3 Ohr S. Bisdas, P. Dost, H. Iro, P.R. Issing, T. Keck, C. Klingmann, P. Kummer, R. Leuwer, A. Limberger, E. di Martino, S. Maune, S. Mattheis, P.K. Plinkert, S. Plontke, M. Reiß, G. Reiß, B. Schick, K. Schwager, R. Siegert, F. Waldfahrer, T.J. Vogl 3.1 Anatomische Grundlagen – 140 3.2 Physiologische Grundlagen – 147 3.3 Diagnostik – 159 3.4 Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs 3.5 Erkrankungen des Mittelohrs 3.6 Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – 250 – 218 – 193 140 Kapitel 3 · Ohr 3.1 Anatomische Grundlagen M. Reiß, G. Reiß 3 3.1.1 Entwicklungsgeschichte Ohrmuschel ▬ Entwickelt sich aus dem 2. Kiemenbogen16 ▬ Ab der 4. Fetalwoche erscheinen beiderseits der 1. Kiemenfurche 6 Ohrhöcker (Proliferationszentren); aus dem mandibulären 2. Höcker entsteht der Tragus, 3.–5. Höcker konfluieren in der 6. Woche zu 2 parallelen Falten (hintere Falte → Anthelix; vordere Falte → Helix ascendens) ▬ Cavum conchae entstammt der primitiven Ohrmuschelgrube ▬ Bis zum Ende der 7. Woche erfolgen Drehungen der Ohrmuschel um 2 Achsen Äußerer Gehörgang ▬ 7. Fetalwoche: Cavum conchae vertieft sich zu einem engen Kanal (primärer Gehörgang) ▬ 9. Fetalwoche: vom Fundus des primären Gehörgangs dringt ein Epithelstrang gegen den Unterrand der Paukenhöhle vor (Gehörgangsplatte) → knöcherner Gehörgang ▬ 5. Fetalmonat: Aufspaltung der Gehörgangsplatte durch Rückbildung der zentralen Epithelschichten, mit primärem Gehörgang Anlage des äußeren Gehörgangs Mittelohr ▬ 3. Fetalwoche: aus einem dorsalen Rezessus der 1. entodermalen Schlundtasche entwickelt sich der Recessus tubotympanicus (primäre Paukenhöhle); dieser nähert sich in der 4. Woche dem primären Gehörgang ▬ Zwischen Ektoderm des Gehörgangs und Entoderm der Paukenhöhle schiebt sich das Mesoderm der Viszeralbögen → primäres Trommelfell ▬ 7.–8. Fetalwoche: Einengung des proximalen Teiles der primären Pauke → Anlage der Tuba auditiva; der distale Teil bildet die definitive Paukenhöhle ▬ 9. Fetalwoche: Entwicklung des Anulus aus 4 Ossifikationsherden ▬ Durch Verdünnung der mesodermalen Zwischenschicht Ausbildung der Pars tensa; ab der 12. Fetalwoche besitzt das Trommelfell seine endgültige Konfiguration ▬ Erweiterung und Umgestaltung der Pauke und der Tube am Ende des 1. Lebensjahrs 16 Otto (1981) Mittelohr und Pneumatisation ▬ 10. Fetalwoche: Bildung der oberen und unteren Wand des Mittelohrs durch einen Fortsatz der Labyrinthkapsel (Proc. petrosus superior) ▬ Verknöcherung der lateralen Wand beginnt in der 8. Fetalwoche ▬ Zellbildung beginnt in der 33. Fetalwoche und endet im 3.–4. Lebensjahr ▬ Pyramidenzellen treten in der 28. Fetalwoche auf ▬ Mehrzahl der Warzenfortsatzzellen entwickeln sich vom Antrum mastoideum aus Gehörknöchelchen und Ohrbinnenmuskeln ▬ Abkömmlinge des mandibulären und hyoidalen Viszeralbogens (außer Lamina stapedialis) ▬ 4.–5. Fetalwoche: Anlage des Stapes als kugelige Verdichtung im 2. Viszeralbogen ▬ 5. Woche: Stapesanlage wird ringförmig und verbindet sich mit der Lamina stapedialis (Bestandteil der Labyrinthkapsel) ▬ 9. Woche: Stapesfußplatte verschmilzt mit Lamina stapedialis zum Lig. anulare ▬ Verknöcherung und Ausbildung der Steigbügelschenkel sowie des Köpfchens in der 18.–20. Fetalwoche beendet ▬ Hammer und Amboss sind in der 6. Fetalwoche im Mesenchym des 1. Viszeralbogens angelegt ▬ Trennung der gemeinsamen Anlage durch die Chorda tympani durch 2 abwärts ziehende Mesenchymverdichtungen zu Hammergriff und langem Ambossfortsatz ▬ 7. Fetalwoche: Bildung des Hammer-Amboss- und des Amboss-Steigbügel-Gelenks ▬ 8. Woche: im 1. Vizeralbogen Anlage des M. tensor tympani Innenohr ▬ Entwicklung beginnt mit Ohrplakode (ektodermale Verdickung in Höhe des späteren Rautenhirns) ▬ Durch Einsenkung des Epithels beiderseits der noch offenen Neuralrinne entsteht die Ohrgrube und durch Verlust ihres Zusammenhangs mit dem Oberflächenepithel das Ohrbläschen (Otozyt) ▬ 31. Fetaltag: Beginn der Differenzierung zum membranösen Labyrinth ▬ Durch Bildung einer Falte an der dorsalen Wand des Hörbläschens Abgrenzung des Recessus labyrinthi; aus diesem bilden sich Saccus und Ductus endolymphaticus ▬ 5. Fetalwoche: Hörbläschen gliedert sich in einen oberen dorsalen (Bogengänge, Vestibulum) und einen unteren ventralen Abschnitt (Ductus cochlearis) ▬ 6. Fetalwoche: embryonales Bindegewebe um membranöses Labyrinth → Vorknorpel ▬ Anlage der Bogengänge aus 2 taschenförmigen Ausstülpungen (gemeinsam oberer und hinterer, gesondert lateraler Bogengang) ▬ 8.–9. Fetalwoche: Labyrinthkapsel (Jungknorpel) wandelt sich in hyalinen Knorpel → Verknöcherung in der 22. Fetalwoche ▬ 9. Fetalwoche: Perilymphraum im Bereich der Cisterna perilymphatica ▬ 10. Fetalwoche: Ausbildung der Schneckenskalen von der Basis bis zur Spitze ▬ 11.–12. Fetalwoche: Beginn der Entwicklung der Perilymphräume ▬ 17. Fetalwoche: Helikotrema ▬ 22. Fetalwoche: Bogengänge haben ihre endgültige Größe erreicht ▬ Sakkulus und Utrikulus bilden sich aus dem oberen dorsalen Abschnitt des Hörbläschens Nerven und Sinneszellansammlungen ▬ 3. Fetalwoche: Trennung des Ggl. acusticofaciale in Ggl. acusticum und Ggl. geniculi ▬ 5. Fetalwoche: vom Ggl. geniculi aus Einwachsen von Fazialisfasern in das Mesenchym des 2. Viszeralbogens ▬ 4. Fetalwoche: an medialer Wand des Hörbläschens primäre Makula → Differenzierung in oberen (Macula utriculi, Cristae ampullares des oberen und lateralen Bogengangs) und unteren Teil (Macula sacculi, Crista des horizontalen Bogengangs, Papilla basilaris → Corti17-Organ) Literatur Ingenhoff U, Viereck E (1989) Anatomie und Embryologie der Ohrmuschel. Fortschr Kiefer Gesichtschir 34: 127–129 Moser F (1986) Embryologie und Anatomie des Ohres. In: Moser F (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie. Erkrankungen an Hals, Nase, Ohr und an den oberen Luft- und Speisewegen. Bd 1: Erkrankungen des Ohres. Gustav Fischer, Jena, S. 17–44 Otto H-D (1981) Zwei bisher unbekannte Verlagerungsbewegungen in der Branchialregion des menschlichen Keimlings dargestellt an der Ontogenese des äußeren und des Mittelohres einschließlich der periaurikulären Region sowie an der Pathogenese ihrer Missbildungen (Der Irrtum der Reichert-Gaupp’sehen Theorie). Diss. B, Charité, Medizinische Fakultät, Berlin Proctor B (1963) Surgical anatomy and embryology of the middle ear. Trans Am Acad Ophthalmol Otolaryngol 67: 801–814 Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Zechner G, Altmann F (1979) Entwicklung des menschlichen Ohres. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik. Bd 5. Ohr I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 1.1–1.26 17 Alfonso de Corti (1822–1876), Anatom, Würzburg/Utrecht/Turin 3 141 3.1 · Anatomische Grundlagen 3.1.2 Klinische Anatomie Äußeres Ohr (Auris externa) ▬ Besteht aus: Ohrmuschel, äußerer Gehörgang, äußerer Anteil des Trommelfells ▬ Meatus acusticus externus: Porus acusticus externus osseus (oben hinten Spina supra meatum) reicht bis zur Membrana tympani Ohrmuschel ▬ ⊡ Abb. 3.1 ▬ Hautfalte, die elastischen Knorpel einschließt; verengt sich trichterförmig gegen den äußeren Gehörgang ▬ Ohrläppchen (Lobulus auricularis) enthält nur Fettgewebe ▬ Concha auriculae: – Cavum conchae (Cavitas conchalis, Innenhof): wird von Anthelix, Tragus, Antitragus und Incisura intertragica begrenzt; geht in den äußeren Gehörgang über – Cymba conchae: hinten oben zwischen Crus helicis und Crus inferior anthelicis ▬ Helix: Crus helicis (zwischen Cymba conchae und Cavum conchae), Cauda helicis (oberhalb des Ohrläppchens) 1 2 3 4 9 10 6 11 5 7 8 12 13 ⊡ Abb. 3.1. Laterale Fläche der Ohrmuschel (rechtes Ohr). 1 Helix; 2 Crura anthelicis; 3 Skapha; 4 Anthelix; 5 Concha auriculae; 6 Cymba conchae; 7 Cavum conchae (Cavitas conchalis); 8 Antitragus; 9 Fossa triangularis; 10 Crus helicis; 11 Incisura supratragica; 12 Tragus; 13 Incisura intertragica; 142 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Anthelix: zwischen Helix und Concha auriculae; oben Crura (superior und inferior) anthelicis mit Fossa triangularis, unten Antitragus ▬ Skapha: zwischen Helix und Anthelix ▬ Incisura intertragica: zwischen Tragus und Antitragus ▬ Incisura supratragica: zwischen Tragus und Crus helicis ▬ Arterielle Versorgung: A. temporalis superficialis, A. auricularis posterior, A. occipitalis ▬ Venen: Verlauf entsprechend der Arterien ▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei, Nodi lymphatici cervicales laterales profundi ▬ Innervation: N. auricularis magnus (laterale Fläche; Plexus cervicalis), N. auriculotemporalis (vorderer Bereich; 3. Trigeminusast), R. auricularis nervi vagi (Koncha), N. auricularis magnus, N. occipitalis minor (mediale Fläche; Plexus cervicalis) Äußerer Gehörgang ▬ 24 mm lang ▬ Lateraler knorpliger (1/3) und medialer knöcherner Teil (2/3) ▬ In Frontal- und Horizontalebene gewunden ▬ Innervation: N. meatus acustici externi aus N. auriculotemporalis (vordere und obere Wand), R. auricularis nervi vagi (hintere und zum Teil untere Wand), Rr. auriculares des N. facialis und des N. glossopharyngeus (hintere Wand und Trommelfell) – grenzt oben an mittlere und hinten an hintere Schädelgrube (Bogengang, Karotiskanal, Vestibulum, Kochlea) – Pars tympanica (Os tympanicum, tympanischer Knochen): – Hauptanteil des äußeren knöchernen Gehörgangs – legt sich als Belegknochen von unten an die Pars squamosa und die Pars petrosa an – 2 Fissuren: Fissura tympanomastoidea (hinten → Mastoid) und Fissura tympanosquamosa (vorn → Pars squamosa) ▬ Weiterhin sind abzugrenzen: – Proc. styloideus ossis temporalis (Pars hyoidea; Styloidknochen) an der Pars petrosa; Ansatz des Lig. stylohyoideum – Proc. mastoideus (Pars mastoidea, Warzenfortsatz, mastoidaler Knochen; Ansatz des M. sternocleidomastoideus) – wird aus Pars petrosa und Pars squamomastoidea gebildet: – Pars petrosa: hintere und untere Grenze des Felsenbeins – Pars squamomastoidea: vorderer und oberflächlicher Teil des Mastoids > Wichtig Das Felsenbein ist der komplizierteste Knochen und beherbergt das empfindlichste Sinnesorgan des menschlichen Körpers. Felsenbein (Schläfenbein, Os temporale) ▬ Form einer dreiseitigen Pyramide (an Bildung zweier Schädelgruben beteiligt) ▬ Fusion aus 3 Hauptteilen (Kenntnis für die Felsenbeinpräparation wichtig): – Pars squamosa (Squama temporalis, Schläfenbeinschuppe) – laterale Fläche bzw. lateraler Anteil – stellt den größten Teil des Jochbogens dar – Ausgangspunkt des Proc. zygomaticus – läuft nach hinten in die Linea temporalis (inferior) aus – an der Wurzel des Proc. zygomaticus: Tuberculum articulare (dahinter: Fossa mandibularis) – Pars petrosa und Pars squamosa sind durch einen Knochenspan voneinander getrennt; vor dem Span Fissura petrosquamosa, hinter dem Span Fissura petrotympanica – Pars petrosa (Felsenbeinpyramide; durch Sutura petrosquamosa mit Pars squamosa verbunden) – hinterer und medialer Teil – Pyramide dreiseitig, etwa 45° nach vorn medial gerichtet Schädelbasis ▬ Die seitliche Region der Schädelbasis enthält 3 Schädelgruben: Fossa cranii anterior, media und posterior (# Kap. 5.1.2) ▬ Laterale Schädelbasis: – Grundlage bildet das Os temporale mit den angrenzenden Knochen (Os sphenoidale, Os occipitale, Os parietale) – Pars petrosa der Felsenbeinpyramide hat 2 Flächen: – Facies anterior (Facies cerebralis): Eminentia arcuata (oberer bzw. vorderer Bogengang); medial Hiatus canalis nervi petrosi majoris und Hiatus canalis nervi petrosi minoris (Durchtrittsstellen für Nn. petrosus major et minor des N. facialis); außerdem: Tegmen tympani, Impressio trigeminalis (Ggl. trigeminale) – Facies posterior (Facies cerebellaris): Porus acusticus internus → Meatus acusticus internus (für N. facialis, N. intermedius, N. vestibulocochlearis, A. labyrinthi); lateral: Apertura externa aquaeductus vestibuli (Ductus endolymphaticus 143 3.1 · Anatomische Grundlagen → Saccus endolymphaticus); außerdem: u. a. Sulcus Sinus sigmoidei, Apertura canaliculi cochleae (für Ductus perilymphaticus) – Pyramidenkante (Margo superior partis petrosae): Grenze zwischen beiden Flächen – Trennung der mittleren von der hinteren Schädelgrube mit Anheftung des Tentorium cerebelli (Sulcus Sinus petrosi superioris mit Sinus petrosus superior → Sinus transversus) ▬ ▬ Mittelohrräume Trommelfell (Membrana tympani) ▬ Rand im Sulcus tympanicus (Anulus fibrosus; Limbus) ▬ Elliptische Form: nach innen eingezogener Trichter, Umbo als Spitze (unterer Ansatz des Hammergriffs) ▬ Neigungswinkel von 40–45° ▬ Dicke: etwa 0,1 mm ▬ Pars tensa im Anulus tympanicus – 3 Schichten (von außen nach innen): – Gehörgangsepidermis (Stratum cutaneum) – Lamina propria mit Stratum radiatum und Stratum circulare – innere Schleimhaut (Stratum mucosum) ▬ Pars flaccida (Shrapnell-Membran): kleinerer, schlafferer Teil oberhalb der Plica mallearis anterior et posterior (variable Lamina propria) ▬ Arterielle Versorgung: – meatale Seite: A. auricularis profunda (A. maxillaris), A. temporalis superficialis, A. auricularis posterior; Pars tensa: 2 Plexus (zentraler und peripherer) – tympanale Seite: A. tympanica anterior, A. tympanica posterior; Anastomose mit den einstrahlenden Ästen der A. auricularis profunda ▬ Venen: Verlauf entsprechend der Arterien ▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei und Nodi lymphatici cervicales laterales profundi ▬ Innervation: N. tympanicus (N. auriculotemporalis, 3. Trigeminusast), R. auricularis nervi vagi, N. glossopharyngeus (über Tube), Plexus tympanicus ▬ ▬ ▬ Paukenhöhle (Cavum tympanica) ▬ Besteht aus 3 Etagen: – Epitympanon (Recessus epitympanicus; Attik) – kaudal durch Prominentia canalis facialis begrenzt, ventral durch Proattik – Mesotympanon – Epi- und Mesotympanon: mehrfache Unterteilung durch Ossikula, Bänder und Ohrbinnenmuskeln (z. B. Lig. incudis superior, Lig. mallei superior, Lig. laterale, Tensor-tympani-Sehne) ▬ ▬ – Prussak-Tasche: Raum zwischen Pars flaccida, Lig. mallei laterale und Hammerhals – Hypotympanon (Recessus hypotympanicus): Raum unterhalb der Trommelfellebene Mittelohrschleimhaut besteht aus Stroma und einreihigem kubischen Epithel Mediale Wand – Paries labyrinthicus tympani: – Proc. cochleariformis (N. facialis): Ansatz der Sehne des M. tensor tympani, medial des Hammerhalses, anterosuperior des ovalen Fensters und des Promontoriums – Promontorium: flacht nach vorn ab und geht in den knöchernen Tubenkanal über – basale Windung der Kochlea – ovales Fenster (Fenestra ovalis/vestibuli): Stapesfußplatte (Scala vestibuli der Kochlea), inferior des tympanalen Segments des N. facialis, superior parallel davon die Prominentia canalis semicircularis lateralis – rundes Fenster (Fenestra rotunda): in Fossula fenestrae cochleae (Rundfensternische – überhängender Knochen), inferior des ovalen Fensters – tympanale Öffnung des Canaliculus tympanicus am unteren Rand des Promontoriums (N. tympanicus und A. tympanica inferior) Laterale Wand – Paries membranaceus: Trommelfell und knöcherner Rahmen (Pars tympanica, Fissura petrotympanica) Posteriore Wand – Paries mastoideus: – posterior des ovalen Fensters (Unterteilung durch N. facialis) mit nach außen bzw. lateral gelegenem Proc. pyramidalis (Sehne des M. stapedius) – Recessus facialis: begrenzt durch Anulus und N. facialis (lateral) – Sinus tympani: medial des N. facialis, Pontikulus (etwa in einem Winkel von 90° zum N. facialis) unterteilt Sinus tympani in 2 Rezessus (medial) – Zugang zum Antrum (Aditus ad antrum) Anteriore Wand – Paries caroticus (Mündung des Canalis musculotubarius): – Semicanalis musculi tensoris tympani – Semicanalis tubae auditoriae (Tubenostium, Ostium tympanicum) Obere Wand – Paries tegmentalis: – Tegmen tympani: grenzt an mittlere Schädelgrube (papierdünne Knochenlamelle) – im Epitympanon: Hammerkopf und Ambosskörper – Epitympanon geht dorsal in den Aditus ad antrum über Untere Wand – Paries (Fossa) jugularis: – grenzt an Bulbus venae jugularis – Cellulae tympanicae 3 144 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Arterielle Versorgung: – im Wesentlichen Äste der A. carotis externa: – A. maxillaris (A. tympanica anterior, A. meningea media, A. tympanica superior) – A. pharyngea ascendens (A. tympanica inferior) – A. auricularis posterior (A. stylomastoidea → A. tympanica posterior) – A. carotis interna (Rr. caroticotympanici) ▬ Venen: V. auricularis profunda, Bulbus superior venae jugularis, Plexus pterygoideus, Plexus pharyngeus, Sinus sigmoideus, Sinus petrosus superior, Sinus petrosus inferior ▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei, Nodi lymphatici mastoidei, Nodi lymphatici retropharyngeales, Nodi lymphatici cervicales superficiales, Nodi lymphatici cervicales laterales profundi ▬ Nerven: Plexus tympanicus aus N. tympanicus (aus N. glossopharyngeus), R. communicans cum plexu tympanico (N. facialis), Nn. caroticotympanici Gehörknöchelchenkette ▬ Bewegliche Kette vom Trommelfell zur Fenestra vestibuli: – Hammer (Malleus): – Kopf (Caput mallei), Hals (Collum mallei), Hammerstiel (Manubrium mallei), 2 Fortsätze (langer Proc. anterior, kurzer Proc. lateralis); Manubrium mallei und Proc. lateralis mit Trommelfell verwachsen – Sehne des M. tensor tympani, dessen Bauch im Semicanalis musculi tensoris tympani untergebracht ist, biegt im rechten Winkel um den Proc. cochleariformis nach außen und zieht in horizontaler Richtung zum Manubrium mallei – Amboss (Inkus): – Körper (Corpus incudis), 2 Schenkel (Crus longum incudis, Crus breve incudis) – an der Vorderseite des Körper Gelenkfläche mit dem Malleus (Articulatio incudomalearis) – Crus longum incudis parallel zum Manubrium mallei – Proc. lenticularis (Ende des Crus longum) bildet Gelenk mit Caput stapedis (Articulatio incudostapedialis → Diarthrose) – Steigbügel (Stapes): – Kopf (Caput stapedis), 2 Schenkel (Crus anterior, Crus posterior), Steigbügelplatte (»Fußplatte«, Basis stapedis) – füllt Fenestra vestibuli nicht vollständig aus, sondern ist durch ein System radiärer Fasern beweglich mit dem knöchernen Rand verbunden – M. stapedius entspringt im Canalis pyramidalis und geht in Höhe der Eminentia pyramidalis in eine zarte Sehne über, diese inseriert am Hals oder an der Hinterfläche des Caput stapedis ▬ Innervation: – motorisch: N. facialis (M. stapedius), N. mandibularis (N. trigeminus; M. tensor tympani) – sensorisch: N. tympanicus, Nn. caroticotympanici (sympathische Fasern) Antrum und Proc. mastoideus (Warzenfortsatz) Aditus ad antrum und Antrum mastoideum ▬ Aditus oberhalb des ovalen Fensters und des Fazialiskanals – Verbindung zwischen Pauke und Antrum ▬ Vom Antrum gehen die luftgefüllten Warzenfortsatzzellen aus (unregelmäßig begrenzt), der laterale Bogengang befindet sich an seiner Schwelle Mastoid ▬ Pneumatisation der Mittelohrräume (Cellulae mastoideae) sehr variabel: kompakter Warzenfortsatz vs. ausgedehnte Zellsysteme (umwelt- oder anlage-/genetisch bedingt) ▬ Zellzüge (Tractus): terminale Zellen im Sinus-DuraWinkel (Citelli-Zellen), retrosinöse Zellen, PogányZellen (Zellen am knöchernen Kanal des N. facialis), auch Zellzüge im Os temporale, im Jochbogen und in der Pyramidenspitze (⊡ Tab. 3.1) ▬ Körnersches Septum (Lamina petrosquamose): Knochenlamelle, die bei Verschmelzung von Pars squamosa und Pars petrosa entstehen kann »Brücke« ▬ Chirurgisches Artefakt: wenn bei der Operation die seitlichen Anteile des äußeren Gehörgangs bis auf die Knochenleiste um den hinteren Anteil des Anulus tympanicus entfernt worden sind ⊡ Tab. 3.1. Pneumatisation des Felsenbeins Knochenstruktur Region Mittelohr Epi-, Meso- und Hypotympanon, posteriores Tympanon, Protympanon Mastoid Antrum, periantrale Zellen, zentral, bispheral, tegmental, sinodural, perifazial, Spitze, lateral, medial Perilabyrinthär Supralabyrinthär, infralabyrinthär Pyramidenspitze Peritubal, apikal Akzessorisch Zygomatisch, Schläfenbein, okzipital, Styloid 145 3.1 · Anatomische Grundlagen ▬ An der Brücke haftet der hintere obere Anteil des Trommelfells ▬ Im unteren Anteil liegt die Brücke in der Nähe des N. facialis ! Cave Die Nachbarschaft des Mastoids zum Kleinhirn und zum Sinus sigmoideus begünstigt die Überleitung entzündlicher Prozesse. Ohrtrompete ( Tuba auditoria sive auditiva, Eustachi-Röhre) ▬ Verbindung zwischen Paukenhöhle und Epipharynx (# Kap. 3.2.2) ▬ Besteht aus einem knöchernen (1/3) und einem knorpligen Teil (2/3); Grenze: Tubenisthmus ▬ Verläuft S-förmig gekrümmt von hinten oben lateral nach vorne unten medial; liegt gleichmäßig schräg zu allen Ebenen in einem Winkel von 45° ▬ Länge: 31–38 mm (bis 44 mm möglich) ▬ Pars ossea: – beginnt an der vorderen Wand der Paukenhöhle (Ostium tympanicum) – liegt im vorderen Teil der Pars petrosa ossis temporalis (medial unten Karotiskanal, medial oben Schneckenkapsel) – Hauptteil der knöchernen Begrenzung wird durch Pars tympanica und Pavimentum (Boden) pyramidalis (Pars petrosa) gebildet, welches sich zwischen Os temporale und Pars tympanicum von unten her einschiebt – nimmt unteres Fach des Canalis musculotubarius (Semicanalis tubae auditoriae, grenzt an Fissura petrotympanica) ein – Dach der Pars ossea: Tegmen tympani (Pars petrosa) und Keilbein – Pars ossea wird weiterhin durch Tubenzellen (Verbindung mit Pyramidenspitze und Kochlea) gebildet; Gestalt der Tube ist aufgrund der verschiedenen, an der Bildung beteiligten Knochen sehr variabel ▬ Pars cartilaginea: – medial, oben und zum Teil lateral knorplig, in übrigen Teile bindegewebig (Lamina membranacea) – endet am Ostium pharyngeum (1–2,5 cm niedriger als Ostium tympanicum) ▬ Querschnitt hakenförmig; nach unten offene Rinne (dort Begrenzung durch Lamina membranacea) ▬ Tube mit Flimmerepithel ausgekleidet, Kinozilien schlagen rachenwärts ▬ Arterielle Versorgung: aus A. carotis interna und R. accessorius der A. meningea media (Pars ossea) – A. pharyngea ascendens, A. palatina descendens, A. sphenopalatina, A. canalis pterygoidei (Pars cartalaginea) ▬ Venen: Plexus pterygoideus, Vv. pharyngeales, Venen der Paukenhöhle, Plexus venosus caroticus internus ▬ Lymphabfluss: direkt oder über Nodi lymphatici retropharyngeales in die Nodi lymphatici cervicales laterales profundi, außerdem in die Nodi lymphatici juguloomohyoidei und die Nodi lymphatici parotidei ▬ Innervation: R. tubarius aus Plexus tympanicus (Pars ossea), Plexus pharyngealis (Pars cartilaginea), N. glossopharyngeus und R. pharyngeus aus Ggl. pterygopalatinum (Ostium pharyngeum) Labyrinth und Innenohr (Auris interna) ▬ Besteht aus Hörschnecke, Vorhof (Vestibulum) und Bogengängen (Gesamtvolumen: 140 mm3) ▬ Befindet sich in der Pars petrosa ossis temporalis, eingebettet in kompaktes Knochengewebe ▬ Verbindung zur Schädelhöhle durch den Meatus acusticus internus und zum Cavum tympani durch Fenestra vestibuli (ovalis) ▬ Einteilung: – knöchernes Labyrinth (Labyrinthus osseus): Vestibulum, Canales semicirculares ossei (knöcherne Bogengänge), Kochlea (knöcherne Schnecke) – membranöses Labyrinth (Labyrinthus membranaceus): Utrikulus, Sakkulus, Ductus semicirculares (häutige Bogengänge), Ductus cochlearis (häutiger Schneckengang) ▬ Zwischen knöchernem und häutigem Labyrinth: Spatium perilymphaticum Kochlea ▬ Form eines Schneckenhauses, etwa 2,5 Windungen (# Kap. 3.2.1) ▬ 3 flüssigkeitsgefüllte Kompartimente: Scala tympani, Scala vestibuli, Scala media ▬ Modiolus (zentrale Achse der knöchernen Kochlea, Schneckenspindel) ist innen hohl (Ggl. spirale cochleae, afferente und efferente Nervenfasern, Gefäße) und öffnet sich durch Tractus spiralis foraminosus in den Fundus meatus acustici interni (N. cochlearis, Vasa auris interna) ▬ Lamina spiralis ossea windet sich bis zur Spitzenwindung (Helikotrema: Loch zwischen Rand des Hamulus laminae spiralis und der Lamina modioli) um Modiolus ▬ Wird durch Lamina spiralis membranacea ergänzt ▬ Unterteilung in 2 mit Perilymphe gefüllte Kanäle: Scala vestibuli (beginnt im Vestibulum), Scala tym- 3 146 3 Kapitel 3 · Ohr pani (endet an Fenestra rotunda); beide Kanäle gehen in der Spitzenwindung ineinander über (Helikotrema) ▬ Basilar- und Reisner-Membran inserieren an Lamina spiralis ossea ▬ Scala media (Ductus cochlearis) mit dreieckigem Querschnitt (Reissner-Membran, Scala vestibuli/Basilarmembran, Scala tympani/Stria vascularis), endet blind Vestibulum ▬ Liegt zwischen Cavum tympani und Meatus acusticus internus ▬ Abgeflachter elliptoider Raum (Höhe: 4–7 mm; Breite: 3–4 mm; Tiefe: 5–6 mm) ▬ Enthält Utrikulus (schlauchförmiges Säckchen) und Sakkulus (rundliches Säckchen): Otolithenapparate (Linearbeschleunigungsmessorgane) ▬ Otolithenorgane: Maculae, bedeckt mit Membran mit Otolithen ▬ Hauptachsen von Sakkulus und Utrikulus stehen in einem Winkel von 90° zueinander ▬ Vestibulum steht mit Bogengängen und Schnecke in Verbindung ▬ Aquaeductus vestibuli beherbergt den Ductus endolymphaticus, der an der Hinterfläche des Felsenbeins mit dem Saccus endolymphaticus endet Bogengänge (Canales semicirculares) ▬ 3 Bogengänge → 3 Drehbeschleunigungsrezeptoren: – seitlicher bzw. lateraler Bogengang (horizontal; erst bei Vorwärtsneigung des Kopfes um 30° befindet er sich in der horizontalen Ebene) – oberer bzw. superiorer Bogengang (vertikal; Eminentia arcuata in mittlerer Schädelgrube) – hinterer bzw. posteriorer Bogengang (ebenfalls vertikal, jedoch rechtwinklig zum oberen Bogengang) ▬ Bogengänge stehen annähernd in den 3 Hauptrichtungen des Raumes ▬ Die häutigen Gänge bilden Endolymphschläuche, die sich vor der Einmündung in den Utrikulus zu jeweils einer Ampulle aufweiten (5 Öffnungen) ▬ Sinnesepithelien im Otolithenapparat und in den Ampullen der 3 Bogengänge ▬ Ampulle: Rezeptor der Drehbeschleunigung mit Cupula und Crista ampullaris ▬ Crista ampullaris enthält die vestibulären Haarzellen ▬ 2 Typen von Haarzellen: Typ-I- (flaschenförmig) und Typ-II-Haarzellen (zylindrisch) ▬ Haarzellen tragen jeweils etwa 60 Stereozilien und ein Kinozilium (Kinozilie) Gefäße und Nerven des Labyrinths ▬ Arterielle Versorgung: – häutiges Labyrinth: A. labyrinthi (mehrere Arteriolen; zieht mit VIII. Hirnnerv durch den inneren Gehörgang, Endarterie) aus A. cerebelli inferior anterior (85 %) oder A. basilaris (15 %), teilt sich in einen R. cochleae und Rr. vestibulares – knöchernes Labyrinth: A. meningea media, A. carotis interna, A. pharyngea ascendens ▬ Venen: V. aquaeductus cochleae (Bulbus superior venae jugularis), Vv. labyrinthiae, V. aquaeductus vestibuli (Sinus petrosus inferior) ▬ Innervation: N. vestibulocochlearis mit 2 funktionell verschiedenen Anteilen (Nn. vestibulares, N. cochlearis) Innerer Gehörgang (Meatus acusticus internus) ▬ Hinterfläche der Felsenbeinpyramide ▬ Verläuft in schräger Richtung von innen nach außen und hinten ▬ Länge: 1 cm ▬ Von Dura und Arachnoidea ausgekleidet ▬ Unterteilung in 4 Quadranten: – superior: frontal N. facialis, okzipital N. vestibularis superior (getrennt durch Crista verticalis bzw. Bill’s bar: wichtiger Orientierungspunkt) – inferior: frontal N. cochlearis, okzipital N. vestibularis inferior – superiore und inferiore Anteile werden durch Crista transversa getrennt Sonstige Strukturen Sinus sigmoideus und Bulbus jugulare ▬ Zahlreiche Variationen bezüglich Verlauf, Dicke und Anlage ▬ Confluens sinuum → Sinus sigmoideus (1. Sinusknie im Mastoid) → abwärts zum 2. Sinusknie (Mastoidspitze) → steigt an zum 3. Sinusknie → zieht nach unten zum Bulbus jugulare → Foramen jugulare Intratympanaler Anteil des N. facialis ▬ Verläuft im Fallopio-Kanal durch den Meatus acusticus internus ▬ Labyrinthärer Anteil (Ggl. geniculi, 1. Knie): N. petrosus major ▬ Tympanaler Abschnitt: horizontal (oberhalb der Fenestra vestibuli, unterhalb des Canalis semicircularis lateralis) ▬ Mastoidaler Abschnitt: vertikaler Verlauf, endet im Foramen stylomastoideum ▬ R. stapedius: Abgang in Höhe der Eminentia pyramidalis 147 3.2 · Physiologische Grundlagen ▬ Chorda tympani: – Abgang im mastoidalen Abschnitt – sensorische und präganglionäre Fasern – Verlauf in der Pauke: Apertura tympanica canaliculi chordae tympani → durchquert bogenförmig die Pauke → laterale Seite des langen Ambossschenkels → mediale Seite des Hammerhalses (kranial vom Ansatz der M.-tensor-tympani-Sehne) → Fissura petrotympanica Saccus endolymphaticus ▬ »Blindes« Ende eines Endolymphschlauchs, der vom Sakkulus des Schneckenvorhofs medial des oberen Bogengangs zur Dura verläuft ▬ Liegt innerhalb einer Duraduplikatur am Übergang von der mittleren zur hinteren Schädelgrube ▬ Innere Oberfläche von einem hochprismatischen Epithel ausgekleidet: transportiert K+ aktiv aus der Endolymphe in den subepithelialen Raum (umgekehrte K+-Ionen-Pumprichtung wie im Bereich der Stria vascularis) Literatur Beck C (1979) Anatomie und Histologie des Ohres. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik. Bd 5. Ohr I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 2.1–20.60 Bollobas B, Hajdu I (1975) The development of the tympanic sinus. ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec 37: 97–102 Krmpotic-Nemanic J, Draf W, Helms J (1985) Chirurgische Anatomie des Kopf-Hals-Bereichs. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Sanna M, Khrais T, Falcioni M, Russo A, Abdelkader T (2006) The temporal bone: A manual for dissection and surgical approaches. Thieme, Stuttgart New York Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo 3.2 Physiologische Grundlagen 3.2.1 Hören S. Plontke Ohr – Strukturelle Organisation und physiologische Aspekte Innenohr ▬ Siehe auch oben, # Kap. 3.1.2 ▬ Basilarmembran trennt Scala tympani von Scala media (Ductus cochlearis); an der Basis der Kochlea schmaler und steifer als in den oberen Windungen (Zunahme der Breite in Richtung Helikotrema) → wichtig für Tonotopie der Kochlea (s. unten) ▬ Corti-Organ: liegt auf Basilarmembran, besteht aus Haarsinneszellen ▬ Stütz- und Pfeilerzellen, die u. a. die Haarsinneszellen in Position halten (Basiselemente: Haarsinnes-, Stützund Pfeilerzellen) ▬ Mit Perilymphe gefüllte Räume (Nuel-Tunnel) Ionenzusammensetzung der Innenohrflüssigkeiten ▬ Scala vestibuli und Scala tympani (Perilymphe): ähnlich der Extrazellulärflüssigkeit (hoher Natriumgehalt: 140–150 mmol/l; niedriger Kaliumgehalt: ca. 5 mmol/l) ▬ Endolymphraum der Scala media: ähnlich der Intrazellulärflüssigkeit (niedriger Natriumgehalt: etwa 1 mmol/l; hoher Kaliumgehalt: ca. 157 mmol/l)18 > Wichtig Der Flüssigkeitsraum unterhalb der Lamina reticularis (in dem die Zellkörper der Haarsinneszellen liegen) gehört zur Scala media bzw. zum Ductus cochlearis, enthält aber Perilymphe. ▬ Perilymphraum kommuniziert über Aquaeductus cochlearis mit Zerebrospinalflüssigkeit (beim Erwachsenen nicht immer offen) ▬ Endolymphraum steht über Ductus endolymphaticus mit Saccus endolymphaticus in Verbindung Haarsinneszellen ▬ Entlang der Basilarmembran angeordnet ▬ Eine Reihe innerer Haarsinneszellen (ca. 3500): kelchförmig, mit zentral angeordnetem Zellkern, vollständig von Stützzellen umgeben ▬ Meist 3 Reihen äußerer Haarsinneszellen (insgesamt etwa 12.000): zylindrische Form, Stabilisierung durch Membrana reticularis und Deiters-Zellen ▬ Nuel-Raum umgibt äußere Haarsinneszellen ▬ Länge der äußeren Haarsinneszellen nimmt in Richtung Helikotrema zu ▬ Ruhepotenzial der inneren Haarsinneszellen: etwa –40 mV ▬ Ruhepotenzial der äußeren Haarsinneszellen: etwa –70 mV Stereozilien ▬ 50–150 pro Haarsinneszelle, V- oder W-förmig angeordnet (äußere Haarsinneszellen) oder abgeflacht U-förmig (innere Haarsinneszellen) ▬ Im Unterschied zu vestibulären Haarsinneszellen kein Kinozilium 18 Wangemann u. Schacht (1996) 3 148 Kapitel 3 · Ohr ▬ Äußere Haarsinneszellen: Kontakt zur Tektorialmembran ▬ Innere Haarsinneszellen: kein Kontakt zur Tektorialmembran ▬ Aus Aktinfilamenten aufgebaut 3 ▬ Kopf- und Ohrmuschelform wahrscheinlich Grundlage für Richtungshören in der Vertikalebene (Änderung des Frequenzspektrums eines Schallsignals bei Elevation; s. unten) Akustische Impedanz des Ohres Afferente Innervation ▬ Typ I (90–95 %): myelinisiert; jede innere Haarsinneszelle wird von mehreren Nervenfasern innerviert ▬ Typ II: nicht myelinisiert; eine Nervenfaser innerviert mehrere äußere Haarsinneszellen Efferente Innervation ▬ Mediale Efferenzen (vom medialen Anteil des Ncl. olivaris superior) kontaktieren den Zellkörper der äußeren Haarsinneszellen ▬ Laterale Efferenzen (vom lateralen Anteil des Ncl. olivaris superior) kontaktieren die Dendriten der Typ-INervenfasern Schallübertragung zur Kochlea Schalldruck ▬ ▬ ▬ ▬ Einheit: Pascal (N/m2) Schalldruck an der Hörschwelle: 2 × 10–5 Pa = 20 µPa Schalldruck an der Schmerzgrenze: 2 × 101 Pa = 20 Pa Angabe des Schalldrucks in Dezibel (dB; p: Schalldruck; p0: Schalldruck an der Hörschwelle): dB = 20 log p p0 ▬ Beispiele für Schallpegel (vgl. unten, 3.3.2): – Raumgeräuschpegel: etwa 40 dB – Umgangssprache: ca. 60 dB ▬ Schall erreicht die Kochlea über den Gehörgang und das Mittelohr oder über den Knochen Gehörgang als Resonator ▬ Schalldruck am Trommelfell höher als am Gehörgangseingang; Maximum: nahe 3 kHz ca. 10 dB (Resonanzfrequenz) ▬ Resonanzfrequenz von Geometrie des Gehörgangs abhängig (bei Tympanometrie bei Kindern höherer Sondenton) Kopfeffekte ▬ Kopf und Ohrmuschel verändern den Schalldruck am Gehörgang ▬ Effekt von Frequenz und Einfallswinkel abhängig ▬ Zeit- und Intensitätsunterschiede eines Schallsignals an beiden Ohren als Grundlage für Richtungshören in der Horizontalebene ▬ Maß für den Widerstand, der der Bewegung durch den Schall entgegensetzt wird Mittelohr (Impedanzwandler) ▬ Trommelfell und Gehörknöchelchenkette transportieren Schallenergie der Luft zu den Innenohrflüssigkeiten, d. h. die Schallwelle wird durch das Trommelfell sowie Hammer, Amboss und Steigbügel auf die Perilymphe übertragen ▬ Hohe Impedanz der Kochlea (Flüssigkeit) wird an niedrige Impedanz der Luft angepasst ▬ Akustischer Widerstand (Impedanz) des Trommelfells ist optimal an Schallwellenwiderstand der Luft angepasst → Erkrankungen des Mittelohrs können z. B. durch Versteifung zu Störungen der Impedanzanpassung führen ▬ Teil des eintreffenden Schalls wird am Trommelfell reflektiert ▬ Hydraulischer Effekt Trommelfellfläche : Fußplattenfläche von 17 : 1 ▬ Hebeleffekt zwischen Hammergriff und langen Ambossfortsatz von 1,3 : 1 ▬ Gesamtverstärkung von 22 : 1 ▬ Impedanzanpassung des Mittelohrs im mittleren Frequenzbereich am größten (Gewinn durch Impedanzanpassung bei 0,9 kHz: etwa 30 dB); bei höheren Frequenzen Abnahme der Verstärkung um ca. 8 dB/ Oktave ▬ Mittelohrmuskeln dämpfen Schwingung der Gehörknöchelchenkette: – längeres Nachschwingen wird vermieden – durch Kontraktion der gelenkig gleitenden Verbindungen wird verhindert, dass extreme Trommelfellverlagerungen durch Schwankungen des Umgebungsdrucks zum Innenohr gelangen ▬ Bei intaktem Trommelfell größere Kraft auf das ovale als auf das runde Fenster (Schallwellen erreichen beide Fenster mit unterschiedlichen Phasen) → Kraftunterschiede führen zur Bewegung der Innenohrflüssigkeiten ▬ Rundes Fenster ist durch Ränder der runden Fensternische und durch intaktes Trommelfell schallgeschützt ▬ Trommelfelldefekte/-perforationen mit und ohne Ossikelunterbrechungen; Hörverlust (ca. 10–42 dB) abhängig von: 149 3.2 · Physiologische Grundlagen – Größe und Lokalisation von Trommelfelldefekten – zusätzlichen Ossikelunterbrechungen – Konsistenz und anatomischer Anordnung des Resttrommelfells (Schallprotektion des runden Fensters, Massenbelastung des ovalen Fensters und Phasendifferenz des Schallsignals an beiden Fenstern) Physiologie der Kochlea ▬ Mechanische Stimulation des auf der Basilarmembran aufsitzenden Corti-Organs als Ergebnis der sich in Flüssigkeitsräumen ausbreitenden Wanderwelle ▬ Hörtheorie der Wanderwellen nach von Békésy19 (hydrodynamische Theorie): ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ 19 – periodische Stapesschwingung → Volumenverschiebung der angrenzenden Perilymphe zwischen Scala vestibuli und Scala tympani (Voraussetzung: elastischer Verschluss gestattet ein Ausweichen der Perilymphe) → Wellenbewegung des dazwischen liegenden Ductus cochlearis zieht zum Helikotrema → an der Stelle, die der Frequenz der Stapesschwingung entspricht, entsteht ein Schwingungsmaximum → Verschiebung zwischen Membrana tectoria und Basilarmembran → Scherbewegung zwischen Tektorialmembran und Corti-Organ mit einer Phasenverschiebung um 180° → Reizung der Haarsinneszellen – Amplitude der Wanderwelle wächst bis zu einem Maximum an und bricht danach schnell zusammen In der Kochlea Auftrennung des Schallsignals in spektrale Komponenten durch »Wanderwelle« → verschiedene Frequenzanteile stimulieren unterschiedliche Nervenfaserpopulationen Tonotopie: Prinzip der räumlich getrennten Stimulation von für verschiedene Frequenzen kodierenden Hörnervenfasern (vgl. unten) Maximale Lageveränderung der Basilarmembran direkt von der Frequenz des Reizes abhängig; bestimmte Frequenzen werden in definierten Bereichen der Kochlea abgebildet (Dispersion bzw. räumliche Trennung nach Frequenzen): – hohe Frequenzen: basokochleär (Schneckenbasis) – tiefe Frequenzen: apikokochleär (Schneckenapex) Tonotope Organisation gilt auch für die Nervenfasern im überwiegenden Anteil der aufsteigenden Hörbahn und im auditorischen Kortex Auslenkung der Basilarmembran durch die Wanderwelle führt zu Scherbewegungen zwischen Tektorialmembran bzw. Endolymphe und Stereozilien im Georg von Békésy (1899–1972), Otophysiologe, Budapest/Boston/ Honolulu, Nobelpreis für Medizin 1961 Endolymphraum des Sulcus spirale, die die Sinneshaare tangential verschieben (adäquater Reiz für die Haarsinneszellen) → Umsetzung von mechanischer Energie in Ionenströme (mechanoelektrische Transduktion an inneren Haarsinneszellen) → Nervenimpulse, die über afferente Nervenfasern zum Ggl. spirale laufen > Wichtig Die Basilarmembran schwingt vertikal (nach oben und unten), und die Tektorialmembran führt eine Scherbewegung zur Lamina reticularis aus. ▬ Resonanztheorie von von Helmholtz20 (nur historische Bedeutung): im Innenohr vollzieht sich eine Schallanalyse (Reizverteilung); Basilarmembran besteht aus verschieden langen und verschieden stark gespannten, quer verlaufenden Fasern – diejenige Faser, deren Eigenfrequenz dem einwirkenden Schall entspricht, soll durch Resonanz in Schwingung geraten Innere Haarsinnszellen ▬ Mechanoelektrische Informationsvermittler des Innenohrs ▬ Stereozilien haben keinen Kontakt zur Tektorialmembran ▬ Erregung bei niedrigen Frequenzen durch Endolymphströmung ▬ Mechanoelektrische Transduktion: – im Bereich des Amplitudenmaximums wird das akustische Reizmuster durch Anregung der Haarsinneszellen in Nerveneinzelentladungen transformiert; in den Sinneszellen kommt es zu einer reizsynchronen Änderung des Rezeptorpotenzials, die über ein Generatorpotenzial bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle (Alles-oder-NichtsPrinzip) ein Aktionspotenzial auslöst – mechanosensitive Ionenkanäle in den Stereozilien werden geöffnet (Stereozilien sind untereinander mit Filamenten verbunden – »tip links«) → K+Ionen-Einstrom → Depolarisation der inneren Haarsinneszellen → Öffnung spannungsgesteuerter Ca2+-Kanäle → Einstrom von Ca2+-Ionen aus CortiLymphe (Perilymphe) → Freisetzung von Glutamat (wichtigster Neurotransmitter) bei Entleerung von Transmittervesikeln in den synaptischen Spalt → Bindung an Glutamatrezeptor (NMDA-, AMPA-, Kainatrezeptoren) der afferenten Synapse → Aufbau des postsynaptischen Generatorpotenzials 20 Hermann von Helmholtz (1821–1894), Physiologe und Physiker, Berlin 3 150 3 Kapitel 3 · Ohr – Repolarisation durch energieverbrauchenden Ionenrücktransport – innere Haarsinneszelle bildet hochspezialisierte sog. Bändersynapse mit 5–30 peripheren Axonen der Spiralganglienneurone, die mit zahlreichen Kalziumkanälen und glutamathaltigen Vesikeln hohe Übertragungsraten mit kurzer Refraktärzeit und damit eine schnelle und gleichzeitig lang anhaltende Transmitterfreisetzung erlauben Äußere Haarsinneszellen ▬ Kochleärer Verstärker für die inneren Haarsinneszellen > Wichtig Die Stereoziliendeflektion führt bei den äußeren Haarsinneszellen zu einer spannungsabhängigen Längenänderung, bei den inneren Haarsinneszellen dagegen zu einer Öffnung spannungsgesteuerter Kalziumkanäle. ▬ Aktive Elemente: enthalten »Motorprotein« Prestin zur aktiven Umwandlung von elektrischer Spannung in mechanische Kraftwirkung ▬ Verstärken durch schnelle, aktive, schallinduzierte Längenänderung (bis etwa 5 %) die Auslenkung der Basilarmembran bei geringen Schallpegeln um ca. 50 dB (Hörschwelle bei Verlust der äußeren Haarsinneszellen: etwa 40–60 dB) und erhöhen die Frequenzselektivität ▬ Langsamere (und größere) Längenänderung (kalziumabhängig) moduliert Sensitivität der Kochlea → Amplitudenkompression ▬ Verantwortlich für Nonlinearität der Schallverarbeitung in der Kochlea, ohne die eine Schallpegelkodierung über einen großen Dynamikbereich nicht möglich wäre ▬ Aktivität der äußeren Haarsinneszellen wird überwiegend efferent durch mediale olivokochleäre Efferenzen beeinflusst (genaue Bedeutung des efferenten Systems noch nicht sicher geklärt) ▬ Äußere Haarsinneszellen sind Grundlage für die Erzeugung von Schallsignalen, welche »rückwärts« über die Gehörknöchelchen auf das Trommelfell übertragen werden und als otoakustische Emissionen im Gehörgang gemessen werden können (# Kap. 3.3.2) > Wichtig Die gute Frequenzselektivität beruht zum einen auf der (passiven) Wanderwelle und zum anderen auf der aktiven Verstärkung der Wanderwelle durch die äußeren Haarsinneszellen. Der aktive Teil übersteigt den passiven erheblich. ▬ Aktuell geführte Debatte über Anteil prestinvermittelter, somatischer Motilität und aktiver Bewegungen des Haarbündels der äußeren Haarsinneszellen an der kochleären Verstärkung noch nicht abgeschlossen ▬ Periodizitätsanalyse: für komplexe Signale, bei mittlerem und hohem Schalldruck relevant Endokochleäres Potenzial ▬ Ständige, nichtakustisch evozierte Potenzialdifferenz zwischen Endo- und Perilymphraum (basal 80– 120 mV, apikal 50–80 mV); Potenzialdifferenz zwischen Endolymphraum und Zytoplasma der inneren Haarsinneszellen: ca. 155 mV ▬ Aufrechterhaltung des endokochleären Potenzials durch K+-Ionen-Sekretion in die Endolymphe durch Stria vascularis ▬ Stria vascularis: – mehrschichtiges Epithel zwischen Endolymphraum und Lig. spirale – verantwortlich für endokochleäres Potenzial sowie Ionenzusammensetzung (K+-Ionen-Konzentration) und Volumenregulation der Endolymphe (Homöostase des Innenohrs) ▬ Sensorische Aktivierung von Haarsinneszellen → erhöhter K+-Ionen-Fluss durch die Zellen in den Perilymphraum, von dort K+-Recycling in den Endolymphraum erforderlich > Wichtig Bei gestörtem K+-Recycling Störung der Innenohrhomöostase Akustisch evozierte elektrische Potenziale in der Kochlea (kochleäre Reizfolgepotenziale) Kochleäres Mikrophonpotenzial ▬ Reizsynchrone Wechselspannungspotenziale (vorwiegend aus dem basalen Bereich der Kochlea, folgen der Wellenform des Schallsignals) ▬ Bei Ableitung an Promontorium oder Rundfenstermembran v. a. durch äußere Haarsinneszellen der basalen Kochlearegion generiert ▬ Amplitude wächst linear bis Sättigungsbereich Kochleäres Summationspotenzial ▬ Von inneren und äußeren Haarsinneszellen generiert (wahrscheinlich Gleichspannungsanteil des Rezeptorpotenzials) ▬ Entspricht Gleichspannungsabweichung der Grundlinie des kochleären Mikrophonpotenzials ▬ Je nach Reiz, Ableitort und Messmethode positiv oder negativ ▬ Veränderungen bei Homöostasestörungen des Innenohrs (z. B. Hydrops) ▬ Interindividuell sehr variabel 151 3.2 · Physiologische Grundlagen Summenaktionspotenzial ▬ Nervales Reizfolgepotenzial der distalsten Nervenanteile (innerhalb der Kochlea) ▬ Entsteht durch synchrone Erregung der afferenten Nervenfasern (N1-Welle) und des Ncl. cochlearis (N2Welle) Elektrokochleographie, »Promontorialtest« ▬ Einzelkomponenten: kochleäres Mikrophonpotenzial, kochleäres Summationspotenzial, Summenaktionspotenzial (nur geringer Anteil von N2) Elektrokochleographie: akustische Reize ▬ Promontorialtest: Applikation biphasischer Stromimpulse ▬ Zur klinischen Diagnostik geeignet (# Kap. 3.3.2) Anatomie des auditorischen Nervensystems Aufsteigende Hörbahn ▬ »Klassisches« (tonotopes) System: – 3 Hauptrelaisstationen zwischen Hörnerv und primärem auditorischen Kortex: – 1. Umschaltung (Hirnstamm): Ncl. cochlearis (dorsaler – hier terminieren v. a. afferente Fasern – und ventraler Anteil) über oberen Olivenkomplex der ipsilateralen und kontralateralen Seite (von Neuronen des ventralen Kochleariskerns) sowie Lemniscus lateralis der Gegenseite (vom dorsalen Kochleariskern) – 2. Umschaltung (Mesenzephalon): Colliculus inferior (größter auditorischer Kern) – 3. Umschaltung (Thalamus): Corpus geniculatum mediale – häufige Aufzweigungen → Zunahme der Nervenfasern in Richtung Kortex – häufig beidseitige Verbindungen durch zusätzliche Kreuzung der Fasern, v. a. in oberem Olivenkomplex, Colliculus inferior und auditorischem Kortex (⊡ Abb. 3.2) ▬ »Diffuses« (»polysensorisches«) System: – projiziert (im Gegensatz zum tonotopen System) über den dorsalen Anteil des Corpus geniculatum mediale (z. B. zum sekundären auditorischen Kortex unter Umgehung des primären auditorischen Kortex und über eine kürzere Verbindung primäre Hörrinde Hörstrahlung Corpus geniculatum mediale Colliculus inferior (Vierhügelplatte) Nucleus lemnisci lateralis Lemniscus lateralis Olivia superior Kochlea Nucleus cochlearis ventralis Nucleus cochlearis dorsalis links rechts ⊡ Abb. 3.2. Schematische Darstellung der Hörbahn 3 152 3 Kapitel 3 · Ohr als beim tonotopen System) subkortikal (unbewusst) zur Amygdala (limbisches System, Emotionen) – Verbindungen zur Formatio reticularis – empfängt Informationen anderer sensorischer Systeme (visuell, somatosensorisch) Absteigende Hörbahn ▬ Im Wesentlichen parallel zur aufsteigenden Hörbahn (aber reziprok, vom Kortex zu den Haarsinneszellen) ▬ Modulation der Aktivität niederer durch höhere Zentren ▬ Am besten untersucht: mediales olivokochleäres System zu den äußeren Haarsinneszellen und laterales olivokochleäres System zu den Dendriten der afferenten (Typ-I-)Nervenfasern unterhalb der inneren Haarsinneszellen Separation auditorischer Information im auditorischen System ▬ Parallelverarbeitung: die gleichen Informationen werden in verschiedenen Neuronenpopulationen verarbeitet; Grundlage ist die Aufzweigung der Nervenfasern in der Hörbahn ▬ Stream-Segregation: verschiedene Informationen eines akustischen Signals werden in verschiedenen Neuronenpopulationen verarbeitet (vgl. Segregation der Objektinformation – »Was?« – und der Rauminformation – »Wo?« – im visuellen System) Auditorischer Kortex ▬ Anatomische Unterteilung: Heschl-Querwindung, Planum temporale, Gyrus temporalis superior, Sulcus temporalis superior ▬ Funktionelle Unterteilung: primärer, sekundärer und tertiärer auditorischer Kortex ▬ Tonotope Organisation von untergeordneter Bedeutung ▬ Analyse komplexer Schallsignale und Diskrimination auditorischer Zeitmuster Schallsignalkodierung in Hörnervenfasern ▬ Zeitdauer der Aktivierung ▬ Schalldruckpegel → Entladungsrate (nichtlinear, Sättigungsverhalten) ▬ Frequenz: – Frequenzselektivität der Basilarmembran (Tonotopie) als Voraussetzung für das Ortsprinzip der Frequenzunterscheidung – Phasenkopplung der Nervenaktivität als Grundlage der zeitlichen Auflösung des Schallsignals (bis ca. 5 kHz) ▬ »Tuning-Kurven« (Frequenzabstimmkurven) von Hörnervenfasern zeigen die niedrigste Schwelle bei Bestfrequenz (charakteristische Frequenz); eine Hörnervenfaser wird entsprechend ihrem Innervationsort in der Kochlea dann am stärksten erregt, wenn im Schallsignal eine Frequenzkomponente enthalten ist, die an diesem Ort die Haarzellen am stärksten reizt → jede Hörnervenfaser besitzt die Eigenschaft eines Frequenzfilters in Form ihrer Frequenzabstimmungsbzw. Tuning-Kurve Frequenzselektivität ▬ Erreichen eines differenzierten Tonhöhenunterscheidungsvermögens ▬ Charakteristische Eigenschaft des gesamten auditorischen Nervensystems Tonotope Anordnung ▬ Bestimmte Nervenfasern/Zellen in Hörnervenkernen und im auditorischen Kortex sind für bestimmte Frequenzen maximal sensitiv Binaurales (stereophones) Hören ▬ Verbessert Sprachdiskrimination vor Hintergrundgeräuschen/im Störlärm ▬ Physikalische Grundlage für Richtungshören in der Horizontalebene: dieses kommt infolge des Schallschattens des Kopfes über die Schalldruck-, die Frequenz- und die Zeitdifferenz zustande (s. oben, »Schallübertragung zur Kochlea«) > Wichtig Physiologie des auditorischen Nervensystems ▬ Jede Nervenfaser hat eine Frequenz, durch die sie am leichtesten in Erregung versetzt wird (Bestfrequenz) und die der entsprechenden Frequenz auf der Basilarmembran zugeordnet ist (Tonotopie; s. oben, »Physiologie der Kochlea«) ▬ Bei höheren Frequenzen werden mehrere Nervenfasern zusammengeschaltet Sprache wird über eine Analyse der Zeitstruktur und der Intensitätsunterschiede sowie über akustische Erkennungsmuster verständlich gemacht. Akustisch evozierte Potenziale im auditorischen Nervensystem ▬ Alle neuralen Strukturen der aufsteigenden Hörbahn können akustisch evozierte elektrische Potenziale er- 153 3.2 · Physiologische Grundlagen zeugen (diese können durch Elektroden abgeleitet werden) ▬ Evozierte Potenziale des Hörnervs repräsentieren eine fortgeleitete Nerventätigkeit ▬ Zahl der Impulse steht im Verhältnis zur Lautstärke und zur Frequenz ▬ Hirnstammpotenziale (»auditory brainstem response«) bestehen aus 5 charakteristischen Wellen (# Kap. 3.3.2) Akustischer Mittelohrreflex ▬ Kontraktion des M. stapedius bei akustischer Stimulation ab 85 dB HL (»hearing level«; # Kap. 3.3.2; bei Normalhörenden) ▬ Latenz: 25–100 ms ▬ Afferenter Schenkel des Reflexbogens: VIII. Hirnnerv; efferenter Schenkel: VII. Hirnnerv (multiple Verschaltungen, u. a. Ncl. cochlearis, obere Olive, Ncl. facialis) ▬ Stärke der Muskelkontraktion steigt mit Stärke des Schallreizes ▬ Einseitige akustische Stimulation führt zu ipsi- und kontralateraler Kontraktion, ipsilaterale Schwelle etwas niedriger ▬ Kontraktion des M. stapedius verringert die Schallübertragung auf die Kochlea (v. a. für tiefe Frequenzen) → Änderung der akustischen Impedanz des Ohres (klinische Anwendung: # Kap. 3.3.2) Pathophysiologische Aspekte der Innenohrschwerhörigkeit ▬ Schwerhörigkeit ist ein Symptom des Hörsystems ▬ Schädigungen des Hörsystems führen i. A. zu einer Hörverschlechterung und/oder Tinnitus ▬ Einteilung der Schwerhörigkeit: – Schallleitungsschwerhörigkeit – Innenohrschwerhörigkeit – retrokochleäre/zentrale Schwerhörigkeit > Wichtig Pathophysiologisch können verschiedene Funktionsstörungen im Innenohr zur Schwerhörigkeit führen. Dazu gehören: Dysfunktion der kochleären Ionenhomöostase, der Haarsinneszelltransduktion, der Elektromotilität der Haarsinneszellen, der synaptischen Transmission oder der neuronalen Erregungsbildung und -leitung. ▬ Aktuell sind diese Funktionsstörungen Gegenstand intensiver molekularbiologischer und zellphysiologischer Forschung, insbesondere an Mausmutanten, häufig mit Parallelitäten zu humanen, genetisch (meist nichtsyndromal) bedingten Innenohrschwerhörigkeiten21 ▬ Besondere Bedeutung der Ionenhomöostase im Innenohr (insbesondere Kaliumhomöostase); beteiligte Mechanismen: aktive Kaliumsekretion in der Stria vascularis, Kaliumreflux aus den Haarsinneszellen und Kalium-Recycling zur Stria vascularis über epitheliale und mesenchymale »Gap-junction«-Systeme (Störungen der Ionenhomöostase sind in der Regel von einer Reduktion des endokochleären Potenzials begleitet) ▬ Einteilung der Innenohrschwerhörigkeit nach anatomisch-funktionellen Gesichtspunkten prinzipiell in 2 Hauptgruppen bzw. 4 verschiedene Typen22 (Modell ist auch auf den Tinnitus anwendbar; # Kap. 3.6.4): – sensorische Innenohrschwerhörigkeit (Störung einer der 3 verschiedenen sensorischen Funktionselemente; Typen I–III): – Typ I (Motorinnenohrschwerhörigkeit): Störung oder Funktionsverluste der Motilität äußerer Haarzellen mit Verschlechterung der Hörschwelle (innere Haarzellen haben eine Erregungsschwelle von 50–70 dB); die durch die Verstärkung erzeugte scharfe Spitze der Wanderwelle geht verloren → Verlust der Sprachdiskrimination, Auftreten eines Rekruitment (Verlust der nichtlinearen Verstärkung der Wanderwelle; # Kap. 3.3.2), Einschränkung des räumlichen Hörens und der Signalerkennung vor Hintergrundgeräuschen – Typ II (Transduktionsinnenohrschwerhörigkeit): Ausfall der mechanoelektrischen Schalltransduktion an den inneren Haarsinneszellen; Innenohrschwerhörigkeit von >50–70 dB bis Taubheit möglich – Typ III (Transformationsinnenohrschwerhörigkeit; Synonym: kochleosynaptische oder Signaltransferinnenohrschwerhörigkeit): Störung der Funktion der Synapse zwischen inneren Haarzellen und afferenten Hörnervenfasern (auditorische Synaptopathie/Neuropathie, Einschränkung der zeitlichen Verarbeitung akustischer Signale mit schlechtem Sprachverstehen, insbesondere im Störgeräusch ohne Korrelation zum Tonaudiogramm: »Hören, ohne zu verstehen« → geringer Nutzen einer Hörgeräteversorgung, Störung des räumlichen Hörens und Störung der Tonhöhendiskrimination bei niedrigen Frequenzen; # Kap. 3.6.4); klinisch kann Typ III derzeit nicht von Typ II abgegrenzt werden – extrasensorische Innenohrschwerhörigkeit (Typ IV): alle übrigen, d. h. extrasensorischen sensorineura21 22 Strenzke et al. (2008) Zenner u. Zimmermann (2002) 3 154 3 Kapitel 3 · Ohr len Mechanismen der Innenohrschwerhörigkeit, v. a. Störung der Stria vascularis, z. B. durch eine Durchblutungsstörung, die sich im gesamten Innenohr bemerkbar macht (eine Innenohrschwerhörigkeit Typ IV wird also eher bei einer pantonalen, weniger bei einer Hochtoninnenohrschwerhörigkeit vorliegen) ▬ Mischformen sind möglich und nicht selten ▬ Aus Anamnese, evtl. bekannter Ätiologie und begleitenden audiologischen Symptomen/Befunden können ggf. klinische Rückschlüsse auf den Entstehungsmechanismus, den Entstehungsort und die mögliche pharmakologische Therapie erfolgen Literatur Böhme G, Welzl-Müller K (2005) Audiometrie. Hörprüfungen im Erwachsenen- und Kindesalter, 5. Aufl. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Hellbrück J, Ellermeier W (2004) Hören. Physiologie, Psychologie und Pathologie, 2. Aufl. Hogrefe, Bern Toronto Seattle Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Møller AR (2006) Hearing: Anatomy, physiology, and disorders of the auditory system, 2nd edn. Academic Press Elsevier, Burlington San Diego London Strenzke N, Pauli-Magnus D, Meyer A, Brandt A, Maier H, Moser T (2008) Update zur Physiologie und Pathophysiologie des Innenohrs: Pathomechanismen der sensorineuralen Schwerhörigkeit. HNO 56: 27–36 Wangemann P, Schacht J (1996) Homeostatic mechanisms in the cochlea. In: Dallos P, Popper AN, Fay RR (eds) Springer handbook of auditory resaerch. The Cochlea. Vol. 8. Springer, New York, pp 130–186 Zenner H-P (1994) Hören: Physiologie, Biochemie, Zell- und Neurobiologie. Thieme, Stuttgart New York Zenner H-P, Zimmermann U (2002) Pathophysiologie der chronischen Innenohrschwerhörigkeit. In: Biesinger E, Iro H (Hrsg.) HNO-Praxis heute. Bd 21. