann wieder zu florieren. Zum Streit mit dem
Jugendfreund Rudolph Leonhard Tafel kam es, als dieser sich nicht nur für die
Wiedertaufe aussprach und die Taufe der Alten Kirche für nichtig erklärte, sondern auch
durch Deutschland, Österreich und die Schweiz zog und dort wirklich Mitglieder der
Neuen Kirche ein zweites Mal taufte.71 Die gemeinsame Herausgeberschaft der
Wochenschrift erlosch. Mittnacht begründete eine neue Zeitschrift, die Neukirchenblätter
(1875-1883).
69
Mittnachts Biographie in: Monatblätter für die Neue Kirche 9 (1892), S. 151-155 (Nekrolog). Ferner der Brief an Johann Jakob Wurster, in: Zwink: Werner, S. 32-34.
70
Zu Rudolph Leonhard Tafel, vgl. Zwink: Werner, S. 37 u.ö.
71
Über den Taufstreit liegt im Nachlaß Mittnacht ein ausführlicher bis jetzt noch nicht erschlossener
Briefwechsel vor (Württ. Landesbibliothek: Cod. hist. fol. 944, Ic (18 Stück).
19
Gleichzeitig betrieb Mittnacht eine äußere Organisationsform für die Neue Kirche. Noch
mit Rudolph Leonhard Tafel zusammen hatte er die Statuten für eine Deutsche
Neukirchliche Gesellschaft entworfen (1874), die 1875 in Stuttgart rechtskräftig wurden.
Müllensiefen, das große Mäzen, wurde ihr erster Präsident; das geistige Oberhaupt aber
blieb Mittnacht.
Er hatte sich sofort nach seiner Rückkehr, wie unsere Quellen zeigen, mit Werner in
Verbindung gesetzt, Reutlingen und das Mutterhaus besucht und dann von Stuttgart aus
korrespondiert. Vermutlich war Müllensiefen der Vermittler.
Mittnacht hatte - der reiche Onkel aus Amerika - zu Weihnachten 1870 den
Anstaltskindern eine kleine Spieluhr und einen belehrenden Brief geschickt, der uns zwar
nicht erhalten ist, aber von Werner in seiner Antwort kommentiert wird. Die Kinder hätten
72
die Wahrheiten, die darin ausgesprochen wurden, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
Das zeigt zweierlei: Mittnacht hat seinen Schriftwechsel mit Werner peinlich dokumentiert.
Erst vom Antwortbrief Werners an begann ihn die Sache zu fesseln. Zum andern scheint
die Theologie Swedenborgs in Werners Anstalten gelehrt worden zu sein, wie anders
hätte sie sonst einen zentralen Platz am Heiligen Abend erhalten?
Aus dem nunmehr veröffentlichten Briefwechsel seien einige markante Stellen zitiert,
welche die Positionen von Werner und Mittnacht erklären:
Werner antwortete über Müllensiefen an Mittnacht mit folgendem Grundsatz:
So wie die neue Kirche bis jetzt in England und Nordamerika sich entwickelt hat, ist sie
eine Bekenntniß- und keine Lebens-Kirche: nicht das, was sie nach Jesajas 60 und
Offenbarung 21.22 sein soll: Ob sich aus der Schale dieser Kern einmal entwikkeln wird,
müssen wir erwarten: mir ist nur so viel gewiß, daß dieser Entwicklungsgang für
Deutschland nicht paßt, bei der Grundlegung für den Bau der neuen Kirche, an welcher
wir jetzt noch stehen, kommt gewiß alles darauf an, daß wir den Fels gewinnen, auf
welchem dieser Bau allein für die Dauer und in seiner ganzen Vollendung ausgeführt
werden kann: dieser Fels sind die Klugen, die Seine Worte hären und auch thun.
... Ich kann immer noch nicht über den Zweifel hinwegkommen, ob denn wir Menschen
ohne eine göttliche Autorisation berechtigt sind, eine neue Kirche zu gründen; eine solche
Autorisation sehe ich bei der Gründung der ersten Kirche in der Ausgießung des Heiligen
Geistes, eine ähnliche, wenn auch in der Form verschiedene, doch den Bedürfnissen
unserer Zeit entsprechende Mittheilung des heil. Geistes, die sich unzweifelhaft als eine
von Gott ausgesandte und die die Bildung der neuen Kirche anstrebende ankündigt,
erwarte ich nach Haggai 2,6.7, wenn der Bau des Tempels beginnen soll. Es ist doch
wohl zu beachten, daß Swedenborg nicht das Mindeste für die Bildung einer Gemeinde
getan hat und äußerlich das Band mit der Kirche festhielt und noch vor seinem
Verscheiden des Heil. Abendmahl von einem Geistlichen derselben empfing...