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 1–26 3.2.2 Tuba auditiva ( Tuba Eustachii) Anatomie ▬ Länge: 31–38 mm (Erwachsene) ▬ Zwischen Vorderwand des Mittelohrs und Seitenwand des Nasopharynx (# Kap. 3.1.2) ▬ Medial und kranial: Tubenknorpel ▬ Lateral angrenzend: Ostmann-Fettkörper und M. tensor veli palatini ▬ Im Laufe des Schädelwachstums erhebliche Veränderungen von Form und Größe: – Säugling/Kleinkind: gerade, kurze Röhre, 20 mm lang – Erwachsene: 2fach im Raum angulierte Röhre ▬ Abschnitte: knorpliger (Pars cartilaginea) und knöcherner Teil (Pars ossea); funktionelle Engstellen treten fast immer in der Pars cartilaginea auf ▬ Tubenlumen entspricht im Querschnitt einem flachgedrückten Schlauch – kaudaler Abschnitt des Tubenquerschnitts: Mukosafalten, Becherzellen und Drüsen (Produktion von Schleim) – kranialer Abschnitt: Zylinderepithel – der kraniale Abschnitt ist von allen Seiten mit Knorpel umgeben, sodass er im Querschnitt eine charakteristische Hirtenstabform hat (enges, schlitzförmiges Lumen mit Erweiterung zum kranialen Anteil hin) – nur im kranialen Abschnitt findet die Ventilation statt (sog. Rüdinger-Sicherheitskanal; immer offener Raum, von Luft oder Schleim ausgefüllt) ▬ Einflussgrößen auf die Funktion der Tuba auditiva: – elastische Spannung des Tubenknorpels – Druck des peritubaren Gewebes (z. B. OstmannFettkörper) – Oberflächenspannung des Schleimfilms im Lumen der Tube – Form und Länge der Tuba auditiva (v. a. bei Kindern: kurze, gerade Tube) – muskuläre Compliance M. tensor veli palatini R. Leuwer Definition der Tubenfunktion ▬ Schlüsselposition in der Physiologie des Mittelohrs durch: – Ventilation: Be- und Entlüftung des Mittelohrs – Drainage von Flüssigkeiten aus dem Mittelohr – Protektion des Mittelohrs vor Schalldruck, Luftdruckschwankungen, Keimen und Körperflüssigkeiten aus dem Pharynx (besondere Bedeutung beim Syndrom der klaffenden Tube: Autophonie und Ohrdruck) ▬ Innervation: N. mandibularis ▬ Befindet sich in einer unbeweglichen Schädelbasisnische (zwischen der Unterfläche des Keilbeinflügels und dem Proc. pterygoideus) ▬ Als isometrisch kontrahierender Muskel definiert er seine Funktion nur mit Hilfe sog. Hypomochlien (Ankerpunkte): – Hamulus pterygoideus – Ostmann-Fettkörper – M. pterygoideus medialis ▬ Durch Kontraktion öffnet bzw. erweitert der M. tensor veli palatini die kranialen Tubenabschnitte und 155 3.2 · Physiologische Grundlagen komprimiert gleichzeitig die kaudalen; damit hilft er gleichzeitig bei der Ventilation (kranial) und bei der Drainage durch Auspressen der Sekrete in Richtung Pharynx (basal) ▬ Einziger Tubenöffner; andere Muskeln haben für die Tubenfunktion wahrscheinlich keine Bedeutung Physiologie ▬ Im Ruhezustand ist die Tuba auditiva geschlossen ▬ Komplexes Zusammenspiel von Tubenmuskulatur, Ostmann-Fettkörper und Tubenknorpel ▬ Öffnet sich durch Kontraktion des M. tensor veli palatini beim Schlucken und Gähnen ▬ Gähnen erleichtert die Tubenöffnung durch Relaxation und Lateralbewegung des M. pterygoideus bei der weiten Mundöffnung (sog. Eppendorf-Manöver) ▬ Dauer der Tubenöffnung: 400 ms ▬ Tubenöffnung erfolgt beim wachen Erwachsenen einmal pro Minute, während des Schlafes einmal alle 5 min ▬ Tubenschluss: passiv durch peritubaren Gefäßplexus und Ostmann-Fettkörper Literatur Bluestone CD (2005) The eustachian tube: structure, function and role in the middle ear. BC Decker, Hamilton London Leuwer R, Schubert R, Wenzel S, Kucinski T, Koch U, Maier H (2003) Neue Aspekte zur Mechanik der Tuba auditiva. HNO 51: 431–437 Pahnke J (2000) Morphologie, Funktion und Klinik der Tuba Eustachii. Laryngorhinootologie 79 (Suppl 2): S1–S21 3.2.3 Gleichgewicht M. Reiß, G. Reiß Aufbau des Gleichgewichtssystems ▬ Peripherer und zentraler Anteil ▬ Vestibulookulärer Reflex (VOR) ▬ Vestibulospinaler (propriozeptiver) Anteil Aufgaben des Gleichgewichtssystems (sensomotorische Integrationsfunktionen) ▬ Räumliche Orientierung (Information über die Stellung des Kopfes im Raum – perzeptiv) ▬ Informationen über das Einwirken von linearen und angulären Beschleunigungskräften ▬ Koordination und Regulation der Augenbewegungen (damit bei Kopfbewegungen ein Blickziel möglichst schnell und scharf gesehen werden kann – okulomotorisch) ▬ Koordination von Bewegungsabläufen durch Einflüsse auf die Skelettmuskulatur und die Gewährleistung eines Reflextonus (Aufrechterhaltung der Körperhaltung – postural) > Wichtig Das Gleichgewichtssystem kann seine komplexen Funktionen nur mit anderen Sinnessystemen gemeinsam erfüllen. Sinnesepithelien des vestibulären Labyrinths ▬ Sie befinden sich in den Ampullen der 3 Bogengänge und im Otolithenapparat ▬ 2 Typen vestibulärer Haarzellen: flaschenförmige Typ-I- und zylindrisch geformte Typ-II-Haarzellen ▬ Funktionieren als mechanosensorische Rezeptoren (Reizung durch Dreh- oder Linearbeschleunigung → mechanoelektrische Transduktion) ▬ Rezeptorpol beider Zelltypen enthält Stereozilien (bei Aufsicht hexagonale Anordnung) ▬ Scherbewegung der Sinneshärchen als adäquater Reiz ▬ Ampullen der Bogengänge: – lateral des Stereozilienbündels befindet sich eine Kinozilie – Stereozilien und Kinozilie tauchen in Cupula ein – Ablenkung der Cupula durch den Endolymphstrom – Verbiegung in Richtung Kinozilie → Depolarisation (exzitatorisch) – Bewegung in die entgegengesetzte Richtung → Hyperpolarisation (inhibitorisch) – lateraler Bogengang: – Verbiegung in Richtung Utrikulus: exzitatorisch – Verbiegung in Gegenrichtung: inhibitorisch ▬ Macula utriculi et sacculi: – Stereozilien besitzen an der Oberfläche eine Membran (Otolithenmembran) – enthält Kalziumsteinchen (Otolithen, Statolithen bzw. Otokonien, Ohrsteinchen) – Bewegung → Informationen über lineare Beschleunigung und Position des Kopfes im Raum Bogengänge ▬ Funktion: Regulation der Blickführung ▬ Ampulle beherbergt den Rezeptor der Drehbeschleunigung (besteht aus der Cupula, welche auf der Crista ampullaris wie auf einem Scharniergelenk gelagert ist) ▬ Bewegung wird durch subcupularen Raum ermöglicht 3 156 Kapitel 3 · Ohr Otolithenorgane 3 ▬ Funktion: Kontrolle von Stand und Gang ▬ Macula bzw. Sinneszellansiedlungen im Vestibulum des Labyrinths ▬ Dienen der Messung geradliniger Beschleunigungen (z. B. der Schwerkraft) ▬ Macula sind von einer Membran mit prismatischen Kalziumkarbonatkristallen (Otolithen) bedeckt; wie an der Cupula führt eine Tangentialverschiebung dieser Membran zur Verbiegung der Sinneshärchen → Aktivierung bzw. Hemmung in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung ▬ Einheitliche Polarisation der Sinneszellen in den Cristae, dagegen kompliziertere funktionelle Verhältnisse in den Maculae ▬ Durch bogenförmig verlaufende Grenzlinie (Striola) Teilung der Sinnesepithelien in 2 Hälften ▬ Sinnespolarisationen der Otolithenorgane verlaufen nicht parallel, sondern entsprechend bogenförmig (sind damit in allen Richtungen einer Ebene vorhanden) ▬ Hauptachsen der beiden Otolithenorgane Sakkulus und Utrikulus stehen in einem Winkel von 90° zueinander (Sakkulus steht senkrecht) ▬ Zur Horizontalen bilden die horizontalen Bogengänge und die Utrikuli einen nach vorne offenen Winkel von 30° ▬ Beim Gehen (auf unebener Ebene) leichte Neigung des Kopfes nach vorne → weitestgehend horizontale Ausrichtung der horizontalen Bogengänge und der Utrikuli – optimale Arbeitsebene ▬ Nn. utriculares et sacculares → oberer Anteil des Ggl. vestibulare (Scarpae) ▬ Ein Nerv zieht vom Sakkulus zum Ggl. vestibulare inferior ▬ Alle Cristae (vorderer und lateraler N. ampullaris) → oberes vestibuläres Ganglion ▬ Hinterer Bogengang → N. singularis und N. ampullaris posterior → Ggl. vestibulare inferior ▬ Im Ggl. vestibulare Nervenzellen des 2. Neurons ▬ Efferente Bahnen steuern Typ-I- und Typ-II-Zellen (ohne Spezifität) Vestibulariskerne (Medulla oblongata) ▬ Ermöglichen durch multisynaptische Verschaltung die Integration der einzelnen Informationen ▬ Nehmen vestibuläre Reize und Bewegungsinformationen aus visuellen und propriozeptiven Sinnessystemen entgegen ▬ 4 Vestibulariskerne: – Ncl. vestibularis superior (Bechterew): Blickfeldmotorik bzw. vestibulookulärer Reflex – Ncl. vestibularis lateralis (Deiters): Stützmotorik bzw. statische Reflexe – Ncl. vestibularis medialis (Schwalbe): Blickfeldmotorik bzw. vestibulookulärer Reflex – Ncl. vestibularis inferior: Integration der Reizeingänge und Zerebellum ▬ Kerngebiete sind durch Kommissurenfasern miteinander verbunden (internukleäre Verbindungen) → ermöglicht Kompensation einseitiger Labyrinthausfälle > Wichtig Von besonderer klinischer Bedeutung ist die Lage der Otolithenorgane in unmittelbarer Nähe zur Fenestra vestibuli bei Gleichgewichtsstörungen nach Stapesplastik (Abstände zum ovalen Fenster von dessen oberem Rand zum Utrikulus mit 0,3 mm am geringsten; Distanz zwischen Steigbügelfußplatte und Sakkulus: vorne 0,75 mm, hinten 1,6 mm, im mittleren Anteil der Fußplatte etwa 1 mm). Wichtige Afferenzen und Efferenzen ▬ Siehe auch unten, »Vestibulookulärer Reflex« ▬ Vestibuläre Rezeptoren → über N. vestibularis in die vestibulären Kerne der Medulla oblongata ▬ N. vestibularis (Pars vestibularis superior et inferior) und N. cochlearis → innerer Gehörgang ▬ Zum Ggl. vestibulare (am Boden des inneren Gehörgangs) ziehen vorwiegend afferente und nur wenige efferente Fasern Vestibulookulärer Reflex (VOR) ▬ Reflektorisch ausgelöste langsame Augenbewegungen ▬ Dient Stabilisierung von Blickzielen auf der Retina bei Kopfbewegungen ▬ Über einen Reflexbogen aus 3 Neuronen verschaltet (sog. 3-Neuronen-Reflexbogen, Kernstück des VOR) ▬ Labyrinth → Vestibularisnerven (1. Neuron; Ggl. vestibulare im inneren Gehörgang) → Vestibulariskerngebiet/vestibuläre Projektionen im Hirnstamm (Fasciculus longitudinalis medialis, Brachium conjunctivum, aufsteigender Deiters-Trakt; 2. Neuron im Vestibulariskerngebiet) → Kerngebiete der okulomotorischen Hirnnerven der Gegenseite (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens; 3. Neuron) ▬ Aufgabe: Stabilisierung des Blickfelds – kompensatorische Augenbewegungen während Kopf- oder Körperbewegungen (sonst Auftreten von Oszillopsien, d. h. ein betrachtetes Objekt wäre während einer Bewegung an verschiedenen Retinaorten abgebildet) 157 3.2 · Physiologische Grundlagen ▬ Außer der okulomotorischen Projektion des VOR besteht eine weitere, zum vestibulären Kortex ziehende Projektion (Raumorientierung und Wahrnehmung) ▬ VOR verfügt über 3 Schenkel: okulomotorischer, perzeptiver und posturaler Schenkel → Schädigung kann die einzelnen Symptome/Charakteristika des vestibulären Schwindels erklären (Nystagmus, Schwindel, Fallneigung) ▬ Aufbau des VOR erklärt rasche Generierung der kompensatorischen Augenbewegungen ▬ Leitungszeit beträgt nur etwa 20 ms (ermöglicht nahezu gleichzeitige Augenbewegungen während Kopfbewegungen) ▬ VOR auch durch hohe Plastizität gekennzeichnet (nach Neuanpassung einer Brille muss VOR neu einreguliert werden, dies erfolgt innerhalb weniger Stunden) ▬ 3 Hauptrichtungen des VOR bzw. der von ihm generierten Augenbewegungen (bei Klassifizierung des zentralen Schwindels wichtig; ⊡ Abb. 3.3): – horizontal: bei Kopfbewegungen um die vertikale Körperlängs-(Z-)Achse (»yaw«) – vertikal: Beugung und Reklination des Kopfes in sagittaler Richtung um die horizontale binaurale Y-Achse (»pitch«) – torsionell: bei seitliche Bewegungen des Kopfes um die Seh-(X-)Achse (»roll«) > Wichtig Der Gleichgewichtssinn wird erst dann bewusst, wenn eine Störung des Gleichgewichtssystems in Form von Schwindel auftritt. Optokinetischer Reflex (Nystagmus, Rucknystagmus/»jerk«) ▬ Unwillkürliche, rhythmische Augenbewegungen mit einer langsamen und einer entgegengesetzten schnellen Phase ▬ Stabilisierung visueller Ziele auf der Retina bei Kopfoder Körperbewegungen ▬ Optokinetische Reizung → schnelle Rückstellbewegungen der Augen (Sakkaden; # Kap. 3.3.4, ⊡ Tab. 3.7) → Nystagmus ▬ Optokinetischer Nystagmus besteht aus: – schnelle Phase: Sakkaden (Rucke) – langsame Phase: – direkte Komponente: langsame Folgebewegungen (beginnt sofort nach Reizung) – indirekte Komponente: Ausdruck des Geschwindigkeitsspeicherungsmechanismus Vestibulospinaler Reflex ▬ Über sensible und Mechanorezeptoren Vermittlung von Informationen über Glieder- bzw. Muskelspannung ▬ Unwillkürliche Kontrolle der Spinalmotorik (Kontrolle des Ruhetonus der Streckmuskulatur) ▬ Aufrechterhaltung der Körperhaltung ▬ Projektion, die vom Vestibulariskerngebiet über den medialen oder lateralen vestibulospinalen Trakt zieht und für die Haltungsregulation verantwortlich ist Funktionelle Aspekte der vestibulären Rezeptoren Bogengänge ▬ Reagieren vorzugsweise auf: – anguläre Reizvorgänge bzw. Winkelbeschleunigung (Kopfbewegungen oder Karussellfahren) – messen die Drehbeschleunigung – thermische Reize – Vibration Rotation ⊡ Abb. 3.3. Hauptrichtungen des vestibulookulären Reflexes ▬ Cupula wird bei Rotation durch die Trägheit der Endolymphe zum Bogengang ausgelenkt ▬ Horizontale Drehung → trägheitsbedingte Zurückbewegung der beiden horizontalen Bogengänge bzw. der Endolymphe → Auslenkung der Cupulae in der zur Winkelbeschleunigung entgegengesetzten Richtung ▬ Erreichen einer konstanten Drehung → allmähliches Zurückgehen der Cupulae (aufgrund der Eigenelastizität) in die Ausgangslage ▬ Schnelles Abbremsen der Rotation → Bewegung der Cupulae in entgegengesetzte Richtung 3 158 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Rotation nach rechts: – rechter Bogengang: Cupulaauslenkung zum Utrikulus (utrikulopetal) → Depolarisation → Steigerung der Spontanaktivität mit entsprechender Nervenreizung – linker Bogengang: Cupulabewegung vom Utrikulus weg (utrikulofugal) → Auslenkung zur entgegengesetzten Seite → Hyperpolarisation → Verminderung der Aktionspotenzialrate ▬ Über mediale Längsbündel Fortleitung der Nervenimpulse zu den ipsilateralen Augenmuskelkernen ▬ Aufgrund des VOR entsteht bei Rotation nach rechts zunächst eine langsame Augenbewegung in die entgegengesetzte Richtung des Reizes, d. h. nach links → zentrale Generierung einer schnellen Rückstellbewegung des Auges (schnelle Phase des Nystagmus) ▬ Drehbeschleunigungen können aufgrund der 3 Bogengänge dreidimensional wahrgenommen werden ▬ Raumebene eines Bogengangs korreliert mit einer Hauptzugrichtung eines verschalteten Augenmuskels: – horizontaler Bogengang: horizontale Augenbewegung – oberer bzw. vorderer Bogengang: Bewegung der Augen nach oben mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang – hinterer Bogengang: Bewegung der Augen nach unten mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang ▬ Paramediane Formatio reticularis der Pons: wesentliches Integrationszentrum für die Augenbewegungen, z. B. Kontrolle horizontaler Sakkaden durch prämotorische Burst-Neurone mit monosynaptischen Eingängen auf den N. abducens Thermische Reizung ▬ Kalt- und Warmspülung des Gehörgangs → vestibuläre Reizung ▬ Abhängig von Temperatur und Kopfhaltung ▬ Durch Wärmeleitung und -strahlung ▬ Bárány23 im senkrecht gestellten horizontalen Bogengang (Kopf im Liegen um 30° nach vorne geneigt) → thermischer Reiz → Konvektion (Strömung der Endolymphe durch Dichteänderung) ▬ Im schwerelosen Raum Auslösung von thermischen vestibulären Reizungen möglich (Strömung durch Unterschiede der Dichte kann es dort nicht geben; Prinzip der Konvektionsströmung kann Phänomen nicht ausreichend erklären) ▬ Warmspülung → utrikulopetal gerichtete Endolymphströmung 23 Robert Bárány (1876–1936), Otologe, Wien/Uppsala, Nobelpreis für Physiologie und Medizin 1914/1916 für seine Arbeiten über Physiologie und Pathologie des Vestibularapparats ▬ Kaltspülung → utrikulofugal gerichtete Endolymphströmung > Wichtig Die Bogengänge lassen sich thermisch (isoliert; lateraler Bogengang grenzt an Hinterwand des äußeren Gehörgangs) und rotatorisch (Drehprüfung) reizen. Otolithen ▬ Reagieren auf lineare Reize (Gravitation bei Normalstellung des Kopfes, im Aufzug oder bei Beschleunigen oder Bremsen eines Autos) ▬ Durch eine lineare Beschleunigung werden die gegenüber der Endolymphe träger reagierenden Otolithen bewegt, sodass sie schließlich in den afferenten Nerven Impulse auslösen Augenbewegungen ▬ Einteilung: langsame und schnelle Augenbewegungen ▬ Nystagmus (s. auch oben, »Optokinetischer Reflex«): – Richtung: schnelle Phase (leichter zu beobachten); schnelle Augenbewegungen können unwillkürlich (vestibulär, optokinetisch) oder willkürlich auftreten – langsame Komponente: kompensatorische Augenbewegungen des VOR – Ursachen: – peripher: z. B. periphere Vestibulopathie (bzw. periphere Vestibularisstörung), Morbus Menière (im Anfall), Labyrinthitis, Felsenbeinfraktur, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel – zentral: z. B. Multiple Sklerose, Tumor, vorangegangenes Schädel-Hirn-Trauma, Alkoholkonsum Vestibuläre Kompensation Definition ▬ Vorgänge, die den Verlust eines der Rezeptororgane mehr oder weniger ausgleichen (Ausgleichsmechanismen) ▬ Zeit- und altersabhängiger neuronaler Prozess, an welchem mehrere Sinnesmodalitäten beteiligt sind Mechanismen und Systeme ▬ Zelluläre Regeneration: funktionelle Erholung der geschädigten Rezeptoren oder Neurone ▬ Spontanheilung: vergleichbar mit Hörsturz ▬ Vestibuläre Adaptation: Reduzierung der Reizantwort während eines einmaligen kontinuierlichen Reizes ▬ Substitution: entsprechende Funktionen werden durch andere Organsysteme übernommen bzw. ersetzt oder gesteuert 159 3.3 · Diagnostik ▬ Habituation: Reduzierung der Symptome nach beständig wiederholten spezifischen Reizen auf einer anderen Empfindlichkeitsstufe Voraussetzungen ▬ Ungestörte höhere Hirnfunktionen (zu beachten: Alter, eventuelles Schädel-Hirn-Trauma, Grundkrankheiten, Medikamente – alle sedierenden Antivertiginosa, ACTH-Antagonisten, Kalziumantagonisten und Alkohol hemmen die Kompensation; Prednisolon, Koffein und Amphetamin fördern die Kompensation) ▬ Kompensation wird durch aktive Bewegungsübungen in Form von speziellen Trainingsprogrammen erheblich gefördert und beschleunigt > Wichtig Bei peripheren (einseitigen) vestibulären Störungen ist eine Kompensation eher möglich als bei zentralen. Das Ausmaß hängt bei Letzteren vom Ort und vom Umfang der Schädigung ab. Literatur Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system. Oxford University Press, New York Oxford Brandt T (2003) Vertigo: Its multisensory syndromes. Springer, London Berlin Heidelberg New York Tokyo Desmond A (2004) Vestibular function. Evaluation and treatment. Thieme, Stuttgart New York Hamid M, Sismanis A (2006) Medical otology and neurotology: A clinical guide to auditory and vestibular disorders. Thieme, Stuttgart New York Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston Stoll W, Most E, Tegenthoff M (Hrsg.) (2004) Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Diagnostik, Klinik, Therapie, Begutachtung. Ein interdisziplinärer Leitfaden für die Praxis. Thieme, Stuttgart New York 3.3 Diagnostik 3.3.1 Anamnese, klinische Untersuchung und Funktionsprüfungen Missempfindungen ▬ Völlegefühl, Ohrdruck oder Juckreiz ▬ Charakter, Lokalisation und zeitlicher Ablauf ▬ Ursachen beachten: äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr, innerer Gehörgang, in der Nachbarschaft des Ohres gelegene Strukturen (Speicheldrüsen, Kiefergelenk, Lymphknoten) Otorrhö (Ohrenlaufen, Ausfluss) ▬ Geruch: geruchlos, fade, fötide ▬ Beschaffenheit: serös, schleimig, eitrig, fadenziehend, blutig, wässrig (z. B. Liquor) ▬ Quantität: spärlich, profus ▬ Kombination mit anderen Ohrsymptomen (Schmerz, Brennen, Juckreiz) Hörstörungen (Dysakusis) ▬ Schwerhörigkeit: – familiäre Schwerhörigkeit – Kinderkrankheiten – Autoimmunkrankheiten – ototoxische Medikamente – jetzige Beschwerden: Entwicklung (akut, chronisch, allmähliche Verschlechterung, fluktuierend), Ausmaß, Art, Tinnitus, Schwindel – Unfälle mit Kopf- oder Halswirbelsäulenbeteiligung ▬ Diplakusis (Doppelthören; Wahrnehmung mehrerer unterschiedlicher Tonhöhen, obwohl Schallquelle nur eine Tonhöhe produziert): – binaurale Diplakusis: Tonhöhenempfindung unterscheidet sich auf beiden Ohren – monaurale Diplakusis: monotisch gebotene Sinustöne werden als Mehrfachtöne und/oder Geräusch wahrgenommen ▬ Hyperakusis: nicht einheitlich definiertes Symptom (# Kap. 3.6.4.) ▬ Autophonie (Tympanophonie): lautes Hören bzw. Hall der eigenen Stimme, auch des eigenen Atemgeräusches Schwindel M. Reiß Anamnese Schmerzen ▬ Otodynie: Schmerzen, die vom Ohr und seinen Strukturen ausgehen ▬ Otalgie: Schmerzen, die von ohrfernen Strukturen ausgelöst, jedoch in das Ohr projiziert werden (z. B. Neuralgien) ▬ Schmerzcharakter, Schmerzlokalisation ▬ Schilderung der Beschwerden mit eigenen Worten: Dreh-, Schwank-, Lift-, Unsicherheitsgefühl, Schwarzwerden vor den Augen, Bewusstlosigkeit ▬ Verlauf der Erkrankung, Beginn und Dauer ▬ Beeinflussbarkeit, Provokation, Verstärkung, Abschwächung ▬ Andere (Nachbarschafts-)Symptome, Schwerhörigkeit, Tinnitus, neurologische Symptome ▬ Medikamente und Genussmittel ▬ Schädel-Hirn-Trauma, Allgemeinerkrankungen (HerzKreislauf- und Stoffwechselerkrankungen) 3 160 Kapitel 3 · Ohr – Mittelohrschleimhaut: trocken, feucht, gerötet, verdickt Tinnitus 3 ▬ Charakter (Rauschen, Summen, Fiepen), Dauer, Lautheit ▬ Zusammenhang mit einer Hörstörung ▬ Belästigungsgrad ▬ Verstärkungsfaktoren (Stress, Lärm) ▬ Einfluss auf die Lebensführung (Konzentration, Leistungsfähigkeit, Probleme beim Ein- oder Durchschlafen) ▬ Maskierung durch Umgebungsgeräusche ▬ Medikamentenanamnese Ohrerkrankungen in der Eigen- oder Familienanamnese ▬ Familiäre Schwerhörigkeit (# Kap. 2.1.4) ▬ Ohrerkrankungen in der Familie (z. B. Otosklerose) Klinische Untersuchung Inspektion und Palpation ▬ Otoskopie bzw. besser Ohrmikroskopie (mit Säuberung des äußeren Gehörgangs) ▬ Endoskopie des Gehörgangs mit dünner starrer Optik (# Kap. 1.1.3) ▬ Gegebenenfalls Untersuchung mit batteriebetriebenem Otoskop ▬ Achten auf: – Gehörgang: – trocken, feucht, schuppig, gerötet, Pilzrasen – Zerumen, Fremdkörper – Einengung, Stenose, Exostose, Tumor, diffuse Schwellung, Defekte – Sekretion (Abstrich, subtile mechanische Säuberung mit dem Sauger): wässrige, seröse, trübe, fadenziehende und/oder fötide Sekretion, Eiter (pulsierend), Blutung – Trommelfell (4 Quadranten): – Reflex an typischer Stelle – vorgewölbt oder retrahiert – Farbe (gelblich, Gefäßinjektion, diffus gerötet) – verdickt (Kalkeinlagerungen), atrophisch – Flüssigkeitsspiegel, Luftbläschen, Neubildung – pulsierendes Trommelfell – Perforation: Lokalisation, Größe, Rand, Beschaffenheit, Erreichen des Limbus, Mehrfachperforationen, Sekret – Retraktion: Lokalisation, Ausdehnung, überschaubar oder nicht überschaubar – Pars tensa: auf Promontorium aufliegend, Änderung bei Valsalva-Manöver – Shrapnell-Membran: eingezogen, Cholesteatom, Sekret Spezielle Untersuchungen und Funktionsprüfungen Beweglichkeit im Siegle-Trichter (pneumatische Lupe/ Ohrtrichter nach Siegle24) ▬ Beurteilung der Trommelfellbeweglichkeit (Hammerkopffixation, Paukenerguss, kleine Trommelfellperforation) ▬ Vorgehen: Einführen des Trichters in Gehörgang, sodass der Gehörgang abgedichtet wird → Inspektion des Trommelfells → Kompression und Dekompression des Ballons → Über- und Unterdruck im Gehörgang → normalerweise Bewegung des Trommelfells Prüfen des Fistelsymptoms ▬ Positives Fistelsymptom: wichtigster Hinweis auf eine Labyrinthfistel im Bereich der Bogengänge aufgrund einer Knochenzerstörung bei Cholesteatom; weiterhin indiziert bei Verdacht auf Perilymphfistel bzw. Fensterruptur ▬ Vorgehen: Aufsetzen eines dicht abschließenden Politzer-Ballons mit Metallolive auf den äußeren Gehörgang → vorsichtige Kompression und Dekompression → Über- und Unterdruck im Gehörgang ▬ Beurteilung: positives, d. h. nachweisbares Fistelsymptom bei Schwindel und Nystagmus (bei Kompression zur erkrankten, bei Aspiration zur anderen Seite), z. B. bei Einbruch eines Cholesteatoms in das Labyrinth > Wichtig Bei Nachweis von Schwindel und Nystagmus muss die Prüfung sofort abgebrochen werden. Bei einem zu erwartenden positiven Fistelsymptom sollte man zunächst vorsichtig mit dem Finger prüfen (Symptom kann auch durch Alltagsreize wie z. B. Luftzug ausgelöst werden) ▬ Fistelsymptom ist von Schwindel beim Absaugen von Radikalhöhlen abzugrenzen, da der Bogengang hier freiliegen kann Auskultation der Halsgefäße und der Ohrregion ▬ Indiziert bei pulsierendem Tinnitus Glyzeroltest nach Klockhoff ▬ Methode zum Nachweis eines endolymphatischen Hydrops (Morbus Menière) ▬ Spezifische, aber wenig sensitive Methode 24 Emil Siegle (1833–1900), Ohrenarzt, Stuttgart 161 3.3 · Diagnostik ▬ Durchführung: 1,5 g Glyzerin/kg KG 1 : 1 mit NaCl verdünnen, zusätzlich etwas Zitronensaft zur Geschmacksverbesserung beigeben → morgens nüchtern trinken lassen → alle 60 min Tonschwellenaudiogramm ▬ Bei Hydrops Dehydratation des Labyrinths mit nachfolgender Hörverbesserung für einige Stunden, ggf. Verschwinden des Tinnitus ▬ Positives Testergebnis: im Tonaudiogramm Anstieg der Schwelle für 3 benachbarte Frequenzen (mindestens 10–15 dB) Lidocaintest ▬ Intravenöse Gabe von Lidocain zur Selektion von Patienten für eine ionotrope Therapie zur temporären Suppression eines Tinnitus (# Kap. 13.4.4) ▬ Durchführung: i. v. Applikation von 2 mg Lidocain/ kg KG innerhalb von 20 min (internistische Kontraindikationen müssen vorher ausgeschlossen werden) ▬ Bei positivem Lidocaintest (Besserung des Tinnitus für wenige Minuten bis zu einer halben Stunde; Registrierung der Nebenwirkungen) Therapieversuch mit einem Antiarrhythmikum Immunologische Diagnostik ▬ Vor allem T-Suppressorzell-Aktivität, antinukleäre Antikörper, Serumspiegel der Immunglobuline, spontane Lymphozytenproliferation (# Kap. 3.6.3, »Immunkrankheiten des Innenohrs«) Literatur Beck C (1997) Differentialdiagnose: HNO-Krankheiten, 2. Aufl. Enke, Stuttgart Günnel F (1973) HNO-ärztliche Untersuchungstechnik. Nachdruck der 2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt Hamid M, Sismanis A (2006) Medical otology and neurotology: A clinical guide to auditory and vestibular disorders. Thieme, Stuttgart New York Maurer J (Hrsg.) (1999) Neurootologie mit Schwerpunkt Untersuchungstechniken. Thieme, Stuttgart New York Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York 3.3.2 Audiologie A. Limberger, S. Plontke Definition und Einteilung ▬ Audiologie: Wissenschaft vom Hören (experimentelle/klinische und angewandte Audiologie) ▬ Audiometrie: Lehre von der Funktionsprüfung des Gehörs/Messung des Hörvermögens – subjektive Verfahren: Untersucher auf Angaben des Patienten angewiesen – objektive Verfahren: Aussagen über das Hörvermögen ohne Mitarbeit des Patienten Grundbegriffe ▬ Töne: harmonische, sinusförmige Schallschwingungen; charakterisiert durch Frequenz und Amplitude ▬ Frequenz: Anzahl der Schwingungen, die in einer Sekunde durchlaufen werden – Frequenz in Hertz (Hz): reziproker Wert der Wellenlänge (λ) – Höhe der Frequenz bestimmt auch die Tonhöhe (je höher die Frequenz, desto höher wird der Ton empfunden) ▬ Klang: aus Teilhöhen zusammengesetzter Schall; enthält neben dem Grundton mehrere, die subjektive Klangfarbe bestimmende Obertöne ▬ Rauschsignale: Schallschwingungen mit sich zufällig verändernden Amplituden; charakterisiert durch Amplitudenmittelwert und Verteilung der Schallenergie – Schmalbandrauschen: Bandbreite von einer Terz; wird für Vertäubung bei Tonaudiometrie verwendet – Breitbandrauschen, z. B. »weißes Rauschen« (»white noise«): – enthält alle Frequenzen in gleicher Lautstärke – als gefiltertes Breitbandrauschen dem Frequenzspektrum der Sprache angepasst – wird für Vertäubung bei der Sprachaudiometrie und zur Prüfung der Verdeckbarkeit von Tönen (z. B. Geräuschaudiometrie nach Langenbeck) verwendet ▬ Lärm: Schall, der störend oder schädigend wirkt Schallpegel ▬ Schall: Ausbreitung nur in Medien, nicht im luftleeren Raum ▬ Schallgeschwindigkeit in Luft: 340 m/s ▬ Physikalische Schalleigenschaften: z. B. Reflexion, Beugung ▬ Schalldruck wird (linear) in Pascal (Pa; N/m2) gemessen ▬ Notwendiger Schalldruck für die Auslösung eines subjektiven Höreindrucks: 1 kHz (20 μPa bzw. 20 × 2 × 10–5 Pa =^ 0 dB); Schmerzempfindung bei etwa 200 Pa erreicht (7 Zehnerpotenzen) – ein solch weiter Bereich von 6–7 Zehnerpotenzen kann nur logarithmisch beschrieben werden: Schalldruck von Skalenstufe zu Skalenstufe mit 10 multiplizieren: 1, 10, 100, 1000, 10.000 etc. 3 162 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Der 20fache dekadische Logarithmus des linearen Verhältnisses zweier Werte (20 log p/p0) wird als Schalldruckpegel L bzw. SPL (»sound pressure level«) bezeichnet und ist frequenzabhängig; Bezugswert ist der absolute Schalldruck p0 (20 μPa bzw. 2 × 10–5 Pa; geringste noch wahrnehmbare Schallintensität von Sprache bzw. Hörschwelle für Sprache) ▬ 20 dB entsprechen einer Verzehnfachung des Ausgangsschalldrucks (oder einer Verhundertfachung der Schallstärke), 40 dB dem Hundertfachen etc. (⊡ Tab. 3.2); eine Steigerung des Schallpegels um 3 dB bedeutet eine Verdopplung des Schalldrucks bzw. der akustischen Energie (sog. 3-dB-Regel) ▬ In tiefen und hohen Tonlagen sind größere Schalldrücke erforderlich, um die gleiche schwellenhafte Hörempfindung auszulösen (z. B. Schalldruck von 250 Hz: etwa 10faches bzw. um 20 dB größer; absolute bzw. physikalische Darstellung der Hörschwelle, d. h. die Kurve verläuft gekrümmt) – Lautheitsempfinden gehorcht nicht einer geometrischen Stufung, sondern einer logarithmischen (Weber-Fechner-Gesetz) – Gehör bewertet Reizintensität nach einer Potenzfunktion ▬ Bei der Audiometrie interessiert nicht der absolute Schalldruckpegel, der bei einem Schwerhörigen zu einer Hörempfindung führt, sondern die Abweichung vom Normalen in einem Zahlenwert → Einführung des Dezibel (dB; 1/10 Bel) als logarithmisches Verhältnismaß (# Kap. 3.2.1) ▬ Mit Hilfe der dB-Skala erreicht man eine Unterteilung jeder Verzehnfachung in weitere 20 Einzelschritte (20 dB entspricht dem 10fachen des Ausgangsschalldrucks, 40 dB dem 100fachen, 60 dB dem 1000fachen) > Wichtig Dezibelpegel beziehen sich immer auf einen Bezugsschalldruckpegel und nicht auf eine absolute Größe (keine physikalische Größe) – Beschreibung des Verhältnisses eines Schalldrucks zu einem anderen (Bezugswert). Dezibelwerte dürfen nicht einfach addiert werden. Bezugsschalldruck bei der Tonschwellenaudiometrie ▬ Relativer Bezugsschalldruckpegel wegen der frequenzabhängigen Empfindlichkeit des Gehörs: dB HL (»hearing level«); dabei tiefe und hohe Frequenzen auf 0 dB normiert ⊡ Tab. 3.2. Skalen für Schalldruck und Schalldruckpegel im Vergleich Schalldruck [Pa] Intensitätsverhältnis [1 : ...] Schalldruckpegel [dB SPL] Beispiel 200 1014 140 Schmerzgrenze 1013 130 Düsentriebwerk 20 1012 120 Bohrhammer 2 1011 110 Schmiede 1010 100 Papiermaschine 109 90 Mechanische Werkstatt 10 8 80 Fahrgeräusch (Pkw) 10 7 70 Straßenverkehr 6 60 Umgangssprache 5 50 Leise Musik 104 40 Raumgeräuschpegel 103 30 Flüstern 102 20 Ruhiges Wohnzimmer 10 10 Blätterrauschen 1 0 Hörschwelle (1 kHz) 2 × 10–2 10 10 –3 2 × 10 2 × 10–4 2 × 10–5 SPL »sound pressure level« 163 3.3 · Diagnostik ▬ Durchschnittlicher Schwellenwert Normalhörender bei der jeweiligen Frequenz als Bezugsschalldruck p0 (relative Hörschwelle) ▬ Pegel bezieht sich nicht für alle Frequenzen auf den Schalldruck 20 μPa, sondern auf den Verlauf der menschlichen Hörschwelle ▬ Normale Hörschwelle (0 dB HL) gilt für otologisch normale Jugendliche im Alter von 18 Jahren (ist für alle Frequenzen auf 0 dB HL festgelegt); Anstieg der Hörschwelle v. a. im Alter (für Beurteilung einer Lärmschädigung wichtig) ▬ Das menschliche Ohr ist im mittleren Frequenzbereich um 1000–4000 Hz am empfindlichsten; Empfindlichkeit nimmt zu höheren und tieferen Frequenzen ab → Audiometer benötigt bei 0 dB HL für tiefere Frequenzen als 1000 Hz und für höhere Frequenzen als 4000 Hz absolut höhere SPL-Werte ▬ Individuelle Hörschwelle eines Patienten (bzw. Hörschwelle des untersuchten Ohres) als Bezugsgröße → Pegel oberhalb dieser Hörschwelle: dB SL (»sound/ sensation level«); Bezug auf individuelle Hörstörung Weitere Formen der Lautstärkemessung ▬ »Bewerteter Schallpegel«: – Angabe in dB (A) bei Lärmmessung – in den Schallpegelmessern wird ein einheitlicher Filter mit einer definierten Charakteristik vorgeschaltet, der die Empfindlichkeit des Ohres nachbildet (bevorzugte Anwendung der Filterkurve A; bewertet die tief- und hochfrequente Schallanteile erheblich schwächer als die mittelfrequenten: Frequenzbewertung) – Zeitbewertung: Festlegung von 3 Stufen für die Anzeigedynamik (S: »slow«; F: »fast«; I: »impuls«) ▬ Äquivalenter Dauerschallpegel: Langzeitmittelwert, ausgehend von der Schalldruck-Zeit-Funktion ▬ Lautheitsmessung in Sone: Erfassung der subjektiv empfundenen Lautstärke ▬ Phon: veraltete Lautstärkebezeichnung Einheiten der Lautstärkemessung ▬ dB SPL (»sound pressure level«; Schalldruckpegel): Bezug auf Schalldruck von 20 μPa ▬ dB HL (»hearing level«): Bezugsgröße 0 dB (frequenzabhängige Normalhörschwelle) ▬ dB nHL: Pegel kurzer Reize (Klicks) über der norma- Subjektive Audiometrie Stimmgabelprüfungen Versuch nach Weber25 Prinzip und Durchführung ▬ Orientierende Hörprüfung, zusammen mit dem Stimmgabelversuch nach Rinne (s. unten) zur Differenzialdiagnostik von Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit ▬ Angeschlagene Stimmgabel – 440 Hz (A1) oder 512 Hz (C2) wird auf Mittellinie des Schädels, der Stirn oder des Nasenrückens (ggf. Kinn bei zusammengebissenen Zähnen) aufgesetzt → Patient gibt an, ob Stimmgabelton auf einer Seite lauter ist oder im ganzen Kopf gleich laut gehört wird > Wichtig Um Oberfrequenzen (d. h. Erzeugung von höheren Frequenzen) zu vermeiden, sollte die Stimmgabel niemals auf einer Tischkante oder Ähnlichem, sondern besser auf dem Knie des Untersuchers angeschlagen werden. Beurteilung ▬ Normal: Stimmgabelton wird im ganzen Kopf gleich laut gehört (Weber nicht lateralisiert oder median) → Normalhörigkeit oder symmetrische Schwerhörigkeit ▬ Pathologisch: Stimmgabelton wird auf einer Seite lauter gehört (lateralisiert nach rechts oder links) → Hinweis auf Schallleitungsstörung auf dieser Seite oder auf Schallempfindungsstörung der Gegenseite ▬ Versuch nach Weber fällt erst ab einer Schallleitungsschwerhörigkeit von 15 dB pathologisch aus Versuch nach Rinne26 Prinzip ▬ Luft- und Knochenleitung einer Seite werden miteinander verglichen Durchführung ▬ Angeschlagene Stimmgabel wird zunächst auf das Mastoid aufgesetzt (Ohrmuschel darf nicht berührt werden) und anschließend vor das gleichseitige Ohr gehalten → Patient soll angeben, ob er den Ton vor dem Ohr lauter (Rinne positiv) oder leiser (Rinne negativ) hört als dahinter ▬ Alternativ: Patient soll angeben, ob er die Stimmgabel nach Abklingen des Knochenleitungstons am Mastoid vor dem Ohr wieder hört len Hörschwelle ▬ dB SL (»sensation level«): Bezug auf frequenzabhängige Hörschwelle 25 26 Ernst Weber (1795–1878), Anatom und Physiologe, Leipzig Heinrich T. Rinne (1819–1868), Psychiater, Hildesheim 3 164 Kapitel 3 · Ohr Beurteilung ▬ Normal: Ton wird über Luftleitung lauter gehört ▬ Wird der Ton über Knochenleitung lauter gehört, weist dies auf eine Schallleitungsstörung hin (>15 dB) 3 Beispiele ▬ Weber lateralisiert nach rechts, Rinne rechts negativ, links positiv → Schallleitungsstörung rechts ▬ Weber lateralisiert nach links, Rinne beidseits positiv → Schallempfindungsstörung rechts ! Cave Weber median und Rinne beidseits positiv bedeutet nicht automatisch ein normales Hörvermögen. Dieser Befund bedeutet lediglich: seitengleiches Gehör ohne wesentliche Schallleitungskomponente. ▬ Einseitige Taubheit: Stimmgabelton wird beim Weber-Versuch im gesunden Ohr gehört, Rinne-Versuch fällt am tauben Ohr negativ aus (Überhören des Tones über Knochenleitung im gesunden Ohr) → beim Rinne-Versuch ist immer auch das Ergebnis des Weber-Versuchs zu beachten Weitere Stimmgabelversuche ▬ Versuch nach Schwabach: – Vergleich der Tonwahrnehmung mit dem Ohr des Untersuchers bzw. dem gesunden Ohr – Abschätzung der Schwerhörigkeit: Messung der Hördauer über die Knochenleitung – angeschlagene Stimmgabel wird auf Warzenfortsatz des Patienten aufgesetzt → Messung der Dauer der Tonwahrnehmung → Patient nimmt Stimmgabel nicht mehr wahr → Aufsetzen der noch schwingenden Stimmgabel auf das Mastoid des normalhörigen Untersuchers, alternativ kann die angeschlagene Stimmgabel abwechselnd vor das Ohr des Patienten und das des Untersuchers gehalten werden – Versuch nach Schwabach hat heutzutage nur noch Bedeutung, wenn eine Audiometrie nicht möglich ist ▬ Versuch nach Gellé: – Test zur Differenzialdiagnostik bzw. Verifizierung einer Fixation der Gehörknöchelchenkette – luftdichtes Verschließen des äußeren Gehörgangs mit dem Politzer-Ballon → Kompression und Dekompression → schwingende Stimmgabel wird an Warzenfortsatz oder Olive (alternativ: Stirn/Scheitel) gesetzt – Gellé positiv: schwankender Höreindruck (Kompression → Abschwächung der Lautstärke) – Gellé negativ: kein schwankender Höreindruck (Fi- xation des Stapes bzw. der Gehörknöchelchenkette bei Otosklerose, Paukensklerose, Kettenunterbrechung) ▬ Versuch nach Bing: nach Abklingen einer Stimmgabel auf dem Warzenfortsatz wird der Ton durch Zuhalten des Gehörgangs wieder hörbar (Okklusionseffekt: tritt nur bei intaktem Schallleitungsapparat auf) Sprachabstandsprüfung (orientierende Hörprüfung, klassische Hörweitenprüfung) ▬ Prüfung des Verständnisses von Flüster- und Umgangssprache normaler Lautstärke in Abhängigkeit von verschiedenen Entfernungen zwischen Untersucher und Patient ▬ Grob orientierendes, weitestgehend überholtes Verfahren; wird lediglich manchmal zu gutachterlichen Zwecken eingesetzt ▬ Voraussetzung: Raumdistanz von 6 m mit guter Dämpfung und geringer Nachhallzeit ▬ Vorteile: schnelle Durchführung, nicht an apparative Ausstattung gebunden ▬ Nachteile und Fehlerquellen: uneinheitliches Prüfmaterial bzw. uneinheitliche Sprache (Artikulation, Tonhöhe), differierende Raumakustik und Störpegel, nicht klar definierte Angabe (Hörweite) ▬ Durchführung: das nichtgeprüfte Ohr des Patienten wird mit der Kuppe des »schüttelnden« Zeigefingers (bei Prüfung von Flüstersprache; oder Audiometerrauschen mit 60 dB) oder mittels Barany-Lärmtrommel (bei Prüfung von Umgangssprache; oder Audiometerrauschen mit 90 dB) vertäubt → Untersucher prüft mit 2-stelligen, 4-silbigen Zahlen (21–99) in Flüster- und Umgangssprache, ohne dass er vom Patienten gesehen werden kann (Verhindern des Lippenablesens) ▬ Normal: Abstände von >6 m für Flüster- und Umgangssprache (⊡ Tab. 3.3) Reintonaudiometrie Definition ▬ Definition Audiometrie: s. oben, »Definition und Einteilung« ▬ Audiogramm: graphische Darstellung audiologischer Messergebnisse zur Beurteilung des Hörvermögens ▬ Reintonaudiometrie: häufigste audiologische Untersuchung und wichtigstes Instrument zur Beurteilung des Hörvermögens > Wichtig Eine audiologische Untersuchung ohne Reintonaudiometrie ist unvollständig 165 3.3 · Diagnostik ⊡ Tab. 3.3. Grad der Schwerhörigkeit, bestimmt mittels orientierender Hörprüfungen Grad der Schwerhörigkeit Hörweite für Umgangssprache Hörweite für Flüstersprache Gering >4 m >4 m, <6 m Mittel <4 m, >1 m <4 m, >1 m Hoch <1 m, >25 cm <1 m bis ad concham An Taubheit grenzend <25 cm – Prinzip Durchführung ▬ Bestimmung der Hörschwelle im Frequenzbereich von 125–8000 (10.000) Hz (Hochfrequenzaudiometrie: bis 16.000 Hz; v. a. für wissenschaftliche Fragestellungen) ▬ Tonaudiometer erzeugen elektrische Wechselströme verschiedener Frequenz und Intensität und betreiben Luftschall- sowie Knochenleitungsschallhörer, die einen möglichst reinen Sinuston erzeugen ▬ Eichung des Audiometers als Voraussetzung für jede audiometrische Messung ▬ Normale Hörschwelle stellt sich als gerade Linie bei 0 dB dar, eine Hörstörung als Abweichung (in einem Zahlenwert) von der Normalkurve in dB (Relativoder Hörverlustdarstellung) ▬ Im Audiogramm liegt die Hörschwelle oben, der Hörverlust in dB nimmt nach unten hin zu ▬ Die Luftleitungsschwelle kann normalerweise nicht besser sein als die Knochenleitungsschwelle (Ursache: fehlerhafte Patientenangaben, falsche Audiometriedurchführung oder fehlerhafte Kalibrierung) ▬ Knochleitungshören ist Ausdruck der Innenohrfunktion – Resultat des Zusammenwirkens von Vibrationen der Labyrinthkapsel (direkter Knochenschall) und der Schallzuleitung aus Gehörgang und Mittelohr (osteotympanaler Knochenschall) ▬ DIN EN ISO 8253 regelt Durchführung von Hörprüfungen und Ausstattung von Audiometrieräumen ▬ Begonnen wird mit der Luftleitung (über Kopfhörer oder Einsteckhörer gemessen) ▬ Vorgehen in der Praxis: – vor dem Aufsetzen des Kopfhörers Brille, Ohrschmuck oder Hörgerät entfernen – Kopfhörer wird durch den Untersucher aufgesetzt, um richtigen Sitz zu gewährleisten (rot: rechtes Ohr; blau: linkes Ohr) – Verwendung von Pulstönen (pulsierender Sinuston) – auf dem besseren Ohr anfangen (bei Frequenz von 1 kHz; mindestens 8 verschiedene Frequenzen) – Patient zeigt Hören des Messtons durch Druck auf eine Taste an (alternativ: Heben der Hand) – Geschwindigkeit der Pegelsteigerung richtet sich nach dem Patienten – niedrigster Pegel, bei welchem das Prüfsignal 3-mal gehört wird: Hörschwelle – Kontrolle, ob Überhören (s. unten) möglich ist – Überleitungsverlust von der schlechteren zur besseren Seite: 50 dB – anschließend Prüfung der Knochenleitung mit speziellem Knochenleitungshörer (auf Mastoid; mit Federbügel oder vom Patienten mit der Hand angedrückt) – analoges Vorgehen wie bei der Luftleitung – Kontrolle, ob Überhören möglich ist – Überleitungsverlust: 0 dB > Wichtig Eine Erhöhung der Knochenleitungsschwelle kann durch eine Schädigung der Sinneszellen oder des Hörnervs verursacht werden. Solange die Ursache nicht durch überschwellige oder objektive Messungen differenziert wurde, spricht man von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit. Hörer ▬ Anbieten des akustischen Signals über: – Kopfhörer (Flachkopfhörer, zirkumaurale Kopfhörer) – Einsteckhörer – Knochenleitungshörer – Lautsprecher (freier Schall) Patientenanweisung »Sie hören jetzt verschiedene Töne. Geben Sie immer an, wenn Sie einen unterbrochenen Ton hören, auch wenn er nur ganz leise ist. Sollten Sie ein Rauschen hören, versuchen Sie, nicht darauf zu achten.« 3 166 3 Kapitel 3 · Ohr Überhören Übervertäubung ▬ Wenn bei der Audiometrie des schlechter hörenden Ohres hohe Schalldrücke notwendig sind, kann das besser hörende Ohr die Töne vom Testohr zuerst hören ▬ Knochenleitungshörer versetzt auf der Messseite den Schädelknochen in Schwingungen, die auch das Innenohr der Gegenseite erreichen (Ton wird fast ohne Verlust auf die andere Seite übergeleitet) ▬ Über Luftleitung gerät der Knochen erst ab etwa 50 dB in Schwingung, d. h. der Schall kommt über die Luftleitung mit einem Überleitungsverlust von 50 dB auf der anderen Seite an ▬ Verschlechterung der Hörschwelle auf dem geprüften Ohr durch Vertäubung ▬ Vertäubungsgeräusch auf dem besseren Ohr gelangt ab 50 dB wieder an das geprüfte Ohr ▬ Normalerweise nur bei der Untersuchung der Knochenleitung von Bedeutung ▬ Sicheres Erfassen der Luftschwelle bis 90 dB und der Knochenleitung bis 50 dB ohne Gefahr der Übervertäubung bei Vertäubung des Gegenohrs mit 50 dB Vertäubung ▬ Definition: vorübergehende akustische Ausschaltung des besser hörenden Ohres bei der Hörprüfung ▬ Besteht die Gefahr, dass ein Ton vom schlechteren auf das bessere Ohr übergehört werden kann, muss das bessere Ohr vertäubt (künstlich verschlechtert) werden ▬ Regeln, die bei der Vertäubung zu beachten sind: vertäubt werden muss immer dann, wenn – gemessene Schwellenwerte bei Luftleitung 50 dB über der Knochenleitungsschwelle des Gegenohrs liegen (Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung vom schlechteren zum besseren Ohr: 50 dB) – gemessene Schwellenwerte bei Knochenleitung 0–10 dB über der Knochenleitungsschwelle des Gegenohrs liegen (Differenz zwischen Knochen- und Knochenleitung vom schlechteren zum besseren Ohr: 0–10 dB) – gemessene Schwellenwerte bei Luftleitung ≥15 dB über der Knochenleitungsschwelle des gleichen Ohres liegen (Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung auf dem gleichen Ohr: ≥15 dB) Unbehaglichkeitsschwelle ▬ Durchführung mit Tonaudiometer: – Patient gibt an, ab welchem Pegel ein Schmalbandrauschen als unangenehm empfunden wird a b c d e f g h > Wichtig Übergehört wird über Knochenleitung, vertäubt wird über Luftleitung (Rauschen aus einem Knochenleitungshörer würde schon bei einem geringen Pegel das zu prüfende Ohr erreichen). Gleitende Vertäubung ▬ Für den Pegel des Vertäubungsgeräusches gibt es 3 verschiedene Bereiche: Untervertäubung, korrekte Vertäubung und Übervertäubung ▬ Der Vertäubungspegel bei mehrfach durchgeführter Schwellenmessung wird so weit erhöht, bis die ermittelte Schwelle trotz Erhöhung des Rauschens 3-mal stabil bleibt ⊡ Abb. 3.4a–h. Klassifikation audiometrischer Kurvenformen – Schallempfindungsschwerhörigkeit (Erläuterungen im Text) 167 3.3 · Diagnostik Typen der Tonschwellenkurven ▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit (Innenohrhörverlust; ⊡ Abb. 3.4): a) Hochtonverlust mit schräg abfallendem Verlauf b) Hochtonverlust mit steil abfallendem Verlauf (basokochleärer Hörverlust) c) umschriebene Senke d) verbreiterte Senke e) Hochtonverlust mit Plateaubildung f) Tieftonverlust mit ansteigendem Verlauf (apikokochleärer Hörverlust) g) horizontaler oder flacher Verlauf (pankochleärer Hörverlust) h) Mitteltonverlust mit wannenförmigem Verlauf (mediokochleärer Hörverlust) ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit (v. a. Mittelohrhörverlust; ⊡ Abb. 3.5): a) Dämpfungstyp: Zunahme der Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Mittelohrerguss) (1) b) Typ der elastischen Versteifung: Abnahme der Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Steigbügelfixation) (2) 2 2 3 4 6 8 10 0,125 0,25 0,5 1 Frequenz (kHz) 0 10 20 20 40 40 60 60 80 90 100 110 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) rations- als Hörempfindungen (bei tiefen Frequenzen <1 kHz) missgedeutet werden und eine falsch-gute Knochenleitungshörschwelle ergeben ▬ Carhart-Senke: Knochenleitungsschwerhörigkeit (wahrscheinlich mittelohr-, nicht innenohrbedingt) von 15 dB mit Maximum um 2000 Hz – Verlust des osteotympanalen Knochenschalls bei Fixation des Stapes; zur Ausbildung der maximalen Knochenleitungsschwelle trägt ein Schallleitungsanteil um 2 kHz bei, der aufgrund der Fixierung des Stapes fehlt (Schallleitungsanteil wird normalerweise von der knöchernen Wand des äußeren Gehörgangs als 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 3 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) 5 Hörverlust (dB HL) Hörverlust (dB HL) 4 Besonderheiten ▬ Fühlkurve: bei ausgeprägtem Hörverlust können Vib- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 2 3 4 6 8 10 0,125 0,25 0,5 1 Frequenz (kHz) 6 Hörverlust (dB HL) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 Hörverlust (dB HL) Hörverlust (dB HL) 1 c) indifferenter Typ: konstante Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Trommelfelldefekt) (3) d) Mittelohrblock (Schallleitungsblock): Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung für alle Frequenzen ungefähr gleich (z. B. fortgeschrittene Otosklerose mit Carhart-Senke; s. unten, »Besonderheiten«) (4) e) Kettenunterbrechung: frequenzunabhängiger Mittelohrhörverlust von bis zu 50 dB (5) f) kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit (6) Hörverlust (dB HL) – Anhaltspunkt für kochleäre Hörschädigung, Einschätzung der Dynamik bei Hörgeräteversorgung 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) ⊡ Abb. 3.5. Klassifikation audiometrischer Kurvenformen – Schallleitungsschwerhörigkeit (Erläuterungen im Text). HL »hearing level« 3 168 Kapitel 3 · Ohr Luftschall abgestrahlt und läuft durch das Mittelohr; schwingungsmechanische Erklärung) Sprachaudiometrie Übersicht 3 Definition ▬ Standardisierte Untersuchung zur Messung des Sprachverständnisses Prinzip ▬ Ein auf Tonträger aufgesprochener Sprachtest wird über Kopfhörer oder Lautsprecher in definierten, einstellbaren Lautstärken (in dB; Sprachschallpegel: >20 μN/m2, entsprechend >20 μPa) wiedergegeben ▬ Abgesehen von Hörweitenprüfung beschränken sich tonaudiometrischen Verfahren auf die Prüfung des Tongehörs – im Rahmen der täglichen Kommunikation ist v. a. das Sprachverständnis wichtig Indikationen ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Verordnung und Anpassung von Hörhilfen Gutachten Präoperativ vor Ohroperation Überwachung des Therapieverlaufs Kontrolle unklarer Tonschwellenaudiogramme Sprachaudiometrische Tests ▬ Vielfältig → den passenden Test für jeweilige Fragestellung wählen ▬ Auswahl: – Freiburger Sprachverständnistest nach DIN 45 621 (s. unten) – Sprachverständlichkeitsmessung mit Satztests: – Oldenburger Satztest – Marburger Satztest – Göttinger Satztest – Hochmair-Schulz-Moser-Satztest – Kindersprachtests: – Mainzer Kindersprachtests I–III – Göttinger Kindersprachtests I und II – Oldendburger Kinderreimtest – Oldenburger Kindersatztest – Reimtests: – nach Sotschek – Aachener Dreisilberstest – dichotische Tests: – dichotischer Diskriminationstest nach Feldmann – dichotischer Diskriminationstest nach Uttenweiler (für Kinder) ▬ Alle Tests – bis auf die dichotischen – werden zum Teil mit und ohne Störgeräusch angewendet, obwohl gerade der Freiburger, der Mainzer und der Göttinger nicht dafür ausgelegt sind; die Untersuchung mit Störlärm (Geräusch entsprechend dem Langzeitspektrum des Sprachmaterials, umweltstimulierendes Rauschen, Wortgewirr) soll alltägliche Hörsituationen simulieren, um damit weitere Informationen über die durch die Hörstörung bedingten Einschränkungen zu erhalten Freiburger Sprachverständnistest (DIN 45 621; nach Hahlbrock) ▬ Standardsprachtest in der Audiometrie ▬ Besteht aus 2 Teilen: Zahlen und einsilbige Wörter (Nachbilung von Umgangssprache) ▬ Testmaterial enthält 10 Gruppen mit je 10 mehrsilbigen Zahlen und 20 Gruppen mit je 20 einsilbigen Wörtern ohne sinnvollen Zusammenhang ▬ Beim Wert 0 dB SPL werden Zahlwörter zwar gehört, aber noch nicht verstanden ▬ Normalhörende verstehen die Hälfte aller Zahlen bei einem Sprachschallpegel von 18,5 dB SPL und alle dargebotenen Zahlen bei 30 dB SPL ▬ Alle Einsilber sind bei gesundem Gehör erst bei einem Sprachschallpegel von 50 dB SPL zu verstehen ▬ Formular enthält 2 Bezugslinien, die die Mittelwerte für die Verständlichkeit von Zahlen und Einsilbern bei Normalhörenden darstellen (⊡ Abb. 3.6) ▬ Für die Auswertung des Zahlentests enthält das Formular eine zusätzliche Hörverlustskala (HVZ: Hörverlust für Zahlen) bei einer Verständlichkeit von 50 % (Sprachverständlichkeitsschwelle; beginnt mit 0 dB HVZ bei 18,5 dB SPL Sprachschallpegel, entsprechend dem Zahlenverstehen von Normalhörenden) ▬ Verständlichkeit: Fähigkeit, Worte/Zahlen richtig nachzusprechen ▬ Diskriminationsverlust: fehlende Fähigkeit, Worte richtig nachzusprechen (100 % minus Verständlichkeit) Ziel ▬ Erfassung von 2 verschiedenen Aspekten des Sprachgehörs: – bei welchem Schalldruckpegel (in dB SPL) der Patient Sprache (Zahlen) hört – Schwelle des Sprachverstehens – bei welchem Schalldruckpegel (in dB SPL) der Patient Sprache (Einsilber) versteht – Diskrimination oder Sprachverstehen Durchführung ▬ Voraussetzung für jede Sprachaudiometrie ist das Vorliegen eines Tonaudiogramms ▬ Zahlen: – Prinzip: 2-stellig, 2- oder 4-silbig; 10 Zahlen, jede Zahl zählt 10 % 169 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 rechts 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) HV für Zahlen 0 20 40 60 80 dB Sprachschallpegel (dB SPL) Sprachschallpegel (dB SPL) 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Verständlichkeit (%) Hörverlust (dB HL) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 5 dB 100 % Knochenleitung = Luftleitung HVZ Vmax 40 dB 80 % 20 40 60 80 dB HVZ Vmax 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 30 dB 100 % Knochenleitung = Luftleitung 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 rechts HV für Zahlen 0 20 40 60 80 dB 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Verständlichkeit (%) c HVZ Vmax 10 dB 100 % Knochenleitung = Luftleitung 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) Sprachschallpegel (dB SPL) Sprachschallpegel (dB SPL) d HV für Zahlen 0 b 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) rechts HV für Zahlen 10 0 20 30 20 40 50 40 60 70 60 80 90 80 100 US dB 110 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Verständlichkeit (%) rechts 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 0,125 0,25 0,5 1 2 3 4 6 8 10 Frequenz (kHz) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Verständlichkeit (%) Hörverlust (dB HL) HVZ Vmax a Hörverlust (dB HL) Knochenleitung = Luftleitung 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 Sprachschallpegel (dB SPL) 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 Hörverlust (dB HL) Hörverlust (dB HL) 3.3 · Diagnostik 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 rechts HV für Zahlen 0 20 40 60 80 dB 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Verständlichkeit (%) e HVZ Vmax 20 dB 30 % ⊡ Abb. 3.6. Sprachaudiogramme (unten; oben jeweils die entsprechenden Reintonaudiogramme). a normales Gehör; b Schallleitungsschwerhörigkeit; c Innenohrhochtonschwerhörigkeit; d pankochleäre Innenohrschwerhörigkeit; US Unbehaglichkeitsschwelle; e neuraler Hörschaden. HV Hörverlust; HVZ Hörverlust für Zahlen; KL Knochenleitung; LL Luftleitung; SPL »sound pressure level«; Vmax maximale Verständlichkeit für Einsilber 3 170 3 Kapitel 3 · Ohr – Berechnung des Anfangspegels: Tonhörschwelle bei 500 Hz + ca. 20 dB oder Mittelwert bei 250, 500 und 1000 Hz + etwa 20 dB (bei Hochtonverlust); Wert um 50 % ermitteln – Beginn der Untersuchung am besser hörenden Ohr: Untersucher kontrolliert über Mithörer, welche Zahlen vom Patienten richtig wiedergegeben werden, z. B. bei 45 dB SPL 2 von 10 Zahlen: 20 % → Pegelerhöhung um 5 dB (50 dB SPL) → Wahrnehmung von 8 von 10 Zahlen: 80 % → Verbindungslinie schneidet HVZ bei 25 dB, d. h. Hörverlust für Zahlen liegt bei 25 dB; Werte zwischen 30 % und 70 % können einfach eingetragen werden, hier reicht ein Wert, durch den eine Parallele zur Normhörkurve gelegt wird > Wichtig Die Sprachverstehenschwelle für Zahlen ist als derjenige Pegel definiert, bei dem der Patient 50 % der Zahlen versteht (Differenz zwischen diesem Wert und der Sprachverstehenschwelle Normalhörender – 18,5 dB – wird als Hörverlust für Zahlen bezeichnet). ▬ Worte/Einsilbertest: – Prinzip: einsilbige Substantive, 20 Worte, jedes Wort zählt 5 % – Pegel des optimalen Verständnisses ermitteln – Beginn mit der ersten Wortgruppe bei einem Sprachschallpegel von etwa 20 dB SPL über demjenigen Pegel, bei dem 50 % der Zahlen verstanden wurden – beim Normalhörenden: bei etwa 40 dB 100%ige Einsilberverständlichkeit (weitere Untersuchungen mit Einsilbern können entfallen) – beim Schwerhörigen Erhöhung des Pegels um 15 dB, bis optimale Verständlichkeit erreicht ist oder Unbehaglichkeit eintritt > Wichtig Die Anzahl der richtig wiederholten Wörter (ausgedrückt in %), ergibt das Sprachverstehen (Diskrimination) bei dem jeweiligen Prüfschallpegel. ▬ Bei Gutachten: zur Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Worte bei 60, 80 und 100 dB testen ▬ Für Hörgeräteversorgungen: Pegel bei 55, 65 und 80 dB wichtig Auswertung ▬ Ermittlung des Hörverlusts für Sprache ▬ Ermittlung des Diskriminationsverlusts bzw. des dBopt (Lautstärke, bei der das beste Sprachverständnis erreicht wird) ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit: Patient erreicht meist 100 % Verständlichkeit (jedoch sind höhere Lautstärken notwendig) ▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit: auch größere Lautstärken führen nicht immer zu einer 100%igen Verständlichkeit > Wichtig Die Sprachaudiometrie hat nur dann Aussagekraft, wenn es sich um die Muttersprache handelt oder der Patient gute Kenntnisse der vorgesprochenen Sprache hat. Anwendung und Bedeutung ▬ Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ▬ Abschätzung des Erfolgs einer Hörsystemversorgung ▬ Überprüfung der Hörsystemversorgung (schwierig bei modernen Hörsystemen, die Einsilber nicht als Sprache erkennen) ▬ Abschätzung, ob ein Kochleaimplantat infrage kommt (Sprachverständnis mit optimal angepassten Hörsystemen: 30–50 % bei 70 dB im Freifeld) ▬ Keine Normierung im Störgeräusch Kindersprachtests ▬ Der Entwicklung des Kindes angemessen ▬ Mainzer Test: je 5 Gruppen mit 10 Wörtern; 3 Teile (je nach Alter: 3–6 Jahre) mit Bildmaterial, keine Normierung im Störgeräusch ▬ Göttinger Test: konsequent mit Einsilbern, Phonemverwechslungen auswertbar; 2 Teile (je nach Alter: 4–7 Jahre), keine Normierung im Störgeräusch ▬ Oldenburger Kinderreimtest: 1.–4. Klasse Kritische Bewertung der Freiburger, Göttinger und Mainzer (Kinder-)Sprachtests ▬ Wort kommt unvermittelt ohne Vorwarnung ▬ Testwort muss nachgesprochen werden → Problem bei mangelnder Hörleistung des Untersuchers und fehlendem Wortschatz des Kindes ▬ Phonemverwechslungen nur mit sehr hohem Aufwand auswertbar ▬ Worte nicht ausgewogen ▬ Oft falsche Durchführung Satztests ▬ Oldenburger Satztest: – zur Kontrolle einer Hörsystemversorgung gut geeignet – Bestimmung von »intelligibility level difference« und »binaural intelligibility level difference« 171 3.3 · Diagnostik – Prinzip: Bestimmung der Sprachverständlichkeitsschwelle (50%ige Sprachverständlichkeit), 40 Testlisten à 30 Sätze – Aufbau: Name, Verb, Zahlwort, Adjektiv, Objekt, z. B. »Peter bekommt neun nasse Sessel« – Durchführung: meist im Freifeld, wobei Signal und Rauschen aus der gleichen Richtung (von vorne) kommen, oder Verwendung einer räumlichen Auftrennung, um beidseitiges Hören zu testen – Auswertung: bestimmt wird der Signal-Rausch-Abstand (S/N-Ratio); Norm: –5 bis –10 dB ▬ Oldenburger Kindersatztest: – Unterschied zum Oldenburger Satztest: Satz besteht nur aus 3 Wörtern (Zahlwort, Adjektiv, Objekt, z. B. »neun nasse Sessel«) – Durchführung und Auswertung analog zum Oldenburger Satztest ▬ Hochmair-Schulz-Moser-Satztest: Untersuchung der Sprachverständlichkeit im Störschall, v. a. bei Patienten mit einem Kochleaimplantat (besteht aus 30 Listen mit je 10 kurze Sätzen) ▬ Göttinger Satztest: enthält 20 Testlisten mit je 10 kurzen Sätzen gleicher Phonem- und Wortanzahl mit guter Übereinstimmung der Verständlichkeit ▬ Andere Satztests: verlieren mehr und mehr an Bedeutung, da keine Normierung im Störgeräusch Dichotische Diskriminationstests (»dichotic listening«) ▬ Test nach Feldmann/Uttenweiler zur Diagnostik zentraler Hörstörungen ▬ Für die Bestimmung der auditorischen Hemisphärenlateralisation ist z. B. der Test nach Hugdahl besser geeignet ▬ Feldmann-Test: gleichzeitiges Anbieten verschiedener, jeweils 3-silbiger Wörter auf dem linken und rechten Ohr; Prozentzahl der richtig wiedergegebenen Wörter wird seitengetrennt registriert; Auswertung: – Normalhörende: erreichen beidseits 100 % – Verdacht auf zentrale Störung der Hörbahn: Diskriminationsverluste auf beiden Ohren oder auf einem Ohr (bei normaler Verständlichkeit am Gegenohr) ▬ Dichotischer Test nach Uttenweiler: kindgerechte Modifikation des Feldmann-Tests Hörfeldskalierung ▬ Wird v. a. zur Hörsystemanpassung verwendet (im Freifeld) ▬ Durchführung: Patient hört verschiedene Arten von Schmalbandrauschen in verschiedenen Lautstärken und gibt an, wie laut er diese empfindet (leise, ange- nehm, laut, sehr laut, unangenehm); Daten werden in Diagramm mit Normkurve eingetragen ▬ Auswertung: – Kurve des Patienten parallel zu höheren Pegeln verschoben: Schallleitungs- oder retrokochleäre Schwerhörigkeit – verschobene Kurve bei leisen Pegeln und steiler verlaufende Kurve: Schallempfindungsschwerhörigkeit mit »recruitment« (kochleärer Schaden) ▬ Untersuchung mit und ohne Hörgeräte: gibt Aufschluss über Erfolg der Hörgeräteversorgung und Hinweise auf Einstellungen, die vorgenommen werden müssen, um ein gutes Anpassungsergebnis zu erzielen Recruitment-Tests ▬ »Recruitment«: Begriff für die lineare, nicht mehr kompressive Schallverarbeitung im Innenohr; Ausdruck einer Schädigung der äußeren Haarzellen und damit einer fehlenden aktiven Dämpfung mit der Folge überproportional erhöhter Lautheitsempfindungen und einer Absenkung der Unbehaglichkeitsschwelle ▬ Recruitment-Tests (überschwellige Hörtests) untersuchen, ob sich bei dem Schwerhörigen ein sog. Lautheitsausgleich zeigt (ob er sich in seinem Hörvermögen bei höheren Pegeln wie ein Normalhörender verhält) ▬ »Recruitment« positiv: mit größter Wahrscheinlichkeit kochleäre Hörstörung ▬ »Recruitment« negativ (der Patient ist zum Lautheitsausgleich unfähig): neurale bzw. retrokochleäre Schwerhörigkeit als Ursache möglich ▬ Tests: SISI, Lüscher-Test, Langenbeck-Geräuschaudiometrie, Fowler-Test, Békésy-Audiometrie, Schwellenschwundtest nach Carhart, Hörfeldskalierung, Prüfung des Reflex-Decay, Pegel-Latenz-Darstellung der BERA (s. unten) SISI (»short increment sensivity index«) Prinzip ▬ Index bzw. prozentuales Erkennen von 1-dB-Lautstärkeschwankungen, Detektion kleiner Intensitätsunterschiede (»increment«) im Pegelbereich der Erregung innerer Haarsinneszellen ▬ Bei Schallempfindungsschwerhörigkeit von ≥40 dB anwendbar Durchführung ▬ Angebot von 20 1-dB-Inkrementen (Pegelsprünge), Beginn mit 5-dB-Sprüngen, dann 3-dB-, anschließend 1-dB-Sprünge ▬ Testung bei 20 dB SL (20 dB über Lufthörschwelle) 3 172 Kapitel 3 · Ohr ▬ Erst ab 40 dB HL Hörverlust (40 dB + 20 dB = 60 dB → Pegelbereich für Erregung innerer Haarsinneszellen) ▬ Jeweilige Wahrnehmung bzw. hörbarer »Sprung« wird durch Tastendruck vom Patient bestätigt ▬ Index erkannter Inkremente ermitteln 3 einen Kopfhörer geschaltet (Rauschen kommt nicht wie bei der Vertäubung von der Gegenseite) ▬ Erfolgt üblicherweise bei Tonschwellenaudiogrammen mit Hochtonabfall Durchführung Patientenanweisung »Sie hören einen Ton, der ab und zu für kurze Zeit etwas lauter wird. Drücken Sie die Taste, wenn Sie einen solchen Sprung hören. Die Sprünge sind erst deutlich, später sind sie schlechter zu erkennen.« Beurteilung ▬ 70–100 %: »recruitment« positiv, kochleärer Schaden ▬ 0–30 %: »recruitment« negativ, z. B. retrokochleärer Schaden ▬ 35–65 %: keine Aussage möglich Lüscher-Test Prinzip ▬ Aufsuchen der Intensitätsunterschiedsschwelle ▬ Die Unterschiedsschwelle nimmt mit zunehmendem Pegel zu; kleinstmöglicher hörbarer Unterschied bei Pegeln von 80–100 dB: 0,2 dB ▬ Zunächst Standardtonschwellenaudiometrie → Bestimmung des Bezugspunkts: Lautstärkepegel bei der Frequenz (zwischen 0,5 und 4 kHz) mit der größten Schädigung (45–75 dB HL) bzw. bei Hochtonabfall im Bereich des Abfalls (Lautstärke des Rauschens) → Hörschwelle für die anderen Töne erneut bestimmen: Mithörschwelle (Unterbrechung des Geräusches beim Frequenzwechsel zur Vermeidung eines Schwellenschwunds) ▬ In der Nähe der Mithörschwelle macht sich der Ton zunächst durch Klangänderung des Rauschens bemerkbar; Ton erscheint bei Steigerung der Lautstärke sprunghaft, d. h. er tritt deutlich aus dem Geräusch hervor: Klarpunkt Patientenanweisung »Sie hören ein Rauschen. Drücken Sie bitte die Taste, wenn Sie im Rauschen einen Ton hören.