Es sagt uns Swedenborg in der Christenreligion: no 784, daß das Neue nicht eintreten
könne, wo die Falsche Frucht eingepflanzt sei, wofern dieses nicht ausgerottet werde,
was zuerst bei der Geistlichkeit und sofort bei den Laien geschehen müsse. Dies scheint
mir anzudeuten, daß er die Herstellung der neuen Kirche durch die Geistlichen ohne
äußere Trennung und Neubildung erwartet; jedenfalls wäre dies der natürliche Weg: die
Schriften der neuen Kirche sind für den gemeinen Mann nicht leicht faßlich, auch nicht
anziehend wegen ihrer abstrakten Schreibart: es gehört eine höhere Bildung dazu, um
73
ihren tiefen Inhalt zu fassen und zu würdigen.
Mittnachts Antwortbrief, in 16 großformatigen Seiten als Abschrift erhalten, enthält ein
Trommelfeuer von Gegenargumenten für die Separierung in eine eigene
Religionsgemeinschaft, die Neue Kirche, die sich radikal von den traditionellen
Konfessionen fernzuhalten habe und die durch Swedenborgs exklusive Offenbarungen
zweifelsfrei legitimiert sei:
72
73
Zwink: Werner; Brief Nr. 1, S. 45.
Ebenda; Brief Nr. 2, S. 46f.
20
Die vielen Jahre, während welchen Sie sich schon mit derselben (der Lehre) befaßt
haben, müßte Ihnen jedoch eine gewiße Ueberzeugung beigebracht haben, daß diese
Lehre wahr ist, sonst hätten Sie dieselbe gewiß längst schon auf die Seite gelegt und
74
würden sie nicht Manchem Ihrer Freunde unter der Hand empfohlen haben...
Jeder andre Weg, als der nächste Weg der Wahrheit, um die Menschen zu Gott zurück
zu bringen, ist ein unnatürlicher und wird nicht zum Ziele führen. Und so auch jeder Weg,
die Neue Kirche zu gründen, ohne die Wahrheiten und die Lehre dieser Kirche bekannt
zu machen, ist ein verfehlter; und Sie entschuldigen mich, wenn ich hinzufüge: ich glaube
daß (Sie) die Neue Kirche und ihre Lehre verkennen; diese Kirche aber auf anderem
Wege gründen zu wollen als durch das Lehren, Predigen und Verbreiten ihrer Lehren verkehrt ist, ja nach Umständen kann es ein Unrecht genannt werden.75
Jeder Freund der Neuen Kirche ist unter Repräsentanten der alten Kirche ein Gefangener
und fühlt sehr wohl den Druck und Mangel an Freiheit. Ein fortgesetztes Zusammenleben
mit ihnen stumpft ab, wirkt erstickend und es ist Gefahr, für das geistige Leben. Die
Erfahrung lehrt mich, daß man noch eher mit den Heiden zusammen leben kann, als mit
76
den Christen der alten Kirche.
Was Mittnacht in der Praxis bezweckte, war aber, Werner zum geistigen Nachfolger von
Johann Friedrich Immanuel Tafel zu machen. Daß er von Werner Widerspruch ernten
würde, konnte er sich sicher schon vor seinen Umwerbungen ausmalen. Wollte er also
letztlich das Terrain für sich selbst ebnen?
Mittnacht endete seinen Brief:
Lassen Sie Ihre Anstalt und Alles hinter sich Sie haben Sie gegründet und Sie haben
daran wohl gethan; aber Sie haben jetzt Leute um sich, welche dieselbe fortführen, und
so, diesen Nutzen erfüllen können Widmen Sie sich einem höheren, ja dem höchsten
Nutzzweck, und werden Sie Prediger der Neuen Kirche ...
Empfangen Sie die Weihe der Ordination zum Diener der Neuen Kirche des Herrn und
gehen Sie und predigen Sie das neue Evangelium und vertheilen Sie die verordneten
Sakramente im Geiste des Neuen Jerusalem...77
Daß es anders kam, ist aus Werners Haltung her zu verstehen. Mit Mittnacht hatte er nur
seine geistigen Wurzeln gemein, die aber verschiedene Blüten trieben. Mittnacht hätte
nun sein Werben um Werner aufgeben und sich seinen Neukirchenfreunden zuwenden
können, wenn nicht ein peinlicher Zwischenfall ein letztes Licht auf den Konflikt geworfen
hätte.
Eine der bedeutendsten Personen der neuen Erweckungs- und Heiligungsbewegung in
Amerika, Pearsall Smith, besuchte Deutschland und die deutschsprachige Schweiz
während des Frühjahrs 1875. Werner selbst pilgerte nach Basel, um ihn predigen zu
78
hören .