« Durchführung Beurteilung ▬ Wie bei SISI bei 20 dB SL (s. oben) ▬ Einmünden der Mithörschwelle in den Bezugspunkt und Mithörschwelle liegen für jede Frequenz im Rauschpegel oder um höchstens 5 dB erhöht: kochleärer Schaden ▬ Mithörschwelle >10 dB über dem Rauschen, d. h. sie mündet nicht in den Bezugspunkt (weicht vor dem Abfall der Tonschwelle aus): retrokochleärer Schaden Patientenanweisung »Bitte drücken Sie die Taste, wenn der gehörte Ton in seiner Intensität zu schwanken beginnt.« Beurteilung Fowler-Test ▬ Patient hört Intensitätsunterschied von ≤1 dB: kochleärer Schaden ▬ Patient hört Intensitätsunterschied von >1 dB: retrokochleärer Schaden Prinzip Langenbeck-Geräuschaudiometrie Voraussetzung Prinzip ▬ Asymmetrisches Gehör mit Differenz von ≥30 dB ▬ Tonschwellenaudiometrie im standardisierten Hintergrundgeräusch (Mithörschwelle von reinen Tönen wird in gleichmäßig verdeckendem Geräusch bestimmt) ▬ Der Normalhörende und auch der Innenohrschwerhörige erkennen einen Ton im Geräusch bereits dann, wenn beide die gleiche Lautstärke aufweisen ▬ »Langenbeck-Geräusch« (gleichmäßig verdeckendes Rauschen) wird zusammen mit den Prüftönen auf ▬ Beruht auf dem subjektiven Lautheitsausgleich zwischen 2 Ohren mit unterschiedlicher Hörschwelle (an einem Patienten) Durchführung ▬ Audiometer mit Wechseltaktverfahren ▬ Untersucher gibt Lautstärke auf dem schlechteren Ohr mit 20 dB SL (über der Hörschwelle) vor ▬ Auf dem besseren Ohr wird nachgeregelt, bis Patient subjektiv seitengleiche Lautheit empfindet; Steigerung auf 40 und 60 dB SL 173 3.3 · Diagnostik Patientenanweisung »Sie werden einen kurzen Ton abwechselnd auf dem rechten und dem linken Ohr hören. Bitte geben Sie an, wenn er auf beiden Ohren gleich laut ist.« Beurteilung ▬ Lautheitsausgleich (Empfindung gleicher Lautstärken – in dB HL – auf beiden Ohren als gleich laut): kochleärer Schaden ▬ Kein Lautheitsausgleich, d. h. Differenz zwischen beiden Ohren bleibt (auch bei großen Lautstärken von >100 dB): retrokochleärer Schaden Automatische Audiometrie nach von Békésy (Békésy-Audiometrie) ▬ Testung der Separation der Dauertonschwelle von der Impulstonsschwelle ▬ Frequenzgleitende (stetig gleitende) Methode: – Bestätigung der Hörschwelle – Anhaltspunkt für »recruitment« ▬ Frequenzkonstante Methode: – Wie im Carhart-Test (s. unten) Bestimmung des zeitabhängigen Schwellenschwunds möglich – in der Begutachtung Methode der Wahl Durchführung ▬ Einstellen eines Pegels von 5 dB über der zuvor gemessenen Hörschwelle (bei 1–4 kHz oder in einer Hörsenke) → hört der Patient den Ton nach einiger Zeit nicht mehr, folgt eine Erhöhung des Pegels um 5 dB → Ton wird wieder hörbar ▬ Test wird beendet, wenn ein Schwellenschwund um 30 dB erreicht ist oder wenn der Ton mindestens 1 min lang gehört wird; Darstellung in einem Zeitdiagramm oder Markierung durch eine senkrechte Linie im Audiogramm Patientenanweisung »Sie hören einen leisen Ton. Drücken Sie die Taste, wenn der Ton nicht mehr zu hören ist.« Beurteilung ▬ Schwellenschwund bis 10 dB: normal ▬ Schwellenschwund bis zu 25 dB: pathologische Adaptation (Ausdruck einer kochleären Störung) ▬ Neuraler Schaden, wenn Schwelle um 30 dB (6 Stufen) oder mehr abwandert Analyse von Ohrgeräuschen ( Tinnitus) Tinnitus-Matching Prinzip ▬ Patient bestimmt seine Hörschwelle selbst: er drückt einen Knopf, sobald der Ton gehört wird, und drückt so lange, bis er den Ton nicht mehr hört ▬ Apparatur regelt den Ton bei Knopfdruck automatisch leiser und wieder lauter, sobald der Patient loslässt → Zick-Zack-Kurve um die Hörschwelle Durchführung ▬ Pulstonschwelle für 1 min und Dauertonschwelle für 2 min bestimmen ▬ Bestimmung der Tonhöhe bzw. Frequenzbestimmung des Tinnitus ▬ Patient werden Töne sowie Schmal- und Breitbandrauschen mit Pegeleinstellungen von etwa 10 dB über der Hörschwelle zum Vergleich angeboten, bis eine weitgehende Übereinstimmung der Frequenz angegeben wird → Bestimmung der Lautstärke, die dem Tinnitus entspricht; Vergleich kann auch über Gegenohr erfolgen ▬ Wert wird im Tonschwellenaudiogramm eingetragen Messung der Verdeckbarkeit bzw. Maskierung Beurteilung ▬ Separation (Dauer- und Pulstonschwelle) bis 30 dB und Amplitudenverkleinerung im Extremfall bis 1 dB: kochleärer Schaden ▬ Schwellenabwanderung bis zur Audiometergrenze ohne Amplitudenverkleinerung: retrokochleärer Schaden »Tone-decay«-Test (Schwellenschwundtest) nach Carhart Prinzip ▬ Ein geschädigter Hörnerv ist nicht in der Lage, seine Erregung für lang andauernde Tonreize aufrechtzuerhalten → bei anhaltender Belastung Erhöhung der Hörschwelle (Hörermüdung) ▬ Messung der Verdeckbarkeit kann mit Breit- oder Schmalbandgeräuschen und auch mit Tönen (mit jedem Audiometer möglich) erfolgen → Tinnitusverdeckungs- bzw. Maskierungskurve ▬ Verdeckungsmessung kann monaural (bei einseitigem Tinnitus) auf betroffenem Ohr (ipsilateral), dann auch vom Gegenohr aus (kontralateral) durchgeführt werden; bei beidseitigem Tinnitus Bestimmung der Lautstärke (bei binauraler Beschallung), bei welcher der Tinnitus zunächst im ipsilateralen und dann im kontralateralen Ohr maskiert wird ▬ Vorgehen: Patient wird instruiert, sich auf den Tinnitus zu konzentrieren → einzelne Töne steigender In- 3 174 3 Kapitel 3 · Ohr tensität → Patient gibt an, wenn sein Tinnitus neben dem Ton unhörbar wird ▬ Tinnitusverdeckungskurven verlaufen in den meisten Fällen anders als bei Verdeckung eines entsprechend gehörten Tons → Maskierungsschwellen bei den einzelnen Frequenzen im Audiogramm eintragen ▬ 4 Typen zur Klassifikation des Tinnitus (nach Feldmann): – Konvergenztyp: Verdeckungskurve verläuft horizontal und legt sich im Bereich des Hochtonverlusts der Schwellenkurve an – Distanztyp: Schwellen- und Verdeckungskurve verlaufen parallel, aber mit deutlicher Distanz – Kongruenztyp: Verdeckungskurve verläuft mit Schwellenkurve – Persistenztyp: Tinnitus lässt sich durch akustische Reize nicht verdecken ▬ Kurventypen erlauben bisher keinen Rückschluss auf eine Erkrankung ▬ ein nicht verdeckbares Ohrgeräusch kann seinen Ursprung im Zentralnervensystem haben ▬ Ausmaß des persönlichen Leidensdrucks durch den Tinnitus ist audiometrisch nicht zu ermitteln Simulation, Aggravation, Dissimulation, psychogene Hörstörungen ▬ Simulation: Patient mit normalem Hörvermögen täuscht bewusst einen Hörschaden vor ▬ Aggravation: es besteht bereits ein Hörschaden, und der Patient gibt ihn bewusst ausgeprägter an, als er tatsächlich ist ▬ Dissimulation: Hörschaden wird bewusst oder unbewusst verborgen oder geringer dargestellt, als er tatsächlich ist (seltener als Simulation oder Aggravation) ▬ Psychogene Hörstörungen (»non-organic hearing loss«): für eine Person ist es nicht (oder nicht in vollem Umfang) einsehbar, dass die von ihm gemachten Angaben nicht dem tatsächlichen Hörvermögen entsprechen Diagnostik ▬ Objektive Untersuchungen: – Messung der otoakustischen Emissionen – Untersuchung der Hörschwelle mit auditorisch evozierten Potenzialen ▬ Hinweise bei der routinemäßigen Hörprüfung – Vergleich der Hörprüfergebnisse mit dem subjektiven Eindruck des Sprachverstehens des Patienten bei direkter Unterhaltung – Tonaudiogramm: – streuende Angaben bei der Hörschwellenbestimmung – pantonale Schallempfindungsschwerhörigkeit um 50 dB – pantonale, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit – Sprachaudiometrie: – Zahlenverständnis im Vergleich zum Einsilberverständnis zu schlecht – zu flacher oder zu steiler Anstieg der Zahlenverständniskurve – große Abweichung bei Testwiederholung bei gleichem Schallpegel – Diskrepanz zwischen Hörverlust im Tonaudiogramm und Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm ▬ Simulationstests bei einseitig normaler Hörschwelle: – Langenbeck-Überhörversuch: mit Kopfhörern wird die Hörschwelle des angeblich tauben Ohres ohne Vertäubung geprüft; bei Normalhörigkeit auf der Gegenseite muss eine Überhörkurve von 60 dB nachweisbar sein, bei Simulation fehlt sie – Stenger-Versuch: – basiert auf dem Phänomen, dass ein akustisches Signal, welches auf beiden Ohren gleichzeitig angeboten wird, bei einer Pegeldifferenz von etwa >5–10 dB subjektiv nur auf der Seite der lauteren Darbietung wahrgenommen wird; verschiedene Testdurchführungen – Durchführung I: Bestimmung der Luftleitungsschwellen beider Ohren entsprechend den Angaben des Patienten → am (angeblich) schlechter hörenden Ohr wird ein Ton 10 dB unter der angegebenen Schwelle eingestellt (dürfte für Patient eigentlich nicht zu hören sein; darf nicht zu laut sein, sonst Überhören) → nochmalige Bestimmung der Tonschwelle des besser hörenden Ohres – Durchführung II: Anbieten eines Signals 10 dB über der Hörschwelle auf dem als gut angegebenen Ohr, dabei Anweisung an Patient: »Wann wird Signal auf dem Ohr unhörbar?« → das gleiche Signal simultan auf das »schlechter« hörende Ohr geben, dort langsame Erhöhung des Pegels – Auswertung zu I: organischer Schaden: Tonschwelle des besser hörenden Ohres ändert sich nicht; Simulation: auf dem besser hörenden Ohr kann nicht die gleiche, normale Hörschwelle angegeben werden (Hörschwelle richtet sich nach dem Pegel des angeblich schlecht hörenden anderen Ohres) – Auswertung zu II: organischer Schaden: Signal bleibt auf der gut hörenden Gegenseite hörbar; Simulation: Signal »verschwindet« auf dem 175 3.3 · Diagnostik gut hörenden Ohr (bei Pegelübersteigung von 5–15 dB) ▬ Simulationstests bei beidseitig erhöhter Hörschwelle: – Békésy-Audiometrie (s. oben): Hörschwelle fällt unabhängig davon, ob mit Rauschsignal, Dauerton oder Impulssignal gemessen wird, annähernd gleich aus (Angabe der Impulsschwelle bei höheren Pegeln) – Lombard-Test: Patient liest fortlaufenden Text vor → Darbietung eines Rauschens (80 dB); Auswertung: bei Schwerhörigkeit Weiterlesen in unveränderter Lautstärke (Rauschsignal unhörbar oder leise), bei Simulation/Aggravation steigert der Patient die Lautstärke – Lee-Versuch: Patient liest fortlaufend Text vor → Aufnahme der Sprachsignals mit einem Mikrophon → verzögerte Darbietung über Kopfhörer; Auswertung: kann der Patient das zurückgespielte Signal hören (Simulation/Aggravation), kommt er bei Verzögerungen von 0,1–0,3 s ins Stocken; ist das Signal für den Patienten unhörbar, besteht ein unbeeinflusster Redefluss Beurteilung Objektive Audiometrie Stapediusreflexmessung ▬ Zunehmende Bedeutung ▬ Hörvermögen kann teilweise objektiviert werden ▬ Eigentlich semiobjektives Verfahren, da Ergebnisse interpretiert werden müssen ▬ Lokalisations-(Topo-)Diagnostik Anwendung Tympanometrie Durchführung Vorbemerkung ▬ Akustische Impedanz (Widerstand) des Trommelfelles: Maß für den Widerstand, den das Trommelfell ▬ Gleiche Apparatur wie bei Tympanometrie ▬ Gemessen wird, bei welcher Lautstärke der Stapediusreflex (Impedanzänderung) gerade auslösbar ist ▬ Reflexbogen: # Kap. 3.2.1 ▬ Voraussetzung: normales Tympanogramm oder leichter Unterdruck ▬ Nach Erstellung des Tympanogramms Einstellen des Drucks, bei dem die größte Compliance besteht → Prüfung bei verschiedenen Frequenzen (500 Hz, 1, 2 und 4 kHz), Beginn mit Schallpegel von 70 dB, der bis zum Eintreten des Reflexes um jeweils 5 dB gesteigert wird → bei Auftreten einer Nachgiebigschwankung Erreichen der Reflexschwelle → Registrierung für entsprechende Messfrequenz der Bewegung durch den Schall entgegensetzt ▬ In der Praxis nicht Messung der Impedanz, sondern des Kehrwerts (Compliance: elastische Beweglichkeit oder Nachgiebigkeit) Durchführung ▬ Es darf keine Trommelfellperforation vorliegen, und Gehörgang muss frei von Zerumen sein ▬ Sonde im Gehörgang mit Lautsprecher für den Sondenton, Mikrophon, Druckpumpe ▬ Gehörgang wird luftdicht abgedichtet → Erzeugung eines Unter- und Überdrucks ▬ Bei verschiedenen Drücken wird die Nachgiebigkeit (Compliance) des Trommelfells gemessen → Registrierung einer Messkurve, die die Nachgiebigkeit vom höchsten (rechts) zum geringsten Druck (links) darstellt ▬ Normaler Mittelohrdruck: Gipfel (»peak«, gipfliger Verlauf) von etwa 100 mm Wassersäule (Dekapascal) ▬ Verschobenes Tympanogramm: Kurve bei Unterdruck nach links verschoben ▬ Flaches Tympanogramm: Flüssigkeit hinter dem Trommelfell (Paukenerguss), ausgeprägte Tympanosklerose, raumfordernder Prozess des Mittelohrs ▬ Abgeflachtes Tympanogramm: verminderte Nachgiebigkeit des Trommelfells durch Bewegungsbehinderung, z. B. Vernarbungen des Trommelfells, Otosklerose ▬ Mehrgipflige Kurve: atrophische Vernarbungen des Trommelfells ▬ Überhöhtes Tympanogramm: überhöhte Compliance des Tommelfells durch Unterbrechung bzw. Luxation der Gehörknöchelchen (auffällig hohe Kurven; Überschreiten des Darstellungsformats: nach oben geöffnete Kurve ohne abgebildeten Höhepunkt) > Wichtig Beachte die Frequenz des Sondentons: bei kleinen Gehörgängen höhere Frequenz ▬ ▬ ▬ ▬ Topodiagnostik bei Fazialisparese Diagnostik der Otosklerose Bestimmung des Metz-Recruitment Objektivierung einer Schwerhörigkeit ! Cave Die Stapediusreflexmessung ist bei einer akuten Innenohrstörung (z. B. Hörsturz, akuter Tinnitus) frühestens nach Ablauf einer Woche durchzuführen (Gefahr eines Innenohrlärmtraumas). 3 176 Kapitel 3 · Ohr Unterscheidung ▬ Reizohr, in dem der Reflex ausgelöst wird ▬ Sondenohr, in dem der Reflex registriert wird (ipsiund kontralateral) 3 Bewertung ▬ Normale Reflexschwellen findet man bei 80–95 dB HL (⊡ Tab. 3.4) ▬ Kettenunterbrechung: – erkranktes Ohr: kein Reflex – normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral kein Reflex ▬ Trommelfelldefekt: – erkranktes Ohr: kein Reflex (da kein normales Tympanogramm) – normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral Reflexsteigerung ▬ Otosklerose: – erkranktes Ohr: kein Reflex (da Kette fixiert) – normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral Reflexsteigerung ▬ Schenkelfraktur des Stapes: kein Reflex (wegen Stapeskontraktur) ▬ Innenohrschaden: – Reflexschwelle für Sinustöne erhöht sich bis zu einem Innenohrhörverlust von ≤50 dB kaum (Schädigung äußerer Haarzellen wirkt sich kaum auf das Hören lauter Pegel aus) – Hörverlust von >50 dB: Reflexschwelle steigt wie Hörschwelle linear an – Metz-Recruitment: beträgt Unterschied von Hörschwelle und Stapediusreflexschwelle <60 dB, liegt eine Innenohrschädigung vor ▬ Hörnervenschaden mit Ermüdung des Reflexes (Reflex-Decay): – Abnahme der Reizamplitude um 50 % bei einer Reizdauer von 10 s mit einem Schalldruckpegel von 10 dB oberhalb der Reflexschwelle – Prüfung über eine Reizdauer von 10 s mit einem Pegel von 10 dB über der Stapediusreflexschwelle: bleibt Kontraktion des Stapediusmuskels bei Messfrequenzen von 500 Hz (kontralateral) und 1 kHz nicht während der gesamten Reizdauer bestehen (innerhalb von 10 s Verminderung der anfänglichen Amplitude um 50 %), besteht der Verdacht auf eine Erkrankung des Hörnervs ⊡ Tab. 3.4. Impedanzbefunde bei verschiedenen Krankheitsbildern Krankheitsbild Tympanogramm Mittelohrdruck [Dekapascal] Compliance Stapediusreflex – (Normalbefund) »Peak« bei ±0 ±0 Normal Registrierbar Mittelohrerguss Flach –200 bis –300 oder nicht ableitbar Sehr klein Nicht auslösbar Tubenfunktionsstörung »Peak« im Unterdruck –100 bis –200 Normal Registrierbar Schlaffes Trommelfell, Schenkelfraktur des Stapes Überhöhter »peak« ±0 Groß Registrierbar Ambossdefekt Deutlich überhöhter »peak« (oben offen) ±0 Groß Nicht auslösbar Otosklerose/Stapesfixation Erniedrigter »peak« ±0 Leicht erniedrigt Nicht auslösbar Offene Tube »Peak« ±0 Normal; atemsynchrone Bewegungen Registrierbar Glomustumor Flach Nicht ablesbar Sehr klein Nicht registrierbar Sensorische Schwerhörigkeit »Peak« bei ±0 ±0 Normal Registrierbar Neurale Schwerhörigkeit (1. und 2. Neuron) »Peak« bei ±0 ±0 Normal Nicht auslösbar oder Reflex-Decay Zentralneurale Schwerhörigkeit (oberhalb des Reflexbogens) »Peak« bei ±0 ±0 Normal Registrierbar 177 3.3 · Diagnostik ▬ Fazialisparese: – peripher intratemporal: einseitiger Reflexausfall ohne Hörverlust – infratemporal: Reflex auslösbar ▬ Reizgeber → Lautsprecher → Schall im Gehörgang (Störschall und Signal aus Kochlea) → Mikrophon → Verstärkung → Datenerfassungssystem → Verarbeitung im PC > Wichtig Spontane OAE (SOAE) Ein Rückschluss von der Reflex- auf die Tonhörschwelle ist nicht möglich. ▬ Schallwellen, die im Innenohr entstehen, von dort ausgesendet werden und im äußeren Gehörgang mit einem Miniaturmikrophon gemessen werden können ▬ Phänomen des normalen Hörvorgangs: physiologisch erzeugte Geräuschaussendungen ▬ Leise akustische Aussendungen des Innenohrs ohne externe Stimulation ▬ Einzelne, sinusförmige, über längere Zeit andauernde Signale; Pegel liegt meist deutlich unter 20 dB SPL und entspricht Frequenzbereich einzelner Spektrallinien ▬ Nur bei ca. 50 % der Bevölkerung (Männer mehr als Frauen, Kinder/Jugendliche mehr als ältere Erwachsene) ▬ Keine Korrelation zu Tinnitus (SOAE werden von Probanden/Patienten in der Regel nicht gehört) Einteilung Transitorisch evozierte OAE ( TEOAE) ▬ Spontane OAE: SOAE ▬ Transitorisch evozierte OAE: TEOAE ▬ Distorsionsprodukte (»Verzerrungsprodukte«) otoakustischer Emissionen: DPOAE – Wachstumsfunktionen von DPOAE – OAE-Feinstruktur ▬ Akustische Antwort der Kochlea auf kurzzeitige Klickreize (<1 ms, rechteckförmig, Kurzzeitreiz – transient) ▬ Sehr leise (selten >20 dB SPL) ▬ Emissionen werden poststimulatorisch registriert; Antworten haben je nach Entstehungsort entlang der Basilarmembran Latenzen zwischen 1 ms (basal) und 12 ms (apikal) ▬ Trennung zwischen Reiz und Antwort im Zeitbereich ▬ Ausgewertet werden die akustischen Antworten während der ersten etwa 20 ms nach jedem Klick; zur Ausblendung des Klickreizes erfolgt die Registrierung erst nach 5 ms ▬ Mit Hilfe einer schnellen Fourier-Transformation wird auf verschiedene Frequenzbänder zurückgerechnet ▬ Kleiner Signal-Störschall-Abstand ▬ Amplitude bei 1 kHz größer als bei 4 kHz (zur Diagnostik von Tieftonschwerhörigkeiten besser geeignet) ▬ TEOAE bis zu einem Hörverlust von ca. 30 dB vorhanden, ab Hörverlust von 35 dB keine TEOAE ▬ Auswertung: – beurteilt wird primär, ob TEOAE nachzuweisen sind oder nicht – Beurteilung aufgrund von Zeitverlauf und Spektrum des gemittelten Mikrophonsignals – Reproduzierbarkeit: 60–80 % (keine einheitlichen Grenzwerte) – Pegel des gemittelten Signals (Response-Pegel) – Differenz zwischen gemitteltem Signal und Rauschen ▬ Wichtigster Bestandteil des Neugeborenenhörscreenings Otoakustische Emissionen (OAE) Grundlagen Definition Physiologische Grundlagen der Entstehung von OAE ▬ Siehe auch oben, 3.2.1 ▬ Als Schallquelle werden die äußeren Haarzellen des Corti-Organs angesehen: Kontraktion der äußeren Haarzellen → kleinste Schwingungen der Basilarmembran → Anregung zu verstärkten Eigenschwingungen → retrograde Wanderwelle → durch mechanische Bewegung aktive Abgabe von Schall ▬ In der Regel Emission durch akustische Reize ▬ OAE können auch gemessen werden, wenn der Hörnerv nicht intakt ist ▬ Fehlen der OAE auf akustische Reize: Innenohrschaden ▬ OAE sind vulnerabel gegenüber einigen Einflüssen, z. B. Lärm, ototoxische Medikamente, Hypoxie ▬ Beeinflussung durch Aktivität medialer olivokochleärer Efferenzen, z. B. Suppression durch kontralaterale akustische Stimulation Durchführung und Messung ▬ Rahmenbedingungen: – störschallfreier Messraum – ruhiger, entspannter Patient – akustische Isolation des Messmikrophons gegenüber externem Störschall durch dichtes Einführen der Messsonde in den Gehörgang 3 178 Kapitel 3 · Ohr ▬ Verlaufskontrolle bei der Behandlung kochleärer Schwerhörigkeiten (Hörsturz) ▬ Ausschluss von Aggravation oder Simulation ▬ Verlaufskontrolle bei Lärmtrauma oder ototoxischen Medikamenten 3 Distorsionsprodukte der OAE (DPOAE) ▬ Durch Nichtlinearität der äußeren Haarzellen gebildete Verzerrungsprodukte ▬ Innenohr erzeugt bei gleichzeitiger Stimulation mit 2 Sinustönen (unterschiedlicher Frequenz) einen 3. Ton (Verzerrungs- oder Distorsionsprodukt); dieser verhält sich zu den beiden Primärtönen konstant ▬ Ableitung der Verzerrungsprodukte perstimulatorisch (während Stimulation): – verwendet werden 2 Sinustöne (Primärtöne) mit den Frequenzen f1 und f2 (f2 : f1 = 1,22 : 1) – gemessen wird das Distorsionsprodukt mit der größten Amplitude beim Menschen bei der Frequenz 2f1 – f2 – Trennung zwischen Reiz und Antwort im Frequenzbereich; größerer Signal-Störschall-Abstand ▬ Erstellt wird ein sog. DP-Gram – bei hoher Frequenzauflösung (kleine Schrittweite von f2) und Normalhörigkeit ist eine DPOAE-Feinstruktur messbar; Bereich: 1–5 kHz ▬ Auswertung: – Normalhörigkeit: Pegelwerte der gemessenen DPOAE (Linie) sind höher (Amplitude bei 4 kHz größer als bei 1 kHz) als das Spektrum des mittleren Grundrauschens sowie dessen 2fache Standardabweichung (Störgeräuschpegel: im DP-Gram farbig bzw. schwarz/schraffiert) – Innenohrschwerhörigkeit: geringere Amplituden der gemessenen DPOAE (Hörverluste im Hochtonbereich besser zu diagnostizieren) – Taubheit: keine DPOAE messbar ▬ Emissionen sind bis zu einem Hörverlust von etwa 40 dB nachweisbar DPOAE-Wachstumsfunktionen ▬ Genauere Untersuchung einzelner Frequenzen: DPOAE werden mehrmals bei der gleichen Frequenz, aber mit verschiedenen Stimulationspegeln gemessen → Pegel der gemessenen DPOAE als Funktion der Stimulationspegel → aus Steilheit der Kurve lassen sich Rückschlüsse auf den Zustand der äußeren Haarzellen ziehen ▬ Nach Janssen Errechnung der Hörschwelle möglich (objektive Bestimmung der kochleären Leistungsfähigkeit); kann jedoch Audiogramm nicht ersetzen Akustisch evozierte Potenziale (AEP) – Elektrische Reaktionsaudiometrie (ERA) ▬ Objektive Hörprüfungen, bei denen die neuronale Aktivität der Hörbahn durch akustische Stimulation für eine gewisse Zeit synchronisiert und an der Kopfhaut mit Oberflächenelektroden (für kurze Spannungsschwankung) registriert wird ▬ Hörsignal kann bis in den Hirnstamm bzw. bis zur Hirnrinde verfolgt werden ▬ Einteilung in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihres Auftretens nach dem Schallreiz (Latenz): – Elektrokochleographie (sehr frühe AEP) – frühe akustisch evozierte Potenziale (»brainstemevoked response audiometry«, BERA – Hirnstammaudiometrie; »auditory brainstem response audiometry«): 1,5–10 ms nach dem Schallreiz; Sonderformen: »Notched-noise«-BERA, »auditory steady state response« – mittlere akustisch evozierte Potenziale (in der Praxis praktisch keine Anwendung): 10–100 ms nach dem Schallreiz – späte bzw. sehr späte akustisch evozierte Potenziale (»cortical evoked response audiometry«, Hirnrindenaudiometrie): 100–300 ms bzw. 300– 1000 ms Elektrokochleographie Definition und Einteilung ▬ 3 Komponenten werden unter dem Namen »Elektrokochleographie« zusammengefasst (# Kap. 3.2.1) – präsynaptisches kochleäres Mikrophonpotenzial (»cochlear microphonics«) – Summationspotenzial: reizsynchrones Gleichspannungspotenzial als Ausdruck der Auslenkung der Basilarmembran – postsynaptisches Summenaktionspotenzial N1 Durchführung ▬ Bipolare Ableitung zwischen Promontorium bzw. äußerem Gehörgang und Mastoid bzw. Ohrläppchen der beschallten Seite (inaktive Elektrode) – transtympanal: invasives Verfahren; eine Nadelelektrode wird durch das Trommelfell auf das Promontorium gesteckt – extratympanal im Gehörgang: weniger zuverlässig und kleinere Amplitude (um Faktor 5–10 kleiner) Auswertung ▬ Summenaktionspotenzial ▬ Reizantwortschwelle (geringster Pegel, bei dem ein Summenaktionspotenzial nachweisbar ist) ▬ Amplitude ▬ Verhältnis der Amplitude des Summationspotenzials zum Summenaktionspotenzial ▬ Kochleäre Mikrophonpotenziale Klinische Anwendung ▬ Verhältnis des Summationspotenzials zum Summenaktionspotenzial gibt diagnostische Hinweise beim endolymphatischen Hydrops ▬ Zur Differenzialdiagnostik der neuralen Schwerhörigkeit, v. a. bei Verdacht auf auditorische Neuropathie/Synaptopathie ▬ »Recruitment« besser nachweisbar als mittels BERA ▬ Bestätigung eines kochleären Funktionsausfalls vor einer Kochleaimplantatversorgung mittels Promontoriumstest (zur Überprüfung der Funktion des Hörnervs): anstelle akustischer Reize werden Stromimpulse verwendet; werden diese auditiv als akustische Signale empfunden, besteht eine günstige Voraussetzung für ein Kochleaimplantat ▬ Elektrokochleographie hat gegenüber OAE-Messung und BERA an Bedeutung verloren »Brainstem-evoked response audiometry« (BERA; Hirnstammaudiometrie) Definition ▬ Ableitung der frühen auditorisch evozierten Potenziale (Latenzzeit: <10 ms) zwischen Vertex (Scheitelmitte; +) und Mastoid (–) ▬ Es entstehen Kurven, deren Verlauf der elektrischen Weiterleitung und damit den anatomischen Strukturen der Hörbahn entspricht 3 179 3.3 · Diagnostik Generatoren der Antworten ▬ Für die Zuordnung von Generator und Welle (nach Jewett) erscheinen heute folgende Latenzen wahrscheinlich: – Welle I: Spiralganglion (identisch mit Welle N1 der Elektrokochleographie; etwa bis 2,0 ms) – Welle II: Austritt des Hörnervs aus dem inneren Gehörgang (ungefähr bis 3,0 ms) – Welle III: Ncl. cochlearis ventralis (etwa bis 4,0 ms) – Welle IV: oberer Olivenkomplex und initialer Abschnitt des Lemniscus lateralis (ungefähr bis 5,0 ms) – Welle V: Lemniscus lateralis (aufsteigender Abschnitt; etwa bis 6,0 ms) – Welle VI: Colliculus inferior ▬ Für Wellen II, III, IV und V müssen auch weitere Quellen in Betracht gezogen werden ▬ Besonders die Wellen I, III und V sind für die klinische Diagnostik relevant (⊡ Abb. 3.7) Auswertung ▬ Ausgewertet werden die Potenziale bis 10 ms (Wellen I–V); deutlich sind meist die Wellen I, III und V erkennbar ▬ Aussage hauptsächlich im Bereiche um 2–3 kHz ▬ Bestimmung der Absolut- (Bezugspunkt: Reiz) und Inter-Peak-Latenzen (Latenzdifferenz zwischen den Wellen) zum Ausschluss retrokochleärer Prozesse, z. B. Vestibularisschwannom (Akustikusneurinom) ▬ Normale Inter-Peak-Latenz I–V (⊡ Tab. 3.5): 3,6–4,4 ms (bei Männern im Durchscnnitt 4,0 ms, bei Frauen 3,9 ms) ▬ Pathologische Inter-Peak-Latenz I–V: >4,4 ms Indikationen Ableitung ▬ Ableitung eines Elektroenzephalogramms mit Klebeelektroden auf dem Mastoid (beiderseits) und auf der Stirn ▬ Applikation akustischer Klickreize (breitbandig, von kurzer Dauer) über Kopfhörer ▬ Mittels schneller Fourier-Transformation wird das Elektroenzephalogramm herausgemittelt, übrig bleibt die Antwort des Hirnstamms auf den akustischen Reiz Inter-Peak-Latenz I-V I-III 10 Vertex-positive Spannung [µV] ▬ Diagnostik retrokochleärer Schwerhörigkeitsursachen (Vestibularisschwannom, Multiple Sklerose) durch Vergleich absoluter und relativer Werte mit den Werten der Gegenseite (Pegel-Latenz-Darstellung) ▬ Objektive Hörschwellenbestimmung bei nichtkooperativen Patienten, z. B. Kindern III-V 9 IV 8 7 II I III V Amplitude Welle V 6 5 4 3 2 absolute Latenz (Welle I, III, V) 1 0 1 2 3 4 5 6 Latenz [ms] 7 8 9 ⊡ Abb. 3.7. Frühe auditorische Potenziale (Hirnstammpotenziale) 10 180 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ In Einzelfällen ist Welle III besser ausgebildet als die Gruppe IV/V → Beurteilung der Inter-Peak-Latenz IIII (Normalwert: 2,0 ms) ▬ Einseitig verlängerte Inter-Peak-Latenz I–V (Seitendifferenz: >0,3 ms; z. B. bei Vestibularisschwannom) und beidseitig verlängerte Inter-Peak-Latenzen (z. B. bei Tumoren der hinteren Schädelgrube, SchädelHirn-Trauma, Multipler Sklerose) beachten; auch auf veränderte Morphologie der Wellen achten ▬ Eingeschränkte Beurteilbarkeit bei starkem Hochtonhörverlust ▬ Beim Neugeborenen liegen im Vergleich zum Erwachsenen verlängerte Inter-Peak-Latenzen vor; innerhalb der ersten Lebensjahre erfolgt durch Optimierung der Verschaltungsprozesse eine Verbesserung der Informationsverarbeitung (wichtig für Sprach- und Geräuscherkennen) Objektiver Hörtest ▬ Welle V kann bis fast zur subjektiven Hörschwelle nachgewiesen werden ▬ Ableitungen für mehrere Reizpegel (Kinder im 1. Lebensjahr beim Mittagschlaf, bei unruhigen Kindern in Sedierung, z. B. mit Chloralhydrat oder Melatonin, oder ggf. in Narkose) ▬ Messung beginnt bei einem relativ leisen Klickpegel von z. B. 30 dB nHL, damit das Kind nicht aufwacht (ggf. Vertäubung des Gegenohrs mit Einsteckhörern) → Steigerung der Reizpegel in Schritten von 10–80 dB (evtl. 90 dB) nHL → Aufsuchen der Schwellenreaktionen unter 60 dB nHL ▬ Auswertung: subjektive Hörschwelle liegt etwa 10 dB unter dem Pegel der objektiven Schwellenreaktion; auch deutliche Hirnstammreaktion bei 20 dB nHL kann eine normale Hörschwelle im Frequenzbereich bedeuten (2–4 kHz) > Wichtig Bei Kleinkindern im 1. Lebensjahr sind die Latenzzeiten verlängert. Frequenzspezifische Methoden ▬ Einsatz zur frequenzspezifischen Hörschwellenbestimmung und zur Hörbahnbeurteilung (v. a. zur Diagnostik der kleinkindlichen Hörstörung): – »Notched-noise«-BERA (Lücke-Geräusch-BERA: »notch«: Kerbe): – Überlagerung der Tonreize mit Tief- und Hochpassrauschen → nur mittlerer Anteil des Reizspektrums bleibt wirksam – Potenziale nicht so deutlich ausgebildet wie bei Klickreizen – im hochfrequentem Bereich besser geeignet – lange Untersuchungsdauer – »auditory steady state response«: – elektrische Potenziale des auditorischen Systems, die während der gesamten Dauer eines lang anhaltenden akustischen Reizes entstehen; folgen der Zeitstruktur des Reizes – frequenzspezifisches Signal mit Trägerfrequenz, z. B. 1 kHz, welche amplituden- oder frequenzmoduliert wird – im Vergleich zur »Notched-noise«-BERA etwas bessere Aussage im Tieftonbereich, bei hohen Frequenzen eher schlechter – Messung im Freifeld möglich – lange Untersuchungsdauer – zurzeit aussichtsreiches Verfahren zur Anpassung von Hörgeräten bei Kleinkindern »Cortical evoked response audiometry« (CERA) ▬ Registrierung von späten und sehr späten akustisch evozierten (kortikalen) Potenzialen ▬ Messung mit Tonimpulsen ▬ Patient muss wach sein (Test vigilanzabhängig), bei Kindern evtl. mit Videosedierung ▬ Bestimmung der frequenzspezifischen Hörschwelle zwischen 500 und 4000 Hz (z. B. psychogene Taubheit, Simulation) Neugeborenenhörscreening ⊡ Tab. 3.5. Richtwerte für Inter-Peak-Latenzen Inter-PeakLatenz Normalwerte [ms] Pathologische Werte [ms] I–III 2,0 >2,5 III–IV 2,0 >2,5 I–V 4,0 >4,5 Angegebene Werte näherungsweise; hängen ab von: Messbedingungen, Patient (Geschlecht, Alter), Funktion des auditorischen Systems; Richtwerte für Latenzen: s. Text (»Generatoren der Antworten«) ▬ Ab Januar 2009 vorgeschriebene Screeninguntersuchung in der Bundesrepublik bei allen Neugeborenen ▬ Messung in der Geburtsklinik und »follow up« – »tracking« – bei auffälligen Befunden (s. unten, »Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie«) ▬ TEOAE oder automatische akustisch evozierte Potenziale in der Geburtsklinik ▬ Keine weitere Messung bei »pass« (»vorhanden«) ▬ Erneute Messung während des stationären Aufenthalts bei »refer« (»nicht vorhanden«), Abschluss bei »pass« 181 3.3 · Diagnostik ▬ Bei erneutem »refer« Weiterleitung an einen Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie oder HNOHeilkunde, dort meist Screening (akustisch evozierte Potenziale mit 35 dB); bei »pass« keine weitere Messung, bei »refer« weitere BERA-Messung in Sedierung bis zum Ausschluss einer Schwerhörigkeit oder deren Bestätigung → Therapie Pädaudiologie ▬ # Kap. 3.6.4 (»Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie«), ⊡ Tab. 3.6 ▬ Reflexaudiometrie: klassische pädaudiologische Untersuchungsmethode, die der Orientierung dient; unzureichend, da überschwellig ▬ Verhaltensaudiometrie: Prüfung nichtkonditionierter Hör- (akustische Reize im freien Schallfeld) bzw. visuell konditionierter Ablenkreaktionen – Ablenkaudiometrie: Kind wird durch Spielzeug (Ablenker) beschäftigt → akustischer Reiz (Geräusche des täglichen Lebens, Kinderlieder, Wobbeltöne) über Lautsprecher → Registrierung von Extremitäten- oder Augenbewegungen, Änderung von Saugreaktionen oder des Pulses etc. unter Berücksichtigung des Entwicklungsalter – »visual reinforcement audiometry« mit Einsteckhörern oder im Freifeld: Kind wird auf visuelle Reize (z. B. Monitore mit wechselnden Bildern) konditioniert → Tonreize werden durch einen attraktiven visuellen Reiz verstärkt bzw. belohnt → mehrfache Wiederholung dieser Kombination → Reaktionsverbesserung durch alleinige Gabe des Tonreizes in Erwartung des attraktiven Reizes (ab Alter von etwa 2,5 Jahren, Methode für ältere Kinder jedoch nicht mehr interessant) – Spielaudiometrie: Kind soll z. B. Klötzchen auf ein Spielbrett stecken, wenn es einen Ton hört ⊡ Tab. 3.6. Hörprüfmethoden in Abhängigkeit vom Entwicklungsalter Methode Lebensalter Otoakustische Emissionen Ab Geburt Hirnstammaudiometrie Ab Geburt Reflexaudiometrie 0–6 Monate Verhaltensaudiometrie Etwa 6–48 Monate Spielaudiometrie Etwa 30–55 Monate Sprachaudiometrie Etwa 36 Monate Tonaudiometrie Etwa 55 Monate Hörfeldskalierung Etwa 7 Jahre Literatur Böhme G, Welzl-Müller K (2005) Audiometrie. Hörprüfungen im Erwachsenen- und Kindesalter, 5. Aufl. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle Feldmann H (Hrsg.) (1998) Tinnitus. Grundlagen einer rationalen Diagnostik und Therapie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Hugdahl K (Hrsg.) (1998) Handbook of dichotic listening: Theory, methods and research. John Wiley & Sons, Chichester Janssen T, Arnold W (1995) Wachstumsverhalten der Distorsionsproduktemissionen bei normaler Hörfunktion. Otorhinolayngol Nova 5: 11–222 Janssen T, Arnold W (1995) Wachstumsverhalten der Distorsionsproduktemissionen bei kochleärer Hörstörungen. Otorhinolayngol Nova 5: 34–46 Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Schönweiler R, Raap M (2007) Methodik und diagnostischer Stellenwert der Notched-Noise-BERA. Laryngorhinootologie 86: 336–344 Stange G (1993) Funktionsprüfungen der Hör- und Gleichgewichtssinne. Ein praktischer Leitfaden. Thieme, Stuttgart New York von Wedel H (2001) Fehlermöglichkeiten in der Ton- und Sprachaudiometrie. HNO 49: 939–956 3.3.3 Tubenfunktionsprüfungen R. Leuwer Definition ▬ Prüfung der aktiven und passiven Tubenöffnung Indikation ▬ Planung und Indikation therapeutischer Maßnahmen am Mittelohr, z. B. Tympanoplastik (Relevanz umstritten) Prinzip ▬ Aufbau einer Druckdifferenz zwischen tympanalem und pharyngealem Tubenostium durch: – Druckveränderung im Nasopharynx: Valsalva-Manöver, Toynbee-Manöver – relative Mittelohrdruckänderung in der Druckkammer (bei geschlossenem Trommelfell) – Veränderung des Drucks im äußeren Gehörgang bei Trommelfelldefekt (Tubenmanometrie) Verfahren ▬ Qualitative klinische Untersuchungen (grobe, orientierende Beurteilung): – Valsalva-Versuch: Einpressen von Luft in das Mittelohr durch den Patienten bei gleichzeitigem Verschluss von Mund und Nase → Otoskopie: Trommelfellvorwölbung – Toynbee-Versuch: durch Schlucken bei geschlossener Nase wird ein Unterdruck im Mittelohr erzeugt → Otoskopie: Trommelfelleinziehung → Schlucken 3 182 3 Kapitel 3 · Ohr bei offener Nase → Wiederherstellung des Ausgangszustands – Politzer-Luftdusche: Einführung der Olive eines Politzer-Ballons in die Nase bei Verschluss des anderen Nasenlochs durch einen Finger → Kompression des Ballons und gleichzeitiges Sprechen von Worten wie »Kuckuck« oder »Coca-Cola« oder Schlucken – Beurteilung unter otomikroskopischer Kontrolle: Auslenkung des Trommelfells (Valsalva-, Toynbee-Versuch) – Einsatz eines Hörschlauchs: eine Olive im Gehörgang des Untersuchers, die andere im Gehörgang des Patienten (Valsalva-Versuch, Politzer-Luftdusche) oder Tympanometrie (Toynbee-Versuch) ▬ Impedanzmessung am intakten Trommelfell (Tympanometrie; gibt nur indirekt Auskunft über die Tubenfunktion, da die Impedanz des Mittelohrs gemessen wird) ▬ Manometrische Methoden: – bei defektem Trommelfell: – Tubensprengung (klassische Tubenmanometrie, passive Tubenöffnung): Erzeugung eines kontinuierlichen Druckanstiegs im äußeren Gehörgang, bis sich die Tube öffnet; in klinischer Routine werden Drücke bis zu 500 mm Wassersäule angewandt – Aspirations-Deflations-Test: Prüfung der Fähigkeit zur aktiven Tubenöffnung durch Schlucken zum Ausgleich eines Unterdrucks im äußeren Gehörgang (Erzeugung eines Unterdrucks im Gehörgang von –200 bis –300 mm Wassersäule → Patient wird aufgefordert zu schlucken → Auslösung einer aktiven Tubenöffnung und Herbeiführen eines Druckausgleichs) – Inflations-Deflations-Test (Kombinationsverfahren aus Tubenmanometrie und Aspirations-Deflations-Test mit Überprüfung der aktiven und passiven Tubenfunktion bei Trommelfelldefekt): zunächst Tubensprengung durch Druckaufbau im äußeren Gehörgang von bis zu 400 mm Wassersäule → Aufbau eines negativen Drucks von bis zu –300 mm Wassersäule → Patient wird aufgefordert, mittels Toynbee-Manöver eine Tubenöffnung herbeizuführen; bei fehlendem Erfolg kann der Versuch alternativ durch das Schlucken von Wasser bei zugehaltener Nase (Toynbee II) wiederholt werden – SSTV-Test (Sprengung, Schlucken, Toynbee, Valsalva): Patient wird nacheinander aufgefordert, durch Schlucken, Toynbee-Versuch und abschließend Valsalva-Manöver einen Druck- ausgleich herbeizuführen; Gesunde sollten einen Druck von –200 mm Wassersäule ausgleichen können – sowohl bei intaktem als auch bei defektem Trommelfell: – Druckkammerversuche: für experimentelle Untersuchungen, kein Routineverfahren (hoher Aufwand; Möglichkeit der Simulation verschiedener Drucksituationen im Mittelohr) – modifizierte Tubenmanometrie nach Esteve: über kalibrierten Druckgenerator Erzeugung eines Überdrucks in der Nase → Messung des Drucks im Nasopharynx über einen Drucksensor (ein weiterer Sensor im luftdicht abgeschlossenen äußeren Gehörgang) während des Schluckens → die im Nasopharynx registrierte Druckänderung durch den Schluckvorgang triggert die Applikation eines Gasbolus mit einem vorgegebenen Druck → Druckänderungen setzen sich über die Tube in das Mittelohr fort → Trommelfellauslenkung → Veränderung des Drucks im äußeren Gehörgang > Wichtig Für die klinische Anwendung eignen sich v. a. die klassische Tubenmanometrie bei defektem Trommelfell und der SSTV-Test (Untersuchung der passiven und der physiologischen aktiven Tubenmechanismen). ▬ Tubenendoskopie: fiberoptische Endoskope mit einem Durchmesser von ≤1 mm (Lokalisation von Stenosen); Untersuchung über pharyngeales Ostium oder Mittelohr ▬ Akustische Untersuchungsverfahren: Sonotubometrie mit Sinuston von 5–8 kHz (Untersuchung des akustischen Verhaltens der Übertragungsstrecke zwischen Nase und Ohr; unter physiologischen Bedingungen möglich) ▬ Magnetresonanztomographie: – mit T2-gewichteten Aufnahmen Darstellung der epithelialen Auskleidung der Tube – Untersuchung der funktionellen Morphologie, v. a. pharyngeale Obstruktionen – Tumorabklärung ▬ Nuklearmedizinische Untersuchungen: 133XenonVentilationsszintigraphie, 99Technetium-Albumin-Instillation in das Mittelohr (Untersuchung der mukoziliaren Clearance; keine Routinediagnostik – Untersuchungen stellen Ergänzung bisher durchgeführter Diagnostik dar) ▬ Elektromyographie des M. tensor veli palatini (z. B. Behandlung des Tremor palatinus mit Botulinumtoxin) 183 3.3 · Diagnostik ▬ Sonstige Untersuchungen: u. a. Luminiszenzuntersuchungen, Sonographie > Wichtig Alle Diagnoseverfahren stellen nur Teilaspekte dar. Kein Verfahren kann alle Aspekte der Tubendynamik abbilden. Daher existiert kein allgemein gültiger Goldstandard. Am weitesten ist die Tympanometrie verbreitet. Literatur Di Martino E, Di Thaden R, Krombach GA, Westhofen M (2004) Funktionsuntersuchungen der Tuba Eustachii. Aktueller Stand. HNO 52: 1029–1039 Koch U, Pau HW (1994) Tubenfunktionsprüfung. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1. Thieme, Stuttgart New York, S. 427–438 Leuwer R, Koch U (1999) Anatomie und Physiologie der Tuba auditiva. Therapeutische Möglichkeiten bei chronischen Tubenfunktionsstörungen. HNO 47: 514–523 3.3.4 Gleichgewichtsprüfungen M. Reiß, G. Reiß Ziel der Vestibularisdiagnostik ▬ Untersuchung einzelner Abschnitte des vestibulären Systems zur Differenzierung und Lokalisation der zugrunde liegenden Störung > Wichtig Eine gute Schwindelanamnese macht etwa 80 % des diagnostischen Gesamtaufwands aus. Koordinationsprüfungen/vestibulospinale Tests ▬ Dienen der Untersuchung komplexer sensomotorischer Funktionen ▬ Fehlerquellen: Medikamente, Alkohol, Beinprothese ▬ Untersuchungen erfolgen in der Regel vor einer kalorischen Prüfung (s. unten, »Thermische Erregbarkeitsprüfung«) ▬ Unterscheidung: – Stehversuche: Romberg-Test, Posturographie, Kraniokorporographie – Gehversuche: Unterberger-Test, Blindgang, Schachbrettgehen – erschwertes Gehen: auf Matratzen oder weichem Schaumgummi – Positionsversuche: Finger-Nase-Zeigeversuch, KnieHacke-Versuch, Schreibtest nach Fukuda, vertikaler Zeichentest nach Stoll Romberg-Test ▬ Patient steht aufrecht, Füße stehen eng und parallel nebeneinander, Arme sind nach vorne gestreckt, Augen sind geschlossen ▬ Ohne Vestibularisstörung kann ein Patient 30 s lang ohne Schwankungen stehen ▬ Verschärfter Romberg: unter Zug verschränkte Arme (Jendrassik-Handgriff) ▬ Seitenbetonung spricht für eine periphere vestibuläre Störung (Richtungsabweichungen weisen auf die Seite der Funktionsstörung hin) ▬ Regellose Abweichung spricht für zentrale vestibuläre Störung ▬ Abweichung nach hinten: zerebelläre Störung ▬ Kombination mit einer Posturographieplatte möglich Unterberger-Test/Fukuda-Stepping-Test ▬ Der Patient führt mit geschlossenen Augen 50 Tritte auf der Stelle aus; Arme sind nach vorne gestreckt, Knie sollten bis in Hüfthöhe angehoben werden ▬ Registriert wird die Drehrichtung, wobei Abweichungen bis etwa 30° noch normal sind ▬ Periphere vestibuläre Störung: vestibulär bedingte Tonusdifferenz → Abweichung zur Seite des erkrankten Labyrinths; Patient dreht sich um das erkrankte Labyrinth ▬ Zentrale vestibuläre Störung: regelloses Abweichen ▬ Objektivierung durch Kraniokorporographie Blindgang (Einliniengang) ▬ Patient geht mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Händen 4 m geradeaus ▬ Vestibuläre Abweichung: Abweichung in Richtung der betroffenen Seite Finger-Nase-Versuch ▬ Bei geschlossenen Augen wird der Zeigefinger zur Nasenspitze geführt ▬ Ataxie oder Tremor weist auf eine Kleinhirnschädigung hin Abdecktest ▬ Der Patient wird gefragt, ob die Beschwerden nach Abdecken eines Auges verschwinden (zur Abgrenzung vom okulären Schwindel) Kraniokorporographie nach Claussen ▬ Fotooptische Aufzeichnung von Kopf- und Schulterbewegungen ▬ Dokumentation der vestibulospinalen Tests (Stehbzw. Tretversuche) 3 184 Kapitel 3 · Ohr Posturographie 3 ▬ Aufzeichnung von Körperschwankungen während des Stehens in Ruhe oder bei Bewegungen: – statische Posturographie: Registrierung von Schwankungen des Körperschwerpunkts mit Hilfe einer elektronischen Waage (ruhende Plattform) – dynamische Posturographie: zusätzlich bewegliche Messplatte mit Kippmöglichkeit (verschiedene Kipp-Beschleunigungs-Muster) – langsame Bewegungen: Provokation schwankstabilisierender Gleichgewichtsreaktionen – schnelle Bewegungen: Reproduktion sturzähnlicher Situationen – bei horizontal laufenden Streifenmustern optokinetischer Nystagmus (langsame Phase in Richtung des visuellen Reizes) – Auswertung: Abweichungen zur erkrankten oder zur gesunden Seite sowie Formveränderungen ▬ Auslösen von Nystagmen durch bestimmte Maßnahmen (Körperlage- und Kopfstellungsänderungen) ▬ Sonderformen: ⊡ Tab. 3.7 > Wichtig ▬ Horizontal richtungsbestimmter (auch rotatorischer) Nystagmus: peripher bedingt ▬ Vertikaler und richtungswechselnder Nystagmus: zentral bedingt Fahndung nach Nystagmus Leuchtbrille nach Frenzel (Frenzel-Brille) ▬ Dient der orientierenden Untersuchung ▬ Leichte Handbarkeit, Robustheit ▬ Wichtigstes Instrument zum Nachweis von Spontanoder Provokationsnystagmen ▬ Hat +15 dpt und konkave Gläser (Ausschaltung der visuellen Orientierung des Patienten, d. h. Objekte können nicht fixiert werden; Brille ist nur bei massiver Weitsichtigkeit zum Lesen geeignet); Lämpchen in der Untersuchungsbrille erzeugen indirektes Licht (Ausschluss von Purkinje-Bildern auf der Retina) ▬ Dokumentation der Befunde im 6-eckigen 5-FelderSchema nach Frenzel ▬ Objektive Aufzeichnung der Nystagmen mittels Elektro- bzw. Videonystagmographie Nystagmen Nystagmusformen: – vestibulärer Spontannystagmus: – richtungsbestimmter Spontannystagmus (Reiznystagmus zum erkrankten Ohr oder Ausfallnystagmus zum gesunden Ohr – periphervestibulär) – regelloser bzw. regelmäßiger Blickrichtungsnystagmus (zentralvestibulär) – Provokationsnystagmus – optokinetischer Nystagmus: – entsteht durch Augenfolgebewegungen bei der aktiven Bewegung eines großflächigen visuellen Musters um eine Versuchsperson herum – Auftreten von Rückstellsakkaden (»Eisenbahnnystagmus«) – Patient sitzt in der Mitte eines Rundhorizonts, auf den schwarz-weiße Streifenmuster projiziert werden Provokationsmaßnahmen (Lockerungsmaßnahmen) Kopfschütteln ▬ Wichtiger Bestandteil der Vestibularisprüfung ▬ Kopf des Patienten wird leicht hin und her bewegt, anschließend Fahndung nach Nystagmus ▬ Nachweis eines abgeklungenen Ausfallnystagmus (latenter Nystagmus) ▬ Verstärkung eines Reiznystagmus > Wichtig Das Fehlen eines Kopfschüttelnystagmus schließt eine Vestibularisstörung nicht aus, sondern kann ein Hinweis auf eine beidseitige periphere oder eine zentrale Störung sein. Lage- und Lagerungsprüfung ▬ Ziel: Provokation und Erkennen eines Nystagmus durch Veränderungen der Körperposition ▬ Nachweis latenter Störungen des Gleichgewichtssystems (vertebrobasiläre Insuffizienz, Perilymphfistel, vertebragener Schwindel) ▬ Basieren auf den Empfehlungen von Hallpike und Stenger ▬ Differenzierung zwischen peripherer und zentraler Störung ▬ Suche nach Otolithenschwindel ▬ Lageprüfung: – statische Prüfung, d. h. Nystagmus wird nicht durch Lagewechsel, sondern durch eingenommene Lage ausgelöst – Patient nimmt verschiedene Kopf- und Körperpositionen ein (Kopf in Mittelstellung sowie nach rechts bzw. links gedreht, Rücken-, Seiten- und Kopfhängelage) und hält diese für jeweils 30 s – Otolithen werden durch die Schwerkraft gereizt → Nystagmus 185 3.3 · Diagnostik ⊡ Tab. 3.7. Nystagmussonderformen 1 Form Beschreibung Crescendo-Decrescendo-Nystagmus Nystagmus, der zunächst zu- und dann wieder abnimmt Dissoziierter Nystagmus Abduzierendes Auge schlägt schneller und grobschlägiger als das adduzierende Downbeat-Nystagmus Nach unten schlagender Nystagmus Nystagmus alternans Periodischer Wechsel der Schlagrichtung; Ursache: zentrale Schädigung (Tumor, kongenital) »Ocular-tilt«-Reaktion Symptomentrias: Augenrotation, ipsiversive Kopfneigung, Skew-Deviation (paroxysmal oder tonisch); Ursachen: Hirnstammischämie, Hirnstammtumor und -blutung (tonisch), seltener Multiple Sklerose oder vorangegangene akute unilaterale periphere Otolithenläsion (paroxysmal) Optokinetischer Nystagmus Ausgelöst durch Betrachten eines bewegten Reizmusters (Eisenbahnnystagmus) Pendelnystagmus Nystagmusform, bei der die Geschwindigkeiten der Hin- und Herbewegungen der Augen gleich sind (pendular) Richtungsüberwiegen Kalt-Warm-Dissoziation des kalorischen Nystagmus; Schläge überwiegen bei der thermischen Prüfung nach rechts oder nach links; spricht meist für ein zentrales Geschehen Sakkaden Rasche, in Amplitude, Richtung und Geschwindigkeitsverlauf vorprogrammierte, konjugierte1 Augenbewegungen mit einer maximalen Frequenz von 500–700/s und einer Dauer von 30–100 ms (zum Erfassen neuer Objekte) Skew-Deviation Vertikale supranukleäre Divergenzstellung der Augen (ipsilaterales Auge tiefer), wobei das untere Auge nach innen und das obere nach außen rotiert sein kann; tritt bei Schädigungen vom Mittelhirn bis zum Kleinhirn auf Torsioneller Nystagmus Drehende Augenbewegungen um die Sehlinie Upbeat-Nystagmus Nach oben schlagender Nystagmus Bewegung beider Augen in die gleiche Richtung; diskonjugierte Augenbewegungen: Vergenzen – Auswertung: – richtungsbestimmter Nystagmus (nur in eine Richtung schlagend, >60 s): vestibuläre Störung (peripher/zentral) – regelmäßiger richtungswechselnder Nystagmus (schlägt in Richtung, in der sich der Patient befindet): meist zentrale vestibuläre Störung (Alkohol, Medikamente, aber auch benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel) – regellos richtungswechselnder Lagenystagmus: zentrale vestibuläre Störung (Medulla oblongata) ▬ Lagerungsprüfung: – dynamisches Prüfverfahren, d. h. schnelles Einnehmen von Körperpositionen (Lagewechsel) – Patient sitzt auf einer Liege, deren Kopfteil leicht abgesenkt ist; Kopf wird vom Untersucher gehalten und gelenkt → Patient wird von der sitzenden Position schnell in die Kopfhängelage gebracht; Manöver wird bei verschiedenen Kopfstellungen durchgeführt – Lagerungsnystagmus wird meist peripher durch Kanalolithiasis ausgelöst und hält nur für wenige Sekunden an (Nachweis am besten mittels Manöver nach Dix-Hallpike; s. unten) – auch zentrale, vaskuläre oder zervikale Genese möglich ▬ Dix-Hallpike-Manöver: – klassischer Test zur Auslösung eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels und zur Identifikation der betroffenen Seite – Kopf des längs auf einer Liege sitzenden Patienten wird um 45° zur Seite des zu untersuchenden Ohres gedreht → Patient wird schnell auf den Rücken gelegt (Kopf in einer reklinierten, weiterhin um 45° gedrehten Position) → zum unten liegenden Ohr (geotroper) bzw. zur betroffenen Seite schlagender Nystagmus (nach Latenz von wenigen Sekunden; hält nicht länger als 1 min an) → nach Aufrichten kehrt sich die Richtung des Nystagmus um (ageotroper Nystagmus) – der hintere Bogengang wird hierbei im unten liegenden Ohr in die Ebene der Kopfrotation gebracht und damit maximal stimuliert 3 186 3 Kapitel 3 · Ohr – Ausrichtung des Kopfes zum Rumpf muss während des gesamten Testmanövers beibehalten werden (maximale Reizung des hinteren Bogengangs) – Kopf des Patienten wird vom Untersucher geführt und gestützt – Patient muss Augen offen halten und sollte nicht blinzeln – Frenzel-Brille nützlich, aber nicht zwingend erforderlich (typischer Nystagmus kann nicht durch Fixation unterdrückt werden) – alternativ auch Lagerung zur Seite nach rechts bzw. links möglich, wenn der Patient auf dem Rand der Liege sitzt (Kopf um 45° zu der dem zu untersuchenden Ohr gegenüber liegenden Seite gedreht) ▬ Kopfimpulstest nach Halmagyi und Curthoys (»head ! Cave Vor der Spülung mit Wasser muss mikroskopisch eine Trommelfellperforation ausgeschlossen werden. Der Trommelfellbefund muss – wie auch bei allen anderen neurootologischen Untersuchungen – bekannt sein. > Wichtig Bei der Untersuchung muss das Vigilanzniveau aufrechterhalten werden. ▬ Warmspülung verursacht einen Nystagmus, dessen schnelle Phase in Richtung des gespülten Ohres schlägt (heiß – homolateral) ▬ Kaltspülung führt zu einem Nystagmus, dessen schnelle Phase in Richtung des anderen Ohres schlägt (kalt – kontralateral; # Kap. 3.2.3, »Thermische Reizung«) impulse test«): – dient zur Untersuchung des horizontalen Anteils des vestibulookulären Reflexes – Patient kann ein festes Ziel als Zeichen einer vestibulären Funktionsstörung bei aktiven Kopfbewegungen nicht dauerhaft fixieren → Korrektursakkaden, die bei schnellen passiven Kopfbewegungen nachweisbar sind – man bittet den Patienten, die Nase des Untersuchers zu fixieren, und dreht den Kopf dann jeweils um 20–30° einmal schnell nach rechts und nach links – normalerweise Auftreten von konjugierten Augenbewegungen entgegen der Drehrichtung des Kopfes – rechtsseitige periphere Läsion: – bei Drehung nach links (gesunde Seite, Reizung des linken horizontalen Bogengangs) Augenbewegung nach rechts – bei Drehung nach rechts (Läsionsseite) verlangsamte Augenbewegung mit verminderter Amplitude nach links, anschließend Korrektur- bzw. Rückstellsakkade Thermische Erregbarkeitsprüfung ▬ Einzige Technik, mit der jedes Labyrinth separat gereizt werden kann ▬ Wichtig für die topische Zuordnung einer Störung ▬ Vorgehen: – Kopf in Optimalstellung (Brüning): im Liegen 30° nach vorn, im Sitzen 60° nach hinten geneigt (lateraler Bogengang steht senkrecht; Reizung aufgrund der Nähe zum Gehörgang) – Reizung mit Wasser (30°C und 44°C) unter Verwendung handelsüblicher Kalorisatoren – Spülmenge: 30–50 ml Befunde ▬ Rechtes Ohr, Wassertemperatur von 44°C (R44): Rechtsnystagmen ▬ Linkes Ohr, Wassertemperatur von 44°C (L44): Linksnystagmen ▬ Linkes Ohr, Wassertemperatur von 30°C (L30): Rechtsnystagmen ▬ Rechtes Ohr, Wassertemperatur von 30°C (R30): Linksnystagmen ▬ Alternativ Reizung mit warmer und kalter Luft mit einem Luftkalorisator (bei perforiertem Trommelfell): überwiegend qualitative Aussage, ob ein Labyrinth erregbar ist; nicht für Routinediagnostik bei intaktem Trommelfell geeignet ▬ Spülung mit Eiswasser (als starker Reiz) bei fehlender Reaktion auf Warm- und Kaltspülung ▬ Früher Auszählung der Nystagmen unter der Frenzel-Brille, heutzutage Aufzeichnung mittels Computernystagmographie (s. unten) als Standardverfahren mit gleichzeitiger Auswertung und grafischer Darstellung ▬ Computergestützte Messeinrichtungen können standardisiert auswerten ▬ Auswertung (zahlenmäßige Erfassung): – Seitendifferenz (»Verhältnis der Erregbarkeit« zwischen rechtem und linkem Gleichgewichtsorgan): R44 + R30 L44 + L30 – Richtungsüberwiegen: R44 + L30 L44 + R30 187 3.3 · Diagnostik Computernystagmographie ▬ Objektive Erfassung von Spontan- und Provokationsnystagmen sowie einzelner Nystagmusparameter (Amplitude, Geschwindigkeit der langsamen Phase; ⊡ Abb. 3.8) unter Zuhilfenahme der modernen Computertechnologie ▬ Befunddokumentation und Verlaufskontrolle vestibulärer Erkrankungen ▬ Anwendung bei: – Lage- und Lagerungsprüfung – thermischer Prüfung ▬ 2 Formen: Elektro- und Videocomputernystagmographie ▬ Photoelektronystagmographie: ältere Methode der optischen Nystagmusregistrierung (Iris-Sklera-Grenze bzw. Limbus als Kontrast) Elektronystagmographie ▬ Vorteil: Handhabung einfacher als bei Elektronystagmographie (keine Elektroden, keine Muskelartefakte, stabile Grundlinie) ▬ Nachteil: Untersuchung bei geschlossenen Augen nicht möglich ▬ Augenbewegungen werden in 2-dimensionaler Richtung (horizontal, vertikal) registriert ▬ Fortlaufende Bestimmung der Ortsveränderungen des Pupillenmittelpunkts ▬ Erfassung torsioneller Augenbewegungen zur Untersuchung der Otolithenorgane (3D-VOG) ▬ Analyse von Sakkaden mittels Hochfrequenzkamera ▬ Erfassung von Blickfolgebewegungen und optokinetischer Nystagmen mittels spezieller Kameraführung Drehprüfungen ▬ Platzieren von jeweils 2 Elektroden horizontal und vertikal auf der Haut ▬ Auge entspricht einem elektrischen Dipol (zwischen Kornea und Retina besteht ein Potenzialgefälle): bei jeder Augenbewegung Änderung der Spannung (proportional der Amplitude und der Frequenz des Nystagmus) ▬ Beste Ergebnisse im abgedunkelten Raum bei geöffneten Augen ▬ Vorteil: Untersuchung ohne optische Störeinflüsse möglich (z. B. bei geschlossen Augen) ▬ Beurteilung der Funktion des zentralen vestibulären Systems sowie von Kompensationsvorgängen ▬ Untersuchung von Kleinkindern ▬ Beide Bogengangsorgane (Cupulae) werden gleichzeitig stimuliert (da sich der ganze Körper dreht); Reizung ist gegenläufig (ampullopetale bzw. -fugale Reizung; # Kap. 3.2.3, »Rotation«) ▬ Drehreiz → Auslösung des vestibulookulären Reflexes, gleichzeitige Stimulation beider peripherer Gleichgewichtsorgane ▬ Untersuchungsformen: Langzeitdrehprüfung (rotatorische Prüfung), Pendeldrehprüfung Videookulographie (VOG)/Videonystagmographie Rotatorische Prüfung ▬ Weiterentwicklung der Elektronystagmographie ▬ Vollautomatische Nystagmusanalyse mit hoher Genauigkeit und Artefaktreduktion ▬ Drehung → Auslenkung der Cupulae der horizontalen Bogengänge (ipsilateral: ampullopetal; kontralateral: ampullofugal) ▬ Beim Andrehen in Drehrichtung schlagender (perrotatorischer) Nystagmus ▬ Beim Anhalten gegen die Drehrichtung schlagender (postrotatorischer) Nystagmus ▬ Durchführung: Kopf des Patienten 30° nach vorn gebeugt; Zeitintervall zwischen ipsilateraler und kontralateraler Drehung von 5 min ▬ Auswertung (Frequenz, Dauer): – Seitendifferenz: einseitige periphere Schädigung – fehlende Antwort: beidseitige Schädigung – unsystematische Nystagmusschläge: Verdacht auf zentrale vestibuläre Störung ▬ Abnahme der Seitendifferenz nach peripherer Schädigung im Laufe von Wochen (zentrale Kompensation) α Geschwindigkeit der schnellen Phase Amplitude sch nell e Ph ase ° lan gsa me Ph ase Dauer β t Geschwindigkeit der langsamen Phase Pendeldrehprüfung ⊡ Abb. 3.8. Parameter eines Nystagmus: Amplitude, Geschwindigkeit der schnellen und der langsamen Phase (GLP) ▬ Erzeugung wechselnder Beschleunigungsreize → wechselnde Erregung der Bogengänge 3 188 Kapitel 3 · Ohr ▬ Pendelperiode: 5-malige Rechts- und Linksdrehung ▬ Auswertung: wie rotatorische Prüfung; im Akutstadium einer peripheren Störung Spontannystagmus nicht beeinflussbar 3 Otolithendiagnostik ▬ Otolithenorgane Sakkulus und Utrikulus durch Linearbeschleunigung erregbar ▬ Ziel: Gewinnung von Aussagen zur Otolithenfunktion, z. B. in Form von linearer Beschleunigung ▬ Untersuchung des otolith-okulären Reflexes ▬ Bisher nur wenige und meist indirekte Tests verfügbar ▬ Diagnostik ist in den letzten Jahren wesentlich verbessert worden, hat jedoch u. a. aufgrund der apparativen Voraussetzungen noch keinen breiten Eingang in die Praxis gefunden Tests ▬ Prüfung der Augengegenrollung (»ocular counterrolling«): – Gegenrollung ist eine spezifische Leistung des Otolithenapparats (wahrscheinlich Utrikulus) – passive Drehung des Kopfes um nasookzipitale Achse – einfaches qualitatives Screening mit Frenzel-Brille – bei intakter Otolithenfunktion: bei langsamen Kopfneigungen um etwa 30° nach rechts und links gegenläufige torsionelle Augenbewegungen – beurteilt werden Seitendifferenz und Winkel der Augengegenrollung – quantitative Einschätzung mit 3-dimensionaler Videonystagmographie ▬ Prüfung der haptischen subjektiven Vertikale: Makula bestimmt den Sinneseindruck über die Lage im Raum; Ausschalten der optischen Orientierung (abgedeckte Augen) → Informationen über Vertikaleindruck des Patienten können registriert werden (z. B. Zeichnen einer Linie) ▬ Prüfung der subjektiven visuellen Vertikale mittels vom Patienten einstellbarer projizierter Leuchtlinie (z. B. Laser-Spiegelgalvanometer-System): haptische subjektive und subjektive visuelle Vertikale hängen nicht allein vom Otolithenapparat ab → Screening-Verfahren ▬ Klickevozierte vestibuläre myogene Potenziale: – selektive seitengetrennte Untersuchung des Sakkulus (Reflexbogen vom Sakkulus über Vestibulariskerne und Motoneurone zum M. sternocleidomastoideus) – Ableitung basiert auf Sensitivität des Sakkulus für »Geräusche«/Klickreize (Mittelohrfunktion sollte intakt sein) bzw. Vibrationsreize – Auslösung des Reflexes durch einen lauten Klick – einzige Methode der seitengetrennten Funktionsprüfung des Sakkulus ▬ Kalorischer Wendetest: Utrikulus kann durch eine kalorische Reizung in Pronation und Supination bzw. Rücken- und Bauchlage selektiv geprüft werden ▬ Exzentrische Rotation bzw. lineare Beschleunigung (Translationsschlitten): – Methoden mit physiologischem Reizmuster für den Otolithenapparat – zentrische Rotation mit Hilfe eines Drehstuhls → dynamische Veränderung der Zentripetalbeschleunigung mit viel niedrigeren Frequenzen als bei konventionellen Linearschlitten – minimal exzentrische Rotation: Lateralverschiebung des Sitzes, sodass ein Labyrinth exakt in der Drehrichtung liegt → alleinige Abscherung der Zilien des exzentrisch gelegenen Organs; qualitativ einseitige Prüfung des Sakkulus durch Bestimmung der subjektiven visuellen Vertikalen oder Videonystagmographie Literatur Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system. Oxford University Press, Oxford New York Brandt T, Dietrich M, Strupp M (2004) Vertigo. Leitsymptom Schwindel. Steinkopff, Darmstadt Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston Scherer H (1997) Das Gleichgewicht, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Stoll W, Most E, Tegenthoff M (Hrsg.) (2004) Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Diagnostik, Klinik, Therapie, Begutachtung. Ein interdisziplinärer Leitfaden für die Praxis, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Walther LE (2007) Diagnostik und Therapie vestibulärer Erkrankungen. In: Biesinger E, Iro H (Hrsg.) HNO Praxis heute. Bd 27: Schwindel. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 59–78 Westhofen M (2008) Der Wendetest bei der kalorischen Prüfung. In: Scherer H (Hrsg.) Der Gleichgewichtssinn. Neues aus Forschung und Klinik. 6. Hennig Symposium. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 25–36 3.3.5 Bildgebende Diagnostik T.J. Vogl, S. Bisdas Untersuchungstechniken Konventionelle Röntgenuntersuchungen ▬ Aufnahme nach Schüller (⊡ Abb. 3.9): – seitliche Aufnahme: krankes Ohr auf Filmkassette – Schläfe – Zentralstrahl kommt 30° von oben von der Gegenseite 189 3.3 · Diagnostik a ⊡ Abb. 3.10. Aufnahme nach Stenvers bei einem 9-jährigen Patienten zur Beurteilung der Elektrodeninsertion eines Kochleaimplantats b ⊡ Abb. 3.9a, b. Aufnahmen nach Schüller. a Rechtes Ohr mit gehemmter Pneumatisation bei Zustand nach Mastoidektomie (Kreuz); b linkes Ohr mit guter Pneumatisation (Normalbefund) – grundsätzlich Vergleichsaufnahmen beider Schläfenbeine – Aussagen über Belüftung des Warzenfortsatzzellsystems bzw. Pneumatisationsgrad (Ausdehnung der Belüftung, Verschattung) – zeigt v. a. ossäre Defekte und Position des Sinus sigmoideus sowie Beziehungen zum Kiefergelenk/ Unterkieferköpfchen, außerdem ggf. Verlauf von Frakturlinien – wird zunehmend durch Computertomographie abgelöst ▬ Aufnahme nach Stenvers (⊡ Abb. 3.10): – sagittale Aufnahme: Orbita und Jochbein liegen auf Röntgenplatte – Stirn bzw. seitlich vor Orbita und Jochbein – Zentralstrahl kommt 12° von hinten – Darstellung des lateralen und des oberen Bogengangs (Labyrinthblock) sowie von Pyramidenoberkante und -spitze – Aussagen bei Destruktionen der Pyramidenkante – durch Computertomographie praktisch ersetzt; Ausnahme: postoperative Kontrolle der Lage eines Kochleaimplantats ▬ Aufnahme nach Meyer: – axiale Aufnahme: Einstrahlwinkel von 45° nach kranial – Darstellung von äußerem Gehörgang, Epitympanon und Antrum – Einsatz nur noch in Ausnahmefällen zur Beurteilung des Mastoids und des Unterkieferköpfchens ▬ Transorbitale Darstellung beider innerer Gehörgänge: – gute Darstellung der Cochleae – Anwendung v. a. zur postoperativen Kontrolle der Lage eines Kochleaimplantats ▬ Weitere »klassische« Aufnahmetechniken: nach Wullstein, Biesalski, Sonnenkalb, Altschul-Uffenorde Tomographische Verfahren Computertomographie ▬ Beste Darstellung von Detailstrukturen ▬ Bei »High-resolution«- Computertomographie axiale Schichtdicke von 1 mm ▬ Gegebenenfalls Rekonstruktion der koronaren und sagittalen Ebene ▬ Gute Aussagemöglichkeit bei Tumoren des Felsenbeins und bei Frakturen, bedingte Aussage zum Kleinhirnbrückenwinkel (nach Kontrastmittelgabe) ▬ Nachweis von Komplikationen und intrakraniellen Entzündungen (knöcherne Einschmelzungen, Abszess) ▬ Obligat vor Einsatz eines Kochleaimplantats (Darstellung der Durchgängigkeit der Schneckenskalen) 3 190 Kapitel 3 · Ohr Magnetresonanztomographie 3 ▬ Beste Darstellung der Weichteilanatomie: Nervenstrukturen des Kleinhirnbrückenwinkels, Kochlea ▬ Nachweis von intrakraniellen Tumoren, Abszessen, Blutungen ▬ Nach Gadoliniumgabe Darstellung der Strukturen des inneren Gehörgangs und der Flüssigkeitsräume des Labyrinths sowie von Ggl. geniculi und Saccus endolymphaticus > Wichtig Die hochauflösende (»High-resolution«-)Computertomographie ist das bildgebende Verfahren der Wahl zur Diagnostik von Erkrankungen des äußeren Ohres inklusive des äußeren Gehörgangs und des Mittelohrs. Die Magnetresonanztomographie kommt primär bei Erkrankungen des Innenohrs, des inneren Gehörgangs sowie des Kleinhirnbrückenwinkels zum Einsatz. a Befunde ▬ Pathologische Prozesse im Bereich des äußeren Ohres, des Mittelohrs und der mittleren Schädelbasis (⊡ Tab. 3.8) ▬ Läsionen im Bereich des inneren Ohres, des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbückenwinkels (⊡ Tab. 3.9) Literatur Ahlhelm F, Nabhan A, Naumann N, Grunwald I, Shariat K, Reith W (2005) Tumoren der Schädelbasis. Radiologe 45: 807–815 Bisdas S, Lenarz M, Lenarz T, Becker H (2005) Inner ear abnormalities in patients with Goldenhar syndrome. Otol Neurootol 26: 398–404 Durden DD, Williams DW 3rd (2001) Radiology of skull base neoplasms. Otolaryngol Clin North Am 34: 1043–1064 Frößler A, Pfeffer R (2005) Konventionelle Röntgendiagnostik. Einstelltechnik und Röntgenanatomie. Elsevier – Urban & Fischer, München Jena Laine FJ, Nadel L, Braun IF (1990) CT and MR imaging of the central skull base. Part 1: Techniques, embryologic development, and anatomy. Radiographics 10: 591–602 Laine FJ, Nadel L, Braun IF (1990) CT and MR imaging of the central skull base. Part 2: Pathologic spectrum. Radiographics 10: 797–821 Vogl TJ (Hrsg.) (2002) Handbuch diagnostische Radiologie: Kopf – Hals. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Vogl TJ, Balzer J, Mack M, Steger W (1998) Radiologische Differentialdiagnose in der Kopf-Hals-Region. Schwierige Fälle systematisch entschlüsseln – Wegweisende Befunde sicher erkennen. Thieme, Stuttgart New York Vogl TJ, Juergens M, Balzer JO et al. (1994) Glomus tumors of the skull base: combined use of MR angiography and spin-echo imaging. Radiology 192: 103–110 b ⊡ Abb. 3.11a, b. a Kontrastmittelunterstützte Magnetresonanztomographie eines Glomus-jugulare-Tumors in der rechten Fossa jugularis (Pfeilspitzen). b Die Magnetresonanzangiographie nach Gadoliniumgabe zeigt den hypervaskularisierten Tumor (Pfeil) mit der versorgenden Arterie (A. pharyngea ascendens; Pfeilspitze) 3.3 · Diagnostik ⊡ Abb. 3.12. Kontrastmittelunterstützte Computertomographie einer Metastase im Klivusbereich (Pfeile) mit Infiltration der Keilbeinhöhle, der Karotissiphons sowie der Felsenbeinspitzen 191 ⊡ Abb. 3.13. Gadoliniumunterstützte Magnetresonanztomographie des Kleinhirnbrückenwinkels: großes extrameatales Akustikusneurinom (Pfeile) ⊡ Abb. 3.14. Stark T2-gewichtete Magnetresonanztomographiesequenz (»constructive interference in steady state sequence«): im rechten Innenohrbereich gemindertes Flüssigkeitssignal in der Kochlea (Pfeil), vereinbar mit fibrotischen Veränderungen. Der Patient hat nach einer Meningitis einen progressiven Hörverlust 3 192 Kapitel 3 · Ohr ⊡ Tab. 3.8. Läsionen des äußeren Ohres, des Mittelohrs und der mittleren Schädelbasis (Os temporale) Läsionen Äußeres Ohr Mittelohr Mittlere Schädelbasis (Os temporale) Fehlbildungen/ Variationen Hypoplasie Atresie Ossikelfehlbildung Anomalien des N. facialis Anatomische Varianten des Bulbus venae jugularis bzw. des Canalis caroticus Hypoplasie des Os mastoideum Hyperpneumatisation des Os temporale (bei Akromegalie, adrenogenitalem Syndrom, Lipodystrophie, Dyke-DavidoffMasson-Syndrom) Osteosklerosen (Osteogenesis imperfecta, Morbus Paget, fibröse Dysplasie) Tumoren Benigne Tumoren bzw. tumorähnliche Veränderungen (Cholesteatom, Exostosen, Osteome) Plattenepithelkarzinom Basalzellkarzinom Melanom Sarkom Metastasen Adenokarzinom Adenoid-zystisches Karzinom Fazialisneurinom Hämangiom Paragangliome Kongenitales Cholesteatom (Epidermoid) Cholesterolgranulom Primäres Karzinom Rhabdomyosarkom Histiozytosis X Meningeom Lymphom Multiples Myelom Tumoren des Foramen jugulare (Paragangliom, Neurinom, Meningeom, Metastase; ⊡ Abb. 3.11) Chordom Chondrosarkom Kongenitales Cholesteatom (Epidermoid) Cholesterolgranulom Plasmozytom Osteosarkom Metastase (⊡ Abb. 3.12) Entzündungen Maligne Otitis externa (durch Pseudomonas spp.) Abszess Erworbenes Cholesteatom Osteomyelitis Serotympanon bzw. Abszessformation Akute/chronische Otitis media Herpes zoster/Varizellen Sarkoidose Komplikationen von Cholesteatomen (Abszess, labyrinthäre Fistel) Mastoiditis Gradenigo-Syndrom Granulom (Tuberkulose) Traumen und iatrogene Läsionen Liquorfistel Serom Ansammlung hämorrhagischer Flüssigkeit Traumatisches Duraleck Zustand nach Mastoidektomie Längs-/Querfraktur des Os temporale 3 Mikrotie Stenose Agenesie Atresie (membranös bzw. knöchern) ⊡ Tab. 3.9. Läsionen des inneren Ohres, des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbrückenwinkels Läsionen Inneres Ohr Innerer Gehörgang Kleinhirnbrückenwinkel Fehlbildungen/ Variationen Arachnoidalzyste Epidermoidzyste Gefäßschlinge Arachnoidalzyste Epidermoidzyste Gefäßschlinge Schwannom (N. facialis, N. vestibulocochlearis; ⊡ Abb. 3.13) Meningeom Hämangiom Tumor des Saccus endolymphaticus Metastase Meningitis Hirnabszess Frontobasisabszess Michel-Dysplasie Aplasie der Kochlea (mit/ohne N. cochlearis) Mondini-Fehlbildung Goldenhar-Syndrom Bogengangdysplasien Osteodystrophien (fenestrale/kochleäre Otosklerose, Morbus Paget, fibröse Dysplasie, Osteogenesis imperfecta) Tumoren Entzündungen (Ossifizierende) Labyrinthitis (⊡ Abb. 3.14) Entzündliche Fazialisparese Arachnoiditis Sarkoidose Schwannom Meningeom Hämangiom Astrozytom Medulloblastom Ependymom Lipom Metastase Raumforderung des Klivus 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs 3.4 Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs 3.4.1 Anomalien und Fehlbildungen S. Mattheis, R. Siegert 193 ▬ Versprengte hyoidale Ektodermzellen oberhalb der hyomandibulären Grenze (zwischen 1. und 2. Kiemenbogen; Hypothese von Otto) ▬ Entstehung beim Verschluss der 1. Kiemefurche in der 1. Hälfte der 6. Embryonalwoche; durch Wachstum des Gesichts verschiebt sich die Grenze in der Wange ▬ Familiäre Häufungen beschrieben Allgemeine Aspekte Klinisches Bild Einteilung ▬ Aurikuläre und präaurikuläre Anhänge vor der aufsteigenden Helix, dem Lobulus oder dem Eingang des Gehörgangs; kosmetisch auffällig ▬ Einzeln oder multipel, erbs- bis kirschgroß, breitbasig angesetzt oder gestielt ▬ Auftreten zusammen mit weiteren Fehlbildungen, z. B. hemifaziale Mikrosomie, Goldenhar-Syndrom, Ohrdysplasien, Fehlbildungen des Mittel- und Innenohrs ▬ Fehlbildungen im Bereich des äußeren Ohres können sich grundsätzlich manifestieren in: – Ohrmuschelfehlbildungen: fließende Übergänge zwischen Norm und Anomalien – Gehörgangsfehlbildungen: Verengung, knöcherne oder bindegewebige Atresie ▬ Veränderungen können isoliert auftreten, Kombinationen (auch mit Fehlbildungen des Mittelohrs oder im Rahmen von Fehlbildungssyndromen) sind möglich Epidemiologie ▬ 50 % aller Fehlbildungen im HNO-Bereich am Ohr (eine Ohrfehlbildung auf 6000 Neugeborene) ▬ Etwa 5 % aller Neugeborenen weisen Ohranhängsel, Fisteln oder ein- oder beidseitig abstehende Ohrmuscheln auf Diagnostik ▬ Blickdiagnose ▬ Ohrmikroskopie ▬ Audiometrie, da evtl. mit Fehlbildungen des Mittelund Innenohrs einhergehend Differenzialdiagnostik ▬ Gutartige Geschwülste ▬ Atherom ▬ Lipom Ätiopathogenese ▬ Genetische und äußere Einflüsse (Infektionen, ionisierende Strahlen, teratogene Substanzen) ▬ Je nach Zeitpunkt des Einwirkens können unterschiedliche Hemmungsfehlbildungen auftreten Therapie Aurikularanhänge Ohrfisteln und Zysten Definition Definition ▬ Mandibuläre Überschussbildung am Rand der 1. Kiemenfurche ▬ Auftreten mehrerer Aurikularanhänge zusammen mit einer normalen oder rudimentär ausgebildeten Ohrmuschel: Polyotie (sog. zusätzliche Ohrmuscheln bzw. »Imitation« einer Ohrmuschel; echte Ohrmuschelverdopplungen sind dagegen extrem selten) ▬ Melotie: Wangenanhängsel (Wangenohren) ▬ Epitheliale Retentionen im Bereich der 1. Kiemenfurche vor der Helix und oberhalb des Tragus ▬ Meist blind endend, mit Plattenepithel und/oder respiratorischem Epithel ausgekleidet ▬ Typ-I-Zysten/-Fisteln: meist präaurikulär gelegene »Ohr-Hals-Fisteln« mit epithelialer Auskleidung ▬ Typ-II-Zysten/-Fisteln: vom Hals zum Gehörgang ziehende »doppelte Gehörgänge« mit epithelialer Auskleidung und Knorpelanteilen ▬ Häufig in enger Nachbarschaft zum N. facialis ▬ Plastische Resektion in den Spannungslinien ▬ Bei Kombination mit Ohrmuscheldysplasie Korrektur im Rahmen der Ohrmuschelrekonstruktion Pathogenese ▬ Echte Choristome ▬ Im Rahmen der Gesichtsentwicklung kommt es zu einer Keimverlagerung → unterschiedliche Lage und Größe Ätiologie ▬ Embryonale Hemmungsfehlbildung ▬ Anomalien der 1. Kiemenfurche: unvollständige Verschmelzung der 6 Knorpel-(Aurikular-)Höcker 3 194 Kapitel 3 · Ohr Klinisches Bild 3 ▬ Ein- oder beidseitig auftretende, meist präaurikuläre Fisteln ▬ Sekretion aus der Fistel bei Infektion ▬ Oft erst im Erwachsenenalter durch Infektion und Abszedierung auffällig ▬ Typ-II-Zysten/-Fisteln oft mit Mittelohr- und Innenohrfehlbildungen kombiniert (familiäre Häufung) Diagnostik ▬ Inspektion ▬ Ohrmikroskopie ▬ Sondierung des Fistelgangs Differenzialdiagnostik ▬ Atherome ▬ Dermale Retentionszysten Therapie ▬ Resektion des Fistelgangs bzw. der Zyste (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Ohranhängsel und Fisteln«) Verlauf und Prognose ▬ Häufig Infektionen und Abszessbildung ▬ Bei unvollständiger Resektion hohe Rezidivrate Dysplasien der Ohrmuschel ▬ Einteilung der Fehlbildungen in 3 Schweregrade (entsprechend normal ausgebildeter Strukturen der Ohrmuschel): Schweregrade I–III (Weerda): > Wichtig Um alle Fehlbildungen der Ohrmuscheln zu berücksichtigen, sollte statt des Begriffs »Mikrotie« besser der Terminus »Dysplasie« verwendet werden.p – Dysplasien vom Schweregrad I: – die meisten Strukturen einer normalen Ohrmuschel sind vorhanden – nur gelegentlich wird zur Rekonstruktion zusätzliche Haut oder Knorpel benötigt – Makrotie, abstehende Ohrmuschel, Kryptotie (Taschenohr), Kolobom (quere Spalte), Stahl-Ohr, Satyr-Ohr, Lobulusdeformitäten (angewachsener Lobulus, Lobulushyperplasie, Lobulusspalten, Lobulushypoplasie, Lobulusaplasie), Tassenohrdeformität (»cup ear deformity«; Typen I und II) – Dysplasien vom Schweregrad II (Mikrotie vom – zur Teilrekonstruktion werden zusätzliche Haut und Knorpel benötigt – Tassenohrdeformität Typ III, Miniohr (»concha type microtia«) – der Gehörgang kann stenotisch sein – Dysplasien vom Schweregrad III (Mikrotie vom Schweregrad III und Anotie): – keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel vorhanden – zur Rekonstruktion werden zusätzliche Haut und Knorpel benötigt – Mikrotie vom Schweregrad III mit Atresia auris congenita (ein- oder beidseitig), Anotie – oft zusätzliche Mittel- und Innenohrfehlbildungen oder ipsilaterale hemifaziale Mikrosomie, ggf. Schädigungen von Hirnnerven Dysplasien vom Schweregrad I Makrotie Definition und klinisches Bild ▬ Einzelne oder alle Bereiche der Ohrmuschel erscheinen relativ zur Körper- und Kopfgröße zu groß Ätiologie ▬ Hereditär Diagnostik ▬ Inspektion und Vermessung der Ohrmuschel ▬ Normwerte für die Länge der Ohrmuschel: – Frauen: 58–62 mm – Männer: 62–66 mm Therapie ▬ Ziel: Verkleinerung der Ohrmuschel nach ästhetischen Gesichtspunkten, ohne dass eine zusätzliche Deformität oder Narbe zurückbleibt ▬ Maßnahme: Kombination der Gersuny-Technik (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Makrotie – Korrektur mittels Gersuny-Technik«) mit Techniken zur Lobulusreduktion (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur einer Lobulushyperplasie«) Abstehende Ohrmuschel Definition ▬ Synonyme: Apostasis otum, Otapostasis, »Segelohren« (»protruding ear«, »bat ear«, »prominent ear«) ▬ Ästhetisch störendes Abstehen der gesamten oder von Teilen der Ohrmuschel Schweregrad II): Einteilung – einige Strukturen der normalen Ohrmuschel sind vorhanden ▬ Anthelixhypoplasie ▬ Hyperplasie des Cavum conchae 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs ▬ Kavumrotation mit einem abstehenden Lobulus ▬ Treten isoliert oder in Kombination auf und können mit anderen kleinen Fehlbildungen vergesellschaftet sein Epidemiologie ▬ Häufigste Ohrfehlbildung ▬ Auftreten bei etwa 5 % der Bevölkerung 195 Kryptotie ( Taschenohr) Definition und klinisches Bild ▬ Fehlbildung mit Fixierung des oberen Teiles der Ohrmuschel unter der Haut (wie in einer Tasche) ▬ Gegebenenfalls mit anderen Fehlbildungen kombiniert: oberer Sulkus fehlt, Skapha und Crura anthelicis oft unterentwickelt Epidemiologie Ätiologie ▬ Hereditäre Fehlbildung (dominante Vererbung), familiäre Häufung ▬ Exogene und unbekannte Faktoren Pathogenese ▬ Fehlende oder gestörte Entwicklung der Ohrmuschel während der Embryonalphase (3.–6. Monat; die Entwicklung der Helix findet etwa im 6. Monat statt) > Wichtig Abstehende Ohren stellen per se keine Erkrankung dar, sondern eine anatomische Variante. Kommt es jedoch durch das soziale Umfeld zu Hänseleien, können abstehende Ohrmuscheln Krankheitswert erlangen. Klinisches Bild ▬ Unterschiedlich ausgeprägte Fehlform der Ohrmuschel mit Vergrößerung des Helix-Mastoid-Abstands, des Winkels zwischen Koncha und Mastoid sowie des Winkels zwischen Koncha und Skapha ▬ Unterschiedlich ausgeprägte Anthelixhypoplasie und Protrusion des Lobulus ▬ In Europa selten, in Asien häufiger ▬ Familiäre Häufung Ätiologie ▬ Anomalie der inneren schrägen und queren Ohrmuskeln Diagnostik ▬ Blickdiagnose ▬ Ohrmikroskopie und Audiometrie, da evtl. eine Kombination mit anderen Fehlbildungen des äußeren Ohres oder des Mittelohrs besteht Therapie ▬ Operation (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur der Kryptotie nach Weerda«) Kolobom Definition ▬ Synonyme: Fragezeichenohr, »question mark ear« ▬ Quere Ohrmuschelspalte mit Einziehung der kaudalen Helix Klinisches Bild und Diagnostik Diagnostik ▬ Vermessung der Ohrmuschel; ungefähre Normwerte: – Helix-Mastoid-Abstand: bis 20 mm – Koncha-Mastoid-Winkel: bis 30° – Skapha-Koncha-Winkel: bis 90° ▬ Fotodokumentation aus 3–5 Blickwinkeln erforderlich Therapie ▬ Eine Operation ist in jedem Alter bei entsprechender Indikation möglich; Kinder sollten aus psychologischen Gründen am besten vor der Einschulung operiert werden (ab diesem Zeitpunkt ist nicht mehr mit einem wesentlichen Wachstum der Ohrmuschel zu rechnen) ▬ Otoplastik (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Abstehende Ohrmuscheln«; Synonyme: Ohrmuschelplastik, Anthelixplastik, Otopexie, Otoklisis, »otoplasty«) ▬ Defekt zwischen kaudaler Helix und Lobulus, häufig kombiniert mit anderen Fehlformen wie abstehendes Ohr, Makrotie, Lobulusdeformität oder Dystopie (⊡ Abb. 21.6) Therapie ▬ Operation (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur eines Koloboms«) Kleine Deformitäten/Fehlbildungen Definition ▬ Sammelbegriff für: – Darwin-Höcker (Tuberkulum): aufgrund seiner Häufigkeit noch als Normvariante angesehene, umschriebene Verdickung im Bereich des oberen Helixbereichs; kann u. U. stark ausgeprägt sein – Stahl-Ohr: überzähliges Crus anthelicis, nach hinten oben verlaufend; gelegentlich fehlt das Crus superius; Ohr häufig abstehend, Helix nach außen ge- 3 196 Kapitel 3 · Ohr – 3 – – – krempelt (Kombination mit Satyr-Ohr) oder Crus superius angedeutet (⊡ Abb. 21.7) Skaphoidohr (Flachohr, Abplattung des Ohrrandes): Fehlen der Skapha bzw. fehlendes Aufkrempeln der typischen Helixstruktur; Koncha oder Anthelix mündet flach in die oben aufsteigende Helix ein; häufig mit Abstehen der Ohrmuschel verbunden Fehlender Tragus Makakus-Ohr (Satyr-Ohr): ausgezogener hinterer Helixrand im Bereich des Darwin-Höckers, fließender Übergang zum Stahl-Ohr (⊡ Abb. 3.15) Lobulusdeformitäten: Lobulushyperplasie, -aplasie, -kolobom, angewachsene Ohrläppchen Therapie ▬ Darwin-Höcker: Inzision der Skapha → Präparation der Haut → Resektion des überschüssigen Knorpels → Naht in der Skapha ▬ Stahl-Ohr: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur eines Stahl-Ohres« ▬ Skaphoidohr: an der Vorderseite der Ohrmuschel etwa 4 mm vom Ohrrand entfernt und parallel dazu Exzision eines Haut-Knorpel-Streifens aus der Skapha → zusätzlich Exzision eines Keiles aus der vorderen oberen Helix (am oberen Exzisionsrand) → Aufstellen der Helix ▬ Fehlender Tragus: Rekonstruktion mit Knorpel und Vollhaut ▬ Makakus-Ohr: Resektion des überhängenden Knorpels und Formung einer neuen Helix; Alternative: entsprechend einer Schablone Knorpel aus dem ipsilateralen Ohr gewinnen und in den Defekt einpassen, ggf. Hautdefizit durch V-Y-Plastik oder Vollhaut ausgleichen ▬ Lobulusdeformitäten: – Lobulushyperplasie: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur einer Lobulushyperplasie« – Lobulusaplasie: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Defekte der Ohrmuschel« → »Lobulusdefekte« – Lobuluskolobom: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur eines Koloboms« – angewachsene Ohrläppchen: Inzision im Bereich des Lobulusansatz an der Wange (V-förmig) → Präparation des Lobulus sowie Trimmen des Fettes und der Lappenüberschüsse → Verschluss der posterioren Wunde (Verschiebelappen); Alternative: Umschneidung des Lobulusansatzes → 3-schichtige Exzision im mittleren Lobulus → Hochnähen des Lobulus Tassenohrdeformität Typ I nach Tanzer Definition, klinisches Bild und Diagnostik ▬ Geringgradige Deformität der Helix mit kappenartigem Überhängen von Helix und Skapha ▬ Anthelix und Crura abgeflacht ▬ Zu kurzer Helixumfang, sodass die Ohrmuschel zusammengedrückt wird (»constricted ear«) ▬ Häufig abstehende Ohrmuschel Epidemiologie ▬ 2 % aller Tassenohrdeformitäten Ätiologie ▬ Autosomal-dominant vererbte Höcker-3-Malformation Therapie ▬ Otoplastik und ggf. Resektion des Überhangs (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Tassenohrdeformität Typ I nach Tanzer«) Tassenohrdeformität Typ IIa nach Tanzer Definition und klinisches Bild ▬ Deutliche Deformität der Helix mit ausgeprägtem, kappenartigem Überhang von Helix und Skapha ▬ Fehlendes Crus superius der Anthelix ▬ Ohrmuschel in der Längsachse verkürzt ▬ Häufig abstehende Ohrmuschel Therapie ⊡ Abb. 3.15. Makakus-Ohr ▬ Otoplastik mit Aufrichten der Ohrmuschel und ggf. Verlängerung der Helix (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Tassenohrdeformität Typ IIa nach Tanzer«) 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs 197 Tassenohrdeformität Typ IIb nach Tanzer Therapie Definition und klinisches Bild ▬ Ziele: – plastische Rekonstruktion der Ohrmuschel (ggf. auch von Gehörgang und Mittelohr) – audiologische Rehabilitation bei beidseitiger Dysplasie ▬ Maßnahmen: – komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut – alternativ Ohrmuschelaufbauplastik unter Verwendung von alloplastischen Ohrmuschelgerüsten (Medpor) – Alternative zur Ohrmuschelaufbauplastik: knochenverankerte Epithese – Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten: im Säuglings- und Kleinkindalter als Stirnband, ab dem 3. Lebensjahr als knochenverankertes Hörgerät – mehrzeitige, chirurgische Mittelohrkonstruktion in Verbindung mit dem Gehörgangs- und Ohrmuschelaufbau ▬ Mittelgradige bis schwere Deformität der Ohrmuschel mit Einkrempelung und vollständigem Überhang der oberen Ohrmuschel über die mittlere Ohrmuschel und Fehlen der Crura anthelicis ▬ Ohrmuschel in der Längsachse deutlich verkürzt ▬ Abstehende Ohrmuschel Therapie ▬ Otoplastik mit Verlängerung der Helix sowie Transplantation von Haut und Knorpel (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Tassenohrdeformität Typ IIb nach Tanzer«) Dysplasien vom Schweregrad II Tassenohrdeformität Typ III nach Tanzer (Schneckenohr) Definition und klinisches Bild ▬ Ausgeprägte Deformität der Ohrmuschel ▬ Mikrotie und vollständig eingekrempelte Ohrmuschel, ggf. kombiniert mit Dystopie Therapie ▬ Komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut Miniohr Definition und klinisches Bild ▬ Ausgeprägte Deformität der Ohrmuschel mit Mikrotie und starker (u. U. vollständiger) Einkrempelung, ggf. kombiniert mit Dystopie Therapie ▬ Komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Mikrotie«) Dysplasien vom Schweregrad III (Mikrotie vom Schweregrad III und Anotie) Definition ▬ Keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel vorhanden ▬ Zur Rekonstruktion werden Haut und Knorpel oder alloplastische Materialien benötigt Klinisches Bild ▬ Vollständiges Fehlen der Ohrmuschel oder Vorhandensein von Rudimenten im Sinne einer Mikrotie vom Lobulustyp; die Rudimente sind häufig dystop und mit einer Gehörgangsatresie vergesellschaftet ▬ Auftreten im Rahmen von Syndromen (z. B. Goldenhar-Syndrom) Gehörgangsstenosen und -atresien Definition und Ätiologie ▬ Genetisch bedingte oder erworbene Fehlbildung des äußeren Gehörgangs ▬ Isoliert auftretend oder in Verbindung mit Fehlbildungen des äußeren Ohres oder im Rahmen von Syndromen Pathogenese ▬ Embryonale Fehlentwicklung der Gehörgangsanlage Einteilung ▬ Nach Weerda: – Typ A: Gehörgangsstenose mit intaktem Hautschlauch – Typ B: teilweise angelegter Gehörgang mit Atresieplatte im medialen Anteil – Typ C: komplette knöcherne Gehörgangsatresie Epidemiologie ▬ Inzidenz: etwa 1/10.000 Neugeborene Klinisches Bild ▬ Unterschiedlich ausgeprägte Schallleitungsschwerhörigkeit bis zum Schallleitungsblock bei Atresie Diagnostik ▬ Inspektion der Ohrmuschel ▬ Ohrmikroskopie: stenotischer oder blind endender äußerer Gehörgang, Trommelfell in der Regel nicht sichtbar 3 198 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Computertomographie mit Bewertung der Mittelohrstrukturen anhand eines Scores (z. B. nach Jahrsdoerfer, Siegert oder Weerda und Mayer; # Kap. 3.5.1, »Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems«) zur Abschätzung des Operationserfolgs ▬ ▬ ▬ ▬ Differenzialdiagnostik Goldenhar-Syndrom (Dysostosis oculoauricularis) ▬ Erworbene, postinflammatorische Gehörgangsstenose ▬ Tumoren des Gehörgangs ▬ Halbseitige Gesichtshypoplasie ▬ Makrostomie ▬ Augen- und Ohrfehlbildung: Gehörgangsatresie, präaurikuläre Anhänge, Astigmatismus, epibulbäres Dermoid Therapie ▬ Ziel: audiologische und ästhetische Rehabilitation des Patienten ▬ Maßnahme: 3-zeitige Gehörgangskonstruktion oder -erweiterung (bei günstigen anatomischen Vorraussetzungen) aus Rippenknorpel und Haut in Verbindung mit einem Mittelohraufbau (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Gehörgangsatresie«), ggf. im Rahmen eines Ohrmuschelaufbaus > Wichtig Bei der operativen Anlage eines neuen Gehörgangs muss die räumliche Annäherung von Kiefergelenk und Mastoid beachten werden (»Raummangel«). Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen Franceschetti-Zwahlen-/Treacher-Collins-Syndrom (Dysostosis mandibulofacialis) ▬ Fehlbildung des 1. Kiemenbogens und der Kiemenfurche ▬ Mikrotie und Gehörgangsatresie ▬ Hypoplasie des Epitympanons und des Mastoids ▬ Ein- oder beidseitige hochgradige Mittelohrschwerhörigkeit ▬ Einseitige, selten beidseitige Innenohrschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes ▬ Einseitige, selten beidseitige vestibuläre Untererregbarkeit möglich ▬ Laterales Lidkolobom und antimongoloide Lidspaltenstellung ▬ Vogelgesicht (»Kobold«): abgeflachter frontonasaler Winkel, Jochbein-, Oberkiefer- und Unterkieferhypoplasie, Makrostomie (zweithäufigste Gesichtsfehlbildung nach lateralen Gesichtsspalten) Hypoplasie der Maxilla Ohrmuschel- und Gehörgangsfehlbildungen Dysplasien an Hand und Arm Rippen- und Wirbelanomalien (ähnlich wie bei Franceschetti-Zwahlen-Syndrom, aber ohne Lidanomalie) Morbus Crouzon (kraniofaziale Dysostose) ▬ # Kap. 2.1.4 Klippel-Feil-Syndrom (Fehlbildung des Achsenskeletts heterogener Ätiologie) ▬ Kurz-(»Frosch«)-Hals mit eingeschränkter Halswirbelsäulenbeweglichkeit (Halswirbelsynostosen) ▬ Fassthorax ▬ Nicht selten Tiefstand der Ohrmuscheln, Mikrotie, Gehörgangsatresie, Dysplasie des Mittelohrs, Innenohrschwerhörigkeit und Gaumenspalte Möbius27-Syndrom ▬ # Kap. 4.3.4 ▬ Auch Ohrfehlbildungen: Gehörgangsatresie, Ausfall des N. vestibularis, mittlere bis hochgradige Innenohrschwerhörigkeit, bei Fehlbildung des Mittelohrs auch Schallleitungsschwerhörigkeit CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom) ▬ Gemeinsames Auftreten mehrerer Fehlbildungen unklarer Genese: K(C)olobome im Iris-ChoroideaBereich, angeborene Herzfehler unterschiedlicher Ausprägung, Atresie der Choanen, Retardation der Entwicklung, Genitalhypoplasie, Ohr-(Ear-)Anomalien (kombinierte Schwerhörigkeit, Fehlbildungen des äußeren Ohres und des Mittelohrs) ▬ Häufig Beteiligung verschiedener Hirnnerven ▬ Spaltbildungen im Lippen-Gaumen-Bereich ▬ Mikrozephalus ▬ Ösophagusanomalien ▬ Syndaktylie Nager-de-Rey-Syndrom (Dysostosis otomandibularis) ▬ Dysplasie des aufsteigenden Unterkieferasts und des Kiefergelenks ▬ Schwere Mikrogenie 27 Paul Julius Möbius (1853–1907), Neurologe und Psychiater, Leipzig (Möbius-Zeichen: # Kap. 5.5.8, »Wichtige Tumoren« → »Endokrine Orbitopathie«) 199 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Edwards-Syndrom ( Trisomie 18) ▬ ▬ ▬ ▬ Autosomale Trisomie der Chromosomengruppe E Dysplasie des äußeren Ohres Schallleitungsschwerhörigkeit Kurzhals, Mikrogenie, evtl. Lippen-Kiefer-GaumenSpalte, ggf. Choanalatresie, hoher Gaumen Literatur Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95 Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Otto H-D (1981) Zwei bisher unbekannte Verlagerungsbewegungen in der Branchialregion des menschlichen Keimlings, dargestellt an der Ontogenese des äußeren und des Mittelohres einschließlich der periaurikulären Region sowie an der Pathogenese ihrer Missbildungen (Der Irrtum der Reichert-Gaupp’sehen Theorie). Promotion B, Medizinische Fakultät, Charité, Berlin Tanzer RC (1975) The constricted cup and lop ear. Plast Reconstr Surg 55: 406–415 Weerda H (1994) Anomalien des äußeren Ohres. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1. Thieme, Stuttgart New York, S. 488–499 Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo 3.4.2 Verletzungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs, Gehörgangsfremdkörper C. Klingmann, P.K. Plinkert Verletzungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Definition ▬ Verletzung der Ohrmuschel und/oder des äußeren Gehörgangs durch Gewalteinwirkung Einteilung und Ätiologie ▬ Ohrmuschelverletzungen: – stumpfe Traumen mit Abscherung der Haut und des anliegenden Perichondriums mit Ausbildung eines Otseroms bzw. Othämatoms – scharfe Traumata mit Einriss- und Schnittverletzungen, Teilabriss der Ohrmuschel oder kompletter Ablatio otis – Schädigung der Haut durch äußere Noxen: – UV-Licht – Kälte, Schweregrad I: Abblassen → Hyperämie und Schwellung → Hypästhesie oder Schmerzen – Kälte, Schweregrad II: Blasenbildung – Kälte, Schweregrad III: Nekrosen bzw. Verkohlung – Hitze, Schweregrad I: Hyperämie – Hitze, Schweregrad II: Blasenbildung – Hitze, Schweregrad III: Nekrosen – Säure- bzw. Laugeneinwirkung – Sonderform: »Verletzung« durch Piercing (# Kap. 5.4.2, »Weichteilverletzungen«) ▬ Gehörgangsverletzungen: – Verletzung der Integrität des Gehörgangs durch direkte Krafteinwirkung wie Fremdkörper (Holzspieß, Grashalm), Ohrstäbchen (»Q-Tips«), unsachgemäße Ohrspülung, Büroklammern etc. – Mitbeteiligung bei fortgeleiteten Frakturen, z. B. Laterobasis- und Kiefergelenkfrakturen – Barotrauma des äußeren Ohres Pathogenese ▬ Allgemein: bei einer plötzlichen Bedrohung wird das Gesicht reflektorisch durch eine Bewegung zur Seite geschützt, sodass das äußere Ohr der unmittelbaren Gewalt ausgesetzt ist ▬ Otserom, Othämatom: stumpfe, abscherende Kräfte in tangentialer Bewegung (selten spontan auftretende subperichondrale Einblutung) → Lösung der Haut und des Perichondriums vom Ohrknorpel (mit Zerreißung der Blutgefäße) und Ausbildung eines Seroms bzw. Hämatoms zwischen Knorpel und Perichondrium (meist an der Lateralfläche der Ohrmuschel) > Wichtig Da der Knorpel über das Perichondrium ernährt wird, besteht die Gefahr einer Knorpelnekrose (Kammerbildung im Knorpel; auch postoperativ nach Ohrmuschelkorrekturen möglich). ▬ Äußerliche Noxen: direkte Schädigung der Ohrmuschelhaut ▬ Riss-Quetsch-Wunden: am häufigsten; durch scharfe, abscherende oder quetschende Kräfte ▬ Schnittverletzungen: je nach Ausmaß liegen kleinere Verletzungen, Teilamputationen oder eine komplette Ohrmuschelamputation vor ▬ Direkte Krafteinwirkung auf den Gehörgang: – abhängig von der Lokalisation können knorpliger und knöcherner Abschnitt des Gehörgangs betroffen sein – durch die natürliche Biegung des Gehörgangs treten Verletzungen des Trommelfells seltener auf ▬ Barotrauma des äußeren Ohres: – beim Tauchen (# Kap. 3.5.2, »Barotrauma«) 3 200 3 Kapitel 3 · Ohr – eng anliegende Kopfhaube, ggf. bei Entzündungen des Gehörgangs oder Exostosen → luft- oder wasserdichtes Abschließen des Gehörgangs → Verletzung des Gehörgangs (Schwellungen oder Einblutungen) oder selten des Trommelfells ▬ Fortgeleitete Frakturen: – bei Fraktur des Kiefergelenks kann die Gehörgangsvorderwand imprimiert werden – Frakturen der Laterobasis führen häufiger zu einer Stufenbildung im Bereich des hinteren Gehörgangs Klinisches Bild ▬ Schmerzen, Brennen, Druck-/Spannungsgefühl der Ohrmuschel/des Gehörgangs ▬ Verschmutzung der Ohrmuschel ▬ Blutung aus Ohrmuschel/Gehörgang ▬ Rötung, Zyanose, Abblassen der Haut bei Einwirkung äußerlicher Noxen ▬ Blasenbildung ▬ Deformation der Ohrmuschel, offensichtliche Schnittverletzung ▬ Vorwölbung und Lösung der Ohrmuschelhaut vom Knorpel, Fluktuation des Hämatoms/Seroms ▬ Verstreichen des typischen Ohrmuschelreliefs (Otserom, Othämatom) ▬ Stufenbildung im Gehörgang ▬ Kieferklemme/-sperre Diagnostik ▬ Anamnese: Schädigungsmechanismus bzw. Unfallhergang (Ringen, Rugby, Verbrennung, Verätzung, UV-Licht etc.), Fremd- oder Selbstverschulden ▬ Inspektion: in der Regel handelt es sich um eine Blickdiagnose; Ausmaß der Verletzung und Gewebeverlust beachten ▬ Palpation der Ohrmuschel: Fluktuation eines Seroms/ Hämatoms ▬ Gegebenenfalls Punktion einer fluktuierenden Raumforderung ▬ Ohrmikroskopie: Epithelverletzung, Stufenbildung, Gehörgangsfremdkörper ▬ Überprüfung der Mundöffnung (Kiefergelenk) ▬ Hör- und Gleichgewichtsprüfung ▬ Fotodokumentation ▬ Computertomographie (bei Verdacht auf SchädelHirn-Trauma) Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ Erysipel der Ohrmuschel Perichondritis der Ohrmuschel »Relapsing polychondritis« »Grippeotitis« bei Blutung aus dem Gehörgang Therapie ▬ Ziele: – Wiederherstellung der ursprünglichen Form bzw. plastisch-ästhetische Rekonstruktion – Vermeidung von Sekundärinfektionen und von Gehörgangsstenosen ▬ Maßnahmen: – alle Ohrmuschelverletzungen müssen gereinigt und desinfiziert werden, auch Entfernung von Schmutztätowierungen – bei Freilegung des Knorpels, Lazeration, Bissverletzung und kontaminierten Wunden systemische Antibiotikatherapie (z. B. Clindamycin, Oralcephalosporin), ggf. Gabe eines Antiphlogistikums – Schnittverletzungen, Teilamputationen: primärer schichtweiser Wundverschluss (Perichondrium-zuPerichondrium-Naht) – Lazerationen: Wundverschluss und modellierender, druckfreier Salbenverband – Totalamputation: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Ohrmuschelverletzungen« → »Versorgung«) – Otserom/Othämatom: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Ohrmuschelverletzungen« → »Othämatom, Otserom«) – Verbrennungen/Verätzungen: – präklinisch Kaltwasserbehandlung – lokal desinfizierende Maßnahmen, steriles Abdecken (kein Druckverband), Verband mit Kortisoncreme und ggf. Fenistilsalbe (Verbrennnung Grad I) bzw. Verband mit Kortisoncreme oder bei Hauterosionen Hautdesinfektion (Verbrennung Grad II), geschlossene Wundbehandlung, ggf. chirugisches Vorgehen (freiliegender Knorpel) – Erfrierungen: langsames Aufwärmen, kühle Umschläge (kein Druck auf Ohrmuschel), Kortisonsalbenverband (Erfrierung Grad I), lokal Antiseptika, Blaseneröffnung unter sterilen Bedingungen (Erfrierung Grad II), lokale (Aureomycin, Gentamicin) oder ggf. systemische antibiotische Therapie, ggf. Nekrosenentfernung (Erfrierung Grad III) – Gehörgangsverletzungen mit direkter Gewalteinwirkung: Einlegen einer Streifentamponade, getränkt mit Kombination aus Antibiotika und Steroiden – Gehörgangsverletzung bei fortgeleiteten Frakturen: Therapie der initialen Fraktur, Gehörgangsreposition ! Cave Vorsicht bei der Gehörgangsreinigung: mögliche Liquorrhö bei Schädelbasisfrakturen → nicht spülen 201 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Verlauf und Prognose Therapie ▬ Stark vom Ausmaß der Schädigung abhängig: – Schnittverletzungen, Einrisse und Teilamputationen: sehr gute Prognose, auch wenn die Schwellung bei Teilamputationen über Wochen anhalten kann – Infektion einer Schürfwunde (z. B. am Helixrand): Abszedierung, ggf. Untergang der Ohrmuschel – Totalamputationen: sehr heterogene Prognose (bis zum bleibenden Verlust der Ohrmuschel), abhängig vom Ausmaß der initialen Schädigung, von der Latenz bis zum Beginn der Wundversorgung und von Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) – Otserom und Othämatom: bei rechtzeitigem und konsequentem Therapiebeginn gute Prognose – Komplikationen: Knorpeleinschmelzung, Abszedierung – Spätkomplikationen: »Ringer«- oder »Blumenkohlohr« – Verbrennungen, Verätzungen, Erfrierungen: bei Verletzungen der Schweregrade I und II gute Prognose, bei Schweregrad III in der Regel Teilverlust der Ohrmschel ▬ Ziele: – Entfernung des Fremdkörpers – Vermeidung von Komplikationen ▬ Maßnahmen: – Fremdkörper mit Häkchen entfernen; Gehörgangsspülungen sind ebenfalls möglich und bei sehr kleinen Fremdkörpern wie Sand, Haaren oder Staub auch sinnvoll Gehörgangsfremdkörper Fremdkörperarten und Pathogenese ▬ Kinder stecken sich alle möglichen Fremdkörper (kleine Spielzeugteile, Kirschkerne, Erbsen, Steinchen und andere Gegenstände) in den Gehörgang ▬ Erwachsene stellen sich häufiger mit akzidentell eingebrachten Fremdkörpern beim Arzt vor: Watte (nach Ohrreinigung) bzw. Wattepfröpfe, Ohrstopfen, Reste von Oropax, Streichholzteile, Aststücke, selten lebende Fremdkörper (Insekten) Klinisches Bild ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Ohrdruck, Schwerhörigkeit Jucken, Schmerzen Otorrhö Tinnitus (Insekt) Singultus Diagnostik ▬ Anamnese ▬ Ohrmikroskopie Differenzialdiagnostik ▬ Cerumen obturans ▬ Exostosen ▬ Cholesteatom (Gehörgangspolyp durch Fremdkörper) ! Cave Bei aufquellenden Fremdkörpern oder Trommelfellverletzung ist eine Spülung kontraindiziert. – länger liegende, festsitzende Fremdkörper mit Otitis externa in Lokalanästhesie entfernen (Erwachsene) – bei Kindern Entfernung des Fremdkörpers (harte, den Gehörgang verlegende Fremdkörper wie Perlen) häufig nur in Allgemeinnarkose möglich – verkeilte feste Fremdkörper: ggf. Entfernung über einen endauralen Zugangsweg (# Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr« → »Zugangswege«) erforderlich – nach der Fremdkörperentfernung sollte einmalig eine desinfizierende oder antibiotische Lokaltherapie erfolgen (z. B. Glyzerol- oder Ciprofloxacintropfen) Verlauf und Prognose ▬ Bei sachgerechter Entfernung gut ▬ Komplikationen: Otitis externa, Gehörgangs-/Trommelfell- und/oder Gehörknöchelchenverletzung ! Cave Keine Extraktion mit Pinzette oder kleiner Zange, da beim Abrutschen eine Verletzungsgefahr für das Trommelfell besteht Literatur Boenninghaus H-G (1979) Ohrverletzungen. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik. Bd 5: Ohr, Bd I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 20.21–20.48 Ernst A, Herzog M, Seidl RO (2004) Traumatologie des Kopf-HalsBereichs. Thieme, Stuttgart New York Richter WC (Hrsg.) (1992) Kopf- und Halsverletzungen. Thieme, Stuttgart New York Strohm M (1994) Traumatologie des Ohres. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 647–666 Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York Zenner H-P (Hrsg.) (2008) Praktische Therapie von Hals-Nasen-OhrenKrankheiten, 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart New York 3 202 Kapitel 3 · Ohr 3.4.3 Entzündliche Erkrankungen S. Maune 3 Bakterielle Infektionen des äußeren Ohres Otitis externa diffusa Definition ▬ Unspezifische, diffuse bakterielle Entzündung des äußeren Gehörgangs mit oder ohne Beteiligung des Trommelfells (Myringitis) Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Gehörgangsfurunkel Mikrobielles Ekzem Gehörgangsverletzung Gehörgangstumor Akute Mastoiditis (Senkung der hinteren oberen Gehörgangswand; Bildgebung, Labordiagnostik) ▬ Otitis externa necroticans (maligna) ▬ Fibrosierende (idiopathische; Otitis externa fibrinosa) oder radiogene Gehörgangsentzündung ▬ Otitis media (bei sekundärer Okklusion des Gehörgangs und nicht einsehbarem Trommelfell) Ätiopathogenese ▬ Meist bakteriell-mykotische Mischinfektionen: Pseudomonas aeruginosa, Staphylococcus aureus, Proteus spp., Streptococcus spp., Candida spp., Aspergillus spp. ▬ Exogene Hautschädigungen, zum Teil Prädisposition (idiopathische Otitis media) ▬ Begünstigung der Entzündung durch: – feuchtwarmes Klima – häufiges Baden (Badeotitis; chlorhaltiges oder unsauberes Wasser) mit Mazeration der Gehörgangshaut – Wasserretention bei Exostosen oder Stenosen – eitrige Otitis media acuta/chronica – Tragen von Hörgeräten oder Schallschutzstöpseln – Verwendung von Wattestäbchen (mechanische Manipulationen) – berufsbedingte Staubexposition Klinisches Bild ▬ Zunächst Juckreiz und Druckgefühl, später diffuse, starke Schmerzen ▬ Bei Druck auf Tragus oder Zug an der Ohrmuschel Auslösen von Schmerzen ▬ Gegebenenfalls Hörstörungen bei vollständiger Okklusion ▬ Fötide-eitrige Sekretion ▬ Schwellung der regionalen Lymphknoten ▬ Mitunter reduzierter Allgemeinzustand und Fieber Diagnostik ▬ Umwelt-, Sozial- und Arbeitsanamnese ▬ Tragusdruck- und -zugschmerz (»Externadruckschmerz«) ▬ Gehörgang gerötet, geschwollen oder verlegt, ggf. Sekretansammlung; in der Regel Beschränkung der Entzündung auf den Gehörgang ▬ Bei Therapieresistenz Abstrich mit Resistenzbestimmung, ggf. Labordiagnostik (Blutbild, Blutzuckerspiegel, HbA1c-Wert) Therapie ▬ Ziele: – Abschwellen der Gehörgangshaut – Rückkehr zum physiologischen Erregerspektrum – Vermeidung von Komplikationen (Phlegmone, Osteomyelitis, Gehörgangsstenose) ▬ Maßnahmen: – sorgfältige, aber vorsichtige Reinigung des Gehörgangs (Sekret und Detritus) und Desinfektion – regelmäßige Analgetikagabe, z. B. Paracetamol (Kleinkinder: 2- bis 3-mal 250 mg/Tag; Kinder: 2- bis 3-mal 500 mg/Tag; ab 14 Jahren: 2- bis 3-mal 1000 mg/Tag) – bei leichteren Formen lokal Kortikoide und Antibiotika (bei Pseudomonas spp. Ciprofloxacin als Mittel der 1. Wahl) sowie andere antiseptische Mittel (z. B. Octenidin), außerdem Ohrentropfen (z. B. Panotile cipro, 3-mal täglich), ggf. mit Streifen (Dochtwirkung) – bei ausgedehntem Befall Salbenstreifeneinlagen mit Antibiotikum (z. B. Sulmycin, Aureomycin) – täglicher Wechsel bis zur Heilung – bei Beteiligung der Ohrmuschel, Schwellung der regionären Lymphknoten, massiver Ausprägung, Diabetikern und immunsupprimierten Patienten: systemische Antibiotikatherapie Prophylaxe ▬ Wasserkarenz ▬ Manipulationsverbot (ggf. nachts Handschuhe als Schutz vor Verletzungen des Gehörgangs durch Fingerkratzen tragen) ▬ Gegebenenfalls operative Gehörgangserweiterung Verlauf und Prognose ▬ Bei subtiler Gehörgangstoilette und Ansprechen der Erreger auf Antibiotika Restitutio ad integrum ▬ Eskalation zur phlegmonösen Form und Osteomyelitis bei Diabetikern oder immunsupprimierten Patienten → Otitis externa necroticans (maligna) 203 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs ▬ Komplikationen: Perichondritis der Ohrmuschel, Otitis externa necroticans (s. unten), Lymphknotenoder Parotisabszess, bei chronisch rezidivierenden Entzündungen Gehörgangsstenose und Blutung > Wichtig Im Intervall bzw. nach Abschwellen des Gehörgangs ist noch einmal eine sorgfältige Ohrmikroskopie zum Ausschluss einer mittelohrbedingten Sekretion (Cholesteatom) notwendig. Otitis externa circumscripta (Gehörgangsfurunkel) Definition ▬ Abszedierende Infektion eines Haarfollikels im lateralen Teil des äußeren Gehörgangs durch Staphylokokken (v. a. Staphylococcus aureus) Ätiopathogenese ▬ Infektion des Haarfollikels (begünstigt durch Manipulation, Immundefekten/HIV-Infektion, Diabetes mellitus) → perifollikuläre Entzündung → Abszedierung und Schwellung → starke (bohrende) Schmerzen, da die Haut straff auf dem Knochen liegt; Zusammenfließen mehrerer Herde → Phlegmone Otitis externa necroticans sive maligna (Pseudomonasotitis) Definition ▬ Durch Pseudomonas aeruginosa hervorgerufene, destruierende Gehörgangsentzündung mit invasiver Perichondritis und Osteomyelitis bei älteren Patienten mit Diabetes mellitus oder immunsupprimierten Patienten ▬ Lebensbedrohliches Krankheitsbild Ätiopathogenese ▬ Geschwächte Abwehr, Produktion aktiver bakterieller Proteasen → schwere Infektionen von Weichteilen und Knochen im Gehörgang → Ausbreitung der Entzündung längs der Gefäße bis Os temporale und lateraler Schädelbasis Klinisches Bild ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Schmerzen wie bei Otitis externa, später Ohrdruck Kopfschmerzen Schwerhörigkeit Perichondritis Fötide hämorrhagische Otorrhö (süßlich riechend) Kieferklemme Parotisschwellung Schwindel Fazialisparese (fortgeschrittene Entzündung) Reduzierter Allgemeinzustand Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Starke Schmerzen (Tragusdruckschmerz, Schmerzen beim Kauen) ▬ Umschriebene dolente Schwellung und Rötung im Gehörgang (zentral eitriger Pfropf), die den Gehörgang typischerweise von einer Seite aus einengt ▬ Unter Umständen mastoiditisähnliche Schwellung an retroaurikulärer Umschlagfalte (Pseudomastoiditis) Differenzialdiagnostik ▬ Siehe oben, »Otitis externa diffusa« Diagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Therapie Inspektion Funktionsprüfung des N. facialis Palpation der Gl. parotis (Schmerzen?) Ohrmikroskopie: zerfallende, leicht blutende Granulationen am Boden des Gehörgangs oder im gesamten Gehörgang, ggf. freiliegender Knochen (spricht für Osteomyelitis) Abstrich: Pseudomonas aeruginosa Hör- und Gleichgewichtsprüfungen Computertomographie des Felsenbeins bzw. der Schädelbasis (Ausdehnung der Destruktion) Sonographie der Gl. parotis Labordiagnostik: Differenzialblutbild (Leukozytose mit Linksverschiebung), Blutzuckerspiegel (evtl. Glukosetoleranztest, HbA1c-Wert), Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG), Konzentration des Creaktiven Proteins Knochenszintigraphie: Früherkennung einer Osteomyelitis ▬ Sorgfältige Gehörgangsreinigung ▬ Lokale Antiseptika oder Antibiotikastreifen, orale Analgetika ▬ Gegebenenfalls systemische Antibiotikatherapie bei Temperaturerhöhung oder perifokaler Entzündung ▬ Inzision nur bei Persistenz bzw. wenn keine spontane Eröffnung erfolgt ▬ Bei Rezidiven Exzision ▬ ▬ > Wichtig ! Cave Bei rezidivierender Furunkulose an Diabetes mellitus und immunsupprimierende Erkrankungen denken ▬ Bei einer therapieresistenten Otitis externa sollte man immer an eine Otitis externa maligna denken. 3 204 3 Kapitel 3 · Ohr Differenzialdiagnostik Ätiopathogenese ▬ Einfache Otitis externa ▬ Karzinom des äußeren Gehörgangs ▬ Verletzung des Gehörgangs oder Gehörgangsfremdkörper ▬ Streptokokken dringen durch Mikroläsionen (z. B. Mikrotraumen beim Reinigen) in die Haut ein → Erysipel breitet sich in Lymphspalten aus Klinisches Bild und Diagnostik Therapie ▬ Konservativ: – mehrmals täglich Gehörgangssäuberung (Absaugen des Sekrets, Antiseptika) mit Abtragung von Granulationen – lokale Applikation von Antibiotika gegen Pseudomonas aeruginosa (mehrmals täglich): Polymyxin B, Ciprofloxacin, Piperacillin oder Gentamycin – i. v. Antibiotikatherapie über mehrere Wochen, z. B. mit Ciprofloxacin in hoher Dosierung (alternativ: Levofloxacin, Cefepim, u. U. Aminoglykoside) – Behandlung eines Diabetes mellitus (suffiziente Einstellung des Blutzuckerspiegels) – ggf. adjuvant hyperbare Sauerstofftherapie – ggf. Gabe spezifischer Immunglobuline ▬ Operativ: – indiziert bei persistierender oder fortschreitender Osteomyelitis (bei konservativer Therapie selten) – Prinzip: Entfernung des Granulationsgewebes sowie der Knochen- und Knorpelsequester → radikale Mastoidektomie (Abtragung des gesamten Gehörgangs) und Petrosektomie Verlauf und Prognose ▬ Bei optimaler Therapie in der Regel Ausheilung, ansonsten in fortgeschrittenen Fällen letaler Ausgang durch Sepsis, Meningitis oder Hirnabszess (insgesamt 70 %; ausschließlicher Befall des N. facialis: 50 %; leichte Fälle: 14 %) → frühzeitige Diagnosestellung ▬ Komplikationen: – Ausdehnung bis Oto-/Schädelbasis und Gl. parotis über Santorini-Spalten, Foramen stylomastoideum (→ Fazialisparese) Forman jugulare und Foramen occipitale magnum (→ Hirnnervenausfälle: N. abducens, N. glossopharyngeus, N. vagus, N. accessorius) – Thrombose des Sinus sigmoideus/cavernosus – Meningitis, Epiduralabszess Erysipel (Erysipelas, Wundrose) Definition ▬ Akute, durch Streptokokken (Gruppe A, seltener Gruppe B) bedingte Dermatitis ▬ Umschriebene, scharf abgegrenzte, erhabene Rötung der Ohrmuschel-, der Gehörgangs- oder der Gesichtshaut; Areal fühlt sich derb und heiß an ▬ Schmerzendes Spannungsgefühl, oft Beteiligung der regionären Lymphknoten ▬ Hohes Fieber oder Schüttelfrost ▬ Labordiagnostik: Leukozytose, deutlich erhöhte BSG (differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber akuter Dermatitis: fehlende Leukozytose) Differenzialdiagnostik ▬ Perichondritis (s. unten): Lobulus ausgespart ▬ Phlegmone: unscharfe Begrenzung, stärkste Veränderung in der Herdmitte, Pustelbildung, stark klopfende Schmerzen, Fieber, Schüttelfrost ▬ Beginnender Herpes zoster: nur geringes Fieber, aber stärkere Schmerzen Therapie ▬ Lokale und systemische Penicillinbehandlung ▬ Feuchte Umschläge mit antiseptischen Lösungen Verlauf und Prognose ▬ Sehr gutes Ansprechen auf lokale und systemische Antibiotikatherapie ▬ Komplikationen: selten phlegmonöse Verläufe mit Abszessbildungen, selten Perichondritis Perichondritis Definition ▬ Übergreifen einer akuten Entzündung des äußeren Ohres auf das Perichondrium Ätiopathogenese ▬ Pseudomonas aeruginosa, seltener Proteus spp., Enterokokken, Escherichia coli ▬ Kratzdefekte, mechanische Traumata (Otserom, Othämatom), operative Eingriffe mit Freilegen des Knorpels, Erfrierungen, Verbrennungen, Insektenstiche, Piercing ▬ Sekundäre Infektion des Perichondriums und des Knorpels ▬ Autolyse durch Inhaltsstoffe von Seromen oder Hämatomen 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs 205 Klinisches Bild und Diagnostik Diagnostik ▬ Diffuse, ödematöse Schwellung und Rötung, meist des Cavum conchae bzw. der Helix mit Verstreichen des gesamten Ohrmuschelreliefs ▬ Ohrmuschel stark druckschmerzhaft, fühlt sich heiß an; Lobulus ausgespart ▬ Abstrich, Labordiagnostik ▬ Klinischer Befund ▬ Nachweis der Erreger durch Abstrich aus einer noch intakten Blase (Pustel) Differenzialdiagnostik Therapie ▬ Erysipel: erstreckt sich auch auf den Lobulus, intensive Rötung, hohes Fieber ▬ Herpes zoster: Blasenbildung ▬ Lokal antibiotische Salbe und Lotion mit desinfizierenden Zusätzen ▬ Gegebenenfalls Abtragung der Bläschen ▬ Systemische Antibiotikatherapie (Flucloxacillin, Erythromycin) ▬ Mittelohrsanierung Therapie ▬ Lokale und systemische Breitbandantibiotikatherapie (knorpelgängige Antibiotika: Clindamycin, Ciprobay) ▬ Feuchte Umschläge mit Antiseptika ▬ Inzision (bei Eiteransammlung), chirurgische Abtragung des nekrotisierenden Knorpels (postaurikulärer Zugang; wenn möglich keine Abtragung der Helix → Erhaltung der Ohrmuschelform) ▬ Gegebenenfalls plastische Rekonstruktion der Ohrmuschel nach Ausheilung Verlauf und Prognose ▬ Komplikationen: bei nekrotisierenden Verläufen schwerste Verstümmelungen der Ohrmuschel Impetigo contagiosa (Impetigo staphylogenes) Definition ▬ Stark infektiöse, nicht follikulär gebundene, superfizielle Pyodermie, v. a. im Gesicht ▬ Sonderform staphylogenes Lyell-Syndrom: generalisierte Sonderform (v. a. bei Kleinkindern) nach eitriger Otitis media, Pharyngitis oder Konjunktivitis mit Ausbildung großer Blasen am gesamten Körper; klinisch wie flächenhafte Verbrühung vom Schweregrad II Differenzialdiagnostik ▬ Herpes simplex Pilzerkrankungen des Ohres Epidemiologie ▬ Häufigste Otitis-externa-Form in den Tropen, in nördlicheren Breiten eher selten Ätiopathogenese ▬ Schimmelpilze: Aspergillus fumigatus, Aspergillus flavus, Aspergillus niger ▬ Candida albicans ▬ Günstige Wachstumsbedingungen für Pilze im Gehörgang bei Otitis externa und Langzeitmedikation mit antibiotischen Ohrentropfen ▬ Begünstigung der Infektion durch chronische Entzündungen und feuchtwarmes Milieu ▬ Verlagerung der ausgeglichenen physiologischen Flora zum Pilzklima → Erliegen der fungiziden Abwehrmechanismen in der Gehörgangshaut Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Infektion mit Staphylo- und/oder Streptokokken ▬ Auftreten bei purulenter/chronischer Otitis media ▬ Putride Inhaltsstoffe stören das mikrobielle Klima im Gehörgang ▬ Juckreiz, dumpfer Schmerz, Völlegefühl ▬ Gelblich-grünliche bis schwärzliche oder watteähnliche Massen im Gehörgang, mikroskopisch gelegentlich Pilzfäden erkennbar, teilweise auch umschriebene Pilzgranulome ▬ Intensive hyperämische Hautreaktion in der Umgebung ▬ Ausstriche (ungefärbt, gefärbt), Pilzkulturanlage Klinisches Bild Differenzialdiagnostik ▬ Rote Flecken mit Bläschen mit klarem Inhalt → Umwandlung in Pusteln → Platzen der Pusteln → Eintrocknen des Eiters → Ausbildung honiggelber Krusten an der Ohrmuschel ▬ Pruritus ▬ Regionäre Lymphknotenschwellung ▬ Bei pyogenen Mischinfektionen Abgrenzung gegenüber bakteriellen Gehörgangsentzündungen (mitunter schwierig) Ätiopathogenese Therapie ▬ # Kap. 13.2.3 3 206 Kapitel 3 · Ohr Verlauf und Prognose ▬ Rezidivneigung ▬ Gelegentlich mit Knochennekrosen einhergehend Virale Erkrankungen des äußeren Ohres 3 > Wichtig Virusinfektionen des äußeren Ohres sind wesentlich seltener als bakterielle Infektionen. Herpes simplex ▬ Durch das Herpes-simplex-Virus hervorgerufene Entzündung ▬ Selten isoliert an Ohrmuschel lokalisiert – Effloreszenzen im Gesicht und besonders am Mund ▬ Diagnostik: klinisches Bild mit typischen Bläschen, Ohrmuschel nicht empfindlich, keine heftigen Neuralgien, dagegen bei akuter bullöser Myringitis oft starke Schmerzen ▬ Therapie: im Bläschenstadium lokale Applikation von Antiseptika oder Virostatika, bei bakteriellen Superinfektionen lokale Antibiotika; Analgetika – bei Innenohrbeteiligung antiphlogistisch-rheologische Therapie Otitis externa haemorrhagica (bullosa; bullöse Myringitis, Grippeotitis) ▬ # Kap. 3.5.4, »Akute Otitis media« Dermatosen des äußeren Ohres Ekzem ▬ Akut bis chronisch verlaufende, nichtinfektiöse Entzündungsreaktion von Epidermis und Dermis ▬ Reaktionsform der Haut auf eine Vielzahl exogener Noxen und endogener Reaktionsfaktoren ▬ Typisches klinisches (Juckreiz, Erythem, Papel, Seropapel, Bläschen, Schuppung, Krustenbildung, Lichenifikation) und histologisches (Spongiose, Akanthose, Parakeratose, lymphozytäre Infiltration) Erscheinungsbild ▬ Untersuchung der Haut des gesamten Körpers kann bei Diagnostik richtungsweisend sein ▬ Langwierig, häufig rezidivierend (endogene Faktoren) Kontaktekzem Definition Herpes zoster oticus (Zoster oticus) ▬ Infektion mit neurotropem Varizella-Zoster-Virus (persistiert lebenslang in Ganglienzellen, Reaktivierung einer Varizella-zoster-Infektion); kann mit einer ausgeprägten Entzündung der Ganglienzellen des N. facialis und/oder des N. vestibulocochlearis einhergehen (# Kap. 2.2.3) ▬ Erythem und Bläscheneruptionen im Bereich des Cavum conchae und des äußeren Gehörgangs ▬ Bläschen einzelständiger und dickwandiger als bei Herpes simplex ▬ Starke neuralgiforme Schmerzen im betroffenen Bereich ▬ Lähmungen von Hirnnerven, v. a. N. facialis (RamsayHunt28-Syndrom), N. vestibulocochlearis (Hypakusis, Schwerhörigkeit, Vertigo, Dysgeusie, Fazialisparese) ▬ Allgemeines Krankheitsgefühl und Fieber ▬ Differenzialdiagnostik: Grippeotitis, andere entzündliche Erkrankungen ▬ Therapie: – Virostatika (z. B. Brivudin, Aciclovir, Famciclovir) – lokale Behandlung der Hauteffloreszenzen (antiseptisch, austrocknend, z. B. Clioquinol oder Idoxuridin für max. 4 Tage) – Antibiotika (Cephalosporine) nur bei Verdacht auf bakterielle Superinfektion – Analgetika 28 James Ramsay Hunt (1872–1937), Neurologe, New York ▬ Durch Kontakt mit einem Toxin oder Allergen ausgelöstes Ekzem Einteilung ▬ Akute Kontaktdermatitis: akut toxisch/akut allergisch (kurze Einwirkung der Noxe) ▬ Chronisch-kumulativ-toxisches und allergisches Kontaktekzem: wiederholte Einwirkung oder längere Exposition (toxisch oder allergisch) Ätiologie ▬ Endogene Ekzembereitschaft ▬ Reaktion auf verschiedene Reizstoffe: – Metalle: Nickel, Chrom, Blei – Chemikalien und Lösungsmittel: Haarfärbemittel, Kosmetika, Reinigungsmittel – Medikamente: Neomycin in Ohrentropfen, Cerumenex, Anästhetika etc. – oft berufliche Reizstoffkontakte Pathogenese ▬ Noxen wirken unmittelbar auf das betroffene Hautareal ein ▬ Noxen bewirken eine toxische Reaktion (80 %), weniger eine allergische Klinisches Bild ▬ Kleinherdiger Beginn der Läsion: Haut ist gerötet und weist Bläschen auf 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs ▬ Allmähliche Ausdehnung auf größere Flächen der Ohrmuschel und des Gehörgangs → Otorrhö Diagnostik ▬ Genaue, zeitlich detaillierte Anamnese: akuter Beginn und akute Entzündung nach Kontakt mit dem auslösenden Allergen innerhalb eines Zeitraums von 2 Tagen ▬ Allergologische Diagnostik (Epikutantestung) Differenzialdiagnostik ▬ Otitis externa (Kontaktekzem geht im Bild einer Otitis externa gelegentlich unter) Therapie ▬ Lokal: – sorgfältige Gehörgangsreinigung und anschließende Spülung – Austrocknung, Lufttrocknung (Fönen) – ggf. Streifen mit Antiseptika oder triamcinolonhaltiger Lösung (Volon) ▬ Auslösende Noxen vermeiden (Rezidivprophylaxe) 207 Therapie ▬ Siehe oben, »Kontaktekzem« ▬ Langfristig imidazol- oder kortikoidhaltige Cremes Endogenes (atopisches) Ekzem Definition und Ätiopathogenese ▬ # Kap. 2.3.4 Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Leichtes, gelegentliches Jucken ohne auffällige Veränderungen bis intensiver, quälender Pruritus mit entzündlicher Verdickung der schuppenden, geröteten Gehörgangshaut ▬ Bläschen, Quaddeln ▬ Schmerzen, Völlegefühl ▬ Prädilektionsstellen: Ohrmuschel (Koncha), Gehörgang ▬ Weitere Hautstellen beteiligt (u. a. große Gelenkbeugen, Gesicht, Hals) Differenzialdiagnostik ▬ Kontaktekzem ▬ Mikrobielles Ekzem Verlauf und Prognose ▬ Abhängig von der Ekzembereitschaft und der exogenen Belastung Seborrhoisches Ekzem (seborrhoische Dermatitis) Therapie ▬ Kortikoidhaltige Cremes ▬ Bei Superinfektion lokale antibiotische Behandlung Definition Mikrobielles Ekzem ▬ Ekzem durch Konstitutionsanomalie mit Infektionsanfälligkeit und vermehrter Talgdrüsenproduktion Definition Epidemiologie ▬ Häufigste Dermatose; bei Erwachsenen und Kindern gleiche Inzidenz Ätiopathogenese ▬ Endogene Änderung des Hautstoffwechsels ▬ Verstärkte Talgdrüsenaktivität bei großporiger Haut ▬ Pilzbefall (Pityrosporum ovale) Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Prädilektionsstelle: Ohrmuschel und Umgebung; oft symmetrisch ▬ Starke Schwellungen, derbe Infiltrationen ▬ Juckreiz → durch Kratzeffekte Auftreten von Erosionen ▬ Infiltrationen und Rhagadenbildungen auch retroaurikulär ▬ Fettige Schuppungen Differenzialdiagnostik ▬ Kontaktekzem ▬ Disseminierte, meist chronisch verlaufende Erkrankung mit münzgroßen (nummulären), meist juckenden Läsionen Epidemiologie ▬ Nicht selten ▬ Daten zur Prävalenz streuen erheblich (0,1–9,1 %) Ätiologie ▬ Insgesamt unklar, in der Regel polyätiologisch: überlagernde Kontaktallergie, atopische Diathese, Exsikkation, chronische mikrobielle Besiedlung der Haut (Staphylococcus aureus, Staphylococcus haemolyticus, Pseudomonas aeruginosa oder Proteus spp.), psoriatische Disposition ▬ Auch endogene Faktoren (hormonell, neurovegetativ, Anomalien Talgsekretion) Pathogenese ▬ Verschiebung der ausgewogenen apathogenen Mischflora zur Dominanz eines pathogenen Keimes → nässende Wundflächen oder mazerierte Epidermis 3 208 Kapitel 3 · Ohr → Infiltration der Haut mit Bakterien → Erliegen der natürlichen Abwehrmechanismen Klinisches Bild 3 ▬ Intensive Rötung, nässende Pustelbildung, Epithelabschilferungen ▬ Oft große Flächenausdehnung an Ohrmuschel, Wangenregion, Schläfenregion und Nacken Diagnostik ▬ Genaue Anamnese (Auftreten einer Otitis externa nach mechanischem Trauma) ▬ Ohrmikroskopie (Auftreten im Rahmen einer chronischen Otitis media) ▬ Antibiogramm Differenzialdiagnostik ▬ Otitis externa ▬ Abgrenzung gegenüber abakteriellen Entzündungen Therapie ▬ Lokale Behandlung mit Breitbandantibiotika, Kortikoide nach sorgfältiger Gehörgangsreinigung ▬ Bei hartnäckigen Verläufen resistogrammbasierte Therapie ▬ Bei sehr ausgedehnten Fällen systemische Antibiotikatherapie ▬ Sekundär ursächliche Behandlung (z. B. Tympanoplastik) Komedonenakne (Akne vulgaris) ▬ Talgdrüsenzysten am Ohrläppchen bzw. in der Umgebung des äußeren Gehörgangs, bei seborrhoischen Patienten auch hinter den Ohren ▬ Therapie der Akne: # Kap. 5.4.3 (»Erkrankungen der Talgdrüsenfollikel«) Psoriasis ▬ Im Bereich von Ohrmuschel, Gehörgang und Sulcus auriculotemporalis ▬ Nicht selten generalisierte Hauterscheinungen ▬ Stark juckende, scharf begrenzte, erythematös-squamöse Hautveränderungen mit silbrig glänzenden Schuppen ▬ Rezidivierende bakterielle Entzündungen ▬ Therapie: kortisonhaltige Lotionen Gehörgangscholesteatom ▬ Gehört zu den atypischen Cholesteatomen (Cholesteatom bei kongenitaler Atresie des Gehörgangs, Lappencholesteatom) ▬ Entspringt oft in dem vorne durch Trommelfell und Gehörgangsboden gebildeten Winkel ▬ Ätiopathogenese: chronische nekrotisierende Entzündungen → chronische Otorrhö → gestörte Migration → Exkavation des knöchernen Gehörgangs mit enzymatischem Knochenabbau ▬ Symptome und Diagnostik: rezidivierende Entzündung, perlmuttartige Masse insbesondere im Bereich des Gehörgangsbodens; ggf. Computertomographie ▬ Therapie: Entfernung der Epithelmassen, Glättung des Knochens, Auffüllung des Defekts ▬ Komplikation: Zerstörung des Trommelfells mit Einbruch in das Mittelohr Seltene Entzündungen ▬ Otophym: – Hypertrophie der Talgdrüsen (wie Rhinophym) am Ohrläppchen (# Kap. 5.4.3, »Rhinophym«) – wulstige und knollige Vergrößerungen – Therapie: chirurgische Verkleinerung mit teilweisem Ausräumen der Retentionszysten ▬ Gehörgangsdiphtherie: charakteristische Membranbildungen ▬ Noma: in die Gesichtsweichteile übergreifende Nekrose der Ohrmuschel Literatur Bluestone CD, Casselbrant M, Dohar JE (2003) Targeting therapies in otitis media and otitis externa. Decker, Hamilton Braun-Falco O, Plewig G, Wolff HH, Burgdorf WHC, Landthaler M (Hrsg.) (2005) Dermatologie und Venerologie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Berlin New York Tokyo Strohm M (2002) Die erworbene fibrotische Gehörgangsatresie. Laryngorhinootologie 81: 8–13 Tisch M, Lorenz KJ, Harm M, Lampl L, Maier H (2003) Otitis externa necroticans. Kombinierter Einsatz von chirurgischer Therapie, Antibiose, spezifischen Immunglobulinen und hyperbarer Sauerstofftherapie – Ergebnisse des Ulmer Therapiekonzepts. HNO 51: 315–320 3.4.4 Sonstige Erkrankungen Chondrodermatitis nodularis helicis chronica circumscripta (»schmerzhaftes Ohrknötchen«) P. Dost Definition ▬ Wucherung des Ohrmuschelperichondriums mit regressiven Veränderungen im Zentrum sowie Hyperund Parakeratose der bedeckenden Haut im Sinne einer lokalen Perichondritis 209 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Epidemiologie Literatur ▬ Vor allem Männer im 5. Lebensjahrzehnt betroffen ▬ Rechts > links Graf K, Fisch U (1979) Geschwülste des Ohres und des Felsenbeines. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis und Klinik. Ohr I. Bd 5. Thieme, Stuttgart New York, S. 22.1–22.69 Rex J, Ribera M, Bielsa I, Mangas C, Xifra A, Ferrandiz C (2006) Narrow elliptical skin excision and cartilage shaving for treatment of chondrodermatitis nodularis. Dermatol Surg 32: 400–404 Ätiopathogenese ▬ Nicht gesichert ▬ Vermutet werden thermische oder mechanische Reize (Traumen und Druckbelastungen) ▬ Gewohnheitsmäßiges Schlafen auf derselben Seite Gichttophi P. Dost Klinisches Bild ▬ Etwa 5 mm große, druckschmerzhafte, unverschiebliche, subkutan-kutane, manchmal etwas rötliche Schwellung, die zentrale Ulzeration aufweisen kann ▬ Am häufigsten an der rostralen Helix (selten an anderen Stellen) Definition Diagnostik Epidemiologie ▬ Richtungsweisend sind starke Druckschmerzhaftigkeit und der häufige Sitz exakt am Helixrand ▬ Histologie ▬ Etwa 50 % der Gichtpatienten (Männer mehr als Frauen) entwickeln Tophi ▬ In den Überflussgesellschaften Prävalenz von 5 % Differenzialdiagnostik Ätiologie ▬ Plattenepithelkarzinom, Basalzellkarzinom: kleine Tumoren können zum Verwechseln ähnlich sein, sind aber eher weiter kaudal an der Helix lokalisiert ▬ Druckulkus ▬ Elastotische/kalzifizierende Ohrknötchen und Wetterknötchen: klein, nicht schmerzhaft, multipel, meist beidseits an der offenen Helixkurvatur ▬ Gichttophus (ältere Menschen) ▬ Sarkoidose: zu 40–50 % Hauterscheinungen, Multiorganerkrankung ▬ Cornu cutaneum: steht senkrecht oder gebogen auf der Haut, zylindrisch/pyramidenförmig ▬ Aktinische Keratose: meist multipel vorkommend, rundlich, hyperkeratotisch ▬ Normvariante (Darwin-Höcker): angeborene Knorpelvorsprünge, die zwar am oberen Bereich der Helix liegen, aber mehr posterior lokalisiert sind ▬ Genetische Prädisposition der Gicht mit Abhängigkeit von der Ernährung ▬ Renale Ausscheidungsstörung der Harnsäure oder – seltener – Harnsäureüberproduktion Therapie Diagnostik ▬ Spindelförmige Exzision im Gesunden unter Einschluss von Knorpelhaut und Knorpel ▬ Subkutane Abtragung der scharfen Kanten des Knorpels zu beiden Enden der Spindel hin ▬ Bestimmung des Plasmaharnsäurespiegels ▬ Exstirpation der Tophi Verlauf und Prognose Differenzialdiagnostik ▬ Selten spontane Ausheilung ▬ Nach (zu kleiner) Exzision Rezidive möglich, typischerweise an einem Ende der Narbe ▬ Rezidive häufiger an Anthelix als an Helix ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Tophi sind Zeichen der Gicht ▬ Knotenförmige Ablagerung von Harnsäurekristallen im Knorpel ▬ Ohrmuschel häufigster Ort der Tophibildung Pathogenese ▬ Primäre oder sekundäre Erhöhung der Serumharnsäurekonzentration mit Ablagerung von Harnsäurekristallen im Gelenkgewebe und im Knorpel Klinisches Bild ▬ Anfallsartiger Schmerz zunächst eines Gelenks (typisch: Großzehengrundgelenk), später auch mehrere Gelenke ▬ Im chronischen Stadium gelbliche, harte, subkutanintrakartilaginär liegende, spontan und anfallsartig schmerzende Knötchen ! Cave Wegen typischer Wundheilungsstörung keine Probeexzision Chondrodermatitis nodularis helicis chronica Basalzellkarzinom Plattenepithelkarzinom Sarkoidose 3 210 Kapitel 3 · Ohr ▬ Cornu cutaneum ▬ Aktinische Keratose ▬ Normvarianten (Darwin-Höcker) ▬ Aus geographischer Sicht: – feucht-heißes Klima: weicher Zerumentyp (mit Zerumen in Mitteleuropa identisch) – kaltes Klima: trockenes Zerumen Therapie 3 ▬ Exzision der Tophi ▬ Therapie des Anfalls mit Colchicin, Dauertherapie mit Allopurinol und Diät Ätiologie ▬ Lebenserwartung bei ausreichender Therapie nicht eingeschränkt, ansonsten aber Nierenversagen, Herzinfarkt und apoplektische Insulte ▬ Wundheilungsstörung bei unvollständiger Exzision typisch ▬ Zeruminalpfröpfe können entstehen durch: – Behinderung der Selbstreinigung des Gehörgangs durch anatomische Veränderungen – Überproduktion durch Reize, die zu einer Hyperämie führen – verminderter Sekretabfluss – Hineinschieben von Zerumen durch unzweckmäßige, instrumentelle Reinigungsversuche (Wattestäbchen) Literatur Pathogenese Ballhaus S, Mees K, Vogl T (1989) Infratemporaler Gichttophus – eine seltene Diffentialdiagnose zur primären Parotiserkrankung. Laryngo-Rhino-Otol 68: 638–641 Gries FA, Koschinsky T, Toelle M (1984) Störungen des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels. In: Siegenthaler W, Kaufmann W, Hornbostel H, Waller HD (Hrsg.) Lehrbuch der inneren Medizin. Thieme, Stuttgart New York, S. 15.5–15.8 McPartlin D, Frosh A (2004) Diseases of the external ear. Practitioneer 248: 578–585 ▬ Gehörgangshaut (knorpliger Anteil), die entsprechend der äußeren Haut strukturiert ist, bildet an ihrer Oberfläche eine Hornschicht, die regelmäßig abgestoßen und erneuert wird ▬ Abtransport der anfallenden Hautschuppen erfolgt durch eine kontinuierlich vom Trommelfellniveau in Richtung Gehörgangseingang gerichtete Wanderung der Gehörgangshaut ▬ Kleinere eingedrungene Staub- und Schmutzteilchen werden mitentfernt (Selbstreinigungsmechanismus des Ohres) ▬ Wiederholte Gehörgangsreinigungen (Wattestäbchen) → verstärkte Zerumenproduktion → Teil des Zerumens wird entfernt, anderer Teil wird nach medial bis vor das Trommelfell geschoben → Blockierung des Selbstreinigungsmechanismus; zunächst Ablagerungsrand im Gehörgang, später Retention, Eintrocknung und Verhärtung → Aufquellung des Zerumens (wenn Wasser z. B. nach dem Baden oder Duschen in den Gehörgang eintritt) → kompletter Verschluss bzw. Verlegung des Gehörgangs Verlauf und Prognose Zerumen (Ohrschmalz) – Cerumen obturans M. Reiß, G. Reiß Definition ▬ Mischung aus dem Sekret der im lateralen Gehörgang gelegenen apokrinen Schweißdrüsen (Gll. ceruminosae, Zeruminaldrüsen), dem Talg der ekkrinen Haarbalgdrüsen, abgestoßenen Hornschichten, Desquamationsmaterial und Verunreinigungen ▬ Sekret der apokrinen Drüsen bedingt die intensive Braunfärbung ▬ Funktionen: – filmartiger Zerumenüberzug des äußeren Gehörgangs hat durch bakteriostatische Wirkung eine Oberflächenschutzfunktion (Aufrechterhaltung des physiologischen Milieus im sauren Bereich; Fettsäuren, Lysozyme → Schutz vor Infektionen) – Lärmschutz (?) ▬ Cerumen obturans: Ohrschmalzpfropf (Zeruminalpfropf) Klinisches Bild ▬ Kann lange symptomlos bleiben – erst wenn Wasser eindringt, treten Beschwerden auf: – akuter Hörverlust – Ohrenschmerzen (bei harten, lange bestehenden Pfröpfen) – Druckgefühl, Juckreiz – Tinnitus Einteilung Diagnostik ▬ Nach Konsistenz (Dimorphismus des Zerumens): – weicher, feuchter, gelb-bräunlicher Typ – schuppiges, gräuliches Zerumen härterer Konsistenz ▬ Otoskopie: gelblich-braune Masse, die den Gehörgang vollständig oder teilweise verlegt und den Einblick auf das Trommelfell verhindert (Pfropf) 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs ▬ Stimmgabeltest ▬ Tonaudiometrie Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Hörsturz: unauffälliger Gehörgang Fremdkörper Otitis externa Epidermispfropf (Keratosis obturans; sehr selten) Gehörgangscholesteatom: festes, hartes, gelbliches Konglomerat aus Epidermislamellen, welches im knöchernen Gehörgang lokalisiert ist und ihn ausfüllt ▬ Durchgebrochenes Mittelohrcholesteatom Therapie ▬ Mechanische Entfernung mit Kürette und/oder Sauger ▬ Bei intaktem Trommelfell Spülung des Gehörgangs mit Ohrspritze oder Ohrspülgerät (körperwarmes Wasser; Ohrmuschel nach hinten ziehen; Spülrichtung zur hinteren Gehörgangswand), vorher evtl. Pfropf mit fettlöslichen Ohrentropfen (z. B. Cerumenex), H2O2 (4%ig) oder z. B. Tacholiquin aufweichen ! Cave Vor einer therapeutischen Ohrspülung muss anamnestisch immer eine Trommelperforation ausgeschlossen werden (ansonsten Gefahr der Keimverschleppung in das Mittelohr). ▬ Bei defektem Trommelfell Ohrschmalz mit Häkchen oder Kürette entfernen ▬ Prophylaktisches Einfetten des Gehörgangs > Wichtig Die Entfernung des Zerumens ist aus diagnostischer Sicht immer erforderlich. Literatur Browning G (2004) Wax in ear. Clin Evid 12: 730–741 Grossan M (1998) Cerumen removal-current challenges. Ear Nose Throat J 77: 541–546, 548 Guest JF, Greener MJ, Robinson AC, Smith AF (2004) Impacted cerumen: composition, production, epidemiology and management. QJM 97: 477–488 Meyer zum Gottesberge A (1995) Der Dimorphismus des Cerumens, Fakten und Theorie. Laryngorhinootologie 74: 606–610 Gehörgangsexostosen und Stenosen S. Maune Exostosen (Enostosen) Definition ▬ In der Regel beidseitig und multipel vorkommende, umschriebene Wucherungen (Neubildungen) des 211 knöchernen äußeren Gehörgangs, meist unmittelbar vor dem Trommelfell; keine echten Geschwülste, sondern reaktive Knochenwucherungen (Osteophyten) ▬ Hyperostosen: knöcherne Verdickungen und Auftreibungen der Gehörgangswand in Längsrichtung Einteilung ▬ Mediale Exostosen: breitbasig, multipel, beidseits ▬ Laterale »Exostosen«: solitär Epidemiologie ▬ Inzidenz: 3,3–6,3 % ▬ Männer erheblich häufiger betroffen als Frauen Ätiologie und Pathogenese ▬ Exostosen entstehen im Bereich der Pars tympanica bzw. des tympanalen Ringes des Os temporale (feste Verbindung zwischen dünner Gehörgangshaut und Knochen: Epidermoperiost mit osteogener Potenz) ▬ Kaltwasserreiz auf das Periost (im Gehörgang fest mit Haut verwachsen) bei regelmäßiger Wasserexposition → Stimulation des Knochenwachstums → Bildung eines lamellär geschichteten Knochens: – dicht und sklerotisch oder weich und spongiös – im Gegensatz zu Osteomen in der Regel kein von sklerotischem Knochen umgebenes, vaskularisiertes und osteoblastenreiches Bindegewebe ▬ Vor allem bei häufigem Wasserkontakt: Turmspringer, Wasserballspieler, Schwimmer, Taucher, Bademeister ▬ Beziehung zwischen Expositionsdauer, Wassertemperatur und Auftreten der Exostosen ▬ Genetische und konstitutionelle Faktoren Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Rezidivierende Gehörgangsentzündungen ▬ Nach Eindringen von Wasser Hörminderung (Schallleitungsstörung) und Tinnitus ▬ Retention von Wasser nach Schwimmen bzw. bei Zerumen ▬ Ohrgeräusche und Hörminderung auch bei Kontakt der Exostosen mit dem Trommelfell oder bei Verschluss des Gehörgangs ▬ Zum Teil symptomlos, Zufallsbefund bei Otoskopie: beiderseits wulst- oder kappenförmige, weißlich erscheinende Neubildungen, die das Trommelfell teilweise oder vollständig verlegen ▬ Hörprüfungen ▬ Bildgebung: Röntgenaufnahme nach Schüller, Computertomographie bei obturierenden Exostosen 3 212 3 Kapitel 3 · Ohr Differenzialdiagnostik Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Osteome: einseitig, solitär, am gesamten tympanalen Knochen lokalisiert ▬ Gehörgangstumor ▬ Kiefergelenkzyste ▬ Äußerlich erkennbare, ein- oder beidseitige Fehlbildungen oder Fehlen der Ohrmuschel (auch Gehörgangsatresie möglich; hochgradige Schallleitungs- oder kombinierte Schwerhörigkeit/Taubheit): Gehörgang kann trichterförmig sein oder blind enden ▬ Schwerhörigkeit (Schallleitungsschwerhörigkeit), Druckgefühl, Otorrhö ▬ Ohrmikroskopie mit sorgfältiger Reinigung ▬ Hörprüfungen ▬ Bildgebung: Röntgenaufnahme nach Schüller, »Highresolution«-Computertomographie Therapie ▬ Ziele: – Gehörgangserweiterung – Vermeidung der Gehörgangsentzündungen bzw. der Wasserretention ▬ Maßnahmen: – regelmäßige Kontrolle sowie Reinigung und Trockenhalten des eingeengten Gehörgangs – Abtragung: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Gehörgangsexostosen«); das alleinige Vorhandensein von Exostosen ohne Symptome stellt keine Operationsindikation dar > Wichtig Einengungen und Kollapsneigungen des Gehörgangs können bei der Audiometrie zu Fehlmessungen führen → Offenhalten des Gehörgangs durch Röhrchen oder Ähnliches während der Audiometrie Verlauf und Prognose ▬ Bei sachgerechter otochirurgischer Behandlung sehr gute Prognose bzw. sehr guter Verlauf (v. a. Lärmgefährdung des Innenohrs bei Exostosenoperation beachten) ▬ Bei erneuter Exposition gegenüber kaltem Wasser Rezidive möglich Stenosen Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ Otitis externa Exostosen Tumoren Fibrosierende Prozesse (idiopathisch, Otitis externa fibrinosa) Definition Therapie ▬ Einengung des häutigen, knöchern-häutigen oder knöchernen Gehörgangs ▬ Ziel: langfristige Gehörgangsrekonstruktion ▬ Maßnahmen: – konservativ: Behandlung der entzündlichen Grundkrankheit; Reinigung bei posttraumatischen bzw. knöchernen Stenosen langfristig nicht sinnvoll – otochirurgische Gehörgangserweiterungsplastik bei rezidivierender Otitis externa, Retention von Zerumen, Schallleitungsschwerhörigkeit, Verdacht auf Cholesteatom oder Fehlbildungen – häutige Stenosen: Resektion hypertropher Bindegewebestrukturen und Rekonstruktion des Defekts mit Spalthaut – knöcherne Stenosen: Abtragung wie bei Exostosen bzw. Fehlbildungen (im Rahmen der Rekonstruktion des Mittelohrs) Ätiologie ▬ Angeboren: – Kombination mit Fehlbildungen im Bereich der Ohrmuschel sowie des Mittel- und Innenohrs – monosymptomatisch familiär gehäuft auftretend – Teil verschiedener Syndrome, z. B. Klippel-FeilSyndrom, Rowley-Syndrom ▬ Erworben: – postentzündlich: chronische Otitis externa, chronische purulente Otitis media – posttraumatisch: Pfählung, Verbrennung, Verätzung/unsachgemäße Ätzungen, Kürretagen, Hörgeräte, Kiefergelenkfrakturen – postoperativ Verlauf und Prognose Pathogenese ▬ Knöcherne Einengung von außen ▬ Zirkulärer Defekt der Gehörgangshaut → Schrumpfung oder Verwachsung des häutigen Gehörgangs ▬ Chronischer Verlauf unter »Ätiologie« genannten Gehörgangserkrankungen ▬ Abhängig von den Grunderkrankungen und dem chirurgischen Erfolg ▬ Komplikationen: Abflussbehinderung von Zerumen, erschwerte instrumentelle Reinigung, rezidivierende Entzündungen, Schwerhörigkeit, ggf. chronische Otitis media/Cholesteatom hinter Stenose 213 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Literatur Sanna M, Sunose H, Mancini F, Russo A, Taibah A (2003) Middle ear and mastoid microsurgery. Thieme, Stuttgart New York Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Tos M (1997) Manual of middle ear surgery. Vol 3: Surgery of the external auditory canal. Thieme, Stuttgart New York Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York – Lymphadenosis benigna cutis – Lymphom (Non-Hodgkin-Lymphome, selten ausschließlich am Ohr) – Osteom – Merkel-Zell-Karzinom – Angiosarkom (5-Jahres-Überlebensrate: etwa 15 %) – Kaposi-Sarkom Epidemiologie 3.4.5 Tumoren und tumorähnliche Neubildungen P. Dost Allgemeine Gesichtspunkte Definition ▬ Neubildungen im Bereich der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs, bei denen klinisch zunächst nicht eindeutig ist, ob es sich um gut- oder bösartige Tumoren, um entzündliche oder lymphatische Infiltrate oder um sonstige Veränderungen mit tumornachahmendem Charakter handelt Einteilung ▬ Nach der Dignität: gutartig vs. bösartig (# Kap. 3.5.6, »Übersicht und Einteilung«, ⊡ Tab. 3.10) ▬ Nach dem Ursprungsort: Ohrmuschel-, Gehörgangs-, Mittelohrkarzinom (mit schlechter werdender Prognose) ▬ Nach dem Ursprungsgewebe: drüsige Strukturen (Adenom, Adenokarzinom, adenoid-zystisches Karzinom), Haut (Plattenepithelkarzinom häufiger im Gehörgang), Basalzellkarzinom (häufiger an der Ohrmuschel)), lymphatisches System (maligne Lymphome), Bindegewebe (Kaposi-Sarkom, Angiosarkom) – häufig: – Basalzellkarzinom – Plattenepithelkarzinom, Spindelzellkarzinom – seborrhoische Keratose (Alterswarze) – senile (aktinische) Keratose (Präkanzerose) – selten: – malignes Melanom – Adenom – Adenokarzinom (Frauen häufiger betroffen als Männer) – adenoid-zystisches Karzinom – Mukoepidermoidkarzinom – Keratoakanthom ▬ Bei Männer bevorzugt Plattenepithel- und Basalzellkarzinom sowie malignes Melanom ▬ Bei Frauen bevorzugt Adenokarzinom ▬ Im hohen Alter bervorzugt Plattenepithel- und Basalzellkarzinom ▬ Im jungen Alter bevorzugt Gehörgangsosteom ▬ Bei Kaukasiern bevorzugt malignes Melanom und Merkel-Zell-Karzinom ▬ An der Ohrmuschel bevorzugt Basalzellkarzinom und malignes Melanom ▬ Am Gehörgang bevorzugt Plattenepithelkarzinom Ätiologie ▬ Aktinische Belastung fördert Tumorbildung: malignes Melanom, Basalzellkarzinom, Plattenepithelkarzinom, Keratosis senilis ▬ Schlecht heilende Narben nach Erfrierungen oder Verbrennungen unterstützen die Bildung von Plattenepithelkarzinomen ▬ Immunsuppression prädisponiert für Kaposi-Sarkom und Plattenepithelkarzinom ▬ Familiäre Häufung: malignes Melanom Pathogenese ▬ Allgemeine Prinzipien der Entstehung maligner Tumoren nach andauernden exogenen Reizen Klinisches Bild ▬ Gut- und bösartige Tumoren des äußeren Ohres bieten ein sehr variables Bild ▬ Ulzerationen eher typisch für maligne Tumoren; Ausnahme: sehr aggressives Merkel-Zell-Karzinom wuchert unter intaktem Epithel ▬ Rasches, schmerzloses Wachstum eher typisch für bösartige Tumoren ▬ Aktinisch geschädigte Haut mit unregelmäßiger Pigmentierung und Präkanzerosen (Keratosis senilis) verbirgt nicht selten Malignome ▬ Schmerzlose, persistierende, einseitige Lymphknotenschwellung typisch für Metastasen ▬ Beiderseitige, multilokuläre, schmerzlose Lymphknotenschwellung mit scheinbar auf Antibiotikathe- 3 214 3 Kapitel 3 · Ohr rapie reagierender Größe typisch für maligne Lymphome ▬ Klinische Abgrenzung des malignen Melanoms vom pigmentierten Nävus manchmal mittels ABCD-Regel möglich: Asymmetrie der Zirkumferenz, unregelmäßige Begrenzung, variantenreiche K(C)olorierung, Änderung des Durchmessers oder Durchmesser von >6 mm; malignes Melanom gelegentlich blutend oder juckend ▬ Gesichtsnervenlähmung als Hinweis für fortgeschrittenes Karzinom des Gehörgangs ▬ Osteome im Gegensatz zu Exostosen meist einseitig, schmalbasig und solitär Diagnostik ▬ Probeexzision: histologische Klassifizierung ▬ Schichtbildgebung (Computer-, Magnetresonanztomographie): Abschätzung der Felsenbeininfiltration ▬ Sonographie des Lymphabflussgebiets inklusive Gl. parotidea ▬ Audiologie, klinische Gleichgewichtsuntersuchung ▬ Klinische Diagnostik der Funktion des N. facialis Differenzialdiagnostik ▬ Ohrmuschel: Chondrodermatitis nodularis helicis chronica, Ekzem, Mykose, Granuloma pyogenicum, Fibrom, Nävus, Fibroxanthome, Dermoidzyste, Hämangiome, akzessorischer Knorpel, Keloid, Atherom ▬ Gehörgang: prolabierender Mittelohrpolyp, aseptische Gehörgangsnekrose, Otitis externa maligna (alte Diabetiker, Pseudomonasinfektion, Schmerzen), Gehörgangscholesteatom, chronische Otitis externa, Exostose (multilokulär, breitbasig, beiderseitig, ältere Patienten), Keratosis obturans Therapie ▬ Ohrmuschel: – Exzision kleiner Tumoren (Durchmesser von <1 cm) mit einem Abstand von 3–6 mm, ggf. unter Erhalt des Perichondriums; evtl. intendierte Sekundärheilung – größere Tumoren bzw. Tumoren, die das Organ nach vorne oder hinten penetrieren: radikale Tumorchirurgie, selten Ablatio – nach Resektion der Knorpelhaut oder des Knorpels 2-zeitige (nach Vorliegen des histologischen Nachweises der kompletten Exzision) Rekonstruktion des Defekts – plastische Verfahren: Verschiebe- oder Insellappen, Ohrmuschelverkleinerung nach Keilexzision, Epithese, sehr selten Ohrmuschelaufbau – sehr radikales Vorgehen mit großzügiger Bildung breiter Resektionsränder beim Merkel-Zell- und beim adenoid-zystischen Karzinom notwendig – Lymphknotendissektion bei klinischen oder bildgebenden Hinweisen auf Lymphknotenvergrößerung, dann evtl. auch Parotidektomie; Resektion des N. facialis nur bei Hinweis auf Nerveninfiltration – adjuvante, perkutane Strahlentherapie nach histologischem Nachweis eines Lymphknotenbefalls, eines perineuralen Wachstums (adenoid-zystisches Karzinom) oder einer Parotisinfiltration; primäre Bestrahlung zumeist nicht indiziert ▬ Gehörgang: – Tumoren dieser Lokalisation werden in der Ausdehnung präoperativ oft unterschätzt – Exzision des häutigen Gehörgangs und des Trommelfells mit Blindverschluss des äußeren Gehörgangs nur selten und dann bei sehr begrenzten Karzinomen möglich; dann auch keine adjuvante Bestrahlung sinnvoll – bei mittelgradig ausgedehnten und ausgedehnten Karzinomen Entfernung des häutigen, knorpeligen und knöchernen Gehörgangs, evtl. unter Einschluss des Kiefergelenks und der Gl. parotidea; radikale Mastoidektomie, evtl. mit Fazialisresektion und »neck dissection«; adjuvante perkutane Bestrahlung – primäre Bestrahlung nur bei palliativer Situation indiziert Verlauf und Prognose ▬ Schlechtere Prognose der Ohrmuschelkarzinome nach Infiltration der Ohrmuschelumgebung (Parotis, Galea, Gehörgang); 5-Jahres-Überlebensquoten: – kleine, das Perichondrium nicht infiltriende Karzinome: etwa 90 % – Tumoren mit Knorpelinfiltration: <50 % – metastasierte Tumoren: ungefähr 15 % ▬ Gehörgangskarzinomen mit radikaler Operation und adjuvanter Bestrahlung: 5-Jahres-Überlebensquote von etwa 25 %; bei alleiniger Bestrahlung der Gehörgangskarzinome oft lebenslang sezernierende Nekrosen ▬ Malignes Melanom: abhängig vom Typ (schlechter werdend: Lentigo-maligna-Melanom, superfiziell spreitendes Melanom, noduläres Melanom), von der Tumordicke (schlecht bei Breslow-Index von >1 mm), vom Bestehen von Ulzerationen und vom Lymphknotenstatus; bei Fernmetastasierung (Hirn, Leber, Lunge, Peritoneum) äußerst schlechte Prognose ▬ Merkel-Zell-Karzinom, Sarkome: schlechte Prognose 215 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs Spezielle Tumoren Gutartige und tumorähnliche Veränderungen Seborrhoische Keratose ▬ Synonym: seborrhoische Warze (Alterswarze) ▬ Gutartige epitheliale Proliferation, die solitär oder multipel auftreten kann ▬ Selten vor dem 4. Lebensjahrzehnt; Häufigkeitsgipfel: 60–80 Jahre ▬ Klinisch 2 Maximalvarianten: – scharf und meist unregelmäßig begrenzte Papel im Hautniveau – exophytisch bis kalottenförmige Papel mit in die Oberfläche eingelassenen Hornperlen ▬ Histologie: 6 Typen (akanthotischer Typ am häufigsten) ▬ Therapie: Entfernung mit scharfem Löffel Keratoakanthom (Molluscum sebaceum) ▬ Rasch wachsende spinozelluläre Geschwulst, oft an der Helix ▬ Hautfarbene bis rötliche Papel ▬ Spontane Rückbildung innerhalb von einem halben bis 1 Jahr möglich ▬ Histologie: zentraler Hornkrater in einer sich kugelförmig unter die überlappende Epidermis schiebenden akanthotischen Geschwulst ▬ 2 klinische Formen: solitär, multipel ▬ Therapie: Exzision im Gesunden Hämangiom ▬ Gutartige Gefäßneubildung an der Haut, auch an Ohrmuschel, Mittelohr oder Felsenbein sowie selten isoliert im Gehörgang ▬ Häufigster Tumor der Kindheit; besteht bereits bei der Geburt (30 %) oder tritt in den ersten Lebenstagen auf ▬ Solitär, unterschiedliche Größe ▬ Tendenz zu spontaner Rückbildung ▬ Therapie: Kryotherapie, Lasertherapie, Exzision, Sklerosierung, systemische Glukokortikoidtherapie Histiozytom (Fibroxanthom) ▬ Bindegewebeneubildung, kommt am Ohr nur selten vor ▬ Solitäre, 0,3–1,5 cm große, bräunliche, sehr derbe Papel ▬ Therapie: Exzision (wenn störend) Fibrom ▬ Knotige Vermehrung des Bindegewebes (Dermatofibrom, Fibroma molle) ▬ Weicher bis derber, meist kugeliger, hautfarbener Knoten im Bereich der Kutis des Ohrläppchens ▬ Therapie: Exzision in toto (wenn kosmetisch störend) Nävoide Veränderungen ▬ Nävuszellnävi: – umschriebene Anhäufung von Nävuszellen bzw. Melanozyten – teils flache, teils papulöse, hell- bis dunkelbräunliche, teils gesprenkelte, pigmentierte, weiche Papeln – Therapie: Beobachtung, bei Veränderung Exzision ▬ Naevus flammeus: – angeborene Erweiterung der Kapillaren, selten im Bereich des Ohres bzw. auf dieses übergreifend (meist als Phakomatose) – großflächige im Hautniveau liegende, hell- oder blaurote, scharf umschriebene Flecken – keine Tendenz zur spontanen Rückbildung – Therapie: Lasertherapie Zylindrom (Spiegler-, Turbantumor) ▬ Hamartome ekkriner Schweißdrüsen ! Cave Nicht zu verwechseln mit adenoid-zystischem Karzinom ▬ Familiäres Vorkommen (autosomal, irregulär dominant) ▬ Selten solitär, meist multipel ▬ Kugelige, hautfarbene bis rote, haarfreie Papeln ▬ Therapie: Exzision und plastische Deckung größerer Tumoren, wenn kosmetisch störend Zeruminom ▬ Synonyme: Zeruminaldrüsenadenom, Hydradenom, apokrines Schweißdrüsenadenom ▬ Tumor der zerumensezernierenden apokrinen Drüsen des äußeren Gehörgangs ▬ Vorwiegend bei Männern im 5.–6. Lebensjahrzehnt ▬ Histologisch nicht von anderen Schweißdrüsentumoren anderer Lokalisation zu unterscheiden ▬ Schwerhörigkeit und selten Otorrhö, langsam wachsende Masse im äußeren Gehörgang ▬ Therapie: komplette Entfernung (sonst Rezidive möglich) Neurofibrom ▬ Bestandteil von des Morbus Recklinghausen (Synonym: Neurofibromatose; autosomal-dominant vererbte Krankheit mit unterschiedlicher Penetranz) ▬ N. statoacusticus und andere Hirnnerven können befallen sein, zum Teil mit entsprechenden Funktionsausfällen 3 216 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ An Ohrmuschel und äußerem Gehörgang klinisch Neurofibrome und »Café-au-lait«-Flecken (Typ I: Haut- und Nervenbefall; Typ II: symmetrischer Befall von Nerven) ▬ Verlauf: Progredienz im weiteren Verlauf, selten maligne Entartung ▬ Therapie: Exzision störender Neurofibrome, prophylaktische Tumorsuche (Magnetresonanztomographie), ggf. Ohrmuschelverkleinerung und Gehörgangserweiterung bei Vergrößerung der Ohrmuschel Zysten ▬ Epidermiszyste (Epidermoidzyste, Atherom, Retentionszyste, Talgzyste): – von Haarfollikeln ausgehende, mehrere Millimeter bis 2 cm große, kugelige, prallelastische, hautfarbene Zysten, die langsam wachsen – Wand mit verhornendem Plattenepithel ausgekleidet – intradermal oder dermal-subkutan gelegene, kugelrunde, pralle Geschwulst; bei Entzündung schmerzhaft und mit Hautrötung einhergehend – Therapie: komplette Entfernung der Zyste mit primären Verschluss der Haut ▬ Trichilemmalzysten (Haarzysten): nur im Tragusbereich vorkommend; Therapie: komplette Entfernung ▬ Milien: Zysten aus verhornendem Epithel; 0,5–1 mm große, weißgelbliche, derbe, kugelige Papeln Keloid (Griechich für »Krebsschere«) ▬ Spontan, nach Trauma oder iatrogen (Piercing, Otoplastik) auftretende, bindegewebige, über das Hautniveau ragende Geschwulst, die über die eigentliche Narbe hinaus in gesundes Gewebe wächst ▬ Genaue Ursache nicht bekannt, jedoch Nachweis vermehrter Wachstumsfaktoren; familiäre Komponente; Prädilektion der Keloidbildung z. B. bei der schwarzen Rasse ▬ Prädilektionsorte: Ohren, Gesicht, Hals, oberer Rumpf, proximale Extremitäten ▬ Anfangs ähnelt Keloid einer hypertrophen Narbe: rote, derbe, papulöse Effloreszenz bzw. Narbe mit glatter Oberfläche (spontane Rückbildung der hypertrophen Narbe innerhalb von einem halben bis 1 Jahr) → schrittweise Ausbreitung des Keloids; hypertrophe Narben reichen nicht über ursprüngliche Verletzung hinaus ▬ Therapie (schwierig, da Rezidivgefahr) nach Stufenschema: – zunächst Silikongelverbände (für 3 Monate) – später intraläsionale Injektion von Glukokortikoiden (Kristallsuspension)/Druckverband (zu 50 % Rezidive) – Exzision (# Kap. 21.5.1, »Fehlformen nach chirurgischen Eingriffen« → »Behandlung von Keloiden«), ggf. Kryotherapie oder Laserbehandlung mittels CO2- oder Neodym:YAG-Laser – bei älteren Keloiden konservative Therapie nicht sinnvoll Lymphadenosis benigna cutis ▬ Gehört zur Gruppe der Pseudolymphome (kann schwierig oder kaum vom Lymphom unterschieden werden) ▬ Kutane Reaktion auf Borrelia-burgdorferi-Infektion (Erythema migrans → Acrodermatitis chronica atrophicans → Lymphadenosis benigna cutis), Insektenstich, Akupunktur oder Tätowierung ▬ Prädilektionsstelle: Ohrläppchen ▬ Kirschgroßer, rötlich-livider, derber Knoten, welcher das Ohrläppchen durchsetzt ▬ Diagnostik: ggf. Histologie, serologisch (Immunglobuline M und G) ▬ Therapie: Cephalosporin über 10–14 Tage, topisch Glukokortikoide (bei nicht durch Borrelien bedingter Lymphadenose) ▬ Übergang in Lymphom möglich Präkanzerosen ▬ Histologisch und pathogenetisch werden sie als präinvasive Erkrankungen oder als Carcinoma in situ klassifiziert ▬ Typen an der Haut: aktinische Keratose, Röntgenkeratose, Arsenkeratose, Teerkeratose, Morbus Bowen, Erythroplasie Queyrat Aktinische Keratose Einteilung ▬ Erythematöser Typ: entspricht initialen Verände- ▬ ▬ ▬ ▬ rungen; runde oder ovale, auch unregelmäßige, stets scharf begrenzte Herde, die gerötet und auch von Teleangiektasien durchzogen sind; palpatorisch raue Oberfläche; zunächst nur wenige Millimeter groß, wachsen jedoch bis zu einem Durchmesser von 1–2 cm; Blutungsneigung nach kleinen Verletzungen Keratotischer Typ: mit der Zeit wird Hyperkeratose ausgeprägter → gelbliche, schmutzigbraune oder grauschwarze und hart verdickte Keratose; im Randgebiet schmaler entzündlicher Randsaum Cornu-cutaneum-Typ: Hornauflagerungen ragen kegelförmig senkrecht aus der Haut Lichen-ruber-artige aktinische Keratose: kommt am Ohr nicht vor Pigmetierte aktinische Keratose: keratotische, bräunliche Herde; raue Oberfläche bei Abgrenzung 3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs gegenüber pigmentierten Verrucae seborrhoicae seniles hilfreich (auch Differenzialdiagnose zum Lentigomaligna-Melanom) Epidemiologie ▬ Kommt v. a. bei hellhäutigen Menschen vor, die leicht Sonnenbrand bekommen und kaum braun werden ▬ Überwiegend Männer betroffen ▬ Inzidenz in Europa steigend ▬ Prävalenz: bei über 70-Jährigen fast 100 % Klinisches Bild und Diagnostik ▬ An Ohrmuschel v. a. Helix betroffen (vgl. »Einteilung«) Differenzialdiagnostik ▬ Verruca seborrhoica: sitzt breitbasig auf, zeigt häufig eine gepunzte Oberfläche und bleibt meist ohne entzündliche Erscheinungen (Histologie) Therapie ▬ Chirurgisch; kleine, flache Keratosen können durch Kürretage mit scharfem Löffel oder mittels Laser entfernt werden (Histologie) Cornu cutaneum (Hauthorn) ▬ Exophytische, einem Horn ähnelnde Präkanzerose der Haut, v. a. am freien Rand der Ohrmuschel ▬ Klinische Diagnose ▬ Meist doppelt so hoch wie breit, an der Basis ggf. Entzündungshof ▬ Therapie: Exzision (Histologie) Lentigo maligna (Melanosis circumscripta praecancerosa) ▬ Präkanzerose v. a. auf der Altershaut ▬ Proliferation atypischer Melanozyten ▬ Kann in Lentigo-maligna-Melanom übergehen (# Kap. 5.4.6) ▬ Bräunlich-schwärzliche, teilweise etwas verwaschen wirkende, unterschiedlich stark pigmentierte Hautveränderungen mit fließender Grenze zur Peripherie Bösartige Tumoren Basalzellkarzinom ▬ Synonyme: Basaliom, Epithelioma basocellulare ▬ Häufigster, langsam lokal infiltrierend und destruierend wachsender Tumor; in der Regel keine Metastasierung (nur 0,003–0,1 % aller Basalzellkarzinome metastasieren, v. a. große, ulzerierte, tief infiltrierende Tumoren) ▬ Einteilung, Ätiologie und Histologie: # Kap. 5.4.6 ▬ An Ohrmuschel v. a. nodulärer Typ: derbe, kalottenförmig aus der Haut aufragende, hautfarbene, rötliche 217 Geschwulst mit glasig durchscheinender Oberfläche; einziehende Teleangiektasien, zum Teil im Zentrum aufsitzende Schuppenkruste ▬ Therapie: Exzision (ggf. Keilexzision) mit ausreichendem seitlichen Sicherheitsabstand (3–10 mm); bei Tumoren mit einer Größe von >5 mm am besten mikrographisch kontrollierte chirurgische Techniken Spinozelluläres Karzinom ▬ # Kap. 5.4.6 (»Plattenepithelkarzinom«) ▬ Histologische Variante des Plattenepithelkarzinoms, ausgehend von den Zellen des Stratum spinosum mit primärer lymphogener Metastasierung ▬ Analog zum malignen Melanom wird die Tumordicke in Millimetern angegeben → Prognose hängt wesentlich von der Tiefenausdehnung ab ▬ Ohrmuschel 10- bis 30-mal häufiger betroffen als Gehörgang ▬ 0,5–1 cm große, derbe, flache, hautfarbene bis graue Papel mit fest haftender Hyperkeratose; exo- oder endophytisches Wachstum → Infiltration von Knorpel oder Knochen → initial lymphogene, später auch hämatogene Metastasierung (0,1–4 %) ▬ Therapie und Prognose: s. oben, »Allgemeine Gesichtspunkte« Malignes Melanom ▬ Gehört zu den bösartigsten Tumoren der Haut und der Schleimhaut ▬ Gefährlichkeit des Tumors nicht so sehr durch örtliche Aggressivität, sondern v. a. aufgrund der ausgeprägten und oft frühzeitigen Neigung zur lymphogenen und/oder hämatogenen Metastasierung mit potenziell letalem Ausgang ▬ 12–19 % der malignen Melanome des Kopf-Hals-Bereichs sind am Ohr lokalisiert ▬ Diagnostik: klinisch mittels ABCD-Regel (s. oben, »Allgemeine Gesichtspunkte«) ▬ Therapie: – Exzision (lupenoptisch/operationsmikroskopisch) im Gesunden; in Abhängigkeit von der histologisch gesicherten Tumordicke (>1 mm) Nachresektion bis zur Ablatio auris (in Ausnahmefällen) – Stellenwert der »neck dissection« wird kontrovers diskutiert – keine palpablen Lymphknoten, bei Bildgebung keine vergrößerten Lymphknoten (<1 cm): Überlebenswahrscheinlichkeit durch prophylaktische »neck dissection« nicht wesentlich verbessert – palpable Lymphknoten oder bei Bildgebung wahrscheinlich tumorbefallenen Lymphknoten: 3 218 Kapitel 3 · Ohr selektive »neck dissection« mit lateraler oder totaler Parotidektomie – adjuvante Therapie: # Kap. 5.4.6 Merkel-Zell-Karzinom 3 ▬ Synonyme: neuroendokrines Karzinom, trabekuläres Karzinom ▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen ▬ Mortalität: 50 % ▬ Klinisches Bild: # Kap. 5.4.6 (»Malignes Melanom«) ▬ Prognose meist infaust; nur bei kleinen, oberflächlichen Knoten nach ausreichender Exzision Aussicht auf Heilung; bei größeren, die Subkutis miterfassenden Tumoren im 1. Jahr Rezidive oder Lymphknotenmetastasen (etwa 50 %) ▬ Therapie: ausgedehnte Resektion notwendig (2–3 cm; oft nicht möglich), dennoch schlechte Prognose; Indikation zur prophylaktischen Lymphknotendissektion, zur Bestrahlung und zur Chemotherapie bislang unklar (keine signifikante Verbesserung) Metastasen ▬ Metastasen anderer Organe als der Haut sind im Ohrbereich sehr selten Literatur Devaney KO, Boschman CR, Willard SC, Ferlito A, Rinaldo A (2005) Tumors of the external ear and temporal bone. Lancet Oncol 6: 411–420 Dost P, Lehnerdt G, Kling R, Wagner SN (2004) Zur chirurgischen Therapie des malignen Melanoms der Ohrmuschel. HNO 52: 33–37 Rinaldo A, Devaney K, Ferlito A (2005) Merkel cell carcinoma of the auricle. Acta Oto-Laryngol 125: 125–129 Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York 3.5 Erkrankungen des Mittelohrs 3.5.1 Anomalien und Fehlbildungen S. Mattheis, R. Siegert Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems Einteilung ▬ Prinzipiell: – kleine Mittelohrfehlbildung: auf Strukturen der Paukenhöhle beschränkt; betrifft meist die Ossikel: partielles Fehlen oder Verklumpung – große Mittelohrfehlbildung: zusätzlich Außenohr betroffen, z. B. Gehörgangsstenose; häufig bei Pa- tienten mit Franceschetti-, Crouzon- oder Goldenhar-Syndrom ▬ 3 Schweregrade nach Kösling: – leichte Formen: Gehörknöchelchendysplasie bei normal dimensionierter Paukenhöhle – mittlere Formen: hypoplastische Paukenhöhle mit rudimentären oder aplastischen Gehörknöchelchen – schwere Formen: aplastische oder spaltförmige Paukenhöhle; in bis zu 40 % der Fälle mit Innenohrfehlbildungen kombiniert Epidemiologie ▬ Inzidenz von Mittelohrfehlbildungen: keine genauen Daten ▬ Inzidenz der Atresia auris congenita (Kombination aus Mittelohrfehlbildung und Fehlbildung des äußeren Ohres): etwa 1/10.000 Ätiologie ▬ Genetisch bedingt oder erworben ▬ Genetisch bedingte Fehlbildungen können isoliert oder im Rahmen von Syndromen auftreten; spontane Mutationen sind häufig ▬ Nichtgenetisch bedingte Fehlbildungen des Mittelohrs entstehen durch schädigende Einflüsse während der Schwangerschaft; häufigste Ursache: Virusinfektionen (Röteln) ▬ Weitere Ursachen: Thalidomid, hohe Vitamin-A-Dosen Klinisches Bild ▬ Bei den leichten Formen finden sich häufig isolierte Fehlbildungen einzelner Ossikel ▬ Malleus selten isoliert betroffen; häufig verschmolzener Malleus-Inkus-Komplex mit dysplastischem Inkus, noch häufiger Fehlartikulationen zwischen Inkus und Stapes mit bindegewebiger Umwandlung des langen Inkusfortsatzes und Dysplasie der Stapessuprastrukturen ▬ Schwerere Formen: Paukenhöhle hypoplastisch, Strukturen der Paukenhöhle nur rudimentär oder gar nicht vorhanden, Fenster zum Innenohr können verschlossen sein Diagnostik ▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins ▬ Nach Siegert, Weerda und Mayer kann durch Beurteilung der vorhandenen Mittelohrstrukturen ein Punkte-Score mit max. 28 Punkten ermittelt werden, der eine prognostische Grundlage für die Ergebnisse einer chirurgischen Mittelohrrekonstruktion darstellt; 219 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs beurteilt werden: äußerer Gehörgang, Mastoidbelüftung, Paukengröße, Paukenbelüftung, N. facialis, Gefäßverläufe, Hammer und Amboss, Stapes, ovales und rundes Fenster: – 4: z. B. normaler Stapes – 2: z. B. normaler äußerer Gehörgang – 1: z. B. dysplastischer Inkus-Malleus-Komplex – 0: z. B. knöcherne Atresie oder verschossenes ovales Fenster Differenzialdiagnostik ▬ Fehlbildungssyndrome, die mit einer Ohrfehlbildung assoziiert sind ▬ Otosklerose, Ambossluxation, Stapesfraktur, Hammerkopffixation (bei leichten Formen der Mittelohrfehlbildungen) ▬ Audiometrie ▬ Computertomographie des Felsenbeins: Pneumatisation des Mastoids meist gut ausgebildet Differenzialdiagnostik ▬ Chronische Otitis media ▬ Erworbene Cholesteatome Therapie ▬ Ziele: – Entfernung des versprengten Keimgewebes – audiologische Rehabilitation ▬ Maßnahme: Tympanoplastik mit Resektion des versprengten Keimgewebes und Rekonstruktion von Trommelfell und Gehörknöchelchenkette Therapie Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen ▬ Ziel: audiologische Rehabilitation, v. a. bei beidseitiger Fehlbildung ▬ Maßnahmen: – bei Schallleitungs- oder kombinierter Schwerhörigkeit Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten im Säuglingsalter – ab dem 3. Lebensjahr Implantation knochenverankerter Hörgeräte – bei leichten Formen Versuch der Tympanoplastik mit Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette – bei Atresia auris congenita und günstigen anatomischen Verhältnissen 3-zeitiger Mittelohraufbau in Verbindung mit einer Gehörgangskonstruktion aus Rippenknorpel und Haut (# Kap. 3.4.1, »Dysplasien vom Schweregrad III«) ▬ Franceschetti-Syndrom (Dysostosis mandibulofacialis): # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) ▬ Morbus Crouzon (kraniofaziale Dysostose): # Kap. 2.1.4 (»Kraniofaziale Syndrome«) ▬ Albers-Schönberg-Syndrom: progrediente, kombinierte Schwerhörigkeit, zunehmende Fazialisparese, zunehmender Visusverlust, fortschreitende Osteosklerose aller Knochen ▬ Marfan-Syndrom: ein- oder beidseitige Mittelohrschwerhörigkeit, kombinierte Schwerhörigkeit oder reine Innenohrschwerhörigkeit, Arachnodaktylie, Ectopia lentis, Herz- und Lungenfehlbildungen, Augenmuskelparesen, Schluckparesen ▬ Paget-Syndrom (Ostitis deformans): ein- oder beidseitige Mittelohrschwerhörigkeit, kombinierte oder reine Innenohrschwerhörigkeit, fehlbildende Osteitis (v. a. Felsenbein und Schädelbasis, aber auch andere Knochen, z. B. untere Extremitäten) ▬ Townes-Brocks-Syndrom: ein- oder beidseitige Innenohrschwerhörigkeit oder kombinierte Schwerhörigkeit, Ohrfehlbildungen (Satyr-Ohren, präaurikuläre Fisteln und Anhängsel, ggf. Gehörknöchelchenfehlbildungen), Gesichts-(Mandibula-)Hypoplasie, LippenKiefer-Gaumenspalte, Handfehlbildungen (Polydaktylie, Daumenagenesie), Nierenfehlbildungen (renale Hypoplasie, Ureterabgangsstenose), Skelettanomalien (fehlende/hypoplastische Zehen, Hallux valgus) ▬ Van-der-Hoeve-de-Kleyn-Syndrom (Osteogenesis imperfecta): langsam progrediente, meist kombinierte Schwerhörigkeit durch Stapesankylose, blaue Skleren, Knochenbrüchigkeit, Zahnanomalien ▬ Wildervanck-Syndrom: hochgradige Mittelohrschwerhörigkeit, oft Innenohrschwerhörigkeit, Gehörgangsat- Mittelohrfehlbildungen infolge von Keimversprengungen Einteilung ▬ Kongenitale Epidermoide (kongenitale Cholesteatome) ▬ Kongenitale Dermoide (mit Hautanhangsgebilden) Klinisches Bild ▬ Gegebenenfalls Symptome einer chronischen Otitis media (# Kap. 3.5.4), jedoch keine rezidivierende Otorrhö, aber Schallleitungsschwerhörigkeit ▬ In Kindheit aufgrund des langsamen Wachstums oft symptomlos Diagnostik ▬ Ohrmikroskopie: Trommelfell intakt, ggf. dahinter Cholesteatomperle sichtbar 3 220 3 Kapitel 3 · Ohr resie oder Mittelohrfehlbildungen unterschiedlichen Ausmaßes, meist beidseitige vestibuläre Untererregbarkeit, Halswirbelfusion, Abduzenslähmung, eingesunkener Bulbus, selten Gaumenspalte, Mikrogenie, Mikrognathie ▬ CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom): # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) ▬ Möbius-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) u. 4.3.4 Mittelohrfehlbildungen bei Atresia auris congenita – bei günstigen anatomischen Verhältnissen 3-zeitiger Mittelohraufbau mit Gehörgangskonstruktion aus Rippenknorpel und Haut (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Mikrotie« → »Mehrzeitiger Ohrmuschel- und Mittelohraufbau mit Rippenknorpel«) – komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut – alternativ Ohrmuschelaufbauplastik unter Verwendung von alloplastischen Ohrmuschelgerüsten (Medpor) – Alternative zur Ohrmuschelaufbauplastik: knochenverankerte Epithese Definition und klinisches Bild Literatur ▬ Mittelohrfehlbildung unterschiedlicher Ausprägung im Rahmen einer Atresia auris congenita ▬ Keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel vorhanden: vollständiges Fehlen der Ohrmuschel oder Vorhandensein von Rudimenten (häufig dystop) im Sinne einer Mikrotie vom Lobulustyp ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit von >50 dB HL (»hearing level«) ▬ Gelegentlich mit Innenohrfehlbildung und Schallempfindungsschwerhörigkeit verbunden ▬ Zur Rekonstruktion werden Haut und Knorpel oder alloplastische Materialien benötigt ▬ Gehörgang atretisch oder hochgradig stenotisch (Typ B oder C nach Weerda) ▬ Variable Fehlbildung im Bereich der Paukenhöhle und der Gehörknöchelchenkette Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95 Jahrsdoerfer RA, Yeakley JW, Aguilar EA, Cole RR, Gray LC (1992) Grading system for the selection of patients with congenital aural atresia. Am J Otol 13: 6–12 Kösling S, Schneider-Möbius C, König E, Meister EF (1997) Computertomographie bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf eine Felsenbeinmissbildung. Radiologe 37: 971–976 Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Siegert R, Weerda H, Mayer T, Brückmann H (1996) Hochauflösende Computertomographie fehlgebildeter Mittelohren. Laryngorhinootologie 75: 187–194 Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Epidemiologie ▬ Inzidenz der Atresia auris congenita: etwa 1/10.000 Ätiologie ▬ Genetisch bedingt oder erworben 3.5.2 Verletzungen des Mittelohrs C. Klingmann, P.K. Plinkert Diagnostik ▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins ▬ Prognostische Grundlage für die Ergebnisse einer chirurgischen Mittelohrrekonstruktion (s. oben, »Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems«) Therapie ▬ Ziel: ästhetische und audiologische Rehabilitation der Patienten ▬ Maßnahmen: – bei Schallleitungs- oder kombinierter Schwerhörigkeit: s. oben, »Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems« Barotrauma Definition ▬ Synonyme: Aero-Otitis media, Baro-Otitis media ▬ Akute, ein- oder beidseitige, indirekte Verletzung im Bereich des Mittelohrs als Folge einer Differenz zwischen dem Mittelohrdruck und dem auf den Körper einwirkenden Umgebungsdruck Einteilung ▬ Barotrauma des Mittelohrs des – Abstiegs (90 %) – Aufstiegs (10 %) 221 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Nach Beteiligung von Trommelfell und Pauke (Stadieneinteilung): – subjektive Beschwerden bei unauffälligem otoskopischen Befund – Rötung im Bereich des Hammergriffs oder petechiale Blutungen innerhalb des Trommelfells – flächenhafte Einblutungen in das Trommelfell – seröse oder blutige Flüssigkeit in der Pauke (Hämatotympanon) – Trommelfellperforation Unterdruck blockierte Ohrtube Epidemiologie ▬ Etwa 10 % aller Taucher geben ein Barotrauma des Mittelohrs in der Vorgeschichte an ▬ Auch bei Flugreisen, Berg-, Gondel- und Druckkammerfahrten (v. a. bei gleichzeitigem rhinogenen Infekt → mangelnde Tubenbelüftung), dabei selten Verletzung des Trommelfells (etwa 20 % aller Barotraumen des Mittelohrs) ▬ Vorkommen in jedem Lebensalter ⊡ Abb. 3.16. Barotrauma: Beim Abtauchen kommt es zu einer Drucksteigerung in der Umgebung und in den flüssigkeitsgefüllten Räumen des Körpers. Ist die Ohrtrompete blockiert, entsteht ein Unterdruck im Mittelohr, der zu dessen Verletzung führt. Pfeile Unterdruck; Striche blockierte Tube. (Modifiziert nach »Moderne Tauchmedizin«, Klingmann/Tetzlaff, Gentner Verlag) Ätiologie und Pathogenese ▬ Am häufigsten während des Abtauchens: Druck- und Volumenänderungen in luftgefüllten Hohlräumen nach dem Gasgesetz von Boyle-Mariotte ▬ Beim Abtauchen, während des Flugzeuglandeanflugs und bei Talfahrten: Umgebungsdruck steigt → über Gehörgang und Kalotte Übertragung auf das Mittelohr → das sich proportional dem Druckanstieg verkleinernde Gasvolumen des Mittelohrs muss über die Eustachi-Röhre aktiv ausgeglichen werden (Einwärtsbewegung des Trommelfells nur bedingt möglich → Unterdruck) → der Taucher oder Fluggast unterlässt die Durchführung des Druckausgleichs (zu schnelles Abtauchen) oder die Tubenfunktion ist aufgrund akuter oder chronischer Schleimhautschwellungen eingeschränkt → Volumenverkleinerung des Mittelohrs → Schleimhautödem, Exsudation/Einblutung in Trommelfell und Pauke, Trommelfellruptur (abhängig vom Druckgradienten und von der Stabilität des Trommelfells; ⊡ Abb. 3.16) ▬ Beim Auftauchen, während des Flugzeugsteigflugs und bei Bergfahrten: Ausdehnung der Luft im Mittelohr → Luft strömt passiv über die Ohrtrompete ab – Eustachi-Röhre aufgrund einer Schleimhautschwellung blockiert (z. B. als Folge der nachlassenden Wirkung abschwellender Nasentropfen oder durch das mehrstündige Einwirken der trockenen, reizenden, klimatisierten Luft im Flugzeug) → Ausdehnung der Luft im Mittelohr → relativer Überdruck bzw. Volumenvergrößerung → Überdehnung des Trommelfells in Richtung Gehörgang mit Reizung der Schmerzrezeptoren, Einblutung in das Trommelfell und Druckbildung im Mastoid – Druck im Mittelohr übersteigt den Verschlussdruck der Eustachi-Röhre → Luft strömt aus dem Mittelohr über den physiologischen Weg ab; gelingt dies nicht, kommt es ggf. zu einer Trommelfellruptur (notwendiger Tubenöffnungsdruck übersteigt Stabilität des Trommelfells) Klinisches Bild ▬ Otalgie, Druckgefühl im Ohr, »schmatzendes Geräusch« (Paukenerguss) ▬ Blutung aus dem Gehörgang ▬ Durchblasegeräusch während des Valsalva-Manövers ▬ Hörminderung bis zur Taubheit ▬ Vertigo, Tinnitus ▬ Bei Komplikationen: ausgeprägte Zephalgie, Hirndruckzeichen > Wichtig Vertigo kann Symptom einer Ruptur der Mittelohrfenster mit Perilymphfistel sein. Diagnostik ▬ Anamnese: typisches Auftreten der Beschwerden während des Auf- oder Abtauchens bzw. während des Steig- oder Landeanflugs wegweisend 3 222 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Mikroskopische Otoskopie: retrahiertes Trommelfell, Rötung und Einblutung des Trommelfells, Paukenerguss, Hämatotympanon, Trommelfellruptur; Ausschluss einer Otitis externa ▬ Stimmgabelversuch (nach Weber/Rinne): Schallleitungsstörung/kochleären Beteiligung ▬ Tympanometrie: flacher Kurvenverlauf (Paukenerguss), kein Druckaufbau bei Trommelfellruptur (zurückhaltend indizieren, da bei frischem Barotrauma und fehlender Perforation schmerzhaft) ▬ Tonaudiometrie: Schallleitungsschwerhörigkeit, Ausschluss einer kochleären Beteiligung (Barotrauma des Innenohrs: # Kap. 3.6.2) ▬ Frenzel-Brille: Ausschluss von Spontannystagmen ▬ Vestibularisprüfung (Videonystagmographie: Luftkalorisation) ▬ Bildgebung: Computertomographie (nur bei Verdacht auf Komplikationen indiziert) Differenzialdiagnostik ▬ Otitis externa (50 % aller Taucher geben eine Otitis externa in der Vorgeschichte an) ▬ Otitis media infectiosa ▬ »Grippeotitis« ▬ Neuralgien Therapie ▬ Ziele: – Wiederherstellung der Belüftung des Mittelohrs – Verhinderung eines Sekundärinfekts – Behandlung der ggf. vorhandenen Innenohrschwerhörigkeit ▬ Maßnahmen: – abschwellende Nasentropfen (alle 2–3 h) – Inhalation, Nasenspülungen mit NaCl-Lösung – topische oder systemische Antibiotikagabe nur bei Trommelfellperforation – bei Innenohrbeteiligung antiphlogistisch-rheologische Therapie – Tauch- und Flugverbot bis zum Vorliegen eines otoskopischen Normalbefunds; das Flugverbot kann bei Vorliegen einer Trommelfellperforation aufgehoben werden, da hierdurch die Belüftung des Mittelohrs gewährleistet ist – bei Vorliegen einer Innenohrbeteiligung besteht bei einem Hörverlust von >40 dB im Vergleich zur Gegenseite und/oder Vertigo der Verdacht auf eine Ruptur einer Rundfenstermembran → Tympanotomie mit Inspektion des ovalen und runden Fensters sowie bindegewebige Abdichtung – bei persistierendem Paukenerguss oder starker Otalgie Parazentese und Paukendrainage ! Cave Abschwellende Nasentropfen sind bis 12 h vor dem Tauchen absolut kontraindiziert, um ein Barotauma des Mittelohrs während des Aufstiegs zu vermeiden (in der Regel liegt eine Tubenbelüftungsstörung vor; Abtauchen ist aufgrund der Nasentropfen problemlos möglich; nachlassende Wirkung der Nasentropfen beim Auftauchen → Barotrauma). Bei Flugreisen und Bergfahrten spielt dies keine Rolle, hier können die Nasentropfen weiter appliziert werden. Verlauf und Prognose ▬ Barotraumen des Mittelohrs können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein: – Trommelfellperforationen sind selten (<10 %) – abhängig vom Schweregrad (leichte Rötung des Trommelfells, Hämatotympanon, Trommelfellruptur) kann ein Barotrauma des Mittelohrs innerhalb von Stunden abheilen, über Wochen Beschwerden bereiten oder ohne operative Sanierung gar nicht abheilen ▬ Bei Innenohrbeteiligung (Barotrauma des Innenohrs): Prognose bezüglich kompletter Ausheilung schlecht (bei 80 % der Patienten persistierender Tinnitus oder Hörminderung) ▬ Beteiligung der Ossikelkette: sehr selten ▬ Komplikationen: – Trommelfellruptur – Pneumenzephalon (Rarität) bei Fraktur der Laterobasis (bisher nur Fallbericht) – Innenohrschädigung: Innenohrbarotrauma, Ruptur der Rundfenstermembran – Fazialisparese: sehr selten > Wichtig Bei entzündlichen Erkrankungen von Ohr, Nase oder Nasennebenhöhlen sollten keine Tauchgänge erfolgen. Das gilt auch bei persistierender Trommelfellperforation oder chronischen Tubenventilationsstörungen Direkte traumatische Trommelfell- und Ossikelverletzung Definition ▬ Schädigung des Trommelfells oder der Ossikelkette durch direkte Krafteinwirkung (fortgeleitet/indirekt; # Kap. 3.6.2) Einteilung ▬ Trommelfellverletzung (Quadranten 1–4): – vorderer oberer Quadrant (10 %) – vorderer unterer Quadrant (52 %) 223 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs – hinterer unterer Quadrant (21 %) – hinterer oberer Quadrant (12 %): – selten mehrfache Perforationen der Pars tensa – praktisch nie Verletzungen der Pars flaccida ▬ Ossikelverletzungen durch: – Luxation (75 %) – Fraktur (25 %) Ätiologie ▬ Direkte Trommelfell- und Ossikelverletzungen; entstehen durch direkte Krafteinwirkung von Gegenständen: Zahnnstocher, Äste, Zweige, Haarnadeln, Stricknadeln, Wattestäbchen, unsachgemäße Ohrspülungen, Schweißperlen, Verätzung, primäre Elektotraumen (Luftelektrizität: Blitzschlag) etc. ▬ Ossikelverletzungen (bzw. Luxationen): bei Manipulation in Gehörgang und Mittelohr sowie auch iatrogen im Rahmen einer Antrotomie ▬ Indirekte Verletzungen: Ohrfeige, Kopfsprung ins Wasser, Explosionstrauma (# Kap. 3.6.2) Pathogenese ▬ Durch die natürliche Krümmung des Gehörgangs verletzen einspießende Gegenstände meist den Gehörgang und nicht das Trommelfell; liegt jedoch ein ungünstiger Winkel beim Einspießen des Gegenstands vor (meist vorderer unterer Quadrant betroffen), kommt es zu radiären, zum Teil multiformen Trommelfellverletzungen; teilweise sind Anteile des Trommelfells in die Pauke eingeschlagen ▬ Bei Verletzungen durch heiße Gegenstände, Blitzschlag oder Verätzungen in der Regel keine Trommelfelllefzen → im Laufe der auf das Trauma folgenden Wochen weitere Größenzunahme des Defekts ▬ Verletzungen der Ossikelkette: – wesentlich seltener als Trommelfellverletzungen – meist Amboss-Steigbügel- und Hammer-AmbossGelenk betroffen (Amboss nur ligamentär aufgehängt); außerdem (in der Häufigkeit abnehmend): Frakturen der Stapesschenkel, Hammerfrakturen, Stapesluxationen Klinisches Bild ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Otalgie Blutung aus dem Gehörgang Durchblasegeräusch während des Valsalva-Manövers Hörminderung bis zur Taubheit Tinnitus Vertigo Bei Komplikationen: ausgeprägte Zephalgie, Hirndruckzeichen Diagnostik ▬ Anamnese: gibt Hinweis auf den Traumamechanismus sowie den Verletzungszeitpunkt ▬ Ohrmikroskopie: Trommelfellverletzung (schlitzförmig, dreieckig oder sternförmig), Einblutungen in das Trommelfell und Trommelfelllefzen (in Richtung Paukenlumen); ggf. Koagel (Blutung durch Verletzung von Gehörgang oder Paukenhöhle); bei Einspießung in das Labyrinth ggf. Liquorrhö ▬ Abdecken des Defekts, z.B. mit »Zigarettenpapier« (Abdeck- oder »Prothesen«-Versuch): Persistenz einer Schallleitungsschwerhörigkeit als Hinweis auf Ossikelverletzung ▬ Stimmgabelversuch (nach Weber/Rinne) ▬ Tonaudiometrie (Ausschluss einer Innenohrbeteiligung), ggf. Sprachaudiometrie ▬ Kontrolle der Fazialisfunktion ▬ Frenzel-Brille: Ausschluss von Spontannystagmen ▬ Gegebenenfalls Prüfung der Labyrinthe mit Luft ▬ Bildgebung: ggf. Röntgenaufnahme nach Schüller (kontrastgebender Fremdkörper; prognostischer Hinweis: ausgedehnte Pneumatisation → gute Heilung; ggf. gutachterliche Aspekte), Computertomographie (nur bei Verdacht auf Komplikationen indiziert) ▬ Bei klarer Otorrhö: Liquordiagnostik (z. B. β2Transferrin- und β-Trace-Protein-Bestimmung) Differenzialdiagnostik ▬ Indirekte Verletzungen: Kompression der Luft im Gehörgang → Druckwellentrauma durch schnelle Änderung des Drucks im äußeren Gehörgang ▬ Otitis media infectiosa ▬ »Grippeotitis« (Anamnese) Therapie ▬ Ziele: – Wiederherstellung der Integrität des Trommelfells – verlustfreie Schallübertragung – Verhinderung eines Sekundärinfekts ▬ Maßnahmen: – Gehörgangsreinigung (instrumentell mit Sauger) ! Cave Keine Ohrspülung – Fremdkörperentfernung, z. B. Schweißperle, Verunreinigungen, aber auch abgerissene Trommelfellteile – Schienung des Trommelfells (Onlay-Technik): # Kap. 21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« → »Spezielle Probleme und Therapieverfahren« → »Verletzungen«) – Hitzeverletzungen: Demarkation der Nekrosen abwarten, keine primäre Schienung 3 224 Kapitel 3 · Ohr – Rekonstruktion der Ossikelkette nach 6 Monaten (Ausnahme: tympanoplastische Sofortmaßnahmen indiziert) – Tauch- und Flugverbot bis zur Wiederherstellung eines stabilen Trommelfells 3 Verlauf und Prognose ▬ Durchtrennung des Trommelfells → Regeneration, die vom Plattenepithel der Hammergriffregion und des Anulusbereichs ausgeht → Migrationstendenz zum gegenüberliegenden Wundrand mit ausgeprägter mitotischer Aktivität und Nachwachsen der Lamina propria ▬ Kleinere Trommelfellverletzungen heilen häufig spontan ab; Spontanheilungsrate bezogen auf die Gesamtheit der Trommelfellperforationen: etwa 75 % ▬ Heilungsdauer von Trommelfellperforationen hängt von der Größe ab: – stichförmige Inzisionen (wie Parazentesen): 1–2 Wochen – große Defekte: noch bis zu 30 Tage nach dem Trauma gute Heilungstendenz, nach 30 Tagen deutlich abfallende Chancen einer Spontanheilung → Tympanoplastik erforderlich ▬ Durch Trommelfellschienung oder tympanoplastische Maßnahmen Erhöhung der Heilungsrate auf >95 % ▬ Sekundärinfektionen (z. B. auch Verletzungen nach Ohrspülungen) vermindern die Chance auf eine Spontanheilung und reduzieren die Heilungsrate nach Trommelfellschienung ▬ Ossikelfrakturen: Wachstum der Ossikel ist mit der Geburt abgeschlossen, sodass es bei entsprechenden Frakturen zu keiner Kallusbildung und damit zu keiner Frakturheilung kommt; eine Verbesserung einer bestehenden Schallleitungsstörung ist nur durch einen bindegewebigen Narbenaufbau möglich ▬ Verletzungen durch Hitzeeinwirkung (Schweißperlen etc.), Verätzungen oder Blitzschlag: über das Trauma hinausreichende Vergrößerungstendenz durch Nekrosen/Entzündung → schlechtere Prognose; trotz adäquater Versorgung Rezidivneigung (persistierende Perforation, Sekretion, Gehörgangsstenose) ▬ Komplikationen: – Innenohrschädigung durch Innenohrbarotrauma oder Explosionstrauma (Perilymphfistel, Ruptur der Rundfenstermembran) – Verletzung der Fußplatte bei Perforationen im hinteren oberen Quadranten – persistierende Schallleitungsstörung – Entwicklung eines sekundären Cholesteatoms – Verbleib von Fremdkörpern im Mittelohr – Fazialisparese Literatur Goodhill V (1980) Traumatic fistulae. J Laryngol Otol 94: 123–128 Klingmann C (2007) Hals-Nasen-Ohrenärztliche Erkrankungen. In: Klingmann C, Tetzlaff K (Hrsg.) Moderne Tauchmedizin. Handbuch für Tauchlehrer, Taucher und Ärzte. Gentner, Stuttgart, S. 180–209 Klingmann C, Knauth M, Praetorius M, Plinkert PK (2006) Alternobaric vertigo – really a hazard? Otol Neurotol 27: 1120–1125 Klingmann C, Plinkert PK (2005) Hörminderungen bei Tauchern. HNO 53: 1017–1019 Klingmann C, Praetorius M, Baumann I, Plinkert PK (2007) Barotrauma and decompression illness of the inner ear: 46 cases during treatment and follow-up. Otol Neurotol 4: 4 Klingmann C, Praetorius M, Baumann I, Plinkert PK (2007) Otorhinolaryngologic disorders and diving accidents: an analysis of 306 divers. Eur Arch Otorhinolaryngol 264: 1243–1251 Klingmann C, Tetzlaff K (Hrsg.) (2007) Moderne Tauchmedizin. Handbuch für Tauchlehrer, Taucher und Ärzte. Gentner, Stuttgart Klingmann C, Wallner F (2004) Tauchmedizinische Aspekte in der HNO-Heilkunde. 1. 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Rev Pneumol Clin 54: 221–223 3.5.3 Tubenfunktionsstörungen E. di Martino Allgemeines Definition ▬ Störungen von Öffnung und/oder Verschluss der Eustachi-Röhre mit konsekutiver Alteration der 3 Hauptfuntionen: – Belüftung und Druckausgleich von Mittelohr und Mastoid – Mittelohrdrainage – Protektion gegenüber Schall, aszendierenden Keimen und Magensaftreflux Epidemiologie ▬ Abnahme von Inzidenz und Prävalenz mit zunehmendem Alter: – bis zu 40 % aller Kinder zumindest passager betroffen – Prävalenz chronischer Tubenfunktionsstörungen bei Erwachsenen: etwa 1 % ▬ Spezielle Patientengruppen bis zu 100 % betroffen (Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Neubildungen im Bereich des Nasenrachens oder Schä- 225 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs delbasisprozessen, bestimmte ethnische Gruppen wie z. B. Aborigines) ▬ Bei Kindern v. a. beidseitiges chronisches Mukotympanon aufgrund von Adenoiden, allergischen Schleimhautschwellungen oder Reflux (?) ▬ Bei Erwachsenen Tubenfunktionsstörungen v. a. aufgrund von Infekten der oberen Luftwege, Nasenatmungsbehinderung oder rezidivierenden Otitiden Einteilung der Belüftungsstörungen des Mittelohrs > Wichtig Beim nicht voroperierten Ohr nimmt nahezu jede Trommelfellretraktion ihren Ausgang von einer Tubenfunktionsstörung. Diagnostik ▬ Große Anzahl unterschiedlicher Methoden und Diagnoseverfahren (>40; # Kap. 3.3.3) ▬ Minder- oder schlecht belüftetes Mittelohr (Unterdruck) ▬ Seromukotympanon: – Serotympanon (seröser Erguss): seromuköse Mittelohrentzündung – Mukotympanon (visköser Erguss): »glue ear« (Leimohr), seromuzinöse Otitis ▬ Sonderfall: klaffende Tube (s. unten) Akute Tubenfunktionsstörungen Ätiologie Klinisches Bild ▬ Funktionelle Stenosen, z. B. muskuläre Insuffizienz, entzündliche/allergische/hormonelle Schleimhautschwellungen ▬ Anatomische Stenosen: knöcherne Engstellen, Strikturen, Vernarbungen (10 %) ▬ Adenoide Vegetationen, Septumdeviation, Sinusitis (entweder direkt oder indirekt über entzündliche Komponente), Infekte ▬ Fehlbildungen: Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, syndromale Erkrankungen ▬ Tumoren von Nase/Nasenrachen/Schädelbasis, Schädelbasisbeteiligung, Bestrahlungen ▬ Genetische Prädisposition ▬ Selten: Myoklonus M. tensor veli palatini (sog. Tremor palatinus) ▬ Siehe oben, »Allgemeines« Klinisches Bild ▬ Akut: – – – – – Druck- und Völlegefühl im Ohr Schmerzen fehlender Druckausgleich Mittelohrerguss (akutes Seromukotympanon) Hypakusis (typisch: reine Schallleitungsschwerhörigkeit, normales Innenohr) – Otitis media acuta ▬ Chronisch: akute Symptome sowie: – Mittelohradhäsivprozess – chronisches Seromukotympanon – chronische Otorrhö – chronische mesotympanale Otitis media – chronische epitympanale Otitis media ▬ Sonderfall: klaffende Tube (s. unten) Ätiopathogenese ▬ Meist akute respiratorische Infekte, starke Druckschwankungen, seltener allergische Schleimhautbeteiligung ▬ Anatomische Verhältnisse normalerweise regelrecht ▬ Unterdruck in Paukenhöhle → Schleimhautödem → Transudation von Serumbestandteilen ! Cave Bei Erwachsenen mit leerer Ohranamnese ist eine Tubenfunktionsstörung oft Erstsymptom eines Nasenrachentumors. Diagnostik ▬ Anamnese ▬ HNO-Status inklusive Nasenrachenspiegelung/-endoskopie und Otomikroskopie: eingezogenes, durchsichtiges, ggf. gerötetes Trommelfell; bei Valsalva-Versuch ggf. Luftbläschen (bei Ergussbildung) ▬ Orientierende klinische Tubenfunktionsprüfung: # Kap. 3.3.3 ▬ Tympanometrie: flache Unterdruckkurve ▬ Audiometrie zum Nachweis einer Schallleitungsschwerhörigkeit, ggf. otoakustische Emissionen oder Hirnstammaudiometrie bei Kleinkindern ▬ Im Einzelfall Allergieabklärung, Refluxabklärung Differenzialdiagnostik ▬ Otitis media acuta: Otalgie, pathologischer Trommelfellbefund ▬ Hörsturz: Innenohrschwerhörigkeit, unauffälliger Trommelfellbefund ▬ Morbus Menière: Druckgefühl, Schwindel, Ohrgeräusch, Hörminderung Therapie ▬ Ziel: Wiederherstellung der Tubendurchgängigkeit und der Mittelohrbelüftung 3 226 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Maßnahmen: – abschwellende Rhinologika (Nasentropfen/-salbe/gel; Cave: Schwangerschaft, Glaukom) – Valsalva-Manöver (Cave: bei akutem Infekt Gefahr der Keimaszension) – alternativ kortikoidhaltige Sprays – Analgetika bei Schmerzen (z. B. Paracetamol) – bei bekannter allergischer Diathese: zusätzlich antiallergische Nasensprays und/oder orale Medikation (z. B. Ceterizin) – bei Säuglingen Zurückhaltung mit Rhinologika; alternativ Versuch mit NaCl-Lösung, ggf. Versuch mit Homöopathika – bei Verdacht auf Reflux ggf. Versuch mit Protonenpumpenhemmer – Antibiotika bei Otitis media acuta – ggf. Parazentese, v. a. bei toxischem Innenohrschaden – Paukenröhrchen bei protrahiertem Verlauf und/oder drohenden Komplikationen Verlauf und Prognose ▬ In der Regel folgenlose Ausheilung Chronische Tubenfunktionsstörungen Ätiologie ▬ Häufigster Befund im Kindesalter: adenoide Vegetation durch direkte Verlegung oder akute Schwellung (indirekte Verlegung sowie funktionelle Behinderung des pharyngealen Ostiums) ▬ Anatomisch bedingte Stenosen im Tubenlumen werden selten diagnostiziert; funktionelle Insuffizienz im Bereich der Pars cartilaginea bedeutsamer ▬ Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten ▬ Raumforderungen im (Nasen-)Rachen/an der Schädelbasis: Tumoren, Zysten, Polypen im Tubenostium ▬ Allergische Affektionen der Mittelohrschleimhaut ▬ Chronische Rhinosinusitis ▬ Radiotherapie des Nasopharynx oder der Ohrregion ▬ Schädelbasisfraktur ▬ Langzeitintubation, nasogastrale Sonde ▬ Vernarbungen am Weichgaumen und/oder Nasenrachen (postoperativ, inflammatorisch, Tamponaden) ▬ Wegener-Granulomatose Klinisches Bild ▬ Typisch: chronisches Seromukotympanon (»glue ear«, Leimohr): – otomikroskopisch eingezogenes Trommelfell und Erguss, ggf. mit Blasenbildung – bei schleimigem Erguss verdicktes, graublaues oder bräunlich verfärbtes Trommelfell ▬ Bei anhaltender Persistenz der Belüftungsstörung mögliche Entwicklung von: – Mittelohradhäsivprozess – chronische mesotympanale Otitis media (chronische Schleimhauteiterung) – chronische epitympanale Otitis media (chronische Knocheneiterung, Cholesteatom) Diagnostik ▬ Siehe oben, »Akute Tubenfunktionsstörungen«; zusätzlich im individuellen Fall sinnvoll: – manometrische Untersuchungen – Computer-, ggf. Magnetresonanztomographie des Felsenbeins/der Schädelbasis (Tumor, Labyrinthbeteiligung) – Sinusitisabklärung – bei Verdacht auf Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kieferchirurgen – bei Tumor ggf. gemeinsame Zusammenarbeit mit Neuroradiologie/Neurochirurgie sinnvoll Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Pathogenese ▬ Mangelnde Mittelohrbelüftung → Paukenunterdruck → Transudat bzw. seröser Erguss (Serotympanon) → Transformation des Schleimhautepithels zu sekretorisch aktivem Epithel (Hyperplasie der Drüsen und Vermehrung der Becherzellen) → Bildung von viskösem Sekret → zunehmende Eindickung (Mukotympanon) ▬ Otitis media acuta Otoliquorrhö (posttraumatisch oder spontan) Hämatotympanon nach Baro- oder Schädeltrauma Wegener-Granulomatose des Mittelohrs: oft therapieresistenter, seröser Mittelohrerguss aufgrund von Granulomen der Schleimhaut (erstes Symptom); ggf. Innenohrdepression Otitis nigra: wahrscheinlich viral ausgelöste Schleimhauterkrankung mit erhöhter Kapillarpermeabilität (Mikroblutungen, Hämosiderinablagerungen); leicht vorgewölbtes, bräunliches bis tiefschwarzes Trommelfell (»idiopathisches Hämatotympanon«) Paragangliom/Glomus-tympanicum-Tumor Aberrierendes arterielles Gefäß (A. carotis interna, Aneurysma) Freiliegender und hochstehender Bulbus venae jugularis Therapie ▬ Ziel: Wiederherstellung der Tubendurchgängigkeit und der Mittelohrbelüftung 227 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Maßnahmen: anwendbar sind alle Maßnahmen wie bei akuten Tubenfunktionsstörungen sowie: – konservativ: – Autoinsufflation der Pauke (z. B. mittels Otovent) – Eppendorf-Manöver: Ausgleich extremer Luftdruckschwankungen (z. B. Landemanöver des Flugzeugs) durch Gähnen (Kontraktion des M. tensor veli palatini) mit weit geöffnetem Mund (Relaxation des M. pterygoideus medialis) – operativ: – Parazentese mit Paukenröhrcheneinlage (Dauerröhrchen) – Adenotomie – Tumorsanierung – Spaltenverschluss (in Hinblick auf Tubenfunktion eingeschränkte Erfolgsaussichten) – Sanierung der Nase/der Nasennebenhöhlen – lasergestützte Tuboplastik (z. B. bei polypösen Schleimhautveränderungen im pharyngealen Ostium) ▬ Als umstritten/obsolet gelten: – Tubendrähte – Tubenschläuche – Tubenkatheterismus – Brachytherapie > Wichtig Die Paukenröhrcheneinlage stellt heute die häufigste operative Behandlung der chronischen Tubenfunktionsstörung dar. Die Maßnahme hat keinen direkten Einfluss auf die Tubenfunktion, kann aber wesentlich dazu beitragen, die Homöostase der Mittelohrräume zu verbessern. Verlauf und Prognose ▬ Behandlung ist langwierig und oft frustran; als Ursachen hierfür sind u. a. die sekundären Veränderungen der Mittelohrschleimhaut und die Veränderungen der Mittelohrgase anzunehmen ▬ Chronische Tubenfunktionsstörungen im Kindesalter heilen meist mit unterschiedlichen Defektzuständen der Pauke aus; die chronische Tubenfunktionsstörung des Erwachsenenalters neigt dagegen zur Persistenz ▬ Eine unbehandelte chronische Tubenfunktionsstörung ist wesentliche Voraussetzung für die chronische Otitis media und deren otogene Komplikationen ▬ Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte haben aufgrund der veränderten muskulären Aktivität auch nach Spaltenverschluss fast immer eine persistierende Tubenfunktionsstörung → Dauerröhrchen meist unumgänglich ▬ Bei erfolgreich sanierten Tumoren des Nasenrachens kommt es häufig aufgrund von Strikturen/ Vernarbungen zu einer dauerhaften Funktionsstörung der Eustachi-Röhre → häufig Dauerröhrchen notwendig ▬ Eine funktionierende Mittelohrbelüftung ist wesentliche Vorraussetzung für den Erfolg einer Tympanoplastik Klaffende Tube (Tuba aperta) Definition ▬ Pathologisch weite bzw. offene Tube Einteilung ▬ Typ A: ständig klaffend ▬ Typ B: zeitweise klaffend ▬ Typ C: gewohnheitsmäßiges Sniffen mit Mittelohrun- terdruck ▬ Typ D: »relative closing failure« (Tube klafft zwar nie weit, ist aber auch nicht ausreichend geschlossen); häufigster Typ Epidemiologie ▬ Häufigkeit: 6–7 % (meist symptomlos) Ätiopathogenese ▬ Intermittierende oder permanente Verschlussinsuffizienz ▬ Starke Gewichtsabnahme → Reduktion des Körperfettanteils → Reduktion des Volumens der Fettkörper am Tubeneingang ▬ Asthenischer Habitus ▬ Hormonelle Faktoren bzw. Schwankungen: Anwendung von Kontrazeptiva, Schwangerschaft ▬ Posttraumatisch ▬ Sniffen (forciertes Lufteinziehen durch die Nase) → vorübergehender Verschluss der Tube, sodass Autophonie (s. unten) kurzzeitig verschwindet → nach z. B. Schlucken erneute Beschwerden → wiederholtes Sniffen → Entwicklung eines konditionierten Reflexes ▬ Postoperativ nach Adenotomie oder Tonsillektomie ▬ Genetische Prädisposition (u. a. Aborigines, Inuits) Klinisches Bild ▬ Autophonie: lästiges Hören der eigenen Stimme in einem oder beiden Ohren ▬ Ohrdruck und Völlegefühl: (Pseudo-)Druckgefühl durch permanent ablaufenden Druckausgleich zwischen Epipharynx und Mittelohr ▬ Oft erheblicher Leidensdruck 3 228 Kapitel 3 · Ohr Diagnostik 3 ▬ Siehe oben, »Akute Tubenfunktionsstörungen«, sowie: – Anamnese: von besonderer Bedeutung – Ohrmikroskopie: gelegentlich atemsynchrone Auslenkung des Trommelfells – Audiometrie: normal – Tympanometrie: »Atemkurve« – Tubenendoskopie – ggf. Magnetresonanztomographie von Kopf und Hals Therapie ▬ Aufklärendes Gespräch, v. a. über Harmlosigkeit und Verlauf der Erkrankung sowie über die Besserung oder das Verschwinden der Symptomatik in Kopftieflage ▬ Gewichtsnormalisierung ▬ Absetzen oder Wechsel des Kontrazeptivums ▬ Kollageninjektion (temporäre Wirksamkeit) ▬ Transposition der Sehne des M. tensor veli palatini durch Frakturierung des Hamulus ▬ Transtympanale Einlage von Silikonstöpseln zur Verkleinerung/zum Verschluss des Lumens und ggf. zusätzlich Einlage eines Dauerröhrchens in das Trommelfell ▬ Lasergestützte Knorpelaugmentation (Tuboplastik nach Kujawski) ▬ Transtympanales Einsetzen eines Silikonreduzierstücks in das tympanale Tubenostium (Sato) ▬ Psychosomatische Therapie (beim Sniffen) > Wichtig Erfolgsaussichten therapeutischer Maßnahmen sind unsicher. Bei einem Scheitern operativer Verfahren droht statt einer Verschluss- eine Tubenöffnungsinsuffizienz mit chronischem Tubenverschluss. Verlauf und Prognose ▬ Unsichere Prognose ▬ Begünstigt Cholesteatomentstehung (insbesondere bei Sniffen) ▬ Bei Gewichtszunahme nicht immer Normalisierung der Tubenbelüftung Literatur Ars B (Hrsg.) (2003) Fibrocartilaginous eustachian tube: middle ear cleft. Kugler, The Hague Di Martino E, Di Thaden R, Krombach GA, Westhofen M (2004) Funktionsuntersuchungen der Tuba Eustachii. Aktueller Stand. HNO 52: 1029–1040 Honjo I (1988) Eustachian tube and middle ear diseases. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Koch U, Pau HW (1994) Tubenfunktionsprüfungen. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryn- gologie in Klinik und Praxis. Bd 1. Thieme, Stuttgart New York, S. 430–437 Leuwer R, Koch U (1999) Anatomie und Physiologie der Tuba auditiva. Therapeutische Möglichkeiten bei chronischen Tubenfunktionsstörungen. HNO 47: 514–523 Leuwer R, Schubert R, Wenzel S, Kucinski T, Koch U, Maier H (2003) Neue Aspekte zur Mechanik der Tuba auditiva. HNO 51: 431–438 Pahnke J (2000) Morphologie, Funktion und Klinik der Tuba Eustachii. Laryngorhinootologie 79 (Suppl 2): S1–S21 3.5.4 Entzündliche Erkrankungen Akute Otitis media R. Leuwer Definition ▬ Akute, in der Regel über die Ohrtrompete aus dem Nasopharynx fortgeleitete Entzündung der Mittelohrschleimhaut, aber auch der Tuben- und Mastoidschleimhaut ▬ Bei jeder Otitis media acuta kommt es zu einer Begleitmastoiditis (s. unten, »Mastoiditis«) Einteilung und Sonderformen ▬ Otitis media acuta im Säuglings- und Kindesalter ▬ Rezidivierende Otitis media acuta: ≥4 Episoden innerhalb von 12 Monaten (Erkrankungsalter: 2–4 Jahre) ▬ »Grippeotitis« (Synonym: bullöse Myringitis; hämorrhagische, bullöse, akute Mittelohrentzündung): – epidermale, sehr schmerzhafte Entzündung (rote, prall gefüllte Bläschen: Flüssigkeitsansammlung zwischen Epidermis und Stratum fibrosum) mit Mittelohrerguss → seröse Labyrinthitis/Innenohrschwerhörigkeit möglich – Ursache unbekannt; Erreger: nicht nur Viren (Influenza- und Adenoviren), sondern z. B. auch Bakterien (Pneumokokken, Streptokokken, Haemophilus influenzae, Moraxella catharralis, Mycoplasma pneumoniae) – Diagnostik: Hörprüfungen (Ausschluss einer Innenohrbeteiligung) – Therapie: Punktion der Blasen, ggf. anästhesierende Ohrentropfen (z. B. Otalgan), Analgetika, Nasentropfen; evtl. Antibiotikatherapie, Paukendrainage, antiphlogistisch-rheologische Behandlung – Prognose: bleibende Innenohrschwerhörigkeit möglich – Komplikationen: Vestibularisausfall, Fazialisparese ▬ Akute nekrotisierende Otitis media: extrem selten (Deutschland), fast ausschließlich Kinder mit reduzierter Abwehrlage betroffen (angeborenes oder erworbenes Immundefizit) 229 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Masernotitis: hämatogene virale Otitis media mit nachfolgender tubogener bakterieller Superinfektion; oft auch Entwicklung einer akuten eitrigen Mastoiditis; aufgrund der Allgemeinsymptomatik wird die Otitis oft übersehen und macht sich erst nach Auftreten von Komplikationen bemerkbar ▬ Scharlachotitis: nekrotisierende Entzündung bei oder im Anschluss an Scharlach mit Ausbildung eines subtotalen Trommelfelldefekts (toxininduzierte Nekrose), Gehörknöchelchennekrose und Osteomyelitis des Os temporale; Therapie: rechtzeitige Antibiotikatherapie zur Vermeidung von Komplikationen ▬ Akute nichteitrige Otitis media ▬ Sero-/Mukotympanon (# Kap. 3.5.3) Epidemiologie ▬ Vor allem Kinder: 90 % der Kinder bis zum 6. Lebensjahr; hohe Spontanheilungsrate ▬ Inzidenz hat sich in vergangenen 30 Jahren verdoppelt; in Deutschland 1 Mio./Jahr ▬ Von Jahreszeit abhängig: v. a. Herbst und Winter ▬ In den USA häufigster Grund für Verschreibung eines Antibiotikums Ätiologie ▬ Erreger: etwa 80 % aller akuten Mittelohrentzündungen werden durch Viren hervorgerufen; in ungefähr 20 % der Fälle kommt es zu einer bakteriellen Superinfektion – viral: Rhino-, »Respiratory-syncytial«-, Adeno-, Parainfluenza-, Influenzaviren – bakteriell: Pneumokokken (40–50 %), Haemophilus influenzae (30–40 %; meist Subtyp A; Subtyp B: toxische Verlaufsformen), Moraxella (Branhamella) catarrhalis (10 %), β-hämolysierende Staphylokokken der Gruppe A (10 %), Staphylococcus aureus (5 %) – Mycoplasma pneumoniae ▬ Risikofaktoren: Alter (am häufigsten zwischen 6. und 11. Lebensmonat: physiologisch insuffiziente Tube und kurze, gerade Tuba auditiva mit hoher Compliance), Allergien, Gaumenspalten, Flaschenernährung, Schnullern, HIV-Infektion Pathogenese ▬ Am häufigsten tubogene Infektion (kräftiges Schnäuzen, Valsalva-Versuche, Politzern bei Infekten des Nasenrachens), seltener hämatogen (Masern, Scharlach, Sepsis) ▬ Exogen: Infektion über vorbestehende oder traumatische Trommelfellperforation (Eindringen von Badeoder Schmutzwasser sowie Fremdkörper, z. B. bei der Ohrreinigung) ▬ Stadien: – Phase der katarrhalischen Entzündung: Hyperämie und Ödem der Schleimhaut, otoskopisch Hyperämie des Trommelfells, meist am Hammergriff beginnend – Phase der exsudativen Entzündung: Metaplasie der Paukenschleimhaut (Becher- und Flimmerzellen), Granulationsgewebe, eitriges Exsudat, vorgewölbtes Trommelfell mit pulssynchronen Bewegungen, Fieber (v. a. Kinder), starke Ohrenschmerzen, Hörminderung, Ohrgeräusche, ggf. druckempfindlicher Warzenfortsatz – Phase der Abwehr und der Demarkation: Spontanperforation des Trommelfells (vorderer unterer Quadrant) durch umschriebene Trommelfellnekrose (tritt heutzutage aufgrund einer frühzeitigen antibiotischen Therapie nur in etwa 30 % der Fälle auf) – Heilungsphase: Auflösung des Mittelohrsekrets, spontaner Verschluss der Trommelfells, Normalisierung des Gehörs ▬ Reizantworten des Epithels: Quellung der Zellen, Epithelverlust oder Ödem, Epitheltransformation, Epitheleinsenkungen, Ausbildung von Schleimzysten, Entstehung von Schleimhautpolypen, Schleimhautadhäsionen (im Aditus ad antrum → Antrumblock) Klinisches Bild ▬ Pulsierende, stechende Ohrenschmerzen, ggf. Otorrhö, Hörminderung ▬ Gegebenenfalls Fieber (bei Kindern rasch über 39°C) und reduzierter Allgemeinzustand ▬ Bei Säuglingen und Kleinkindern oft uncharakteristische Begleitsymptome (z. B. Bauchschmerzen) Diagnostik ▬ Inspektion: abstehende Ohrmuschel bei akuter Mastoiditis ▬ Palpation: Mastoidklopfschmerz ▬ Ohrmikroskopie: hochrotes oder gelbliches, vorgewölbtes (v. a. im hinteren oberen Quadranten) Trommelfell, ggf. pulsierend, ggf. kleine Spontanperforation mit Eitertropfen ▬ Hörprüfungen: Stimmgabeltests, Audiometrie (zur Erfassung von Innenohrschäden), ggf. Tympanometrie (objektiver Nachweis; jedoch schmerzhaft) ▬ Gleichgewichtsprüfung: Spontan-, Kopfschüttelnystagmus, ggf. apparative Untersuchung ▬ Abstrich aus Gehörgang und Nasopharynx ▬ Röntgenaufnahme nach Schüller, »High-resolution«Computertomographie bei Verdacht auf Komplikationen 3 230 Kapitel 3 · Ohr ▬ Gegebenenfalls pädiatrisches Konsil, z. B. zum Ausschluss einer Agammaglobulinämie (bei rezidivierender Otitis media) Differenzialdiagnostik 3 ▬ Otitis externa: Tragusdruck- und -zugschmerz, Gehör nicht betroffen (solange Gehörgang frei ist) ▬ Myringitis: Begleitentzündung bei Otitis externa (Externamyringitis) ▬ Ohrenschmerzen bei normalem Trommelfellbefund ▬ Kaumuskulatur- und kiefergelenkbedingte Schmerzen bei kraniomandibulärer Dysfunktion (früher sog. Costen-Syndrom) ▬ Neuralgie des N. auriculotemporalis oder des R. auricularis (N. vagus) bei akuter Tonsilitis oder postoperativ nach Tonsillektomie, Glossopharyngeusneuralgie bei Meso- oder Hypopharynxmalignom ▬ Verlängerter Proc. styloideus ▬ Dentitio difficilis bei Kindern, retinierter Weisheitszahn bei Erwachsenen Therapie ▬ Ziele: – Behandlung der Symptome/Entzündung inklusive Wiederherstellung der Belüftung des Mittelohrs – Vermeidung von Komplikationen ▬ Maßnahmen: – konservativ: – abschwellende Nasentropfen (z. B. Otriven 0,1 %, bei Kindern 0,05 %, bei Säuglingen 0,025 %) alle 3–4 h – regelmäßige Gabe von Analgetika, z. B. Paracetamol oder Ibuprofen > Wichtig Eine sofortige antibiotische Therapie ist nicht in jedem Fall erforderlich, da die akute Otitis media oft primär viral bedingt ist. – Antibiotikatherapie bei Verdacht auf bakterielle Infektion: Amoxicillin, evtl. plus Clavulansäure (Augmentan; v. a. bei jüngeren febrilen Kindern unter 2 Jahren), alternativ bei älteren Kindern Einzelinjektionen von Ceftriaxon (z. B. Rocephin); ohne Antibiotikagabe Besserung der Symptome bei etwa 60 % der Kinder innerhalb von 24 h und Abheilung der Entzündung in 80 % der Fälle (Häufigkeit eitriger Komplikationen: 0,12 %) – Voraussetzung ist jedoch eine engmaschige Befundkontrolle – Mukolytika, z. B. Azetylzystein (3-mal 100–200 mg/Tag) – ggf. lokale Wärme (Rotlicht, 2-mal 5 min) – nicht in der Phase der exsudativen Entzündung – operativ: – Parazentese/Paukenröhrcheneinlage bei schmerzhafter Trommelfellvorwölbung mit hohem Fieber, rezidivierender Otitis media acuta oder Frühkomplikationen (z. B. Labyrinthitis, Fazialisparese; ggf. mit Antrotomie) – Mastoidektomie inklusive Paukendrainage bei Mastoiditis/otogenen Komplikationen, aber auch ggf. bei Säuglingsotitis; ggf. weitere Maßnahmen erforderlich (s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen«) Präventivmaßnahmen bei rezidivierender akuter Otitis media ▬ Adenotomie, Parazentese/Paukendrainage im entzündungsfreien Intervall ▬ Gegebenenfalls Chemoprophylaxe (z. B. Amoxicillin über 6 Monate) bei partieller Immundefizienz (Cave: Resistenz) ▬ Gegebenenfalls Immunprophylaxe (konjugierte Pneumokokkenvakzine, Impfung gegen Haemophilus influenzae, Influenzaimpfung als Indikationsimpfung) Verlauf und Prognose ▬ Folgenlose Ausheilung der akuten Otitis media bei adäquater Therapie ▬ Chronische Folgen der rezidivierenden akuten Otitis media: Trommelfellperforation (akute nekrotisierende Otitis media), Tympanosklerose, Adhäsivprozess, Cholesteatom ▬ Komplikationen (bei gesunden Kindern selten): akute Mastoiditis (s. unten, »Mastoiditis«), akute Labyrinthitis (# Kap. 3.6.3), Fazialisparese (# Kap. 4.3.2), Thrombose des Sinus sigmoideus, Meningitis, Subdural- oder Epiduralabszess (s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen«) Literatur Alper CM, Bluestone CD, Casselbrant ML, Dohar JE, Mandel EM (Hrsg.) (2004) Advanced therapy in otitis media. Decker, Hamilton London Chandler SM, Garcia SM, McCormick DP (2007) Consistency of diagnostic criteria for acute otitis media: a review of the recent literature. Clin Pediatr (Phila) 46: 99–108 Froom J, Culpepper L, Jacobs M et al. (1997) Antimicrobials for acute otitis media? A review from the International Primary Care Network. BMJ 315: 98–102 Marcy SM (2004) New guidelines on acute otitis media: an overview of their key principles for practice. Cleve Clin J Med 71 (Suppl 4): S3–S9 O’Neill P, Roberts T (2006) Akute Otitis media bei Kindern. In: Ollenschläger G, Bucher HC, Donner-Banzhoff N et al. (Hrsg.) Kompendium evidenzbasierte Medizin. Huber, Bern, S. 802–807 Rovers MM, Glasziou P, Appelman CL et al. (2006) Antibiotics for acute otitis media: a meta-analysis with individual patient data. Lancet 368: 1429–1435 231 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs Schilder AG, Lok W, Rovers MM (2004) International perspectives on management of acute otitis media: a qualitative review. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 68: 29–36 Mastoiditis K. Schwager Klinische Einteilung und Sonderformen ▬ Mastoiditis mit Osteitis: – akute Mastoiditis – Stauungsmastoiditis bei Cholesteatom (s. unten) – subperiostaler Abszess: – Durchbruch der Entzündung nach außen (meist retroaurikulär) – akute Mastoiditis → Osteolyse → zusätzlich Eiterdurchbruch unter das Periost des Planum mastoideum (präformierte Spalten bei Säugling und Kleinkind) → Infektion der Halsweichteile – klinisches Bild: hochschmerzhafte, fluktuierende retroaurikuläre Schwellung, ggf. septische Temperaturen und Schüttelfrost – larvierte, okkulte Mastoiditis (s. unten) – Komplikationen: – Bezold-Senkungsabszess: Eiterdurchbruch über die Warzenfortsatzspitze in den M. sternocleidomastoideus bzw. die seitliche Hals- und Nackenmuskulatur → schmerzhafter Schiefhals – Muret-Mastoiditis: Durchbruch in die Fossa digastrica – Zygomatizitis: Übergriff der Entzündung auf das Jochbein; fluktuierende Schwellung über dem Ohr, Gesichtsödem, Kieferklemme (Infiltration des Kiefergelenks) ▬ Begleitmastoiditis: Entzündung beschränkt sich nur auf die Schleimhaut und nicht auf den Knochen; bei jeder akuten Otitis media Akute Mastoiditis Definition ▬ Bakterielle Entzündung des Warzenfortsatzes mit Einschmelzung der Knochenbälkchen (Abszedierung), ausgehend von einer akuten oder chronischen Otitis media ▬ Komplikation der Otitis media ▬ Voraussetzung: gut pneumatisiertes Mastoid Epidemiologie ▬ Seit Einführung der Antibiotika Häufigkeit deutlich rückläufig ▬ Alle Altersgruppen betroffen, Kinder häufiger ▬ 1–4/100.000 Kinder (<14 Jahre)/Jahr Ätiologie ▬ Meist akute Otitis media, seltener exazerbierte chronische Otitis media mesotympanalis (chronische Schleimhauteiterung) oder epitympanalis (Cholesteatom) ▬ Erreger: Streptococcus pneumoniae (30 %), Haemophilus influenzae (20 %), Staphylococcus aureus (20 %), Streptococcus pyogenes (5 %), Pseudomonas aeruginosa, Escherichia coli, Proteus mirabilis Pathogenese ▬ Entwicklung einer Mastoiditis hängt von verschiedenen Faktoren ab: – anatomische Verhältnisse des Mittelohrsystems: Tubenbelüftungsstörung, enge Verbindung zwischen Antrum und Mastoidzellen – lokale und allgemeine Immunabwehrlage – Begleiterkrankungen, z. B. Diabetes mellitus, Leberund Nierenerkrankungen Klinisches Bild ▬ Allgemeine Symptome: – nach scheinbar in Abheilung begriffener Otitis media erneutes Auftreten von Krankheitssymptomen – Fieber (subfebril bis septisch) – allgemeines Krankheitsgefühl, Abgeschlagenheit/ reduzierter Allgemeinzustand – Kinder: häufig auch Bauchschmerzen ▬ Lokale Symptome: – klassische Symptomentrias: typischer mastoidaler Klopfschmerz, abstehende Ohrmuschel, Otorrhö bei perforiertem Trommelfell – postaurikuläre Rötung/teigige Schwellung (subperiostaler Abszess) – Otalgie – Kauproblem/Druckschmerz am Jochbogen bei Zygomatizitis – Schmerz/Schwellung an Mastoidansatz/M. sternocleidomastoideus (Bezold-Abszess)/Digastrikusloge (Muret-Abszess), evtl. mit Schiefhals – Druckschmerz über Emissarvene bei Thrombophlebitis (Griesinger-Zeichen; s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen« → »Otogene Sinusthrombose«) Diagnostik ▬ Klinisches Bild: häufig uncharakteristisch nach vorheriger, v. a. unterbrochener Antibiotikagabe ▬ Inspektion: retroaurikuläre Weichteile, Stellung der Ohrmuschel, Haltung des Kopfes (Schiefhals als Zeichen eines Bezold-Senkungsabszesses) ▬ Trommelfell- und Gehörgangsbefund (Ohrmikroskopie): 3 232 Kapitel 3 · Ohr 3 ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ – Trommelfell: – Perforation mit Otorrhö (pulsierende Sekretion): schlitzförmig bei akuter Otitis media, groß und evtl. mit Polypen verlegt bei chronischer Schleimhauteiterung – gerötet, geschlossen, verdickt, vorgewölbt – Paukenerguss – epitympanale Schuppung, bei Cholesteatom »Signalpolyp« – auch blande, wenn Otitis media schon abgeheilt ist – Gehörgang: Absenkung der hinteren Gehörgangswand (entsteht durch subperiostalen Abszess in Richtung Gehörgang) Prüfung der Tubendurchgängigkeit Stimmgabelversuch (Weber zum gesunden Ohr: Ertaubung des erkrankten Ohres) Tonaudiometrie: Schallleitungs- oder kombinierte Schwerhörigkeit Frenzel-Brille: Nystagmus als Hinweis auf Labyrinthitis Labordiagnostik: Leukozytose (Linksverschiebung), erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentrationserhöhung des C-reaktiven Proteins Bildgebung: – Röntgenaufnahme nach Schüller (besser: Computertomographie, v. a. bei Verdacht auf Komplikationen): Verschattung der Mastoidzellen, Einschmelzung der Knochenbälkchen – wichtige Information für Operation: Lage von Sinus sigmoideus und Dura in Bezug zur mittleren und hinteren Schädelgrube – Vorteil der Computertomographie: gleichzeitiger Ausschluss intrakranieller Komplikationen wie Thrombophlebitis (Untersuchung mit Kontrastmittel), Meningitis und Hirnabszess; Epiduralabszess jedoch häufig nicht darstellbar Abstrich, Antibiogramm Differenzialdiagnostik ▬ Pseudomastoiditis bei Otitis externa mit Lymphadenitis, postaurikulärer Lymphknoten, abszedierende hohe Lymphadenitis: normaler Trommelfellbefund, bei Bildgebung normaler Warzenfortsatz ▬ Morbus Wegener ▬ Malignom/extranoduläres Lymphom der Mittelohrräume Therapie ▬ Ziele: – Beseitigung der Knochenentzündung – Schaffung einer ausreichenden Belüftung der Mittelohrräume – Vermeidung bzw. Behandlung otogener Komplikationen ▬ Maßnahmen: – konservativ: – in Ausnahmefällen strenge Indikationsstellung zu konservativem Therapieversuch bei enger Überwachung im Frühstadium – auch begleitend zur Operation erforderlich – hochdosierte parenterale Antibiotikatherapie (z. B. Aminopenicilline mit oder ohne β-Laktamase-Inhibitor, Cephalosporine; ggf. Umstellung des Antibiotikums entsprechend dem Resultat des intraoperativ angefertigten bakteriologischen Abstrichs), abschwellende Nasentropfen bzw. abschwellendes Nasenspray, sorgfältige Gehörgangsreinigung (bei Trommelfelldefekt/Otorrhö) – operativ: # Kap. 21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« → »Mastoidektomie«) > Wichtig Eine Mastoiditis mit Knocheneinschmelzung, bei Cholesteatom oder mit otogenen Komplikationen muss grundsätzlich einer Mastoidektomie zugeführt werden. Verlauf und Prognose ▬ Bei rechtzeitiger Operation und hochdosierter Antibiotikatherapie gut ▬ Komplikationen (s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen«): – intratemporal: Fazialisparese, Labyrinthitis – Zygomatizitis, Bezold- oder Muret-Mastoiditis – peritemporal: Thrombose des Sinus sigmoideus/der V. jugularis, Petrositis/Gradenigo-Syndrom, CitelliAbszess (Durchbruch aus retrosinösen Zellen → Befall des Hinterhaupts) – intrakraniell: Meningitis, Epiduralabszess, Schläfenlappenabszess, Kleinhirnabszess – v. a. bei Kindern auch heute noch lebensbedrohlich Sonderformen Larvierte, okkulte (verschleierte) Mastoiditis ▬ Chronische Schleimhauteiterung ohne Knocheneinschmelzung, z. B. bei Kindern mit chronischem Mukotympanon oder bei chronisch sezernierender Mittelohrentzündung ▬ Ätiologie: häufig unkontrollierte, inkonsequente Antibiotikagabe, schlechte Abwehrlage ▬ Klinisches Bild: rezidivierende Episoden einer akuten/subakuten Otitis media, Klopfschmerz über dem Mastoid, unspezifische Symptome (Gedeihstörungen, Müdigkeit, Kopfschmerzen) 233 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Im Zweifel Mastoidektomie, Adenotomie, evtl. Tonsillektomie Mastoiditis bei Cholesteatom ▬ Stauungsmastoiditis (Entstehung und Unterhaltung infolge einer Abflussstauung bei Cholesteatom); hinter einem Cholesteatom entstandene akute, larvierte oder chronische Mastoiditis sowie Subperiostalabszess ▬ Voraussetzung: gute Pneumatisation des Mastoids ▬ Therapie: – Cholesteatomsanierung (# Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr« → »Spezielle Probleme und Therapieverfahren« → »Cholesteatomentfernung«); sichere Technik: Verfolgen des Cholesteatoms vom Ursprungsort in der Pauke/im Epitympanon in Richtung Antrum unter Herabsetzung der hinteren Gehörgangswand – wenn möglich Rekonstruktion der Gehörgangswand – Anlage einer offenen Mastoidhöhle: sicherer und im Zweifel immer durchzuführen > Wichtig Bei unklarer Situation und Verdacht auf Mastoiditis immer Mastoidektomie (sowohl sanierender als auch diagnostischer Eingriff ) Literatur Fickweiler U, Müller H, Dietz A (2007) Die akute Mastoiditis heute. HNO 55: 73–81 Hildmann H (1994) Mastoiditis. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 594–601 Hildmann H, Sudhoff H (Hrsg.) (2006) Middle ear surgery. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Tos M (1995) Manual of middle ear surgery. Vol 2: Mastoid surgery and reconstructive procedures. Thieme, Stuttgart New York Einteilung ▬ Prinzipiell: – chronische Schleimhauteiterung (Synonyme: chronische suppurative – eitrige – Otitis media, tubotympanische Erkrankung, Otitis media mesotympanalis) – chronische Knocheneiterung (Synonyme: Cholesteatom, attikoantrale Erkrankung, chronische epitympanale Otitis media, Perlgeschwulst, Knochenfraß) ▬ Histopathologische Einteilung: – chronische Otitis media ohne Cholesteatom (Otitis media mesotympanalis) – chronische Otitis media mit Cholesteatom – chronische inaktive Otitis media: Folgezustände der Schleimhautreaktionen nach Einwirkung kurzfristiger oder chronischer Reize (z. B. Paukenfibrose, Paukensklerose, Adhäsivprozess) ▬ Einteilung nach dem Verlauf: – aktives eitriges Stadium – inaktives trockenes Stadium Epidemiologie ▬ Etwa 2 % aller Erwachsenen betroffen ▬ Häufiger in Entwicklungsländern vorkommend Ätiologie und Pathogenese ▬ Ursachen noch nicht restlos geklärt ▬ Tubendysfunktion, die möglicherweise genetisch beeinflusst ist ▬ Ungenügende Belüftung → Unterdruck → Trommelfellretraktion mit Veränderungen der Schleimhaut → chronische Entzündung Symptome ▬ Otorrhö ▬ Schwerhörigkeit ▬ Persistierende Trommelfellperforation Chronische Schleimhauteiterung Chronische Otitis media M. Reiß Übersicht Definition ▬ Lang andauernde, mehr oder weniger ausgeprägte Entzündung (schubweiser Verlauf) der Mittelohrräume mit irreversiblen Gewebezerstörungen oder Neubildungen ▬ In der Regel liegt eine bleibende Trommelfellperforation vor (Ausnahme: z. B. Adhäsivprozess); eine spontane Restitutio ad integrum ist nicht möglich Definition ▬ Persistierende, zentrale Trommelfellperforation (Anulus fibrosus bzw. Limbus ist vollständig erhalten) ▬ Entzündung der Schleimhaut, meist unter Mitbeteiligung der Mastoid- und auch der Tubenschleimhaut; die knöcherne Begrenzung des Mittelohrs bleibt erhalten (keine Abbauprozesse) Epidemiologie ▬ Indianer und Inuit > Weiße > schwarze Amerikaner und Afrikaner 3 234 3 Kapitel 3 · Ohr Ätiologie und Pathogenese Diagnostik ▬ Letztendlich nicht völlig geklärt, da die Spontanverschlussrate von akuten Trommelfelldefekten normalerweise hoch ist; diskutiert werden folgende Faktoren: – genetische Faktoren: Pneumatisationsgrad des Mastoids, Schleimhautminderwertigkeit, Form des Nasenrachendachs und dadurch bedingte Tubendysfunktion – rezidivierende akute Mittelohrentzündungen (bei wiederholten Perforationen und/oder bei großen Destruktionen des Trommelfells) aufgrund einer Tubendysfunktion – Virulenz/Resistenz der Erreger – chronisches Mukotympanon: Atrophie der Kollagenfasern der Lamina propria – traumatisch (große Defekte), v. a. nach Schweißperlen- oder Blitzschlagverletzung (thermisches Trauma der Blutgefäße bzw. des Gewebes) – persistierende Perforation nach Paukenröhrcheneinlage – immunologische Faktoren (z. B. Interleukine 2, 3 und 4) ▬ Erreger: Pseudomonas aeruginosa, Staphylococcus aureus, Proteus spp., Enterobacteriaceae, Streptococcus viridans ▬ Infekte der oberen Luftwege können zu einer Infektion über die Tube führen ▬ Pathogene Keime (durch Badewasser, Wassersport etc.) können über den Gehörgang bzw. eine Perforation das Mittelohr besiedeln (durch fehlenden Schutz des Mittelohrs) → Ohrsekretion (im Intervall symptomlose Perioden) ▬ Ohrmikroskopie, ggf. Endoskopie: – Abstrich mit Antibiogramm (oft Pseudomonas aeruginosa) – Säuberung des Gehörgangs und des Trommelfells mit dem Sauger – aktive Entzündung: Paukenschleimhaut gerötet und verdickt, ggf. Polypenbildung – Resttrommelfell narbig, verdickt, mit tympanosklerotischen Einlagerungen – bei gewundenem Gehörgang und bei großer Perforation Trommelfellrand nicht immer voll überschaubar – ggf. kleine Perforation nur bei Valsalva-Manöver nachweisbar ▬ Tonaudiometrie: – bei einem Teil der Patienten Normalhörigkeit – Schallleitungsschwerhörigkeit: abhängig vom Zustand der Gehörknöchelchenkette (zu etwa 25 % Gehörknöchelchenläsion, v. a. im Bereich des langen Ambossfortsatzes) sowie von der Lokalisation (fehlende Schallprotektion des runden Fensters → Einschränkung der Phasenverschiebung zwischen rundem und ovalem Fenster) und der Größe des Defekts (schallaufnehmende Fläche verkleinert) – Innenohrbeteiligung bei jahrelanger Anamnese möglich → Veränderung der Knochenleitung durch Mittelohrprozess beachten ▬ Röntgenaufnahme des Felsenbeins nach Schüller: Pneumatisationshemmung des Felsenbeins, Verschattung bei Entzündungen Pathologische Anatomie Differenzialdiagnostik ▬ Perforationsrand mit Plattenepithel ausgekleidet; Plattenepithel reicht bis zu 1–2 mm auf die tympanale Seite ▬ Bestehendes Trommelfell bindegewebig verdickt, vernarbt und undurchsichtig; zum Teil Kalkeinlagerungen zwischen Bindegewebefasern in der Lamina propria ▬ Paukenschleimhaut: hyperplastisch oder auch polypös verdickt, Metaplasie (Zunahme der Zahl der Becherund Flimmerzellen) in den Mittelohrräumen; Narbe und Schleimhautsegel (durch reparative Prozesse) → Engstellen (z. B. Sekretstau) ▬ Cholesteatom (sichere otoskopische Identifikation des Defektrands) ▬ Otitis externa Klinisches Bild ▬ Rezidivierende, in der Regel geruchlose Otorrhö: wässrig, serös, schleimig, eitrig, gelbgrünlich (Sekretion kann fehlen, v. a. im Alter → trockene, reizlose Paukenhöhle) ▬ Schwerhörigkeit Therapie ▬ Ziele: – konservativ: Ausheilung der aktiven Entzündung, ggf. Operationsvorbereitung (»Trockenlegen«) – operativ: Trommelfellverschluss und Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette ▬ Maßnahmen: – konservativ: – gründliche mechanische Reinigung (Absaugen unter Mikroskop) – ggf. Abtragung von Polypen – Spülung, z. B. mit NaCl oder H2O2 – Applikation von Antiseptika, z. B. Taurolidon oder Povidon-Jod 235 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs – Ohrentropfen (3- bis 4-mal täglich, z. B. Ofloxacin, Ciprofloxacin), auch als temporäre Streifeneinlage ! Cave ▬ Die Anwendung von aminoglykosidhaltigen/ potenziell ototoxischen Ohrentropfen (Neomycin, Polymyxin B) bzw. Antiseptika ist (unter ärztlicher Kontrolle) nur im aktiven, sezernierenden Stadium möglich (anhaltende Sekretion, Schleimhauthyperplasie). ▬ Bei reizloser Perforation bzw. freiliegender Mittelohrschleimhaut sind Ohrentropfen wegen der Keimverschleppung in das Mittelohr kontraindiziert. ▬ Bei starker Otorrhö: keine Einlage von Streifen, da Stauungsgefahr mit Ausbildung von Komplikationen (Schmerzen, Mastoiditis etc.) besteht. – systemische Antibiotikatherapie (i. v.), auch präoperativ (Effizienz umstritten) bei ausgedehnten Entzündungen und erfolgloser lokaler Therapie – chirurgisch: – Tympanoplastik (Trommelfellverschluss mit oder ohne Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette; # Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr«) – ggf. Gehörgangserweiterung – ggf. Mastoidektomie bei chronischer Mastoiditis – ggf. flankierende Maßnahmen (Sanierung des Nasenrachenraums/Adenoidektomie, Septumoperation, Nasenmuscheloperation) Verlauf und Prognose ▬ Prinzipiell gutartiger Verlauf; aufgrund der Perforation und der Gefahr einer Sekretion Einschränkung der Lebensqualität ▬ Möglich sind: Schleimhautfibrose, Cholesteringranulom, Gehörgangsekzem ▬ Bei Abflussstauung: Schmerzen, Mastoiditis, Fazialisparese, Labyrinthitis, Gradenigo-Syndrom (sehr selten) Cholesteatom (chronische Knocheneiterung) – darunter liegende Granulationsschicht (Perimatrix; für Knochenabbau verantwortlich; s. unten, »Pathogenese«) Einteilung ▬ Klassische Einteilung: – primäres Cholesteatom: meist im Epitympanon, ausgehend von der Pars flaccida – sekundäres Cholesteatom: Plattenepithel wächst durch eine Trommelfellperforation in das Mittelohr (hinten oben randständiger Defekt oder Defekt im Bereich der Pars tensa) ▬ Nach dem Ursprungsort: – ausgehend von der Pars flaccida (Otitis media epitympanalis, Flaccida- oder Attikcholesteatom) – ausgehend von der Pars tensa (Pars-tensa-Cholesteatom, Otitis media mit hinten oben randständigem Defekt) ▬ Nach der Lokalisation: – epitympanale Cholesteatome: Pars flaccida oder Pars tensa – mesotympanale Cholesteatome: primäres Tensacholesteatom, sekundäres Cholesteatom der Pars tensa bzw. Cholesteatom bei Totaldefekt – pantympanales Cholesteatom: ausgehend von der Pars flaccida oder bei sekundärem Cholesteatom ▬ Nach dem Schweregrad bzw. der Ausdehnung: – prospektives Cholesteatom (fixierte Retraktionstasche) – Prächolesteatom (Anhäufung von Keratinschuppen) – manifestes Cholesteatom (Knochenabbau) ▬ Nach der Entstehung: – erworben – angeboren (genuin; echtes primäres Cholesteatom, Epidermoid) ▬ Sonderformen: – traumatisches Cholesteatom – Rezidivcholesteatom – Residualcholesteatom – iatrogenes Cholesteatom Definition Epidemiologie ▬ Fehlgeleitete Proliferation von verhornendem Plattenepithel in den Mittelohrräumen (eingewachsen oder versprengt) → fortschreitender Entzündungsprozess und Destruktion der Umgebung/Knochenabbau → Symptome ▬ »Perlmuttgeschwulst«: silberner Glanz der frisch freigelegten Keratinschuppen ▬ 2 Schichten: – oberflächlich gelegene Epithelschicht mit verhornendem Plattenepithel (Matrix) ▬ Vorkommen in jedem Lebensalter ▬ Genuines Cholesteatom: 3–5 % aller Cholesteatome Ätiologie ▬ Genetische Faktoren: familiäre Häufung, Rassenunterschiede ▬ Fehlbelüftung des Mittelohrs: Adenoide, habituelles Sniffen etc. ▬ Lokale Faktoren im Trommelfellbereich (Retraktionstasche) 3 236 Kapitel 3 · Ohr ▬ Rezidivierende Mittelohrentzündungen → Einwachsen von Plattenepithel (z. B. Pars flaccida) ▬ Traumatisch (Felsenbeinfraktur) Pathogenese 3 ▬ Chronische Tubenfunktionsstörung → rezidivierender negativer Druck im Mittelohr → Atrophie des Trommelfells → Invagination des hinteren oberen Quadranten (Pars tensa: hinten oben reduzierte Anzahl an Kollagenfasern in Lamina propria; wird bei Druckveränderungen besonders belastet → erhöhte Anfälligkeit für die Ausbildung einer Retraktionstasche) oder auch im Bereich der Shrapnell-Membran (Pars flaccida: keine konsequente Anordnung der Kollagenfasern; physiologische Belüftungsengstellen durch anatomische Strukturen, z. B. Hammerhals, Ambosskörper, Tensorsehne) ▬ Retraktionstasche: Keratinschuppen/Zelldetritus → aktives Granulationsgewebe → chronische Reizung → Tiefenwachstum des Plattenepithels in die Mittelohrräume und Knochenabbau ▬ Migration: aktives Vorwachsen von Plattenepithel ▬ Perimatrix: äußerer Reiz → Aktivierung von Langerhans-Zellen → Aufnahme von Antigenen → Langerhans-Zellen verlassen Epithel → Aktivierung von Makrophagen → Synthese von Interleukinen → Aktivierung von Osteoklasten → Knochenabbau ▬ Metaplasie: Umwandlung von Mittelohrschleimhaut in Plattenepithel ▬ Genuines Cholesteatom: Wachstum einer Cholesteatomperle (aus embryonaler Keimversprengung) hinter intaktem Trommelfell (Kinder), aber auch ausgedehnte Felsenbeincholesteatome (Erwachsene) ▬ Traumatisch: – ausgehend vom Gehörgang: Einklemmen/Einwachsen von Plattenepithel in Frakturspalt → über knöcherne Dehiszenz Einwachsen in das Mittelohr → Cholesteatom – ausgehend von der Tube: Retraktion des Trommelfells durch Belüftungsstörungen → Retraktionstaschen → Entzündungsreiz – Einwachsen von Epithel bei Trommelfelldefekt bzw. Einwachsen von Trommelfellteilen in das Mittelohr Klinisches Bild ▬ Typische fötide Otorrhö (»Schweißfuß«), bedingt durch Anaerobier ▬ Schwerhörigkeit (Hypakusis), Tinnitus – subtile Säuberung – charakteristischer randständiger Defekt in Shrapnell-Membran oder im hinteren oberen Trommelfellrahmen, zum Teil mit weißen Schuppen (»Perlmuttgeschwulst«) oder Granulationen (Zeichen eines aktiven Um- bzw. Abbauprozesses) – Retraktionstasche bis zur Destruktion der hinteren Gehörgangswand (»spontane Radikalhöhle«) möglich – kongenitales Cholesteatom: intaktes Trommelfell, weißlicher Prozess in der oberen Paukenhälfte hinter dem Trommelfell bei sonst lufthaltigem Mittelohr ▬ Abstrich: überwiegend Pseudomonas aeruginosa, aber auch Proteus mirabilis, Staphylokokken und Mischinfektionen ▬ Prüfung des Fistelsymptoms, Gleichgewichtsprüfung ! Cave Bei Verdacht auf eine Labyrinthfistel muss die Prüfung des Fistelsymptoms zurückhaltend erfolgen (zunächst Prüfung mit dem Finger, nicht zuerst mit dem PolitzerBallon). Eine Impedanzmessung ist wegen der möglichen Bogengangsfistel generell kontraindiziert. ▬ Audiometrie: – Normalhörigkeit möglich, z. B. im Frühstadium und bei Cholesteatomen der Pars flaccida, die die Pauke bzw. Gehörknöchelchenkette nicht tangieren; gelegentlich »Cholesteatomhörer« oder Trommelfell auf Stapesköpfchen – sehr häufig Schallleitungsschwerhörigkeit – Innenohrschwerhörigkeit (durch Toxine): Hinweis auf Komplikation ▬ Bildgebung: – Röntgenaufnahme nach Schüller: gehemmte Pneumatisation; sichtbare Bogengänge: Zeichen für großflächigen Knochenabbau (Differenzialdiagnose: Radikalhöhle); kongenitales Cholesteatom: gute Pneumatisation – Computertomographie zur Ausdehnungsbestimmung des Entzündungsprozesses und zum Ausschluss von Komplikationen > Wichtig Eine bildgebende Diagnostik (Computer-, Magnetresonanztomographie) kann eine »Second-look«-Operation (Kontrolloperation zum Ausschluss eines Cholesteatoms nach Cholesteatomoperation) nicht ersetzen. Diagnostik Differenzialdiagnostik ▬ Otoskopie mit Untersuchungsmikroskop, ggf. Endoskop: ▬ Chronische Schleimhauteiterung: v. a. zentrale Trommelfellretraktion in der Pars tensa 237 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Otitis externa, Otitis externa maligna ▬ Mittelohrkarzinom: anhaltende Sekretion, »Granulationsgewebe« (Histologie) ▬ »Spezifische« Entzündungen, Wegener-Granulomatose, »relapsing« Polychondritis Therapie ▬ Ziele: – Entfernung des Cholesteatoms und Abwendung von Komplikationen – Wiederaufbau der Mittelohrstrukturen – Rekonstruktion des Schallleitungsapparats ▬ Maßnahmen: – konservativ: – zur Operationsvorbereitung – kann Verlauf nur verlangsamen – als alleinige Therapie nur bei fehlender Operationsfähigkeit – Entfernung des Keratins → Reduktion des Entzündungsreizes → weitere Ausbildung der Retraktionstasche wird gebremst; ggf. Polypenabtragung > Wichtig Bei einem Cholesteatom ist aufgrund der Gefährlichkeit des Krankheitsprozesses immer eine umgehende operative Therapie indiziert. – chirurgisch: – # Kap. 21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« → »Spezielle Probleme und Therapieverfahren« → »Cholesteatomentfernung«) – radikale Mastoidektomie (offene Technik), in der Regel mit Höhlenverkleinerung – 2-Wege-Technik (geschlossene Technik) – Tympanoplastik, ggf. Ossikuloplastik im Intervall im Rahmen einer »Second-look«-Operation Verlauf und Prognose ▬ bei frühzeitiger Operation gut; es besteht jedoch immer die Möglichkeit eines Rezidivs, da die Ursache durch die Operation nicht beseitigt werden kann oder Cholesteatomreste bestehen bleiben (Residualcholesteatom; abhängig auch von der gewählten Operationstechnik: bei geschlossener Technik etwa 20–50 %, bei offener ungefähr 5 %); Rezidive v. a. bei Flaccidaund genuinen Cholesteatomen → ggf. »Second-look«Operation nach 6–12 Monaten erforderlich (ggf. dann auch Ossikuloplastik), falls keine Radikalhöhlenoperation (geschlossene Technik) erfolgte ▬ Destruktion der oberen und hinteren Gehörgangswand → Ausbildung einer »spontanen« Radikalhöhle ▬ Komplikationen (insgesamt relativ selten): – intrakranielle Komplikationen (selten, jedoch Cholesteatom in >50 % der Fälle Ursache aller intrakraniellen Komplikationen): – Meningitis, Hirnabszess, Epi-/Subduralabszess – Haupteintrittsforte: Labyrinthfistel oder Tegmen – Diagnostik: Computer-, Magnetresonanztomographie, ggf. Elektroenzephalographie, Szintigraphie – Therapie: neurochirurgischer Eingriff; Sanierung/ Verschluss des Infektionswegs durch Otochirurg – intratemporale Komplikationen: – Mastoiditis inklusive Sonderformen: Zygomatizitis, Citelli-Abszess, Bezold- und Muret-Mastoiditis – Labyrinthfistel: Knochenabbau im Bereich des Labyrinths mit Freilegung des häutigen Innenohrs (»Blue-line«-Knochen: oberflächlicher Knochenabbau mit Durchschimmern des häutigen Bogengangs); Häufigkeit: 6–12 %, fast immer lateraler Bogengang betroffen; Symptome: Schwindel, Nystagmus in das erkrankte Ohr, positives Fistelsymptom (nur in 40–60 % der Fälle); Therapie: wegen drohender Infektionsausbreitung immer Operation – Lähmung des N. facialis: meist durch Cholesteatom (80 % aller chronischen Mittelohrentzündungen); kann schlagartig einsetzen oder allmählich auftreten; Ursachen: neurotoxische Substanzen, Neuritis mit Degeneration durch Freilegung des Nervs; Therapie: immer Operation, oft auch Auftreten einer Labyrinthfistel – Sinusthrombose – Dysgeusie (Zerstörung der Chorda tympani) Sonderformen Infizierte Radikalhöhle ▬ Unterscheidung: – unmittelbar postoperativ infizierte Operationshöhlen (# Kap. 24.16.2, »Gehörgang, Mittel- und Innenohr« → »Radikalhöhlenoperation«) – Radikalhöhle mit hohem »Fazialissporn« und oft auch engem Eingang: – ohrmikroskopisch unübersichtlich, schlecht zu säubern (Detritus in Mastoid) – v. a. problematisch, wenn ausgedehntes Zellsystem vorliegt → Versuch der konservativen Behandlung – bei rezidivierenden/chronischen Entzündungen Nachoperation (»Radikalhöhlenrevision«„) Tympanosklerose ▬ Degeneration des subepithelialen Bindgewebes mit anschließender Verkalkung → Kalkeinlagerungen im 3 238 Kapitel 3 · Ohr ▬ 3 ▬ ▬ ▬ Trommelfell und Kalkmassen in Paukenhöhle mit Fixierung der Gehörknöchelchenkette (u. U. auch hinter wieder intaktem Trommelfell) Oft umschriebene Myringosklerose (etwa 30 % aller chronischen Schleimhauteiterungen mit Kalkeinlagerungen im Trommelfell), seltener ausgeprägte Tympanosklerose (ungefähr 3–5 %); oft junge Frauen betroffen Ursachen: rezidivierende Mittelohrentzündungen, Entzündungen der Mittelohrschleimhaut, Autoimmunprozesse Klinisches Bild: Schallleitungsschwerhörigkeit durch Fixation des Stapes, oft zentrale Trommelfellperforation Therapie: Tympanoplastik (2-zeitig: zunächst Trommelfellverschluss, im Intervall Malleovestibulopexie); die Indikation zur hörverbessernden Operation sollte aufgrund der audiologischen Spätergebnisse und der Gefahr der postoperativen Innenohrschwerhörigkeit zurückhaltend gestellt werden Adhäsivprozess ▬ Atrophisches Trommelfell liegt der medialen Paukenhöhle und der Gehörknöchelchenkette fest an → Trommelfell nicht mehr schwingungsfähig ▬ Meist im Bereich des hinteren oberen Tromelfellquadranten ▬ Einteilung nach Sadé: – Grad 1: bleibende Trommelfellverlagerung in Richtung Pauke – Grad 2: bleibende Anlagerung an das Stapesköpfchen (spontane Tympanoplastik Typ III) – Grad 3: Trommelfell erreicht das Promontorium – Grad 4: breitflächige Verbindung mit der Schleimhaut des Promontoriums ▬ Schallleitungskomponente oft nicht sehr ausgeprägt (direkte Schallübertragung auf Kette und wenn das runde Fenster noch belüftet ist) ▬ Ursache: chronische Tubenfunktionsstörung → Paukenatelektase (reversibel) → Trommelfellschädigung im Bereich der Lamina propria → Myringomalazie ▬ Therapie: Trommelfellrückverlagerung, Verstärkung des Trommelfells (Knorpelpalisadentechnik), Verbesserung der Tubenfunktion (Ergebnisse relativ schlecht, da Ursache nicht beseitigt werden kann) ▬ Komplikationen: Schädigung des Amboss-SteigbügelGelenks bzw. der Gehörknöchelchen (z. B. Stapes), Ausbildung eines Cholesteatoms innerhalb der Atelektase (bei Störung des Selbstreinigungsmechanismus) Paukenfibrose ▬ Derbe, narbige Verwachsungen im Mittelohr mit Teilobliteration (speziell um Gehörknöchelchenkette) – das weißlich bedeckte Trommelfell ist intakt ▬ Folge rezidivierender Mittelohrentzündungen, oft unklare Genese (ggf. Tuberkulose) ▬ Entzündliches Stadium: bindegewebige Organisation des Exsudats ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit (durch Fibrose und Ossikeldefekte) ▬ Therapie: Tympanoplastik (ggf. mit Platzhaltereinlage, Paukenröhrchen, Kortikoidgabe); Operationserfolg schlecht (daher zurückhaltende Indikation) Chronische Myringitis ▬ Granulierende Entzündung der Plattenepithelschicht des Trommelfells und auch der Lamina propria ▬ Klinisches Bild: Otorrhö; Hörvermögen meist normal ▬ Ursache: unklar, ggf. lokale Ernährungsstörungen oder Milieuveränderungen ▬ Otoskopie: Trommelfellbereich mit granulierender, feuchter Oberfläche in Form eines flächenhaften Ulkus oder narbige Veränderungen ▬ Therapie: Lokalbehandlung, Reinigung, bei narbiger Gehörgangsatresie Operation ▬ Komplikation: Ausbildung von Gehörgangsstenosen »Spezifische« Entzündungen ▬ Werden besser als »granulomatöse Entzündungen« bezeichnet (Begriff der »spezifischen« Entzündungen ist historisch und geht auf die damalige Auffassung zurück, man könne aus dem histologischen Bild auf die Ursache der Entzündung schließen); Nachweis von Granulomen erlaubt jedoch nur eingeschränkt Rückschlüsse auf die Ursache der Entzündung, eine Aussage zur Ätiologie erfordert gewöhnlich weitere Untersuchungen Tuberkulose ▬ Relativ seltene Erkrankung des Mittelohrs (in letzter Zeit jedoch steigende Inzidenz) mit uncharakteristischem Erscheinungsbild ▬ 2 Verläufe: akut, schleichend ▬ Schleimhautentzündung → Entzündung von Periost und Knochen → Gewebenekrosen mit Knochensequestern → bei akuter Form (selten) rasche Zerstörung des Trommelfells, bei chronischer Form schleichender Verlauf ▬ Klinisches Bild: multiple Perforationen des Trommelfells mit Schmerzen und therapieresistenter, lang andauernder Otorrhö ▬ Röntgenaufnahme nach Schüller: oft gute Pneumatisation ▬ Diagnosestellung durch Operation (Mastoidektomie und Tympanoplastik) mit Histologie, Abstrich und bakteriologische Kultur des Gewebes (unfixiert) 239 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Röntgenuntersuchung des Thorax ▬ Therapie: neben chirurgischer Sanierung Tuberkulostatika (# Kap. 2.2.3, 13.2.4) ▬ Komplikationen: Innenohr- und Schallleitungsschwerhörigkeit, Fazialisparese Aktinomykose ▬ Selten ▬ Primäre Form: Infektion über Tube und Trommelfellperforation ▬ Sekundäre Form: Infektion per continuitatem (Hals, Parotis, Zähne etc.) ▬ Klinisches Bild: rezidivierende Mastoiditis mit Otorrhö ▬ Therapie: Mastoidektomie mit längerfristigen Antibiotikatherapie (3–6 Monate) Wegener-Granulomatose ▬ Mittelohr anfangs als akute oder seromuköse Form betroffen ▬ Innenohrbeteiligung (immunologische Reaktion der Innenohrstrukturen) und Fazialisparese möglich, auch beidseitige zentrale Trommelfellperforation; Pauke mit Granulationen angefüllt ▬ Reduktion des Allgemeinzustands und Beteiligung anderer Organsysteme (# Kap. 2.3.4) ▬ Therapie: Glukokortikoide und Immunsuppressiva → rasche Besserung (Verminderung der Otorrhö, Verbesserung des Hörvermögens, Fazialisparese rückläufig) Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Tos M, Thomsen J, Petersen E (Hrsg.) (1989) Cholesteatoma and mastoid surgery. Kugler & Ghedini Publications, Amsterdam Berkeley Milano Wigand ME (2001) Restitutional surgery of the ear and temporal bone. Thieme, Stuttgart New York Wullstein HL (1968) Operationen zur Verbesserung des Gehöres. Grundlagen und Methoden. Thieme, Stuttgart New York Wullstein HL, Wullstein SR (1986) Tympanoplastik. Osteoplastische Epitympanotomie. Thieme, Stuttgart New York Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen K. Schwager > Wichtig Intrakranielle Komplikationen otogener Entzündungen sind zwar in der Ära der Antibiotika sehr selten (<1 %), stellen aber trotz moderner Diagnostik und wirksamer Antibiotika auch heute noch schwerwiegende, lebensbedrohliche Krankheitsbilder dar (Mortalität von etwa 15 %). Otogene Meningitis Definition ▬ Durch eine Entzündung der Mittelohrräume hervorgerufene Infektion der Meningen ▬ Häufigste otogene Komplikation (>50 %) Cholesteringranulom Ätiologie ▬ Sonderform der Fremdkörpergranulome (Cholesterinkristalle umgeben von Fremdkörperriesenzellen): – Cholesterinkristalle, Talkumpuder, Nahtmaterial → Fremdkörperreiz → chronisch-polypöse Entzündungen im Mittelohr – Reaktion des Mittelohrs auf Abfluss- und Belüftungsstörungen (Narbensegel, Cholesteatomsack, Restzellen) ▬ Bläuliche oder grünbraune Färbung unter Epithelauskleidung durch Einblutung oder Hämosiderin, »Schokoladenzyste« ▬ Therapie: operative Ausräumung und suffiziente Drainage ▬ Fortgeleitet von akuter/chronischer Otitis media/ Mastoiditis ▬ Labyrinthitis (Rarität) ▬ Ausbreitung über präformierte Verbindungen (Blutgefäße, Diploevenen, Dehiszenzen, angeborene Fehlbildungen, z. B. abnormer Aquaeductus cochleae) oder Frakturen Literatur Klinisches Bild Fisch U (Hrsg.) (2008) Tympanoplasty, mastoidectomy and stapes surgery, 2nd edn. Thieme, Stuttgart New York Hildmann H, Sudhoff H (Hrsg.) (2006) Middle ear surgery. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Sadé J, Berco E (1976) Atelectasis and secretory otitis media. Ann Otol Rhinol Laryngol 85: 66–72 ▬ Akut einsetzende Symptomatik mit Fieber und Meningismus ▬ Lärm- und Lichtscheu ▬ Berührungsempfindlichkeit, Muskelschmerz, starker Kopfschmerz > Wichtig Bei einer Meningitis mit unklarem Ausgangspunkt (v. a. bei einer Infektion mit Streptococcus pneumoniae) muss an das Mittelohr bzw. die Laterobasis als Ausgangspunkt gedacht werden (Computertomographie). 3 240 Kapitel 3 · Ohr ▬ Übelkeit, Erbrechen ▬ Agitiertheit, Verwirrtheit bis Somnolenz/Koma ▬ Neurologische Herdsymptome: Aphasie, Hemiparese, Hirnnervenausfälle ▬ Epileptische Anfälle 3 ! Cave Die »klassischen« Symptome und Zeichen einer otogenen Komplikation werden kaum noch beobachtet, sodass die Gefahr einer Fehldiagnose besteht. Bei der Kombination von entzündlicher Ohrerkrankung und neu aufgetretenen neurologischen Symptomen muss immer nach einer intrakraniellen Komplikation gefahndet werden. Diagnostik ▬ Anamnese: akute Otitis media/chronische Otitis, Cholesteatom, Mastoiditis – auch krankheitsarme Intervalle (larvierte Mastoiditis) ▬ Ohrmikroskopie: Befunde wie bei akuter oder chronischer Otitis media; Trommelfell kann auch unauffällig sein ▬ Klinische Prüfung: # Kap. 5.5.4 (»Komplikationen von Nasennebenhöhlenentzündungen«) ▬ Lumbalpunktion (vorher Computertomographie zum Ausschluss von Hirnödem und Hydrozephalus; Cave: Gefahr der Hirnstammeinklemmung im Foramen magnum) ▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins: Verschattung des Mittelohrsystems ▬ Gegebenenfalls Magnetresonanztomographie Therapie ▬ Sanierung des Ausgangsherds (Mastoidektomie, Cholesteatomsanierung) nach Stabilisierung des Allgemeinzustands: Eröffnung bzw. Ausräumung der betroffenen Regionen des Ohres und Drainage ▬ Intravenöse Antibiotikatherapie (nach Erreger und Resistenzlage), Kortikoide ▬ Behandlung der Meningitis durch Pädiater und Neurologen > Wichtig Meningitis und andere intrakranielle Komplikationen erfordern bei radiologisch nachgewiesener Verschattung und knöchernen Einschmelzungen im Bereich des Os temporale eine operative Sanierung. Epiduralabszess (Extraduralabszess, Pachymeningitis externa circumscripta) Definition ▬ Eiteransammlung im Epiduralraum (Eiter zwischen Dura und Periost des Schläfenbeins) Ätiopathogenese ▬ Meist Komplikation einer Mastoiditis, auch eines Cholesteatoms, manchmal »Zufallsbefund« bei Mastoidektomie/Cholesteatomsanierung, dann symptomarm/symptomlos ▬ Fortgeleitet bei Meningitis und Thrombophlebitis Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Insgesamt uncharakteristische Symptome bzw. Symptomarmut (Abszess steht nicht mit dem Liquor in Verbindung): subfebrile Temperaturen, Kopfschmerzen, reduziertes Allgemeinbefinden (obwohl z. B. Entzündungsherd saniert wurde) ▬ Bei gesteigertem Hirndruck entsprechende zerebrale Symptome ▬ Computer-/Magnetresonanztomographie ▬ Labordiagnostik (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentration des C-reaktiven Proteins) Therapie ▬ Immer Sanierung des Ursprungsherds (Mastoidektomie, Cholesteatomsanierung/Radikalhöhlenoperation) ▬ Drainage des Abszesses (Kooperation mit Neurochirurgie), ggf. alleinige antibiotische Therapie bei kleinen Abszessen ▬ Begleitende hochdosierte Antibiotikatherapie, ggf. Kortikoide Verlauf und Prognose ▬ Bei adäquater Therapie günstig Subduralabszess/-empyem Definition ▬ Eiteransammlung im Subduralraum (Arachnoidalraum) ▬ Seltenes Krankheitsbild Ätiopathogenese ▬ Otogener Entzündungsherd → Meningitis → Ausbreitung durch Dura → Abszess/Empyem → flächenhafte Ausbreitung über weite Areale der Hemisphäre bis zur Gegenseite → ggf. Enzephalitis Verlauf und Prognose ▬ Bei rechtzeitiger, adäquater Therapie relativ gut ▬ Innenohrschwerhörigkeit oder sogar beidseitige Ertaubung möglich Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Schweres Krankheitsbild, bei dem typische klinische Zeichen fehlen 241 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ▬ Plötzlich einsetzender, starker, einseitiger Kopfschmerz, Somnolenz, Paresen, Krampfanfälle, Aphasie, Fazialisparese ▬ Computer-, besser Magnetresonanztomographie ▬ Liquorbefund: nur geringe Veränderungen Therapie ▬ Drainage in Kooperation mit Neurochirurgen ▬ Meningitisbehandlung, Sanierung des Ausgangsherds ▬ Antibiotikatherapie, Antiphlogistika > Wichtig Alle intrakraniellen Komplikationen, v. a. Abszesse, erfordern immer eine interdisziplinäre Absprache und Therapie mit der Neurochirurgie. Prognose ▬ Insgesamt schlecht (Hirninfarzierung) Enzephalitis Definition ▬ Umschriebene Entzündung von Hirngewebe ▬ Im weiteren Verlauf Entwicklung eines Hirnabszesses möglich Ätiologie ▬ Fortgeleitet von einer Meningitis oder einem Epiduralabszess/Subduralempyem Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Klinisches Bild entsprechend Meningitis oder Epiduralabszess/Subduralempyem (s. oben) ▬ Magnetresonanztomographie: unscharf begrenzte Hypodensität ohne oder mit geringer, unregelmäßiger Kontrastmittelanreicherung (frühe Enzephalitis) bzw. Hypodensität mit zentraler, flauer, ringförmiger Kontrastmittelanreicherung (späte Enzephalitis) Therapie ▬ Antibiotikatherapie: Kombination aus Cefotaxim oder Ceftriaxon und Metronidazol (bei unbekanntem Erreger) ▬ Engmaschige Kontrolle durch Bildgebung mittels Computer-/Magnetresonanztomographie (wahrscheinliche Ausbildung eines Hirnabszesses) Hirnabszess Definition und Einteilung ▬ Lokale Infektion des Gehirns, die sich zu einer Eiteransammlung mit Bindegewebekapsel entwickelt; Temporallappen- oder Kleinhirnabszess (Verhältnis von 3 : 1) ▬ Stadieneinteilung: – Initialstadium: begleitende Enzephalitis ohne Einschmelzung – Latenzstadium: Einschmelzung, Abgrenzung und Kapselbildung – Manifestationsstadium: Wachstum des Abszesses, Herd- und Hirndruckzeichen – Terminalstadium: meist tödlicher Ausgang (steigender Hirndruck, Einbruch in Ventrikelsystem) Ätiopathogenese ▬ Vor allem chronische Otitis media (Cholesteatom) → akute Exazerbation (Verhältnis zwischen akuter und chronischer Entzündung von 1 : 10) ▬ Fortgeleitet von Meningitis/Sinusthrombophlebitis ▬ Epi-/Subduralabszess/-empyem ▬ Vorausgehende Enzephalitis Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Insgesamt uncharakteristisches klinisches Bild ▬ Zeichen einer akuten oder chronischen Otitis media, v. a. Otorrhö ▬ Frühzeichen: Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen; im akuten Stadium Fieber ▬ Reduziertes Algemeinbefinden mit depressiver Verstimmung und Hirndruckzeichen: Schläfrigkeit, Benommenheit, Bradykardie, Somnolenz, Krämpfe, im Terminalstadium Atemstörungen ▬ Bei deutlicher Erhöhung des Hirndrucks Hirnstammeinklemmungszeichen mit Cheyne-Stokes-Atmung ▬ Auch gering symptomatische Entwicklung möglich, je nach Abszesslokalisation und Größe des Begleitödems ▬ Temporallappenabszess: v. a. Sprachstörungen (Aphasie), Halbseitenzeichen (epileptiforme Symptome der Gegenseite, Lähmungen der Hirnnerven I–VIII) ▬ Kleinhirnabszess: v. a. zerebelläre Gleichgewichtsstörungen (Ataxie), Dysdiadochokinese, Störungen der Blick- und Stützmotorik, Lähmungen der Hirnnerven III, IV, VI und VII ▬ Computer- und Magnetresonanztomographie, Elektroenzephalographie (Allgemeinveränderungen, Herdbefund) Therapie ▬ Hochdosierte intravenöse Antibiotikatherapie ▬ Bei reifem Abszess Sanierung vom Entstehungsort aus in enger Kooperation mit der Neurochirurgie: – Temporallappenabszess über das Dach von Mastoid oder Paukenhöhle – Kleinhirnabszess über Trautmann-Dreieck zwischen Sinus petrosus superior, Sinus sigmoideus und Labyrinthblock 3 242 Kapitel 3 · Ohr Verlauf und Prognose ▬ Höchste Letalität aller otogenen Komplikationen (bis zu 50 %) Otogene Sinusthrombose 3 Definition ▬ Thrombosierung meist des Sinus sigmoideus, die sich zur generalisierten Sinusthrombose entwickeln kann ▬ Seltenes Krankheitsbild stopfen des Sinus sigmoideus mittels Tamponade (hämostyptische Zellulose/Kollagenvlies) bei septischer Thrombophlebitis > Wichtig Bei jeder Mastoidektomie wegen einer akuten Mastoiditis muss eine Sinuspunktion zum Ausschluss einer Sinusthrombose erfolgen. ▬ In Absprache mit Pädiatrie/Innerer Medizin/Neurologie ggf. Antikoagulation (Heparinisierung zur Vermeidung einer Embolie) – wird kontrovers diskutiert Ätiopathogenese ▬ Begleitthrombose bei Mastoiditis/Cholesteatom/Meningitis ▬ Durchbruch der Entzündung in perisinösen Raum → Bildung eines Abszesses mit Periphlebitis des Sinus sigmoideus → obturierende Thrombosierung – in kranialer Richtung: Sinus transversus/sagittalis, Emissarium mastoideum – in kaudaler Richtung: V. jugularis interna ▬ Infizierter Thrombus → Streuung → otogene Sepsis Verlauf und Prognose ▬ Heutzutage relativ günstig ▬ Mortalität: <10 % ▬ Komplikationen: Hirnabszess, Meningitis, otogener Hydrozephalus (s. unten), sehr selten embolische Metastasen (V. cava → rechtes Herz → Lunge, ggf. großer Kreislauf) Otogener Hydrozephalus Definition Klinisches Bild ▬ Mehrfach täglich hohe Fieberzacken (septische Temperaturkurve) bei septischer Thrombophlebitis ▬ Griesinger-Zeichen als Hinweis: Venen hinter dem Warzenfortsatz (Vv. emissariae) sind infolge der Sinusvenenthrombose erweitert → Haut ödematös geschwollen und druckschmerzhaft Diagnostik ▬ Computertomographie mit Kontrastmittel, besser Magnetresonanztomographie; ggf. digitale Angiographie/Magnetresonanzangiographie zur Darstellung der venösen Phase ▬ Bei Mastoidektomie Punctio sicca (bei Punktion des Sinus keine Aspiration von Blut) ▬ Klinische Zeichen – Nachweis einer akuten oder chronischen Otitis media, Allgemeinsymptome (z. B. Fieber, Schwellung des hinteren Mastoids) – und Laborparameter (Blutbild, D-Dimere) sind nicht beweisend ▬ Sich langsam entwickelnder Hydrozephalus im Rahmen chronischer oder chronisch rezidivierender Erkrankungen des Mittelohrs/Mastoids ▬ Seltene Komplikation Ätiopathogenese ▬ Otogene Sinusthrombose/chronische Mastoiditis ▬ Vermutlich venöse Abflussstörung (v. a. bei einseitiger Hypoplasie des Sinus sigmoideus) bzw. Störung der intrakraniellen Hämodynamik → erhöhter Hirndruck → Hydrozephalus Klinisches Bild ▬ Gedeihstörung ▬ Kopfschmerz, Hirndruckzeichen, Stauungspapille Diagnostik ▬ Computer-/Magnetresonanztomographie ▬ Hirndruckmessung ▬ Spiegelung des Augenhintergrunds Therapie Therapie ▬ Primär chirurgisch, sekundär konservativ: Sanierung des Ausgangsherds, gezielte breite antibiotische Therapie ▬ Weites Freilegen des Sinus sigmoideus → Schlitzung → Thrombektomie, bis freier Blutfluss nach zentral oder peripher möglich ist (vorher ggf. Unterbindung der V. jugularis zur Vermeidung einer Embolie; bei Sepsis immer Unterbindung) → extraluminales Ab- ▬ Sanierung des Ausgangsherds: Mastoidektomie ▬ Gabe von Antikoagulanzien ▬ Behandlung des Hydrozephalus Petrositis (Pyramidenspitzeneiterung) Definition ▬ Purulente Infektion der Pyramidenspitzenzellen (Petroapizitis), ggf. mit Meningitis 243 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs > Wichtig Bei intrakranieller Komplikation, v. a. bei Cholesteatom, immer auch an Anaerobier denken Einteilung, Ätiologie und Pathogenese ▬ Akute Petrositis: entzündliche Reaktion im Bereich der pneumatisierten Anteile des Felsenbeins, v. a. perilabyrinthär und apikal ▬ Chronische Petrositis: osteomyelitische Knochenresorption und -neuformation; kann zum Teil unerkannt über Monate und Jahre bestehen ▬ Fortleitung von einer akuten oder chronischen Otitis media entlang der pneumatisierten Zellen des Felsenbeins (Voraussetzung: gute Pneumatisation der Pyramidenspitze), sehr selten hämatogen oder von einer Meningitis fortgeleitet ▬ Gelegentlich Auftreten eines Pyramidenspitzensyndroms durch Tumorinfiltration Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Schwere Kopfschmerzen, Klopfschmerzen in der entsprechenden Schädelhälfte ▬ Bei Vollbild Gradenigo-Syndrom (Pyramidenspitzensyndrom): – Otorrhö (akute oder chronische Mittelohrinfektion) – ipsilaterale Abduzensparese mit Doppelbildern (etwa 50 %) – Trigeminusschmerzen (1. und 2. Ast): Schmerzen im homolateralen Augenbereich oder hinter dem Auge (Entzündung des Ggl. trigemini) ▬ Sehr selten Fazialisparese ▬ Bildgebung: »High-resolution«-Computertomographie (»Verschwinden« der oberen Pyramidenkante, Auflösung der Knochenzeichnung, Aufhellung der Pyramidenspitzenregion), Magnetresonanztomographie, ggf. Knochenszintigraphie Therapie ▬ Mastoidektomie, Drainage betroffener Zellen, in schweren Fällen Petrosektomie (transkochleäre Pyramidenoperation, ggf. über transtemporalen Zugang; in Abhängigkeit vom Hörvermögen) ▬ Bei akuter Otitis media zunächst Antibiotikatherapie, bei ausbleibender Besserung Mastoidektomie, ggf. Pyramidenoperation Verlauf ▬ In vorantibiotischer Zeit wichtigster Ausgangspunkt für intrakranielle Komplikationen ▬ Letale Komplikationen: phlegmonöse Entzündung der A. carotis interna, Thrombose des Sinus cavernosus, Meningitis Sonstige Komplikationen ▬ Otogene Fazialisparese durch Toxine im Rahmen einer akuten oder chronischen Otitis media bzw. Mastoiditis (# Kap. 4.3.2) > Wichtig Im Rahmen eines intrakraniellen Abszesses können fast alle Hirnnerven einzeln oder in verschiedenen Kombinationen betroffen sein (v. a. N. abducens, N. trochlearis, N. trigeminus). ▬ Labyrinthitis (# Kap. 3.6.3) Literatur Beck C (1994) Otogene entzündliche Komplikationen. In: Helms J (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 632–647 Fleischer K (1994) Otogener Extraduralabszess – otogene Meningitis. In: Helms J (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 263–276 Kaftan H, Draf W (2000) Otogene endokranielle Komplikationen – trotz aller Fortschritte weiterhin ein ernst zu nehmendes Problem. Laryngorhinootologie 79: 609–615 Schwager K, Carducci F (1997) Endokranielle Komplikationen der akuten und chronischen Otitis media bei Kindern und Jugendlichen. Laryngorhinootologie 76: 335–340 3.5.5 Otosklerose T. Keck Definition ▬ Durch Knochenumbauprozesse gekennzeichnete Erkrankung der knöchernen Labyrinthkapsel, die klinisch meist durch Stapesfixation und Mittelohrschwerhörigkeit auffällt ▬ Prädilektionsstellen (nach Häufigkeit): ovales Fenster (bevorzugte Lokalisation), rundes Fenster, Promontorium, enchondrale Verknöcherungszone der Kochlea (Kapselotosklerose) Epidemiologie ▬ Erkrankungsbeginn: meist 20.–40. Lebensjahr ▬ Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer ▬ Familiäres Auftreten bei 25–50 % der Patienten (autosomal-dominante Vererbung) ▬ Im Rahmen von Felsenbeinsektionen bei Weißen 10mal häufiger als bei Schwarzen ▬ Klinisch: 8–12 Fälle/100.000 Einwohner/Jahr Ätiologie ▬ Unklar; diskutiert wird eine Virus- (Maserngenome in osteoklastischen und osteosklerotischen Bereichen) bzw. Autoimmungenese 3 244 Kapitel 3 · Ohr Pathogenese ▬ Mehrphasiger progressiver Knochenumbauprozess mit Sklerosierung des enchondralen Knochens der Labyrinthkapsel 3 Klinisches Bild ▬ Schleichend zunehmende Schwerhörigkeit oftmals beider Ohren (1/3 aller Fälle), bei Frauen häufig nach Schwangerschaft oder Kontrazeptivagebrauch (Östrogene stimulieren Osteozyten) ▬ Häufig Tinnitus (40–50 %), selten vestibuläre Symptome ▬ Traumatische Kettenluxation (Ambossluxation) oder Ossikelfraktur, z. B. Stapesfraktur ▬ Weitere Otodystrophien: – Osteogenesis imperfecta (van-der-Hoeve-Syndrom): genetisch bedingte Störung im Aufbau des Bindegewebes mit abnormer Knochenbrüchigkeit infolge einer gestörten Kollagensynthese, Stapesfixation und/oder Fraktur der Stapesschenkel (# Kap. 3.5.1, »Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen«) – Morbus Paget: monostotische oder polyostotische Manifestation (Gehörknöchelchen und Labyrinth) ▬ Otosyphilis ▬ Osteoradionekrose des Os temporale Diagnostik ▬ Unauffällige Anamnese ohne rezidivierende Otitiden ▬ Ohrmikroskopie: in der Regel reizlose, weite, zerumenfreie Gehörgänge ▬ Eventuell Schwartze29-Zeichen: vereinzelt ohrmikroskopisch zu erkennende Hyperämie des Promontoriums und der ovalen Nische (Ausdruck eines floriden otospongiösen Prozesses) ▬ Stimmgabeltests: Weber-, Rinne- und ggf. Gellé-Versuch ▬ Tonschwellenaudiometrie: – reine Schallleitungsschwerhörigkeit (30 %) – oftmals nachweisbare Carhart-Senke (wahrscheinlich mittelohrbedingte Innenohrsenke bei 1500– 2000 Hz) – kombinierte Schwerhörigkeit (70 %) – bei der selten diagnostizierten Kapselotosklerose reine Innenohrschwerhörigkeit ▬ Sprachaudiometrie ▬ Spitzgipfliges, aber verkleinertes Tympanogramm und ausgefallene Stapediusreflexe auf der erkrankten Seite ▬ Bildgebung (»High-resolution«-Computertomographie) nur bei Verdacht auf Kapselotosklerose oder Mittelohrfehlbildung; ggf. Röntgenaufnahme nach Schüller: gute Pneumatisation ▬ Präoperativ kalorische Gleichgewichtsprüfung, v. a bei Schwindelbeschwerden Differenzialdiagnostik ▬ Kleine Mittelohrfehlbildung (angeborene Stapesfixation, Fehlbildung der Gehörknöchelchen) ▬ Hammerkopffixation/Hammerbandverkalkung ▬ Tympanosklerose (postentzündliche Kettenfixation) ▬ Aseptische oder postentzündliche Knochennekrose, z. B. vom langen Ambossfortsatz 29 Hermann Schwartze (1837–1910), HNO-Arzt, Halle Therapie ▬ Ziele: – medikamentöse Stabilisierung der Innenohrleistung bei schnellem Leistungsabfall des Innenohrs (konservative Therapie der Grunderkrankung nicht bekannt) – Verbesserung der Schallübertragung vom Amboss zum Innenohr durch Korrektur bzw. Umgehung der Stapesfixation ▬ Maßnahmen: – medikamentös: Natriumfluorid (1-mal 40 mg/Tag oder 3-mal 25 mg/Tag) über 2 Jahre (Cave: Schwangerschaft) mit 500 mg Kalzium/Tag und 400 IE Vitamin D/Tag – ggf. bei rasch progredienter Innenohrschwerhörigkeit Therapieversuch mit Glukokortikoiden – Operation: konventionelle oder laserassistierte Stapedotomie oder Stapedektomie – Hörgerät: bei fehlender Operationsbereitschaft, letztem hörenden Ohr oder ausgeprägter/überwiegender Innenohrschwerhörigkeit/zu schlechtem Sprachverständnis > Wichtig Bei einem letzten hörenden Ohr mit otosklerotisch bedingter Schallleitungsschwerhörigkeit (Taubheit der Gegenseite) ist eine operative Korrektur in der Regel kontraindiziert (ggf. durch einen erfahrenen Operateur auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten nach entsprechender Aufklärung). Verlauf und Prognose ▬ Vor allem bei Kapselotosklerose progrediente Innenohrschwerhörigkeit bis zur Ertaubung möglich, gelegentlich auch bei Otosklerose mit Stapesfixation ▬ Durch Operation Hörverbesserung bis zur Aufhebung der Schallleitungskomponente in etwa 95 % der Fälle (konventionell oder mittels Laser) Literatur Arnold W, Häusler R (Hrsg.) (2007) Otosclerosis and stapes surgery. Advances in oto-rhino-laryngology. Karger, Basel Arnold W, Niedermeyer HP, Altermatt HJ, Neubert WJ (1996) Zur Pathogenese der Otosklerose. »State of the Art«. HNO 44: 121–129 de Souza C, Glasscock ME (2004) Otosclerosis and stapedectomy. Diagnosis, management and complications. Thieme, Stuttgart New York Hildmann H, Sudhoff H (Hrsg.) (2006) Middle ear surgery. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Schuknecht HF (1993) Pathology of the ear, 2nd edn. Lea and Febiger, Philadelphia Siddiq MA (2006) Otosclerosis: a review of aetiology, management and outcomes. Br J Hosp Med 67: 470, 472–476 Vartiainen E, Vartiainen T (1997) Effect of drinking water fluoridation on the prevalence of otosclerosis. J Laryngol Otol. 111: 20–22 3 245 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs ⊡ Tab. 3.10. Pathohistologische WHO-Klassifikation der Tumoren des Ohres Tumoren Kodierung Tumoren des äußeren Ohres Gutartige Tumoren der Zeruminaldrüsen Adenom 8420/0 chondroides Syringom 8940/0 Syringocystadenoma papilliferum 8406/0 Zylindrom 8200/0 Bösartige Tumoren der Zeruminaldrüsen 3.5.6 Tumoren des Mittelohrs P.R. Issing Übersicht und Einteilung Einteilung ▬ Benigne, maligne ▬ Nach dem histologischen Ursprung: epithelial, Weichgewebetumoren, Knochen- und Knorpeltumoren, maligne Lymphome, Pseudotumoren und andere (⊡ Tab. 3.10) Lokalisation und Ausbreitung ▬ Primäre Mittelohrtumoren entstehen in Paukenhöhle, Mastoid und Tuba Eustachii ▬ Ausbreitung in präformierten Hohlräumen: gutartige und v. a. bösartige Tumoren können knochendestruierend die Umgebung zerstören → Symptome (Schwerhörigkeit, Fazialisparese, Schwindel, Ausfall der kaudalen Hirnnerven, Otorrhö, »Duraschmerz«) Diagnostik Adenokarzinome 8420/3 adenoid-zystisches Karzinom 8200/3 mukoepidermoides Karzinom 8430/3 Plattenepithelkarzinom 8070/3 Embryonales Rhabdomyosarkom 8900/3 Osteom und Exostose 9180/0 Angiolymphoide Hyperplasie mit Eosinophilie (Morbus Kimura) 9125/0 Tumoren des Mittelohrs Adenom des Mittelohrs 8140/0 Papilläre Tumoren aggressiver papillärer Tumor 8260/1 Schneider-Papillom 8121/0 invertiertes Papillom 8121/1 Plattenepithelkarzinom 8070/3 Meningeom 9530/0 ▬ Inspektion, Ohrmikroskopie, ggf. Endoskopie ▬ Ton- und Sprachaudiometrie, Impedanzmessung, Vestibularisdiagnostik ▬ Bildgebung: Computer-, Magnetresonanztomographie, digitale Subtraktionsangiographie, ggf. Chemoembolisation ▬ Gegebenenfalls Biopsie (Verdacht auf Malignom; Cave: gefäßreiche Tumoren) Tumoren des inneren Ohres Differenzialdiagnostische Überlegungen Chronische lymphatische Leukämie vom B-Zell-Typ/lymphozytisches Lymphom 9823/3 bzw. 9670/3 Langerhans-Zell-Histiozytose 9751/1 ▬ Intaktes Trommelfell: weißliche Verfärbung hinter dem Trommelfell (genuines Cholesteatom), rötliche Verfärbung (Paragangliom, Schwartze-Zeichen bei Otosklerose; # Kap. 3.5.5), Pulsation und rötliche Ver- Vestibularisschwannom 9560/0 Lipom des inneren Gehörgangs 8850/0 Hämangiom 9120/0 Tumor des endolymphatischen Sackes 8140/3 Hämatolymphoide Tumoren Sekundäre Tumoren 246 Kapitel 3 · Ohr ▬ ▬ 3 ▬ ▬ färbung (fortgeschrittenes Paragangliom), bläuliche Verfärbung (Cholesteringranulom, Hochstand des Bulbus venae jugularis: v. a. untere Quadranten) Pulsierender Tinnitus: Paragangliom Hirnnervenausfälle: v. a. bösartige Tumoren, aber auch gutartige Schmerzen: Reizung des N. glossopharyngeus bei Mittelohrkarzinom Mastoiditis: Störung der Tubenbelüftung/Tubenverlegung Therapeutische Aspekte ▬ Gutartige Tumoren: vollständige operative Entfernung, dabei Operationsrisiko und evtl. Funktionsausfälle (Hirnnerven, Hören) beachten; ggf. »Secondlook«-Operation ▬ Maligne Tumoren: chirurgische Therapie nur dann, wenn vollständige Exstirpation des Tumors und der Metastasen möglich ist (Ausnahme: adenoid-zystisches Karzinom: meist wenig strahlensensibel); in speziellen Fällen Palliativeingriff (z. B. auf Wunsch des Patienten) ▬ Exakte Diagnosestellung meist nur histologisch möglich Differenzialdiagnostik ▬ Umfasst zunächst alle Erkrankungen, welche die genannten Symptome verursachen können: Otitis media chronica, Otosklerose etc. Therapie ▬ Entfernung über endauralen oder retroaurikulären Zugang, evtl. mit posteriorer Tympanotomie ▬ Rekonstruktion des Schallleitungsapparats ▬ Versuch der Fazialiserhaltung bei Neurinomen; wenn dies nicht möglich ist, Nervenrekonstruktion mit Interponat, z. B. durch N. auricularis magnus oder N. suralis Verlauf und Prognose ▬ Quoad vitam gut ▬ Rezidive v. a. bei Papillomem möglich ▬ Postoperativ bleibende Schallleitungsschwerhörigkeit > Wichtig Gutartige Tumoren Einteilung ▬ Adenome, Papillome, Hämangiome, Myxom, Neurofibrom, Neurinom, Chondrom, Osteom, Meningeom, Teratom und andere Epidemiologie ▬ Insgesamt sehr selten; keine genauen Daten vorhanden ▬ Inzidenz wird auf 1/40.000 bis 1/200.000 geschätzt Ätiopathogenese ▬ Meist unbekannt, bei Papillomen möglicherweise tubogen viral (humane Papillomaviren) Klinisches Bild ▬ Unspezifisch, meist sich langsam entwickelnde Schwerhörigkeit ▬ Eventuell Druckgefühl, selten Schmerzen ▬ Sich langsam entwickelnde Fazialisparese bei Fazialisneurinom wegweisend ▬ Selten Otorrhö Diagnostik ▬ Otoskopie in vielen Fällen wegweisend: Nachweis eines vom Mittelohr aus vorgewölbten, intakten, sonst reizlosen Trommelfells ▬ Bildgebende Diagnostik: Raumforderung im Mittelohr, in der Regel ohne Nachweis ossärer Destruktion Bei Fazialisneurinom Gefahr der Fazialisparese Paragangliom (nichtchromaffines Paragangliom, Chemodektom, »Glomustumor«) Definition ▬ Im Allgemeinen gutartiger Tumor, der von den Paraganglien ausgeht und eine den normalen Paraganglien ähnliche organoide Struktur aufweist ▬ Histologie: Anhäufung nichtchromaffiner Glomerula (Konvolut von Glomerulusstrukturen; nicht mit Chromsalzen anfärbbar) ▬ Kann hormonell aktiv sein (Hydroxyvanillinmandelsäure im Urin) ▬ Sporadisches oder familiäres, dann häufiger multizentrisches Auftreten möglich ▬ Neigt zu ossären Destruktionen und infiltrativem Wachstum ▬ Maligne Entartung mit Fernmetastasen in etwa 3 % der Fälle beschrieben ▬ Allgemeine Bezeichnung: Glomus-temporale-Tumoren Einteilung ▬ Je nach Lokalisation Differenzierung in: – Glomus-tympanicum-Tumoren (Mittelohr, mediale Paukenhöhlenwand) – Glomus-jugulare-Tumoren (Bulbus venae jugularis, Paukenhöhlenboden) – Glomus-vagale-Tumoren (N. vagus): # Kap. 10.3.4 (»Gutartige Tumoren« → »Paragangliome«) 247 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs – Glomus-caroticum-Tumor: # Kap. 10.3.4 (»Gutartige Tumoren« → »Paragangliome«) – laryngeale Paragangliome: # Kap. 8.4.5 (»Gutartige Tumoren«) ⊡ Tab. 3.11. Klassifikation nach Fisch Typ Befund A Entspricht Glomus-tympanicum-Tumor, auf Paukenhöhle beschränkt ▬ Absolut gesehen selten, aber häufigster Mittelohrtumor ▬ Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer ▬ Etwa 10-mal häufiger bei Hochlandbewohnern in den Anden (niedriger Sauerstoffpartialdruck?) als bei Bewohnern der gleichen Region, die auf Meeresspiegelhöhe leben B Wie Typ A, aber Arrosion des Hypotympanons, knöcherne Schale des Bulbus venae jugularis jedoch intakt C1 Glomus-jugulare-Tumor mit Arrosion der Bulbusschale sowie des Foramen caroticum ohne Infiltration der A. carotis interna C2 Wie Typ C1, aber Infiltration der A. carotis interna in ihrem vertikalen Verlauf Ätiologie C3 Wie Typ C2, aber infiltriert auch horizontalen Abschnitt der A. carotis interna ohne Foramen lacerum C4 Wie Typ C3, aber infiltriert Foramen lacerum und kann Sinus cavernosus erreichen D Glomus-jugulare-Tumor mit intrakranieller Ausdehnung, Differenzierung in: De: extradurale Ausdehnung Di: intradurale Ausdehnung zusätzliche Differenzierung nach der Größe: 1: <2 cm (Di 1/De 1) 2: >2 cm (Di 2/De 2)) 3: multilokulär (Di 3) Epidemiologie ▬ Bei familiärer Häufung chromosomale Aberration ▬ Autosomal-dominante Vererbung ▬ Phänotypische Expression hängt vom Geschlecht des betroffenen Elternteils ab: – Kinder von männlichen Genträgern entwickeln zu 50 % einen Tumor – Kinder von weiblichen Trägern werden zu 50 % Genträger, kein Auftreten von Tumoren Pathogenese ▬ Neubildung aus den nichtchromaffinen Zellen der extraadrenalen Paraganglien präoperative Embolisation und evtl. Ballonokklusionstest der A. carotis interna möglich – evtl. Somatostatinrezeptorszintigraphie Klinisches Bild ▬ Typisches pulssynchronenes Ohrgeräusch, Hörminderung, evtl. blutige Otorrhö ▬ Selten Gesichtslähmung, Heiserkeit und Dysphagie mit Aspiration ▬ Meist Kompensation des langsamen Ausfalls des N. glossopharyngeus und des N. vagus Diagnostik ▬ Rötlich-bläuliche, pulsierende Vorwölbung des Trommelfells (oft hinterer unterer Quadrant) ▬ Tympanometrie: pulssynchrone Impedanzänderung ▬ Audiometrie: Schallleitungsschwerhörigkeit ▬ Status der Hirnnerven VII, IX, X, XI und XII ▬ Bildgebende Diagnostik obligat: – »High-resolution«-Computertomographie zum Nachweis einer Knochenarrosion speziell der Schale über Bulbus venae jugularis und Canalis caroticus (Fisch-Klassifikation; ⊡ Tab. 3.11) – Magnetresonanztomographie zum Ausschluss einer möglichen Infiltration von Dura und Gehirn – beiderseitige digitale Subtraktionsangiographie zur Evaluation der Gefäßversorgung und der venösen Drainage (multifokales Vorkommen), außerdem Differenzialdiagnostik ▬ Paukenerguss (Cave: bei Parazentese massive Blutung ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ möglich) Mittelohrhämangiom Arteriovenöse Malformation Hochstehender Bulbus venae jugularis Aberrierend verlaufende A. carotis interna Aneurysma der A. carotis interna Meningeom Hämangioperizytom Mittelohrkarzinom Metastasen, z. B. von Hypernephrom, Schilddrüsenoder Mammakarzinom Therapie ▬ Ziel: Entfernung des Tumors unter Erhalt der Lebensqualität des Patienten ▬ Maßnahmen: – bei jüngeren Patienten komplette mikrochirurgische Entfernung 3 248 3 Kapitel 3 · Ohr – bei Typen A und B wie bei Tympanoplastik, ab Typ C meist über einen infratemporalen Zugang nach Fisch – Strahlentherapie (stereotaktische Radiochirurgie, z. B. mittels Gamma-Knife) bei alten Patienten oder nichtresektablen Tumoren (Erzielung eines Wachstumsstillstands) – bei Expression von Somatostatinrezeptoren Octreotid Prognose ▬ Quoad vitam meist gut, allerdings bestehen nicht selten postoperative Funktionseinschränkungen der Hirnnerven (Hirnnerven VII, IX, X und XII) mit dominierenden Problemen der Schluckfunktion (Aspiration) ▬ Bei inkompletter Entfernung unweigerliche Rezidivierung → Strahlentherapie zweckmäßig Sonstige gutartige Tumoren Papillome ▬ Extrem selten ▬ Entstehen primär im Mittelohr, gelangen aber auch über die Tube dorthin ▬ Histologie: papillomatöse Proliferationen (ähnlich wie invertiertes Papillom der Nasennebenhöhlen) ▬ Differenzialdiagnosen: Adenom, Paragangliom ▬ Therapie: vollständige Entfernung (dann gute Prognose) Hämangiome ▬ Sehr selten (Einzelberichte) ▬ Lokalisation: Trommelfell, Paukenhöhle, Mastoid ▬ Symptome: variabel (symptomlos, Schmerzen, Ohrsekretion, Hirnnervenausfälle) Adenome ▬ Entstehen aus Mittelohrschleimhaut der Pauke (hinter dem intakten Trommelfell), des Mastoids und der Tube (epitheliale Drüsenzellen, dystopes Speicheldrüsengewebe, Anlagen für Zeruminaldrüsen) ▬ Ähneln Paragangliom (wichtigste Differenzialdiagnose), bluten jedoch bei Berührung nur wenig (trotzdem Vorsicht bei Probeexzision, da Paragangliom vorliegen kann); weisen eine fibröse Kapsel auf ▬ Leitsymptom: Schwerhörigkeit ▬ Therapie: funktionserhaltene komplette mikrochirurgische Tumorentfernung (ansonsten Rezidive) Pleomorphe Adenome ▬ Extreme Rarität ▬ Gegebenenfalls Hirnnervenausfälle ▬ Diagnosestellung operativ/histologisch ▬ Therapie: vollständige Entfernung (ggf. mit Gefäßund Nervenrekonstruktion) Maligne Tumoren ▬ Meist Plattenepithelkarzinome, seltener Adeno- oder adenoid-zystische Karzinome ▬ Karzinoid als Rarität; nichtepitheliale maligne Tumoren sind ebenfalls sehr selten Plattenepithelkarzinom Histologie ▬ Hoch- bis wenig differenziertes Plattenepithelkarzinom Epidemiologie ▬ Selten: 1/1 Mio. Einwohner ▬ Verhältnis zwischen Männern und Frauen von 1 : 1,2 ▬ Auftreten meist zwischen 40 und 70 Jahren Ätiologie und Pathogenese ▬ Meist unbekannt ▬ Manchmal auf dem Boden eines chronischen Reizes bei Otitis media chronica entstehend ▬ Radiogene Ätiologie bei Leuchtzifferblattmalern Klinisches Bild ▬ Sanguinolente Otorrhö, Hörminderung, Schwindel, Schmerzen ▬ Hirnnervenausfälle (Hirnnerven VII, VIII, IX und X) ! Cave Da das Mittelohrkarzinom sehr selten ist, wird differenzialdiagnostisch oft nicht sofort daran gedacht. Eine therapieresistente, chronische, blutig-seröse Ohrsekretion mit Schmerzen ist karzinomverdächtig. Diagnostik ▬ Biopsie zur Artdiagnostik des Tumors ! Cave Gefahr der falsch-negativen Biopsie, da otoskopisch oft entzündliches Granulationsgewebe biopsiert wird, das der Tumor vor sich herschiebt ▬ Bildgebung: – kontrastmittelaufnehmende Raumforderung mit lokaler Invasion und ossärer Destruktion – Magnetresonanztomographie wichtig (Dura- und Hirninfiltration) – präoperativ digitale Subtraktionsangiographie (A. carotis interna), auch um bei Notwendigkeit der 249 3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs Resektion des Bulbus venae jugularis die Suffizienz der kontrateralen venösen Drainage zu klären – Sonographie der Halsorgane zum Ausschluss von Halslymphknotenmetastasen Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Otitis externa maligna Otitis media chronica Cholesteatom Andere Tumoren des Mittel- und äußeren Ohres Langerhans-Zell-Histiozytose (Histiozytosis X): – gutartige Raumforderung, deren tumoröse Genese nicht gesichert ist – klonale Proliferation der antigenpräsentierenden dentritischen Zellen des T-Zell-Systems – Diagnostik: Probeexzision und Histologie Therapie ▬ Ziel: Entfernung des Tumors unter Erhalt der Lebensqualität des (meist alten) Patienten ▬ Maßnahmen: – radikale Operation im Sinne einer Petrosektomie oder subtotalen Petrosektomie mit Resektion des N. facialis und selten der A. carotis interna – Strahlentherapie: postoperativ oder alleinig bei nichtresektablen Tumoren – Chemotherapie: bislang nur als Palliativmaßnahme Adenoid-zystisches Karzinom ▬ In der Regel vom äußeren Gehörgang ausgehend → Übergreifen auf Mittelohr und Felsenbein ▬ Typische kribriforme Struktur (durch mikrozystische Hohlräume mit Bindegewebemuzin), auch tubuläre, bandartige oder basaloide Anordnung der Tumorzellen ▬ Im Mittelohr selten ▬ Selten lymphogene, in der Regel jedoch hämatogene (zum Teil späte) Metastasierung (Lunge, Niere, Kleinhirn); u. a. auch deshalb ungünstige Prognose ▬ Frühzeitig Schmerzen und Fazialisparese; Schwindel und Innenohrschwerhörigkeit bei Einbruch in das Innenohr ▬ Diagnostik: Computer-, Magnetresonanztomographie ▬ Exzision mit größtmöglichem Sicherheitsabstand (ggf. Schnellschnitt) ▬ Geringe Strahlensensibilität (ggf. Neutronen: Verlangsamung des Tumorwachstums, Schmerzlinderung, ggf. postoperativ) Karzinoid ▬ Wegen des fortgeschrittenen Stadiums bei Diagnosestellung meist schlecht (5-Jahres-Überlebensrate: 15–50 %) ▬ Prätherapeutische Hirnnervenausfälle prognostisch besonders ungünstig ▬ Seltener Tumor ▬ Kann eine biphasische Differenzierung mit epitheloiden und neuroendokrinen Anteilen aufweisen ▬ Wichtigste Differenzialdiagnosen: Adenom, Adenokarzinom ▬ Histologie (immunhistochemisch und elektronenmikroskopisch): Nachweis der neuroendokrinen Spezifizierung der Tumorzellen, Nachweis von Intermediärfilamenten ▬ Lokalisation und Ausbreitung entsprechen dem Adenokarzinom ▬ Vollständige Resektion; Nachbestrahlung nicht sinnvoll ▬ Keine Metastasierung Sonstige epitheliale maligne Tumoren Literatur Adenokarzinom – Papilläres (Zystadeno-)Karzinom Abrams J, Hüttenbrink KB (1992) Die Implantationsmetastase eines Adenokarzinoms der Nebenhöhlen im Mittelohr. Laryngorhinootologie 71: 86–90 Barnes L, Eveson JW, Reichart P, Sidransky D (Hrsg.) (2005) World Health Organization classification of tumours. Pathology and genetics of head and neck tumours. IARC Press, Lyon Fisch U, Mattox D (1988) Microsurgery of the skull base. Thieme, Stuttgart New York Issing PR, Hemmanouil I, Stöver T et al. (1999) Adenoid cystic carcinoma of the skull base. Skull Base Surg 9: 271–275 Issing PR, Kempf HG, Schönermark M, Lenarz T (1995) Das Felsenbeinkarzinom – Aktuelle diagnostische und therapeutische Aspekte. Laryngorhinootologie 74: 666–672 Saldana MJ, Salem LE, Travezan R (1973) High altitude hypoxia and chemodectomas. Hum Pathol 4: 251–263 Seifert G (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Prognose ▬ Adenomatöse Grundstruktur mit zystischen Hohlräumen (Auskleidung mit papillären Anteilen); am Ohr sehr selten ▬ Tumor entsteht primär in Mittelohr und Os temporale, kann aber auch vom Gehörgang in das Mittelohr einbrechen; ggf. Implantationsmetastase (Nasennebenhöhle → Tube → Mittelohr) ▬ Langsames, örtlich destruierendes Wachstum; nicht metastasierend ▬ Frauen und Männer gleich häufig betroffen ▬ Anfangs Schallleitungsschwerhörigkeit (intaktes Trommelfell), oft jahrelange, schmerzlose Otorrhö und Bildung von atypischem »Granulationsgewebe«, später Innenohrschwerhörigkeit 3 250 Kapitel 3 · Ohr 3.6 Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis 3.6.1 Anomalien und Fehlbildungen 3 S. Mattheis, R. Siegert Übersicht ▬ Auftreten von Dysplasien und Aplasien des Innenohrs: – isoliert – in Kombination mit anderen Fehlbildungen ▬ Einteilung nach: – Schädigungsort – Schädigungsart Kochlea und Vestibularorgan Einteilung ▬ Verschiedene Klassifikationen der Innenohrfehlbildungen, ausgehend vom Ort der Fehlbildung und vom Zeitpunkt des Entwicklungsarrests (beispielhaft seien 3 Klassifikationen dargestellt) ▬ Klassische Dysplasietypen des Innenohrs: – Dysplasie Typ Michel: Aplasie des gesamten Innenohrs (Kochlea, Vestibularorgan), Aplasie des N. vestibulocochlearis – Dysplasie Typ Mondini: reduzierte Anzahl an Schneckenwindungen (eine oder 1,5 Windungen), verkürzte Basilarmembran, reduzierte Anzahl an Haarzellen – Dysplasie Typ Scheibe: Fehlbildung der häutigen Labyrinthanlage bei normaler Ausbildung der knöchernen Labyrinthkapsel – Dysplasie Typ Alexander: partielle Schädigung des häutigen Labyrinths; häufigste progrediente hereditäre Schwerhörigkeit – »common sac«: rudimentäre Ausbildung des Innenohrs im Sinne einer erweiterten Anlage des Vestibulums – Fehlbildungen des Vestibularorgans – Fehlbildungen des endolymphatischen und perilymphatischen Gangsystems (»large vestibular aqueduct syndrome«, »large cochlear aqueduct syndrome«) – Aplasie und Stenose des inneren Gehörgangs ▬ Klassifikation der Innenohrfehlbildungen nach Marangos: – Kategorie A (inkomplette embryonale Entwicklung): – komplette Aplasie des Innenohrs (Michel-Deformität) – »common cavity« (Otozyste) – Aplasie/Hypoplasie der Kochlea – Aplasie/Hypoplasie des posterioren Labyrinths – Hypoplasie des gesamten Labyrinths – Mondini-Dysplasie – Kategorie B (Abweichung von der normalen embryonalen Entwicklung): – erweiterter Aquaeductus vestibuli – enger innerer Gehörgang – lange Crista transversa – Meatus acusticus internus tripartus – inkomplette kochleomeatale Separation – Kategorie C (isolierte hereditäre Fehlbildungen – X-chromosomale Schwerhörigkeit) – Kategorie D: Fehlbildungen bei Syndromen, z. B.: – Pendred-Syndrom: # Kap. 2.1.4 – Alport-Syndrom: # Kap. 2.1.4 – Waardenburg-Syndrom: # Kap. 2.1.4 – Usher-Syndrom: # Kap. 2.1.4 – Klippel-Feil-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) – Franceschetti-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) – CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom): # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«) – Norrie-Syndrom: fortschreitende kochleäre Schwerhörigkeit bis zur Taubheit; Auge ebenfalls betroffen (Blindheit durch beidseitige pseudogliomatöse Hyperplasie der Retina, Katarakt, Hornhauttrübung, Bulbusatrophie), außerdem Intelligenzdefekte und Verhaltensstörungen – Wildervanck-Syndrom: # Kap. 3.5.1 (»Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen«) – Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom: # Kap. 2.1.4 ▬ Klassifikation der Innenohrfehlbildungen nach Sennaroglu: – kochleäre Malformationen: – Michel-Deformität – Kochleaaplasie – »common cavity« – Kochleahypoplasie – inkomplette Separation, Typen I und II – vestibuläre Malformationen: – Vestibulumaplasie – Vestibulumhypoplasie – Vestibulumdilatation – Malformationen der Bogengänge, des inneren Gehörgangs, des Aquaeductus vestibuli, des Aquaeductus cochleae 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Epidemiologie ▬ Anteil der Patienten mit Innenohrfehlbildung bei angeborener Taubheit bzw. Innenohrschwerhörigkeit schwankt zwischen 2 % und 35 % ▬ »High-resolution«-Computertomographie und Magnetresonanztomographie des Felsenbeins erhöhen die Nachweisrate einer Innenohrfehlbildung Ätiologie und Pathogenese ▬ Infektiöse Ursachen (z. B. Rötelnembryopathie), genetische Faktoren, Medikamente (z. B. Thalidomid) ▬ Entwicklungsarrest der kochleovestibulären Strukturen zwischen der 3. und 7. Woche ▬ Druckschwankungen des Liquorsystems auf das Innenohr bei »large vestibular aqueduct syndrome« bzw. »cochlear aqueduct syndrome« ▬ Aufgrund der zeitlich versetzten embryonalen Entwicklung der betroffenen Strukturen in der Regel kein Auftreten von kombinierten Innenohr- und Mittelohrfehlbildungen Klinisches Bild ▬ Taubheit oder Innenohrschwerhörigkeit ▬ Bei Kombination mit Fehlbildungen des äußeren Ohres Ohrmuscheldysplasie und Gehörgangsatresie mit Taubheit oder kombinierter Schwerhörigkeit (dann meist an Taubheit grenzend) ▬ Fazialisparese bei Aplasie des N. facialis (z. B. bei Fehlbildung des inneren Gehörgangs) ▬ Rezidivierende Meningitis (Fehlbildungen des endolymphatischen oder perilymphatischen Gangsystems) Diagnostik ▬ Inspektion der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs ▬ Bei Ohrmuscheldysplasien muss eine Schwerhörigkeit sicher ausgeschlossen werden ▬ Audiometrie mit subjektiven und objektiven Verfahren (otoakustische Emissionen, Hirnstammaudiometrie, Knochenleitungshirnstammaudiometrie) ▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins, Magnetresonanztomographie des Schädels (Kombination aus Computer- und Magnetresonanztomographie zur Aufdeckung von Innenohrfehlbildungen am aussagekräftigsten) ▬ Genetische Diagnostik, v. a. zum Nachweis einer Xchromosomalen Schwerhörigkeit Therapie ▬ Ziele: – audiologische Rehabilitation bei isolierten Innenohrfehlbildungen 251 – ästhetische Rehabilitation bei Patienten mit Innenohrfehlbildungen und Fehlbildungen des äußeren Ohres ▬ Maßnahme: Überprüfung der Indikation zur Anwendung eines Kochleaimplantats (dieses ist nicht mehr kontraindiziert; Ausnahmen: Michel-Malformation, Kochleaaplasie – bei vielen anderen Innenohrfehlbildungen kann durch Modifikation der Elektroden eine erfolgreiche Versorgung erreicht werden) Otobasis ▬ Arterielle Fehlbildungen: – persistierende A. stapedia: – entspringt aus A. carotis interna (Relikt der A. hyoidea) → Mittelohr (Promontorium → zwischen Stapesschenkeln → Fazialiskanal) → Ggl. geniculi → A. meningea media – entspringt alternativ aus A. pharyngea → mit Jakob-Nerv über Promontorium → Fallopio-Kanal – atypischer Verlauf der A. carotis interna: – mit kleinerem Kaliber kann A. carotis interna vor Bulbus venae jugularis das Mittelohr erreichen → Promontorium → unterhalb des Stapes → horizontaler Karotiskanal – gleichzeitiges Auftreten mit einer persistierenden A. stapedia möglich – atypischer Verlauf im Sinne eines Aneurysmas, welches durch das Mittelohr zieht ▬ Malformationen der V. jugularis: – Bulbushochstand: – kann bis in das Mittelohr reichen → Schallleitungsschwerhörigkeit, bläuliche Verfärbung hinter dem Trommelfell – bei forcierter Inspiration Reduktion des venösen Drucks und damit Reduktion der bläulichen Raumforderung hinter dem Trommelfell (differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Glomustumor oder arterieller Malformation → Sicherung der Diagnose durch Magnetresonanzangiographie) – einseitige Aplasie des Bulbus venae jugularis (etwa 5 % der Bevölkerung) mit kontralateraler Hyperplasie – Variationen der Siphonbildung (direkter Übergang des Sinus sigmoideus in V. jugularis) ▬ Dehiszenzen des Tegmen tympani: – Lokalisationen: – anterior und lateral an der petrosquamösen Sutur (Tegmen tympani) – Sinus-Dura-Winkel – Felsenbeinspitze 3 252 Kapitel 3 · Ohr – Ausbildung von Meningozelen, Meningitis und Liquorrhö (Oto-, aber auch Rhinoliquorrhö), v. a. bei Lokalisation im Sinus-Dura-Winkel oder an der Felsenbeinspitze ▬ Anomalien des N. facialis: # Kap. 4.3.1 3 Literatur Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95 Marangos N (2002) Dysplasien des Innenohres und inneren Gehörganges. HNO 50: 866–880 Sennaroglu L, Saatci I (2002) A new classification for cochleovestibular malformations. Laryngoscope 112: 2230–2241 Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte, Anomalien. Thieme, Stuttgart New York Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo 3.6.2 Traumatische und toxische Schäden C. Klingmann, P.K. Plinkert Traumatische Schäden Felsenbeinfrakturen Definition ▬ Laterobasale Fraktur der Schädelbasis im Bereich der Pars petrosa des Os temporale bzw. Schädelbasisfrakturen, die das Felsenbein einbeziehen Einteilung ▬ Längsfrakturen (60–70 %), Querfrakturen (10–20 %) – Einteilung in »Quer«- und »Längsfraktur« stammt aus der Zeit der 2-dimensionalen Bildgebung ▬ Komplexfrakturen (20–30 %) ▬ Isolierte Mastoidfrakturen (selten) ▬ Bilaterale Frakturen (2 %) ▬ »Atypische« Frakturen (>1 %) Epidemiologie ▬ Häufigkeit der Felsenbeinfrakturen: etwa 6–8 % der stumpfen Schädel-Hirn-Traumata ▬ Männer sind häufiger betroffen Pathogenese ▬ Längsfrakturen: Krafteinwirkung auf die Temporal- region des Schädels (seitliche Gewalteinwirkung) – Fraktur zieht bei gut pneumatisiertem Mastoid entlang der Felsenbeinpyramide von der Squama ossis temporalis zum Gehörgangsdach (hinterer Anteil) → Tegmen tympani → Ggl. geniculi → um den Labyrinthblock → entlang der vorderen Pyramidenfläche → Endung vor Foramen lacerum (mittlere Schädelgrube) – können zum Teil auch Sinus cavernosus durchsetzen → Foramen lacerum der Gegenseite – Beteiligung von Mittelohr/Mastoid, Tegmen tympani, Trommelfellebene, Tube – Labyrinth bleibt intakt – in der Regel Trommelfellruptur mit Blutung aus dem Gehörgang und evtl. Liquorrhö ▬ Querfrakturen: Krafteinwirkung auf den frontalen oder okzipitalen Schädelbereich (häufiger bei gehemmter Pneumatisation); durchsetzt die Felsenbeinpyramide senkrecht zu ihrer Achse verläuft durch: – innerer Gehörgang (innere Querfraktur): Spaltung der Pars petrosa im Fundus des inneren Gehörgangs mit Frakturverlauf in die mittlere Schädelgrube – Innenohr (äußere Querfraktur): Spaltung von Pars petrosa und Labyrinthblock (Trennung des vestibulären und kochleären Anteils des Labyrinths) – Hämatotympanon und Ausfall des Labyrinths (Gleichgewichtsstörungen, Taubheit) möglich ▬ Felsenbeinkomplexfrakturen: gemischter Frakturverlauf mit längs und quer zur Achse der Felsenbeinpyrmide ziehenden Frakturlinien (reine Längs- oder Querfrakturen sind selten) ▬ Isolierte Mastoidfrakturen: bei direkter Gewalteinwirkung auf die Ohrregion; Frakturverlauf durch das Mastoid und häufig den Sinus sigmoideus; das Mastoid kann regelrecht abgesprengt werden Klinisches Bild ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Blutung aus dem äußeren Gehörgang Hörminderung bis zur Ertaubung Vertigo und ggf. vegetative Begleitsymptome Fazialislähmung Kopfschmerzen Otoliquorrhö bzw. Oto-Rhino-Liquorrhö (# Kap. 3.6.5) Ätiologie ▬ Verkehrs- und Sportunfälle, Stürze und stumpfe Schlagverletzungen ▬ Überwiegend Berstungsfrakturen, weniger Biegungsfrakturen (# Kap. 5.5.3, »Rhinobasisfrakturen«): Schussverletzungen, transtympanale Stichverletzungen, Imressionsfrakturen der Kiefergelenkpfanne Diagnostik ▬ Anamnese: Unfallmechanismus, ggf. Fremdanamnese ▬ Inspektion der Mastoidregion: Schwellung/Hämatom? (Zerreißung des Sinus sigmoideus: Battle-Zeichen) ▬ Mikroskopische Otoskopie: Stufenbildung der Gehörgangshinterwand (bei Längsfraktur in unterschiedli- 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ cher Ausdehnung erkennbar), Trommelfellperforation (bei Längsfrakturen; meist im 4. Quadranten; Ränder sind nicht wie bei isolierter Verletzung eingeschlagen) oder Hämatotympanon (bei Quer- und Komplexfrakturen) bzw. Liquortympanon (pulsierender Erguss) Weber-/Rinne-Versuch: Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit Frenzel-Brille: Suche nach Spontannystagmen, ggf. thermische Prüfung (Cave: Trommelfellperforation), ggf. Reizung mit Luft Fazialisdiagnostik: – Fazialissofortparese: 4–20 % – Fazialisspätparese: 8–16 % – bei Längsfrakturen: 24–83 % – bei Querfrakturen: 11–62 % – bei Komplexfrakturen: 6–40 % Orientierende Riechprüfung Computertomographie des Felsenbeins: Frakturbeurteilung, Ausschluss eventueller intrakranieller Komplikationen (Blutungen, Pneumenzephalon, Hirnparenchymhernien) Gegebenenfalls Magnetresonanztomographie Bei Oto- oder Oto-Rhino-Liquorrhö: Liquordiagnostik (β2-Transferrin, β-Trace Protein; # Kap. 1.8.2) Neurochirurgische/neurologische Mitbeurteilung, da bei >90 % der Patienten eine Commotio cerebri besteht Differenzialdiagnostik ▬ Commotio labyrinthi bei fehlendem Frakturnachweis ▬ Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel bei Verletzung des Otolithenapparats (Anamnese) Therapie ▬ Ziele: – Wundbehandlung und Wiederherstellung der gestörten Funktionalität – Vermeidung intrakranieller Komplikationen und Spätkomplikationen ▬ Maßnahmen: – konservativ: – Gehörgangsreinigung: nur außen und nicht in Trommelfellnähe (erneute Blutung, Infektion) – steriles Abdecken des Ohres (Cave: keine Tamponade) – Schnäuzverbot – ggf. abschwellende Nasentropfen – abwartende Haltung und Abwarten der Verbesserung des Allgemeinzustands (zerebrale Mitbeteiligung) – Liquorrhö: Antibiotikaprophylaxe umstritten (# Kap. 3.6.5) 253 ! Cave Bei frischen Verletzungen des Ohres mit Blutungen oder Liquorrhö sind alle Manipulationen in Trommelfellnähe in Form von Saugen, Kürretagen, Parazentese, Tamponaden oder Tropfen zu unterlassen. – Innenohrstörungen: hochdosierte Kortisontherapie; keine rheologische Maßnahmen (Blutungsrisiko/Ausschluss zerebraler Blutungen) – Ausfall oder Störung des Gleichgewichtsorgans: symptomatische Therapie mit Antivertigenosa; ggf. Kortisontherapie, Schwindeltraining – Fazialisparese: bei Spätparese hochdosierte Kortisontherapie – operativ: – Soforttherapie bei hämodynamisch wirksamer Blutung oder massiver Makroliquorrhö (# Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr« → »Spezielle Probleme und Therapieverfahren« → »Verletzungen«) – bei Sofortparesen des N. facialis (# Kap. 21.5.2), bei Spätparesen in Abhängigkeit vom klinischen Verlauf und vom elektrodiagnostischen Befund – ggf. operative Sanierung bei Fraktur bei Zustand nach Radikalhöhlenoperation/Zertrümmerung des Höhlendachs; bei vorhandenen pathogenen Keimen Gefahr der intrakraniellen Infektion – im Intervall: persistierende Trommelfellperforation, Cholestatombildung, Paukenerguss (Obliteration der Tuba auditiva) Meningozelen → Tympanoplastik, T-Tube-Einlage, Meningoenzephalozelenanhebung/Stabilisierung mit Mesh etc. Verlauf und Prognose ▬ Allgemein: – Fazialisparese: # Kap. 4.3.2 – Otoliquorrhö: sistiert in der Regel spontan ▬ Längsfrakturen: günstigere Prognose: – Trommelfellperforation: verschließt sich normalerweise spontan – sensorineuraler, meist Hochtonhörverlust: persistiert in der Regel – Schallleitungsschwerhörigkeit: bei Hämatotympanon rückläufig → keine weiteren therapeutischen Maßnahmen; persistierende Schallleitungsstörungen sollten nach 6 Monaten therapiert werden (Tympanotomie) – gelegentlich Pneumenzephalon bei Luftdurchtritt durch Duralücke mit Luftansammlung im Endokranium (ggf. durch Überdruck, jedoch auch bei perforiertem Trommelfell) – Spätmeningitiden: Seltenheit 3 254 3 Kapitel 3 · Ohr – in 4 % der Fälle sekundäres (traumatisches) Cholesteatom ▬ Felsenbeinquerfrakturen: schlechtere Prognose: – regelhaftes Auftreten von irreversiblen Schäden des Hör- und Gleichgewichtssinns – persistierende Ertaubungen und Vestibularisausfall (keine Seltenheit) – Spätmeningitiden treten selten auf, sind jedoch aufgrund der bindegewebigen Ausheilung des Labyrinths zeitlebens möglich – Frakturen der Labyrinthkapsel heilen nie knöchern aus (enchondraler Labyrinthknochen kann keinen Kallus bilden) ▬ Komplexfrakturen: Kombination der Komplikationen von Längs- und Querfrakturen ▬ Isolierte Mastoidfrakturen: – gute Prognose, selten behandlungsbedürftig – Fazialisparesen möglich (ggf. operative Intervention) ▬ Komplikationen: – Sub-/Epiduralblutung, Hirnparenchymverletzung, Meningitis – hämodynamisch wirksame Blutungen aus einem Sinus, z. B. Sinus sigmoideus, Sinus petrosus superior, aus der A. carotis interna oder aus einer Meningealarterie – arteriovenöse Fistel Perforierende und umschriebene Verletzungen Definition ▬ Verletzung des Felsenbeins und des Labyrinths durch direktes Eintreten eines Fremdkörpers durch umschriebene Gewalteinwirkung (reine Biegungsfrakturen) Klinisches Bild, Diagnostik und Therapie ▬ Anamnese ▬ Gegebenenfalls eingespießter Gegenstand ▬ Klinisches Bild, Diagnostik und Therapie wie bei stumpfen Traumata der Schädelbasis (s. unten, »Commotio/ Contusio labyrinthi«; Ausnahme: Entfernung eines Fremdkörpers); Vorgehen je nach Befund/Verletzung ▬ Impression der Gehörgangsvorderwand: – eingeengter Gehörgang, zerfetzte Gehörgangswand, Koagel – Tastbefund und Otoskopie zeigen Mitbewegung der Gehörgangsvorderwand bei Kaubewegung – Reposition und straffe Einlage einer Tamponade/ Einlage eines Platzhalters Commotio/Contusio labyrinthi Definition, Ätiologie und Pathogenese ▬ Mechanische Erschütterung des Felsenbeins und/ oder des Labyrithblocks ohne radiologischen oder klinischen Nachweis einer Fraktur ▬ Kochleäre/vestibuläre Störung nach stumpfem Schädeltrauma der lateralen Schädelbasis ▬ Transmission einer Druckwelle → Felsenbein wird in Schwingung versetzt (wie bei Fraktur Auftreten kurzzeitiger Verformungen des Knochens, die aber Integrität nicht überschreiten → keine Fraktur des Felsenbeins) → mechanische Schwingung führt zu einer Knochenleitungsdruckwelle → Schädigung des Corti-Organs und der Bogengänge nebst Otolithenorgan → Degeneration der Haar- und Stützzellen, ggf. Blutung und Mikrofissuren ▬ Im Bereich des Corti-Organs ist v. a. die Basalwindung betroffen Klinisches Bild Ätiologie ▬ In Friedenzeiten sind direkte perforierende Verletzungen des Innenohrs und des Felsenbeins selten ▬ Messerstiche, Fallen auf spitze Gegenstände (Schere, Stricknadel), Arbeitsunfälle, selten Schussverletzungen ▬ Zusätzliches Auftreten von Biegungsfrakturen des Felsenbeins Pathogenese ▬ Spitze Gegenstände: Verletzungen von Innenohr, Felsenbein, Gehirn oder innerem Gehörgang (über Gehörgang, Trommelfell und transtympanal) oder Durchtrennung der Kalotte (über Mastoid/transtemporal) ▬ Sturz oder Schlag auf Kinn: Kieferköpfchen wird in Gelenkpfanne getrieben → Impression der knöchernen Gehörgangswand → Gehörgangsstenose ▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit, meist im Hochtonbereich; meist beide Ohren betroffen (okzipitale Einwirkung), bei parietalem Trauma v. a. einseitige Störung ▬ Tinnitus, Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, Kopfschmerzen Diagnostik ▬ Anamnese: Unfallhergang (forensische und gutachterliche Aspekte; ggf. Fremdanamnese bei retrograder Amnesie) ▬ Ohrmikroskopie: unauffälliger Gehörgangs-/Trommelfellbefund (Ausschluss: Trommelfellruptur, Hämatotympanon) ▬ Stimmgabelversuche ▬ Tonaudiometrie: relativ breite Hochtonmulde um 4 kHz, ggf. Hochtonabfall oder pantonale Innenohrschwerhörigkeit; zusätzlich Schallleitungskompo- 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ nente: Verdacht auf Luxation der Gehörknöchelchen (z. B. Amboss) Tinnitusanalyse Spontannystagmus Thermische Prüfung: Unter- oder Unerregbarkeit der geschädigten Seite Riechprüfung (Ausschluss einer Schädigung der Fila olfactoria) »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins/Magnetresonanztomographie: Ausschluss von Frakturen und intrakraniellen Komplikationen Differenzialdiagnostik ▬ Felsenbeinfraktur, Perilymphfistel, Labyrinthitis ▬ Zentrale Hörstörungen (bei zusätzlicher Commotio oder Contusio cerebri) ▬ Hörsturz: in der Regel einseitig (Anamnese) ▬ Neuropathia vestibularis und andere vestibuläre Krankheitsbilder Therapie ▬ Rheologische Therapie, hochdosierte Steroidbehandlung ▬ Antivertiginöse Therapie, Bettruhe 255 – explosives Trauma: Perilymphe strömt bzw. fließt aus dem Innenohr; z. B. Tubenblockade → forciertes Valsalva-Manöver → Anstieg des zerebrospinalen Drucks → Aquaductus cochleae und innerer Gehörgang → Perilymphe → Fensterruptur – eine Ruptur des runden oder ovalen Fensters tritt bei einem Innenohrbarotrauma selten auf; meist ist die Schädigung Folge der Druckwelle Klinisches Bild ▬ Plötzlich auftretende Innenohrschwerhörigkeit mit Tinnitus und/oder vestibulären Symptomen (Drehschwindel, Übelkeit und Erbrechen) Diagnostik ▬ Anamnese: insuffizienter Druckausgleich in der Kompressionsphase ▬ Otoskopisch Zeichen einer Mittelohrschädigung ▬ Tonaudiometrie: Innenohr- oder kombinierte Schwerhörigkeit, auch Taubheit ▬ Nystagmusprüfung, Videookulographie ▬ Computertomographie des Felsenbeins: evtl. Nachweis von Luft in Kochlea, Vestibulum und Bogengängen Differenzialdiagnostik Verlauf und Prognose ▬ Ungewiss, bei frühzeitigem Therapiebeginn zum Teil gut ▬ Schwerhörigkeit kann nach Trauma aber auch Progredienz zeigen, v. a. bei rezidivierenden Traumen, z. B. bei Kampfsportlern ▬ Vestibuläre Symptomatik: in der Regel gute Prognose (v. a. aufgrund der zentralen Kompensationsmechanismen) ▬ Komplikationen: Gehörknöchelchenluxation, progrediente Schwerhörigkeit, Ertaubung, Subduralblutung Barotrauma ▬ Dekompressionskrankheit bei Tauchern (CaissonKrankheit): – schnelles Auftauchen aus großen Tiefen (in der Regel >10 m) mit Freisetzung von Stickstoffbläschen → Embolie in Gehirn und Innenohr – Therapie: bei Verdacht auf Embolie oder bei neurologischen Ausfällen