Anscheinend hatte Werner in einem öffentlich gemachten Text sich enthusiastisch zu
Smith und seiner Heiligungstheologie bekannt. Erweckung und Rechtfertigung durch
Glauben, sind für Swedenborgs Theologie fremd. Auch Werner hat so nie gedacht.
Darüber äußerte sich Mittnacht in aufgebrachter und beleidigender Weise, was ihn einen
Teil der Abonnenten seiner Neukirchenblätter aus der Werner-Gemeinde kostete.
Doch was hatte Werner selbst an Pearsall Smith Annehmbares gefunden?
In einer Gegendarstellung, die Mittnacht dem Reutlinger in den Neukirchenblättern
eingeräumt hatte, schreibt Werner:
Er [Smith] dringt vor Allem auf Heiligung durch den Glauben, auf ein thätiges lebendiges
Christenthum, und rügt es sehr ernst, daß so viele Gläubige bei der Sündenvergebung
stehen bleiben und nicht bis zur Heiligkeit der Gesinnung und des Wandels durchdringen;
ihn treffen diese Vorwürfe nicht, die gewöhnlich den religiösen Richtungen in unserer Zeit
74
Ebenda; Brief Nr. 3, S. 50.
Ebenda, S. 51.
76
Ebenda, S. 56.
77
Ebenda, S. 61f.
78
Ebenda, S. 88-99.
75
21
gemacht werden. In diesem Hauptpunkt des Christenthums finde ich mich völlig Eins mit
ihm... ,79 Werners Einstellung zu Swedenborg wird dadurch, daß er sich dem Weg der
Heiligungstheologie verschrieb, noch unklarer. Er versuchte natürlich, den Primat der
Liebe zu retten. Ist aber der Streit nicht Ausweis dafür, daß auch Werner im Alter von der
Enttäuschung nicht frei war, daß die Entwicklung, der Fortschritt der Neuen Kirche bzw.
der Johanneischen Kirche nicht so zunahm, wie er anfangs geglaubt hatte?
Dagegen bewahrt das Archiv der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus ein
Briefkonvolut Werners an Paul Wurster, seinen Zögling und ersten Biographen, wo es
1883 u.a. heißt:
Du weisst, daß ich... der Lehre Swedenborgs zugethan bin und die Grundlehren
desselben lehre und ins Leben einzuführen versuche... aber bekennen muß ich dir, daß
ich mich - gerade in meiner vieljährigen Wirksamkeit auf dem geistigen Gebiet - von der
Wahrheit dieser Lehre mich immer mehr überzeuge und mit innerer Befriedigung
wahrnehme, wie die Grundwahrheiten derselben auch von seiten denkender, ernster
Christen immer mehr anerkannt und gelehrt werden...80
Seit Mittnachts Rückkehr aus Amerika ist zu konstatieren, daß er ein verhältnismäßig
unruhiges Leben führte. Änderungen der Zeitschriftentitel, der immer großer werdende
Abstand im Erscheinen der Zeitschriftenhefte, das Ausscheiden von Rudolph Leonhard
Tafel aus der Redaktion der Wochenschrift für die Neue Kirche, der mehrfache
Wohnsitzwechsel (zuerst in Stuttgart, 1877 im Haus Zum Frieden in Zürich, 1879 in
Frankfurt am Main) und der völlige Rückzug aus den Aktivitäten der Deutschen
Neukirchlichen Gesellschaft im Jahr 1883, das alles läßt den Rückschluß zu, daß die
Neue Kirche in Deutschland und der Schweiz nicht so gedieh, wie Mittnacht es sich
vorstellte und wie es sein Glauben an das bereits in der geistigen Welt verwirklichte Neue
Jerusalem es forderte.
Mittnacht begab sich 1883 auf Weltreise, wohl mit dem Hintergrund, außerhalb Europas
für die Verbreitung der Lehren der Neuen Kirche einzutreten. 1886 kehrte er nach
Deutschland zurück und nahm seinen Wohnsitz in Biebrich am Rhein (heute Ortsteil von
Wiesbaden), wo ihn seine Nichte Magdalene Mittnacht betreute und seine Buchhandels81
und Verlagsgeschäfte führte.
79
Neukirchenblätter 1 (1875), Nr. 20, S. 320.
Briefe, gerichtet an den späteren Professor Paul Wurster, erhalten durch dessen Töchter, die
Schwestern Wurster. (masch.. Abschrift), Brief 1 vom 11.3.1883.
81
Aus dem Erbe von Magdalene Mittnacht ihrerseits stammt der Nachlaß von Johann Gottlieb
Mittnacht in der Württ. Landesbibliothek.
80
22
23
Herunterladen