sofortige Rekompression des Patienten in einer Überdruckkammer – Prophylaxe: Auftauchen aus großen Tiefen nur langsam und mit regelmäßige Pausen ▬ Knall- oder Explosionstrauma: Anamnese, klinischer Befund Definition Therapie ▬ Akute, ein- oder beidseitige Verletzung im Bereich des Innenohrs als Folge einer Druckdifferenz zwischen dem Innenohr und dem auf den Körper einwirkenden Umgebungsdruck ▬ Tritt seltener auf als das Barotrauma des Mittelohrs ▬ Tympanotomie und Abdeckung des runden und ovalen Fensters bei Verdacht auf Perilymphfistel ▬ Begleitende antiphlogistisch-rheologische Therapie Verlauf und Prognose ▬ Nur in etwa 20 % der Fälle Restitutio ad integrum Ätiologie und Pathogenese ▬ Meist indirekte Folge eines Mittelohrbarotraumas (# Kap. 3.5.2) ▬ Ruptur des runden oder ovalen Fensters: – implosives Trauma: Luft strömt in das Innenohr; z. B. durch Tubenverschluss bedingter Mittelohrüberdruck → Fensterruptur Ototoxische Schäden Definition ▬ Schädigung der Innenohrfunktion durch körperfremde Stoffe mit den Symptomen Tinnitus, Hörverlust und/oder Schwindel 3 256 Kapitel 3 · Ohr Einteilung ▬ Nach der Art der Herkunft: 3 – exogene Toxine: nichtsteroidale Antirheumatika, Antibiotika, Zytostatika, Schleifendiuretika, Antimalariamittel, Schwermetalle, aromatische Kohlenwasserstoffe – endogene Toxine: Virus- und Bakterientoxine bei Infektionskrankheiten, toxische Stoffwechselmetabolite (Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Schilddrüsenfunktionsstörungen) ▬ Nach dem Angriffspunkt: – ototoxische Schäden im eigentlichen Sinne – ototoxische Schäden im weiteren Sinne (neurotoxisch: zentrale Veränderungen) Epidemiologie > Wichtig Intoxikation mit Azetylsalizylsäure: häufigste medikamentenbedingte Schädigung der Innenohrfunktion ▬ Innenohrschädigungen durch Antibiotika sind heute seltener geworden und werden v. a. durch Aminoglykosidantibiotika verursacht, die sowohl systemisch als auch lokal appliziert schädigend wirken ▬ Schädigungen durch Zytostatika sind seltener geworden (Verwendung angepasster Applikationsprotokolle) Ätiologie und Pathogenese ▬ Schädigungsmechanismen sind sehr heterogen ▬ Allgemeines Prinzip der Hörschädigung durch ototoxische Medikamente und Chemikalien: oxidativer Stress mit Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies und Störung des Gleichgewichts zwischen Sauerstoffradikalen und zelleigenen Antioxidanzien mit nachfolgender Lipidperoxidation sowie Reaktion mit Proteinen und DNA → Einleitung des programmierten Zelltods (Apoptose) ▬ Nichtsteroidale Antirheumatika: bei Dosierungen von 2–5 g Azetylsalizylsäure Wattegefühl im Ohr und Tinnitus → meist Auftreten einer sensorineuralen Hörstörung, die v. a. die hohen Frequenzen betrifft; vestibuläre Symptome sind selten ▬ Antibiotika: – im Vordergrund stehen die Aminoglykosidantibiotika (Pathogenese der Hörschädigung am besten untersucht) – Transport durch einen aktiven Prozess in die Haarzelle → Akkumulation in Endo- und Perilymphe → irreversible Bindung an Zellproteine → Freisetzung von Schwermetallionen → Ami- noglykosid-Schwermetall-Komplexe → Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen – »Gedächtnis« des Innenohrs für die toxische Wirkung der Aminoglykoside, d. h. es besteht eine lebenslange toxische Gesamtdosis, die nicht überschritten werden darf, aber interindividuell unterschiedlich sein kann (z. B. bei Gesamtgentamicindosis von <50 mg/kg KG Risiko für irreversible ototoxische Schäden von <2 %) – kochleär: Beginn mit Schädigung der basalen Haarsinneszellen mit Ausbreitung nach apikal, später Schäden in der Stria vascularis – vestibulär: Schädigung der Typ-I-Haarsinneszellen und der vestibulären dunklen Zellen – prognostische Faktoren: Dosierung, Applikationsart (ein- bis 2-mal tägliche Applikation besser als 3-mal tägliche Gabe), länger zurückliegende Behandlung (»Gedächtnis«), Nierenfunktion, bereits vorbestehende Hörschäden, familiäre Empfindlichkeit, Alter, Summation bei Lärm (vorbestehender Lärmschaden → Wirkung einer Lärmexpositon wird verstärkt), Kombination mit anderen ototoxischen Medikamenten, Anämie, Mangelernährung, mitochondriale Mutationen (z. B. A1555G) – embryotoxische Schäden des Gehörs – v. a. kochleotoxische Antibiotika: u. a. Amikacin, Kanamycin, Neomycin, Vancomycin, Erythromycin, Teicoplanin – v. a. vestibulotoxische Antibiotika: u. a. Gentamicin, Streptomycin, Tetrazykline, Polymyxin – in der Regel Schädigung beider Ohren, asymmetrische Hörstörungen möglich (z. B. Streptomycin, Kanamycin, Gentamicin) ▬ Zytostatika: v. a. Cisplatin: inhibiert die ATPase des Innenohrs und der Nieren → Tinnitus und Hochtonschwerhörigkeit; das modernere Carboplatin weist eine geringere Ototoxizität auf ▬ Schleifendiuretika: – führen in 90 % der Fälle zu reversiblen Innenohrschädigungen – Furosemid: hat Etacrynsäure weitgehend abgelöst, wesentlich weniger ototoxisch ! Cave Bei i. v. Bolusapplikation von 1 g Furosemid kann es innerhalb weniger Minuten zur irreversiblen beidseitigen Ertaubung kommen (Applikation hoher Dosen nur über Perfusor). ▬ Antimalariamittel: v. a. Chinin weist eine hohe Ototoxizität auf und führt zu Tinnitus sowie anfangs 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis ▬ ▬ ▬ ▬ reversibler, später irreversibler sensorineuraler Innenohrschwerhörigkeit und Schwindel; Mefloquin: v. a. vestibuläre Symptome Schwermetalle: bei beruflicher Exposition mit Blei, Mangan, Quecksilber und Cadmium können irreversible Hör- und Gleichgewichtsstörungen auftreten Aromatische Kohlenwasserstoffe: Benzol, Styrol, Tetrachlorwasserstoffe und andere führen bei akuten Vergiftungen zu reversiblen, bei chronischer Exposition zu irreversiblen Innenohrschädigungen Sonstige Medikamente: β-Blocker, orale Kontrazeptiva, Lokalanästhetika, trizyklische Antidepressiva, Antiepileptika Endogene Toxine: infektiös-toxisch (bakteriell, viral; z. B. »Grippeotitis«), Nierenfunktionsstörungen (z. B. Urämie), Hypothyreose, Neugeborenenikterus (Hyperbilirubinämie), Diabetes mellitus (durch Mikroangiopathie), Immunkrankheiten Klinisches Bild ▬ Abhängig von der ototoxischen Substanz: – Wattegefühl/Druckgefühl im Ohr – Hörverlust, Ertaubung – Tinnitus – Übelkeit und Erbrechen – Schwindel, Ataxie, Gangunsicherheit: Schwankbzw. ungerichteter Schwindel (Ausfall beider Labyrinthe → Dandy-Syndrom); wird z. B. aufgrund von Bettlägrigkeit zunächst nicht bemerkt Diagnostik ▬ Anamnese: Medikamentenanamnese, Tumorgrunderkrankung, Niereninsuffizienz, vorbestehender Hörschaden, berufliche Lärmexposition oder Lärmexposition in der Freizeit ▬ Ohrmikroskopie: in der Regel unauffällig ▬ Weber-/Rinne-Versuch: Schallempfindungsschwerhörigkeit ▬ Frenzel-Brille: Spontan-, Blickrichtungs-, Provokationsnystagmen ▬ Thermische Prüfung (Videookulographie) ▬ Otoakustische Emissionen: Nachweis der Haarzellschädigung (Monitoring während Zytostatikatherapie und ototoxischer Antibiotikatherapie) ▬ Tonaudiometrie: – Aminoglykoside, Schleifendiuretika: Beginn mit symmetrischem Hochtonhörverlust – Salizylate: meist beidseitig, unterschiedliches Ausmaß – Lokalanästhetika: meist einseitige, leichte Schwerhörigkeit 257 – hohe, einmalige Dosis eines Schleifendiuretikums: Ertaubung Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ Hörsturz Morbus Menière Zentrale Intoxikationen Vestibuläre Erkrankungen Therapie ▬ Abhängig von der Grunderkrankung: Absetzen der ototoxischen Medikation ▬ Reversible Innenohrstörungen müssen nach Absetzen der Noxe nicht weiter behandelt werden ▬ Behandlung der Grunderkrankung (bei akuter Niereninsuffizienz z. B. Hämodialyse) ▬ Ausreichende Hämodilution ▬ Systemische Kortisontherapie erwägen; soll z. B. bei Intoxikationen mit Chinin therapeutisch wirksam sein ▬ Antivertiginöse Therapie, Schwindeltraining ▬ Paukendrainage bei Otitis media acuta/Paukenerguss Prophylaxe ▬ Richtige Indikationstellung bei Gabe potenziell ototoxischer Medikamente ▬ Dosierung der potenziell ototoxischen Substanzen nach Körpergewicht ▬ Kontrolle und Überwachung der Nierenfunktion sowie des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts ▬ Patienteninformation über Frühsymptome (Druckgefühl, Tinnitus) ▬ Otoakustische Emissionen, Audiometrie und Vestibularismonitoring ▬ Vermeidung ototoxischer Kombinationsbehandlungen ▬ Besondere Vorsicht bei Risikopatienten: Nierenfunktionsstörung, Anämie, Diabetes mellitus, Neugeborene, Schock, Otitis media, Labyrinthitis, positive Familienanamnese für Innenohrfunktionsstörungen ▬ Ausreichende Vorhydratation des Patienten bei Zytostatika- und Antibiotikatherapie ▬ Tierexperimentell und im Humanversuch erweisen sich eine antioxidative Therapie sowie eine Behandlung mit Radikalfängern (z. B. Ascorbinsäure), Azetylsalizylsäure und metallbindenden Agenzien (z. B. Deferoxamin) zur Reduktion ototoxischer Nebenwirkungen von Aminoglykosidantibiotika und Platinzytostatika als wirksam ▬ Gegebenenfalls Testung auf mitochondriale Mutationen (z. B. A1555G) 3 258 Kapitel 3 · Ohr > Wichtig Bei Vorliegen einer Trommelfellperforation sollten nur Antibiotika ohne oder mit nur geringem ototoxischen Potenzial appliziert werden (z. B. Ciprofloxacin). 3 Verlauf und Prognose ▬ Abhängig von der ototoxischen Substanz, der Dosis und anderen Faktoren (z. B. Nierenfunktion) ▬ Hörverlust durch Aminoglykoside: kann nach Beendigung der Therapie fortschreiten oder erst bis zu 14 Tage zeitversetzt auftreten ▬ Salizylsäure: Hörstörungen bilden sich in der Regel nach Absetzen innerhalb von 24–72 h zurück ▬ Vestibuläre Symptome: Prognose normalerweise gut; bei beiderseitigem Labyrinthausfall jedoch keine zentrale Kompensationsmöglichkeit (DandyPhänomen) Akustisches Trauma Definition ▬ Physikalische (akustische und mechanische) Schädigung der Kochlea durch Schalldruckeinwirkung von außen Einteilung ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Akustischer Unfall Knalltrauma Explosionstrauma Akutes Lärmtrauma Chronische Lärmschwerhörigkeit (# Kap. 2.4.4) Ätiologie und Pathogenese ▬ Akustischer Unfall: – im deutschsprachigen Raum gebräuchliche Bezeichnung für eine Hörschädigung – Voraussetzungen für das Auftreten: – Einwirkung von Lärm mittlerer Intensität um 100 dB (A) – halswirbelsäulenbedingte Minderdurchblutung der A. labyrinthi der betroffenen Seite (Arbeiten über Kopf mit z. B. Presslufthammer → Torquierung der Halswirbelsäule) – vorbestehende Erkrankungen des Gefäßsystems und des kraniozervikalen Übergangs disponieren zur passageren Minderdurchblutung der Aa. vertebrales, die eine Minderperfusion der Aa. labyrinthi zur Folge haben → Vulnerabilität der Kochlea gegenüber Lärmeinwirkungen – meist liegt eine plötzlich einsetzende, einseitige Innenohrschwerhörigkeit vor, in der Regel ohne vestibuläre Symptome, gelegentlich mit Taubheit ▬ Knalltrauma: – Schallimpulse einer Dauer von <2 ms und einer Intensität von >150 dB (A) führen zu einer akustischen Schädigung der Kochlea im Bereich der apikalen Endung der Basilarwindung (4 kHz) – metabolische Belastung der Haarzellen, die zu reversiblen und irreversiblen Schädigungen führen kann – mechanische Zerstörung der Kochleastrukturen liegt nicht vor – vestibuläres System nicht betroffen – meist liegt eine einseitige Schädigung der dem Schall zugewandten Seite vor – Vorkommen bei Polizei, Militär, Jagdwirtschaft, Schießsport, Umgang mit Spielzeugpistolen ▬ Explosionstrauma: – Schalleinwirkungen einer Dauer von >2 ms und einer Intensität von >150 dB bewirken eine Druckwelle (Reifen- und Sprengstoffindustrie, Kraftfahrzeuggewerbe, chemische und Gasindustrie, Airbag) – akustische Innenohrschädigung – mechanische Verletzungen des Trommelfells und der Kochlea mit frühzeitigem Einriss des Trommelfells (z. B. aufgrund vorbestehender atrophischer Bereiche); bei protektiver Wirkung (nicht die gesamte Energie wird auf das Innenohr übertragen) ggf. Luxation/Fraktur der Ossikel – Rupturen der Rundfenstermembran und des ovalen Fensters – meist beide Ohren betroffen (einseitige Schädigung nur dann, wenn sich Explosionsquelle dicht am Ohr befindet) – kann Teil eines Polytraumas sein bzw. Auftreten anderer Verletzungen möglich – das Vestibularorgan ist regelmäßig mitbetroffen ▬ Akutes Lärmtrauma: – Lärmeinwirkungen, die deutlich länger einwirken als bei Knall- und Exposionstrauma, jedoch ähnliche Schallintensitäten aufweisen (≥100 dB; Disko-, Konzertbesuch, Kinderspielzeug, Tiefflugereignisse, Feuerwerkskörper) – zunächst kommt es aufgrund metabolischer Störungen (»Schallstress«) zu einer reversiblen Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold shift«) – bei längerer oder häufiger Belastung tritt ein irreversibler Haarzellschaden auf (metabolische Dekompensation: exzessiv erhöhter Sauerstoffverbrauch → Ischämie der Kochlea → Bildung freier Radikale → Verbrauch zellulärer Antioxidanzien → Zelltod); betrifft zunächst den Frequenzbereich um 4 kHz (C5-Senke) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – zunächst Schädigung der äußeren und danach der inneren Haarzellen – direkte mikromechanische Verletzungen spielen eine untergeordnete Rolle – Beteiligung des vestibulären Systems ist eine Seltenheit, sollte jedoch differenzialdiagnostisch abgeklärt werden (z. B. Contusio labyrinthi, Explosionstrauma, Ruptur eines Mittelohrfensters/Perilymphfistel) – meist beide Ohren betroffen ▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit: – Tägliche Lärmbelastung von >85 dB (A) für mehrere Stunden (Arbeitsschicht von 6–8 h) über Monate und Jahre – Am häufigsten Lärm am Arbeitsplatz (Maschinenlärm im weitesten Sinne), aber auch Benutzung von Walkmen, MP3-Playern und Musikinstrumenten (Blechblasinstrumente, Schlagzeug) sowie Motorradsport und Heimhandwerk – Wie beim akuten Lärmtrauma tritt zunächst eine reversible Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold shift«) auf (wenn die Lärmpausen ausreichend lang sind); dauert die Lärmexposition länger an als die Erholungsfähigkeit der Haarzellen, kommt es zu einem chronischen Lärmschaden (»permanent threshold shift«) – metabolische Störungen, die anfangs die äußeren Haarzellen betreffen; später Untergang der inneren Haarzellen, der afferenten Dendriten und der Ganglienzellen – betroffen ist zunächst der Hochtonbereich (C5Senke) mit symmetrischem Befall beider Ohren; später dehnt sich der Hörschaden in den Hochtonbreich aus und nach Jahren auch auf den Sprachbereich – Ausmaß und Progredienz abhängig von: – Belastungsparameter (Schalldruckpegel, Pegelanstieg, Expositionszeit, Frequenz) – Dauer der Erholungsphase – individuelle Lärmempfindlichkeit (genetisch vorgeschädigtes Innenohr, vorangegangener Hörsturz, vorausgegangene Behandlung mit ototoxischen Medikamenten) – keine vestibuläre Beteiligung Klinisches Bild ▬ Tinnitus: bei akuten Traumata in der Regel immer, bei chronischer Lärmschwerhörigkeit in 60–70 % der Fälle ▬ Hörminderung (progrediente Schwerhörigkeit bei chronischer Lärmschwerhörigkeit) ▬ Taubheit: einseitig bei akustischem Unfall, Asymmetrie bei Knalltrauma 259 ▬ Verständigungsschwierigkeiten in lauter Umgebung (»recruitment«), v. a. bei chronischer Lärmschwerhörigkeit ▬ Wattegefühl im Ohr, Taubheitsgefühl ▬ Otalgie: bei Lärm- und Explosionstrauma ▬ Gehörgangsblutung: bei Explosionstrauma mit Trommelfellverletzung ▬ Vestibuläre Beschwerden: nur bei Explosionstrauma Diagnostik ▬ Differenzierte Anamnese des Traumamechanismus (auch aus forensischen und gutachterlichen Gründen wichtig; ggf. Fremdanamnese bei Explosionstrauma); Berufs- und Freizeitanamnese, ggf. Erfragung der beruflichen Lärmbelastung bei Arbeitgeber oder Berufsgenossenschaft ▬ Ohrmikroskopie: Trommelfellperforation (bei Explosionstraumata), Hämatotympanon ▬ Stimmgabeltests (Weber, Rinne) ▬ Tonaudiometrie (ein- oder beidseitiger sensorineuraler Schaden, kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit bei Explosionstrauma); Lärmschwerhörigkeit: bilaterale C5-Senke bei 4 kHz, die bei andauernder Lärmexposition breiter wird; positives »recruitment« ▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit: Sprachaudiometrie, Stapediusreflexmessung, otoakustische Emissionen, Hirnstammaudiometrie (Ausschluss einer retrokochleären Störung; Cave: Lärmbelastung), CERA (»cortical evoked response audiometry«) ▬ Tinnitusanalyse ▬ Frenzel-Brille: Suche nach Spontannystagmen ▬ Thermische Gleichgewichtsprüfung (Videookulographie; bei Trommelfellruptur Reizung mit Luft) Differenzialdiagnostik ▬ Nichtlärmbedingte Schwerhörigkeiten/Innenohrstörungen Therapie ▬ Akute Traumata: – konservativ (Datenlage im Sinne randomisierter, kontrollierter klinischer Studien insgesamt schlecht): – hochdosierte Kortisontherapie, z. B. initial 500 mg Prednisolon (z. B. Decortin H), anschließend ausschleichendes Schema – rheologische orale Therapie mit Pentoxifyllin – Hämodilution, z. B. mit Hydroxyethylstärke 6 % – hyperbare Sauerstofftherapie bei mangelndem Ansprechen der medikamentösen Behandlung 3 260 3 Kapitel 3 · Ohr – operativ: – Trommelfellschienung bei Trommelfellperforation (Explosionstrauma) – später ggf. Tympanoplastik/Rekonstruktion der Gehörknöchelchen – Tympanotomie bei Verdacht auf Perilymphfistel/ Ruptur eines oder beider Innenohrfenster (Explosions- oder Knalltrauma) ▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit: – Hörgeräteversorgung – medikamentöse Therapie zwecklos – Prophylaxe wichtig (Gehörschutz, Lärmpausen) Prophylaxe ▬ Gegen Knall- und Explosionstraumata kann man sich aufgrund der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses nur schwer schützen ▬ Akustische Traumen können durch Schallschutzmaßnahmen und Vermeidung ungünstiger Körperpositionen, z. B. Bohrarbeiten über Kopf in geschlossenen Räumen, verhindert werden ▬ Akute Lärmtraumata lassen sich durch Lärmschutzmaßnahmen vermeiden ▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit kommt heute wesentlich seltener vor: – konsequente Lärmschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz (Gehörschutzkappen/-helm) – regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen – Lärmpausen, ggf. Lärmkarenz (Unfallverhütungsvorschrift »Lärm«) > Wichtig Expositionsprophylaxe – d. h. Lärm reduzieren, Abstand halten und Gehörschutz tragen – sowie Aufklärung (junge Erwachsene, Jugendliche, Kinder) sind die wichtigsten Prinzipien zur Verhinderung von Gehörschäden durch Lärm. Verlauf und Prognose ▬ Akustischer Unfall: Prognose mäßig/ungünstig, da häufig eine Hochtonschwerhörigkeit persistiert ▬ Knalltrauma: – bei so früh wie möglich begonnener Therapie zu >50 % Rückbildung der Ohrgeräusche und der Hochtonsenke innerhalb von Tagen und Wochen – eine über das Trauma hinausreichende Verschlechterung des Hörvermögens ist selten – ggf. persistierender Tinnitus ▬ Explosionstrauma: – insgesamt schlechte Prognose für Innenohrkomponente – komplette Ausheilung kommt selten vor – gelegentlich nach Jahren weiter progrediente Hörverschlechterungen – ggf. persistierender Tinnitus, ggf. Ertaubung ▬ Akutes Lärmtrauma: häufig wird nur eine reversible Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold shift«) beobachtet, die sich innerhalb von 24 h erholt; Prognose ist deshalb in einem Teil der Fälle sehr günstig ▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit: – Verbesserung des Hörvermögens wird nicht beobachtet, allerdings kommt es nach Beendigung der Lärmeinwirkung zu keiner Progredienz – ggf. persistierender und psychisch beeinträchtigender Tinnitus > Wichtig Bei einer trotz Beendigung der Lärmexposition fortschreitenden Innenohrschwerhörigkeit müssen differenzialdiagnostisch andere Innenohrerkrankungen in Betracht gezogen werden. Literatur Boenninghaus HG (1959) Ungewöhnliche Form der Hörstörung nach Lärmeinwirkung und Fehlbelastung der Halswirbelsäule. Z Laryngol Rhinol Otol 38: 585–592 Boenninghaus H-G (1979) Ohrverletzungen. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik. Bd 5: Ohr, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 20.21–20.48 Ernst A, Herzog M, Seidl RO (2004) Traumatologie des Kopf-HalsBereichs. Thieme, Stuttgart New York Federspil P (1994) Toxische Schäden des Innenohres. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-RhinoLaryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 782–796 Feldmann H (Hrsg.) (2006) Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Klingmann C, Knauth M, Ries S, Tasman AJ (2004) Hearing threshold in sport divers: is diving really a hazard for inner ear function? Arch Otolaryngol Head Neck Surg 130: 221–225 Lehnhardt E, Koch T (1994) Akustisches Trauma. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 757–767 Plath P (1991) Lärmschäden des Gehörs und ihre Begutachtung. Schlütersche, Hannover Rybak LP, Whitworth CA (2005) Ototoxicity: therapeutic opportunities. Drug Discov Today 10: 1313–1321 Stennert E (1994) Fazialisparesen. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 666–701 Sha SH, Qiu JH, Schacht J (2006) Aspirin to prevent gentamicin-induced hearing loss. N Engl J Med 354: 1856–1857 Strohm M (1994) Traumatologie des Ohres. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 647–666 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis 3.6.3 Entzündliche Erkrankungen K. Schwager Labyrinthitis Allgemeine Gesichtspunkte Definition ▬ Seröse oder eitrige Entzündung in den Flüssigkeitsräumen der Hörschnecke und/oder des Gleichgewichtsorgans Einteilung ▬ Akut: meist toxisch, bakteriell-eitrig oder viral ▬ Chronisch: Borreliose, Lues, immunogen Ätiopathogenese ▬ Viral, z. B. im Rahmen eines Infekts der oberen Luftwege → seröse Labyrinthitis ▬ Bakteriell: nach Otitis media acuta oder Mastoiditis oder bei chronischer Otitis media ▬ Pilze (selten) ▬ Postoperative Komplikationen: v. a. nach Mittelohreingriff oder Stapesoperation ▬ Otogen/tympanogen: Fenster (rundes, ovales), Labyrinthfistel, Fehlbildung, Frakturspalt nach Felsenbeinfraktur – viral: »Respiratory-syncytial«-, Influenza-, Parainfluenza-, Picorna-, Adeno-, Koronavirus – bakteriell: Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Streptokokken ▬ Meningogen: Meatus acusticus internus, Aquaeductus cochleae (viral im Kindesalter, bakteriell in jedem Lebensalter) – viral: Mumps-, Masern-, Parainfluenzavirus – bakteriell: Meningokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Mycobacterium tuberculosis ▬ Hämatogen – bakteriell: Borreliose, Lues (Stadien II und III), Tuberkulose – mykotisch: Rhizopus, Absidia (Schimmelpilze) Klinisches Bild ▬ Eitrige Labyrinthitis: akuter, stürmischer Verlauf ▬ Seröse Labyrinthitis: langsamer, teils progredienter, teils wechselnder Verlauf ▬ Drehschwindel, Übelkeit, Erbrechen ▬ Ausgeprägte Hypakusis, Tinnitus ▬ Nystagmus: Reiznystagmus (zur erkrankten Seite, in der Anfangsphase)/Ausfallnystagmus (zur Gegenseite) ▬ Symptome der Grundkrankheit (z. B. Meningitis) 261 Diagnostik ▬ Anamnese: vorangegangene Infekte, Trauma, rezidivierende Otitiden ▬ Inspektion: Effloreszenzen an der Ohrmuschel, Otorrhö ▬ Palpation: Mastoidklopfschmerz, schmerzhafter Gehörgangseingang ▬ Ohrmikroskopie: Paukenerguss, pulsierendes Trommelfell, eitrige Otitis media, Cholesteatom, Fraktur (Stufe?) ▬ Hörprüfungen: kombinierte oder reine Innenohrschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes bis Taubheit ▬ Frenzel-Brille: Reiz-/Ausfallnystagmus; Prüfung Fistelsymptom ▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins, Magnetresonanztomographie: indirekte Darstellung der Entzündungsreaktion der Innohrstrukturen mittels Magnetresonanztomographie (»constructive interference in steady state sequence«), Ausschluss einer intrakraniellen Fortleitung ▬ Abstrich vom Ohr ▬ Liquordiagnostik: Zellzahl-, Eiweiß- und Zuckererhöhung ▬ Erregeranzüchtung (Spirochäten, Pilze) ▬ Antikörper gegen neurotrope Viren ▬ Serologie: Röteln-, Influenza-, Paramyxo-, Adenoviren, Lues Differenzialdiagnostik ▬ Zoster oticus, Neurolues ▬ Andere, nichtentzündliche Ursachen für Vertigo oder Innenohrschwerhörigkeit: v. a. akute vestibuläre Neuropathie, Hörsturz, Barotrauma, Mittelohrverletzungen Therapie ▬ Ziele: – Erhaltung der kochleären Leistung – Förderung der zentralen Kompensation ▬ Maßnahmen: – konservativ: – parenterale Gabe liquorgängiger Antibiotika, z. B. Ceftriaxon, Cefotaxim – Antivertiginosa bei Nausea und Emesis – ausreichende Flüssigkeitszufuhr (Elektrolyte i. v.) – Glukokortikoide zur Verhinderung einer Ertaubung – operativ: – Parazentese, Paukendrainage – Sanierung entzündeter Strukturen: Mastoidektomie, Radikalhöhlenoperation bis zur Labyrinthektomie bei intrakraniellen Komplikationen und/ oder Osteomyelitis 3 262 Kapitel 3 · Ohr > Wichtig Bei Ertaubung nach Labyrinthitis, v. a. im Rahmen einer Meningitis, erfolgt wegen der Gefahr der Verknöcherung/ Obliteration der Schnecke (»white cochlea«) der frühzeitige Einsatz eines Kochleaimplantats. 3 ▬ Normalerweise kein Zusammenhang mit Mumpsenzephalitis ▬ Häufigste Ursache der einseitigen hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit oder Taubheit in der Kindheit Klinisches Bild Verlauf und Prognose ▬ Schlechte Prognose bezüglich Hörvermögen (z. B. Röteln, Zytomegalievirus- oder Mumpsinfektion) ▬ Vertigo: aufgrund der zentralen Kompensation relativ gute Prognose ▬ Komplikationen: Meningitis, Enzephalitis, Epiduralempyem, intrakranielle Abszessbildung, Pyramidenspitzeneiterung, Ertaubung Virale Labyrinthitis ▬ Geringfügiger, fluktuierender bis kompletter Hörverlust ▬ Vestibuläre Beschwerden (werden bei Kindern oft übersehen) ▬ Mumpsertaubung korreliert nicht mit Schwere des Krankheitsbilds Therapie ▬ Im Anfangsstadium β-Interferon Einteilung Prävention ▬ Konnatale virale Labyrinthitis: Röteln, Zytomegalie ▬ Postnatale Infektionen: v. a. Mumps, Masern, Zoster oticus, Aids ▬ Impfung Labyrinthitis durch Röteln ▬ Infektion der Mutter im I. Trimenon (v. a. während der sensitiven Phase der Kochleaentwicklung in der 8. und 9. Schwangerschaftswoche) → beidseitiger Hörverlust (kochleosakkuläre Hemmungsfehlbildungen vom Typ Scheibe mit Degeneration des Corti-Organs); außerdem möglich: Blindheit und geistige Retardierung ▬ Inzidenz der Hörschäden: etwa 5 % aller Innenohrschwerhörigkeiten; bei nichtgeimpfter Mutter: ungefähr 50 % ▬ Prävention durch Impfung ▬ Audiologische Frühdiagnostik Labyrinthitis durch Zytomegalieviren ▬ Durch kongenitale Infektion mit dem Zytomegalievirus ausgelöste Destruktion und Degeneration des gesamten membranösen Labyrinths ▬ Eulenartige Einschlüsse in Reissner-Membran und Stria vascularis ▬ Bei peri- und postnataler Infektionen deutlich harmloserer Verlauf ▬ Etwa 5 % der kongenital infizierten Kinder weisen Symptome auf, außerdem 10–15 % neurologische Defizite inklusive progrediente Hörstörungen Mumpslabyrinthitis Definition ▬ Im Verlauf einer Mumpserkrankung (organotropes Virus) auftretende, in der Regel einseitige Labyrinthitis mit rascher Ertaubung ▬ Meist Einbeziehung des ipsilateralen Vestibularorgans Masernlabyrinthitis ▬ Gewöhnlich beidseitige Infektion des membranösen Labyrinths durch Masernviren ▬ Im Kindesalter in der Regel hochgradige oder komplette Funktionseinschränkung des kochleovestibulären Organs; heutzutage selten ▬ Masernviren (wie auch Mumpsviren): organotrope Viren mit besonderer Affinität zum Innenohr ▬ Degeneration des Corti-Organs mit Verlust der Spiralganglienzellen und des vestibulären Organs Zoster oticus ▬ Infektion mit neurotropem Varizella-Zoster-Virus (Reaktivierung: # Kap. 2.2.3, »Infektionen durch Herpesviren«) ▬ Kombinierte Läsion des VII. und VIII. Hirnnervs ▬ Innenohrschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes, ggf. Ertaubung (retrokochleär bedingt) ▬ Virostatische Therapie (Aciclovir i. v.), Kortison Seröse und toxische Labyrinthitis ▬ Funktionsstörung des Labyrinths durch otogene oder meningogene Bakterientoxine im Verlauf einer ansonsten limitierten bakteriellen Infektion ▬ Sonderform: nach Tympanoplastik (v. a. bei Stapesfixation durch Tympanosklerose) → Übertritt von Toxinen durch die arrodierte Stapesfußplatte, z. B. nach Mobilisation des Stapes (Effodation) Bakterielle Labyrinthitis Häufigkeit ▬ Seit Einführung der Antibiotika selten, noch als postoperative Komplikation nach Mittelohreingriffen 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Übertragungswege und klinisches Bild ▬ Otogen/tympanogen: – bei akuter bakterieller Entzündung durch das runde und/oder ovale Fenster (erhöhte Permeabilität durch Toxine), Labyrinthfistel, Fehlbildung oder Frakturspalt nach Felsenbeinfraktur (sekundäre Infektion) – Einteilung: – akute toxische (seröse) Labyrinthitis – akute eitrige Labyrinthitis – chronische Labyrinthitis – ossifizierende (sklerosierende) Labyrinthitis – Sonderform: zirkumskripte Labyrinthitis, z. B. bei Fisteln des horizontalen Bogengangs – häufigste Erreger: Pneumokokken, Haemophilis influenzae, β-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A, selten Escherichia coli oder Streptococcus pneumoniae – klinisches Bild: schweres Krankheitsgefühl, hohes Fieber, Zellzahlerhöhung im Liquor – akut: massivster Drehschwindel und Hörverlust; tägliche audiometrische Verlaufskontrollen indiziert – chronisch: gradueller oder plötzlicher Hörverlust, rezidivierende Schwindelanfälle mit Übelkeit ▬ Meningogen: – Meatus acusticus internus, Aquaeductus cochleae → häutiges Labyrinth – Meningo- und Pneumokokken-, Haemophilus influenzae Typ b (v. a. bei Kindern) – klinisches Bild: – allgemeine Meningitissymptomatik, Schwindel, Erbrechen – nach Ausheilung der Meningitis kann ein einoder beidseitiger, oft fluktuierender Hörverlust bzw. eine ein- oder beidseitige komplette Ertaubung resultieren; Hörverlust wird bei Kindern oft übersehen > Wichtig Nach einer Meningitis sollte immer eine audiologische Untersuchung erfolgen. ▬ Hämatogen: Infektion des membranösen Labyrinths durch Borrelien, Treponema pallidum (Otosyphilis; kongenital oder erworben) oder Mycobacterium tuberculosis oder durch eine generalisierte Mykose Therapie ▬ Fokussanierung (alle entzündlich veränderte Knochenstrukturen des Felsenbeins): Parazentese/Pau- ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ 263 kendrainage, erweiterte Antrotomie, Mastoidektomie, Cholesteatomsanierung, Labyrinthektomie (in Abhängigkeit vom Befund) Sofortige, hochdosierte Antibiotikatherapie (z. B. Cephalosporine der 3. Generation, ggf. Chloramphenicol), ggf. intratympanal; erregerspezifische Therapie (Tuberkulose, Mykose) Kortikosteroide, Antivertiginosa Bei postoperativer Komplikation nach Mittelohr-/ Stapesoperation frühzeitige Revisionsoperation, Entnahme der Prothese/Abdichten beider Fenster Borreliose: Antibiotika in Abhängigkeit vom Stadium (z. B. Cefotaxim in den Stadien II und III) Lues: Penicillin- und Kortisongabe über Monate bis Jahre Verlauf und Prognose ▬ Bei rechtzeitiger adäquater Therapie quoad vitam gut, jedoch oft bleibende kochleovestibuläre Störungen ▬ Komplikation: ossifizierende Labyrinthitis (Neubildung von Bindegewebe und Knochen im häutigen Labyrinth) → »white cochlea« (Maximalform mit Verknöcherung des häutigen Labyrinths) Immunkrankheiten des Innenohrs Definition und Systematik ▬ Eigentliche (primäre) Immunkrankheiten des Innenohrs ▬ Systemische, nichtorganspezifische Autoimmunerkrankungen ▬ # Kap. 3.6.4, »Hörstörungen« → »Immunassoziierte Schwerhörigkeit« Ätiologie ▬ Erkrankungen des Innenohrs mit Degeneration der Sinneszellen aufgrund einer Immunreaktion ▬ Immunkrankheiten als Ursache werden für alle Innenohrerkrankungen (Hörsturz, Morbus Menière) immer wieder postuliert, klare Entitäten sind bis heute jedoch nur in Ausnahmefällen definiert Laborparameter ▬ Typisches immunologisches Expressionsmuster selten nachweisbar: – verminderte T-Suppressorzell-Aktivität – gesteigerte Lymphozytenproliferation – Autoantikörper (antinukleäre Antikörper – ANA) nachweisbar – erhöhte Konzentration des interferonstimulierten Gens (ISG) 3 264 Kapitel 3 · Ohr Literatur 3 Fischer M, Jahnke K (2000) Lokale Antibiotika-Applikation verringert das Risiko einer Innenohrschädigung bei Effodation. Laryngorhinootologie 79: 758–761 Jahnke K (1994) Entzündliche Erkrankungen des Innenohres. In: Helms J (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 747–757 Milewski C, Dornhoffer J, DeMeester C (1995) Möglichkeiten des Hörerhalts bei Labyrinth-Fisteln von unterschiedlichem Schweregrad. Laryngorhinootologie 74: 408–412 Ruckenstein MJ (2004) Autoimmune inner ear disease. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 12: 426–430 3.6.4 Neurootologische Erkrankungen Hörstörungen S. Plontke Übersicht und Einleitung ▬ Laut WHO leiden weltweit etwa 250 Mio. Menschen unter mittel- bis hochgradiger Schwerhörigkeit; Hörstörungen im Erwachsenenalter stehen auf Platz 15 der häufigsten Ursachen des »global burden of disease« und auf Platz 2 der häufigsten Ursachen für »years lived with a disability«; in der BRD leiden ungefähr 14 Mio. Menschen und damit fast 20 % der Bevölkerung an Hörproblemen ▬ Bei der Mehrzahl der Betroffenen: Schwerhörigkeit durch eine Funktionsstörung des Innenohrs ▬ Sensorineurale Schwerhörigkeit gehört zu den häufigsten chronischen Erkrankungen und ist durch eine erhöhte Hörschwelle gekennzeichnet, i. A. begleitet von: – eingeschränkter Dynamikbereich – Verschlechterung des Sprachverstehens, v. a. vor Hintergrundlärm – häufig Ohrgeräusche (Tinnitus) ▬ Symptome führen zu Kommunikationsstörungen mit Sprachentwicklungsverzögerung (bei Kindern) und nicht selten zu sozialem Rückzug, Isolation, Einsamkeit sowie evtl. Schlafstörungen und Depressionen ▬ Innenohrschwerhörigkeit durch irreversible Schädigung oder Verlust von Haarsinneszellen oder von anderen physiologisch wichtigen Gewebestrukturen im Innenohr hervorgerufen: – Lärmexposition im Arbeits- und zunehmend auch im Freizeitbereich – ohne erkennbare Ursache im Rahmen eines sog. Hörsturzes – gehörschädigende Medikamente (ototoxische Antibiotika und Zytostatika) und andere ototoxische Substanzen – bakterielle oder Virusinfektionen, v. a. im Kindesalter (Mumps, Masern, Röteln, Diphtherie, Scharlach) – genetisch bedingt ▬ Exposition gegenüber Berufs- und Freizeitlärm: häufigste Ursache einer erworbenen Innenohrschwerhörigkeit ▬ Zusätzlich zur Funktionsstörung des Innenohrs kommen retrokochleäre Funktionsstörungen vor (bilden gemeinsam die sensorineurale oder Schallempfindungsschwerhörigkeit) Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit: »Hörsturz« und akute Taubheit30 Definition ▬ Ohne erkennbare Ursache plötzlich auftretende, in der Regel einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit kochleärer Genese unterschiedlichen Schweregrads bis hin zur Ertaubung; Schwindel und/oder Ohrgeräusche zusätzlich möglich31; neurologische und ophthalmologische Begleitsymptome liegen nicht vor ▬ Symptom wird über den Ausschluss bekannter Ursachen zur Diagnose Epidemiologie ▬ Inzidenz: 5–20 Neuerkrankungen/100.000 Einwohner/Jahr (Schätzungen der Kostenträger in Deutschland: bis zu 290/100.000 Einwohner/Jahr) ▬ Häufigkeitsmaximum um 50.–60. Lebensjahr, sehr selten im Kindes- und Jugendalter ▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen ▬ Rechtes und linkes Ohr annähernd gleich häufig betroffen (etwa 44 % rechts, ungefähr 53 % links) Ätiopathogenese ▬ Per definitionem hat der Hörsturz keine erkennbare Ursache (idiopathisch); folgende Hypothesen zur Pathogenese werden diskutiert: – Störungen der Durchblutung (Gefäßdysregulationen, z. B. durch Vasospasmus und/oder Endothelschwellungen und Dysfunktionen und/oder rheologische Störungen) 30 31 Teile dieses Kapitels zitiert aus: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004) Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – Störungen der Ionenkanäle der Haarzellen mit zellulärer Dysfunktion – synaptische Störungen infolge Neurotransmitterdysfunktion (Insuffizienz oder Toxizität) – efferente Fehlsteuerungen – Störungen der Ionenkanäle der Zellen der Stria vascularis mit nachfolgenden Elektrolytstörungen in der Endolymphe, u. U. mit Hydrops – entzündliche Veränderungen (z. B. endolymphatische Sakkitis) – Autoimmunprozesse32 – Taubheit und an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit; wahrscheinliche Pathogenese: (thrombotischer/embolischer/spastischer) Verschluss der A. cochlearis communis oder der A. spiralis modioli mit hypoxischer strialer Insuffizienz – Sonstige: Tonschwellenverläufe, die sich weder in die bereits genannten Gruppen einordnen noch bestimmten Innenohrschwerhörigkeitstypen zuordnen lassen; im weiteren Sinne auch stark fluktuierende Hörschwellen und Hörsturz mit Progredienz der Schwerhörigkeit unter Therapie, z. B. infolge Liquordruckänderung und/oder immunpathologischer Mechanismen Prädisponierende Faktoren bzw. Begleiterkrankungen ▬ ▬ ▬ ▬ Herz-Kreislauf-Erkrankungen (25 %) Endokrine bzw. Stoffwechselerkrankungen (7 %) Chronische Entzündungen (5 %) Halswirbelsäulenerkrankungen (4 %) Einteilung ▬ Beispielsweise hinsichtlich Frequenzbereich und Schweregrad (laut Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie): – Hochtonhörverlust (Hochtoninnenohrschwerhörigkeit); wahrscheinliche Pathogenese: Insuffizienz der äußeren (Innenohrschwerhörigkeit bis zu einem Hörverlust von etwa 50 dB) und/oder inneren Haarzellen (Innenohrschwerhörigkeit ab einem Hörverlust von ungefähr 60 dB) – Tieftonhörverlust (Tieftoninnenohrschwerhörigkeit); wahrscheinliche Pathogenese: endolymphatischer Hydrops oder lokale Durchblutungsstörung mit hypoxischer Gewebeschädigung und Störung der Elektrolythomöostase – pankochleärer Hörverlust; wahrscheinliche Pathogenese: Funktionsbeeinträchtigung der Stria vascularis und/oder der zuführenden Gefäße im Sinne einer Durchblutungsstörung mit Gewebehypoxie; da alle Frequenzen betroffen sind, werden bereits geringe Hörverluste subjektiv als schwerwiegend empfunden – Mittelfrequenzhörverlust (»wannenförmige Senkenbildung«, Mitteltoninnenohrschwerhörigkeit); wahrscheinliche Pathogenese: lokale Durchblutungsstörungen mit hypoxischen Schäden des Corti-Organs, Gendefekte 32 s. auch Einteilung laut Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie für mögliche pathogenetische Mechanismen 265 Klinisches Bild ▬ In der Regel einseitiges Auftreten, nur ausnahmsweise synchron beidseitig (→ systemische Ursache wahrscheinlich) ▬ Primäre Symptome (in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit): – akute subjektive Hörminderung bis vollständiger Hörverlust – Tinnitus – Druckgefühl im Ohr – Schwindel – Hyper-/Dys-/Diplakusis – pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale Dysästhesie) ▬ Sekundäre Symptome (Beispiele): – Angst – inadäquate Krankheitsbewältigung – weitere psychosomatische Beeinträchtigungen Diagnostik33 ▬ Notwendig: – Anamnese – Ohrmikroskopie – Hörprüfung (Stimmgabel, Tonaudiometrie) – Tympanometrie – Vestibularisprüfung, Elektronystagmographie, Videookulographie – transitorisch evozierte otoakustische Emissionen/ Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen oder 2 Recruitment-Tests – Hirnstammaudiometrie (Cave: Lärmbelastung) – Vestibularisprüfung – Blutdruckmessung – Labordiagnostik: kleines Blutbild, Hämoglobinkonzentration, Hämatokrit 33 adaptiert nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie DGHNO (2004) 3 266 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ In bestimmten Fällen indiziert: – erweiterte audiologische Diagnostik: – Sprachaudiometrie: Grad der Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit (Prüfung des Sprachverstehens – v. a. vor Hintergrundlärm – relevanter als Tonaudiometrie) – Stapediusreflexmessung (Cave: Lärmbelastung!) zur Topodiagnostik, insbesondere wenn keine otoakustischen Emissionen gemessen werden – Elektrokochleographie (Cave: Lärmbelastung): kochleärer Schaden, Ausschluss eines Hydrops – »cortical evoked response audiometry« (Cave: Lärmbelastung): Ausschluss einer »psychogenen Taubheit« – Labordiagnostik: – Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentration des C-reaktiven Proteins, Differenzialblutbild, Kreatinin- und Fibrinogenspiegel, Lipiddifferenzierung (z. B. »low density lipoproteins«, Cholesterin) bei Verdacht auf metabolische Störung oder Niereninsuffizienz, antinukleäre und Antiphospholipidantikörper – Serologie: Borrelien, Lues, Herpesvirus Typ 1, Varizella-Zoster-Virus, HIV bei Verdacht auf entzündliche Genese – bildgebende Diagnostik: – Magnetresonanztomographie (Cave: Lärmbelastung!): Ausschluss einer (vorangegangenen) Labyrinthitis oder einer intrakraniellen Ursache (zerebral oder Kleinhirnbrückenwinkeltumor, v. a. Vestibularisschwannom) – »High-resolution«-Computertomographie von Schädel und Felsenbein, Computertomographie der Halswirbelsäule – Dopplersonographie: Halsgefäße und Aa. vertebrales – sonstige Diagnostik: – Glyzeroltest: Ausschluss eines endolymphatischen Hydrops – funktionelle Untersuchung der Halswirbelsäule bei Verdacht auf halswirbelsäulenbedingte Ursachen (inklusive Röntgenuntersuchung) – Tympanoskopie: Ausschluss einer Perilymphfistel – interdisziplinäre Untersuchungen: z. B. Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie, Humangenetik ! Cave Bei akuten Hörstörungen inklusive akutem Tinnitus sollten überschwellige Hörtests (Hirnstamm- und Sprachaudiometrie, Recruitment-Tests, Stapediusreflexmessung, Elektrokochleographie, »cortical evoked response audiometry«) wegen der Gefahr einer Lärmbelastung in einem zeitlichen Abstand von mindestens einer Woche durchgeführt werden, wenn die Pegel einen Wert von etwa 70 dB SPL bei Reintönen oder von 80 dB SPL bei Impulsen überschreiten. Gleiches gilt für die Magnetresonanztomographie – es sei denn, es sprechen dringende medizinische Erwägungen dagegen. Die Erstellung des Tonschwellenaudiogramms ist hiervon ausgenommen.34 Differenzialdiagnostik ▬ »Hörsturz« (Ausschlussdiagnose) ▬ Differenzialdiagnostische Erwägungen – symptomatisch: v. a. Zeruminalpfropf – akustische Innenohrschäden – bakterielle Labyrinthitis: z. B. bei Mittelohrentzündung, Lues, Borreliose – virale Infektion (z. B. Herpes zoster, Mumps, Adenovirus- oder HIV-Infektion) – Enzephalitis disseminata (Multiple Sklerose) – autoimmunassoziierter akuter Hörverlust – toxische Einflüsse: z. B. Arzneimittel, Drogen, Gewerbegifte – Vestibularisschwannom und andere Tumoren, Hirnstamm- und Felsenbeingeschwülste, intrazerebrale Metastasen – dialysepflichtige Niereninsuffizienz – innere und äußere Perilymphfistel – Barotrauma – Funktionsstörungen der Halswirbelsäule: z. B. Trauma, Fehlstellung – Liquorverlustsyndrom (z. B. nach Liquorpunktion) – Meningitis – hereditäre (genetische) Innenohrschwerhörigkeit, Innenohrfehlbildung – genetisch bedingte Syndrome: z. B. Usher- oder Pendred-Syndrom – hämatologische Erkrankungen: z. B. Polyglobulie, Leukämie, Exsikkose, Sichelzellenanämie – Herz-Kreislauf-Erkrankungen: z. B. (relative) Hypotonie, Operation am offenen Herzen – dissoziative (psychogene) Hörstörungen – andere, seltene Ursachen: z. B. von-Hippel-LindauSyndrom (selten; genetische Erkrankung aus dem Formenkreis der sog. Phakomatosen mit multiplen Angiomen, zum Teil maligne, in Retina, Zentralnervensystem, Nieren und anderen Organen) 34 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie DGHNO (1998), AWMF-LeitlinienRegister 017/059 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Therapie Allgemeine Prinzipien der Hörsturztherapie (# Kap. 13.4) ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Glukokortikoide Rheologische Therapie Ionotrope Therapie Reduktion des Endolymphvolumens Antioxidanzien Thrombozytenaggregationshemmung Fibrinogenspiegelsenkung durch Apherese Hyperbare Oxygenierung Tympanoskopie zum Verschluss einer Perilymphfistel ▬ Evidenzniveau der Datenlage zur Therapie insgesamt niedrig (international nur sehr wenige kontrollierte, randomisierte Studien mit hohem Evidenzniveau35; # Kap. 13.4) ▬ Kein Notfall, vielmehr Eilfall (Therapie sollte in den ersten Tagen nach dem Ereignis einsetzen; # Kap. 24.3.1, »Schwerhörigkeit«) ▬ Therapie orientiert sich an vermuteter Pathophysiologie/Hypothesen Verlauf und Prognose ▬ Spontanremissionsrate nicht gut bekannt, wird jedoch v. a. bei jungen Patienten und geringgradigen Hörverlusten als hoch eingeschätzt (Vollremission in bis zu 68 % der Fälle) ▬ Günstigste Prognose (auch bezüglich Schwindel und Tinnitus) bei isolierter Schwerhörigkeit im Tieftonoder Mittelfrequenzbereich und leichtgradigen Hörverlusten ▬ Ungünstige Prognose: – mit zunehmendem Hörverlust – bei primär an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit oder Taubheit – bei zusätzlichen objektivierbaren Gleichgewichtsstörungen ▬ Rezidivhäufigkeit: etwa 30 %, v. a. bei Hörstürzen im Tief- und Mittelfrequenzbereich Sonderformen des Hörsturzes: beiderseitiger Hörsturz und konsekutiver Hörsturz des kontralateralen Ohres Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie ▬ Siehe oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit« 267 ▬ Ausführliche Anamnese und interdisziplinäre Abklärung (ophthalmologisch, neurologisch, internistisch), v. a. für Feststellung möglicher systemischer Ursachen Angeborene, perinatal und postnatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit ▬ Hereditär: – syndromal – nichtsyndromal: häufige Mutation z. B. im »Gapjunction«-β2-Gen, welches das Zellverbindungsprotein Connexin 26 kodiert → Störung des K+Transports in der Kochlea (# Kap. 2.1.4) ▬ Pränatal erworben: – Toxoplasmose, Zytomegalie: jeweils zentralnervöse Symptome und beidseitige, variabel ausgeprägte sensorineurale Schwerhörigkeit – Rötelnembryopathie: komplexe Schädigung des Fötus mit Herzfehlern, Mikrozephalie, psychomotorischer Retardierung, Amaurose sowie Entwicklungsstörung des Mittel- und Innenohrs mit meist beidseitiger Taubheit und Vestibularisausfall – konnatale Lues: progrediente Degeneration des Innenohrs, variable sensorineurale Schwerhörigkeit, vestibuläre Funktionsstörung (# Kap. 2.2.3, »Syphilis«) – medikamentös/Noxen: Thalidomid, Alkohol, Nikotin ▬ Perinatal erworben: – Hyperbilirubinämie mit Kernikterus: Bilirubinablagerung in Hörbahn und auch Kochlea möglich, mittel- bis hochgradige sensorineurale Schwerhörigkeit – Asphyxie: hypoxische Schädigung von Kochlea und Hörbahn, nichtprogrediente sensorineurale Schwerhörigkeit unterschiedlicher Ausprägung – Frühgeburt (Geburtsgewicht von <1500 g): nichtprogrediente sensorineurale Schwerhörigkeit unterschiedlicher Ausprägung ▬ Postnatal erworben: Meningitis, Enzephalitis, Labyrinthitis, ototoxische Medikamente, Felsenbeinfraktur Altersassoziierte Schwerhörigkeit (»Presbyakusis«, »Altersschwerhörigkeit«) Definition ▬ Multifaktoriell bedingte, bei den meisten Menschen auftretende, etwa im 5. Lebensjahrzehnt beginnende, symmetrische, langsam progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit ! Cave 35 Übersicht in: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-NasenOhren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004); Plontke (2005) Nicht jede Schwerhörigkeit im Alter ist eine »Presbyakusis«. 3 268 Kapitel 3 · Ohr Einteilung ▬ Peripherer Typ: sensorischer (Verlust von Haar- 3 zellen), neuraler (Degeneration von Nervenzellen), metabolischer/strialer (Degeneration der Stria vascularis) und möglicher Innenohrschallleitungstyp (Degeneration des Lig. spirale, Versteifung der Basilarmembran) ▬ Zentraler Typ: Verminderung oder Verlust der Neurotransmission Epidemiologie ▬ Weltweit 400 Mio. Menschen betroffen ▬ 35 % der Bevölkerung über 70 Jahren in Industriestaaten leidet unter einer Hörverschlechterung (z. B. Großbritannien: 92 % der über 60-Jährigen weisen einen Hörverlust von >25 dB auf) ▬ Nach Schätzungen im Jahre 2050 weltweit 900 Mio. Menschen betroffen Ätiologie ▬ »Physiologische Degeneration« ▬ Genetische Disposition ▬ Summe aller endogenen und exogenen schädigenden Einflüsse (ototoxische Medikamente und Chemikalien, Lärmexposition, Rauchen, Infektionen, internistische und neurologische Erkrankungen) Pathogenese ▬ Degeneration peripherer und zentraler Anteile des Hörsystems (Sinnes- und Stützzellen in Innenohr und Stria vascularis, Ggl. spirale, Kerne der auf- und absteigenden Hörbahn) ▬ Zusätzliche Problematik durch (mögliche) begleitende Affektion von Kognition und Aufmerksamkeit Differenzialdiagnostik ▬ »Presbyakusis« ist eine Ausschlussdiagnose Die unterschiedlichen Anteile, die zum diagnostizierten Hörverlust beitragen, sind zu evaluieren bzw. andere Ursachen sind auszuschließen Therapie ▬ Rechtzeitige beidseitige Hörgeräteversorung (hilft häufig auch gegen Tinnitus), ggf. Hörgeräte auf Probe, die bei subjektiv oder objektiv unzureichendem Erfolg zurückgegeben werden können ▬ Bei hochgradiger Schwerhörigkeit auch Lippenablesetraining ▬ Nutzung verfügbarer Hilfsmittel: Telefonverstärker, optische Rufanlagen (Türklingel) ▬ Aktive Integration, ggf. psychotherapeutische Intervention ▬ Medikamentös: bisher keine in Studien gesicherte medikamentöse Therapie; Behandlungsversuche mit Rheologika, Tebonin und Antioxidanzien möglich, ggf. Versuch bei akutem Schub oder rascher Progredienz Verlauf und Prognose ▬ Fortschreitend (differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber Lärmschwerhörigkeit: schreitet nicht fort) ▬ Individuell sehr unterschiedliche Verläufe ▬ Komplikationen: erhebliche Einschränkung der Kommunikation, psychosoziale Isolation, Depressionen Progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit Langsam progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit Differenzialdiagnostik Klinisches Bild ▬ Allmählich progrediente, symmetrische, hochtonbetonte sensorineurale Schwerhörigkeit ▬ Vor allem Probleme beim Sprachverstehen bei Störgeräuschen (Cocktailparty-Effekt) und beim »recruitment« (eingeschränkter Dynamikbereich, Unbehaglichkeit in geräuschvoller Umgebung) ▬ Tinnitus! Diagnostik ▬ Ausführliche Anamnese inklusive Familien-, Berufsund Freizeitanamnese ▬ Ton- und Sprachaudiometrie (ggf. auch im Störgeräusch): symmetrische, meist ab etwa 1 kHz schräg abfallende oder auch pankochleäre Tongehörschwelle (Schwerhörigkeit jenseits der Norm ISO 1999), Diskriminationsverlust, Recruitment-Tests meist positiv ▬ Lärmschwerhörigkeit ▬ Atersassoziierte Schwerhörigkeit (»Presbyakusis«; s. oben) ▬ Hereditäre (genetisch bedingte) Schwerhörigkeit: angeboren oder Beginn zu unterschiedlichen Zeitpunkten, syndromal oder nichtsyndromal (# Kap. 2.1.4) ▬ Retrokochleäre Neubildungen ▬ Endokrine Erkrankungen: Hypothyreoidismus, Diabetes mellitus ▬ Metabolische Erkrankungen: chronische Niereninsuffizienz, Hyperlipoproteinämie ▬ Mukopolysaccharidose ▬ Morbus Paget ▬ Chronische Otitis media (kombinierte Schwerhörigkeit) ▬ Otosklerose (kombinierte Schwerhörigkeit) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Rasch progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit Diagnostik ▬ Ausführliche systemübergreifende Anamnese ▬ Interdisziplinäre Diagnostik entsprechend der Verdachtsmomente ▬ Differenzialdiagnostik ▬ ▬ Immunassoziierte Innenohrschwerhörigkeit (primäre und sekundäre Autoimmunerkrankung des Innenohrs) ▬ Meningeosis carcinomatosa ▬ Vaskulitis (sekundär infektionsbedingt) ▬ Neuroborreliose ▬ Ototoxizität Therapie ▬ Entsprechend der Ursache Immunassoziierte Schwerhörigkeit Allgemeine Aspekte ▬ ▬ 269 exposition fähig ist (Voraussetzung: intakter Saccus endolymphaticus; dort immunkompetente Zellen) Bei steriler Labyrinthitis im Tiermodell z. B. Haarsinneszellverluste, Fibrose und Osteoneogenese Mögliche Rolle eines Antikörpers, welcher an ein 68 kD großes bovines Innenohrantigen bindet Tiermodelle systemischer Autoimmunerkrankungen (systemischer Lupus erythematodes): Hörschwellenverschlechterung, Degeneration der Stria vascularis, Antikörperablagerung in den Kapillaren der Stria Felsenbeinstudien an Patienten mit Cogan-Syndrom, Polyarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose oder Lupus erythematodes: Hinweise auf 2 verschiedene pathogenetische Mechanismen: – Fibrose und Osteoneogenese als Endstadien einer Entzündung – Ischämie und zelluläre Atrophie ohne Entzündung (am ehesten durch unspezifische Vaskulitis) Einteilung Klinisches Bild ▬ Primäre Autoimmunerkrankung des Innenohrs ▬ Sekundäre (systemische, nichtorganspezifische) Autoimmunerkrankung des Innenohrs, z. B. CoganSyndrom, systemischer Lupus erythematodes, Wegener-Granulomatose; Sklerodermie, Dermatomyositis, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) ▬ Rasch progrediente (über Wochen oder Monate), bilaterale (initial auch unilaterale), sensorineurale Schwerhörigkeit ▬ Fluktuationen des Hörvermögens möglich, tendenziell progrediente Verschlechterung der Hörschwelle ▬ Bei 50 % der Patienten auch Schwindel, bei 20 % Drehschwindelattacken wie bei Morbus Menière Definition und Epidemiologie (primäre »autoimmune inner ear disease«, AIED) Diagnostik ▬ Nach McCabe (1979): rasch progrediente (über Wochen oder Monate), bilaterale, sensorineurale Schwerhörigkeit, die sich therapeutisch mit Immunsuppressiva beeinflussen lässt ▬ Selten ▬ Wegen des Fehlens eines eindeutigen diagnostischen Tests nicht genau zu bestimmen ▬ Frauen zwischen dem 17. und 42. Lebensjahr häufiger betroffen als Männer ▬ In 20 % der Fälle in den Folgejahren Auftreten einer systemischen Autoimmunerkrankung Ätiologie ▬ Autoimmunprozesse (als Ätiologie bisher nicht schlüssig bewiesen) Pathogenese ▬ Wichtige Zielstrukturen: Saccus endolymphaticus, Stria vascularis; bisher kein exakt analoges Tiermodell vorhanden; wichtig jedoch, dass Innenohr nicht vom Immunsystem abgeschottet ist, sondern zur Immunantwort auf lokale und systemische Antigen- ▬ Anamnese (Zeitverlauf) mit Berücksichtigung von Augensymptomen/-erkrankungen und Zeichen von Nephritis, Arthritis, Sinusitis, Atemwegserkrankungen oder entzündlichen Darmkrankheiten ▬ Audiologische Diagnostik (s. oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«), monatliche tonaudiometrische Verlaufskontrollen ▬ Serologische Diagnostik: – serologische Tests zur Diagnostik einer primären »autoimmune inner ear disease« existieren bisher nicht (Vorhandensein von Anti-Hitzeschockprotein-70-Antikörpern kann die Erkrankung nicht eindeutig bestätigen, und ihr Fehlen kann sie nicht ausschließen) > Wichtig Die Diagnosestellung einer primären Autoimmunerkrankung des Innenohrs erfolgt klinisch. – Ausschluss einer sekundären Autoimmunerkrankung des Innenohrs: Rheumafaktor, antinukleäre Antikörper, Anti-DNA-, Anti-SSA/B- und Antiphospholipidantikörper, C3- und C4-Komplementfaktoren, zirkulierende Immunkomplexe 3 270 Kapitel 3 · Ohr ▬ Magnetresonanztomographie ▬ Ansprechen auf (ex juvantibus verabreichte) Immunsuppressiva Differenzialdiagnostik 3 ▬ Hörsturz (bei »autoimmune inner ear disease« bilaterale, progredient über Wochen und Monate verlaufende Schwerhörigkeit; kein Eilfall, therapeutisches Fenster wesentlich größer) ▬ Morbus Menière ▬ Otosyphilis ▬ Multiple Sklerose ▬ Malignomerkrankungen mit Durabeteiligung (Metastasen, Lymphome) Therapie ▬ Immunsuppressive Therapie mit Glukokortikoiden oder anderen Immunsuppressiva (# Kap. 13.4) ▬ Hörgeräteversorgung, Kochleaimplantat (# Kap. 20.1) Verlauf und Prognose ▬ Meist mehrmonatige Therapie mit Glukokortikoiden erforderlich (bis Stabilisierung der Hörschwelle); Rückfälle möglich, auch glukokortikoidresistente ▬ Progression bis zur bilateralen Taubheit möglich ▬ Komplikationen durch chronische Glukokortikoideinnahme oder Therapie mit Zytostatika Systemische nichtorganspezifische Autoimmunkrankheiten Cogan-Syndrom ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ Verlauf: unbehandelt progrediente Hörstörung bis Ertaubung, beidseitiger Vestibularisausfall ▬ Diagnostik: Autoantikörper im Korneagewebe Wegener-Granulomatose ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ Mittelohrentzündung in etwa 30 %, Innenohrbeteiligung in ungefähr 10 % der Fälle Systemischer Lupus erythematodes ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ Schubweise Innenohrschwerhörigkeit Rezidivierende Polychondritis ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ In etwa 40 % der Fälle Innenohrschwerhörigkeit Morbus Behçet ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« u. 6.4.3 ▬ In ungefähr 40 % der Fälle Innenohrbeteiligung mit sensorineuraler Schwerhörigkeit und rezidivierenden Schwindelanfällen Panarteriitis nodosa ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ Einzelbeobachtungen von Innenohrstörungen Arteriitis temporalis ▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« ▬ Einzelfallberichte über Innenohrstörungen Auditorische Synaptopathie/Neuropathie Definition ▬ Sensorineurale Schwerhörigkeit, die das Sprachverstehen stark einschränkt, wobei das Tonschwellengehör interindividuell stark variiert Einteilung ▬ Klinisch-audiologische Differenzierung der exakten Lokalisation der Störung derzeit nicht möglich (übergreifender Begriff der auditorischen Synaptopathie/ Neuropathie) ▬ Auditorische Verarbeitungsstörung, die gegenüber zentralen auditorischen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen abgegrenzt werden muss Epidemiologie ▬ Prävalenz: bis zu 11 % der schwerhörigen Kinder ▬ Erwachsene: keine Angaben Ätiopathogenese ▬ Auditorische Synaptopathie: – Verlust oder Funktionsstörung der inneren Haarsinneszellen und ihrer Synapsen sowie Störung der synaptischen Schallkodierung – hereditär: autosomal-rezessive prälinguale Schwerhörigkeit (DFNB9; Otoferlin-Defekt: Mutation Q829X des OTOF-Gens ist die dritthäufigste für die prälinguale, hochgradige Schwerhörigkeit verantwortliche Mutation) – erworben: Schalltrauma (vermutet), Carboplatinototoxizität ▬ Auditorische Neuropathie: – Verlust oder Funktionsstörung der Spiralganglienneurone mit gestörter Initiierung bzw. Fortleitung des Aktionspotenzials 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – hereditär: hereditäre motorische und sensorische Neuropathien – erworben: z. B. metabolische Neuropathien (diabetische Neuropathie, Hypothyreose) ▬ Mischformen: im Verlauf sekundärer Verlust von Spiralganglienneuronen bei synaptischem Defekt Risikofaktoren ▬ Hyperbilirubinämie ▬ Anoxie/Hypoxie/protrahierte Beatmungspflicht ▬ Extreme Unreife (Geburt vor der 28. Schwangerschaftswoche) ▬ Demyelinisierende und axonale Neuropathien ▬ Genetische Faktoren (syndromale Erkrankungen) Klinisch-audiologisches Erscheinungsbild ▬ Objektive Kriterien: – pathologische/fehlende frühe akustisch evozierte Potenziale bei Nachweis otoakustischer Emissionen und/oder kochleärer Mikrophonpotenziale – nicht oder mit stark erhöhter Schwelle nachweisbare Stapediusreflexe – fehlende kontralaterale akustische Suppression der otoakustischen Emissionen ▬ Subjektive Kriterien: – Tonschwellenaudiometrie: unterschiedlich ausgeprägter Hörverlust (geringgradig bis Anakusis), häufig fluktuierend – im Vergleich zum Tonaudiogramm zu schlechtes Sprachverständnis, insbesondere im Störgeräusch – schlechte Performance bei psychophysischen Tests der zeitlichen Hörverarbeitung – nur geringer Nutzen einer Hörgeräteversorgung Diagnostik ▬ 2-stufiges diagnostisches Vorgehen Altersabhängige 2-Stufen-Diagnostik bei Verdacht auf auditorische Synaptopathie/ Neuropathie. Nach Moser et al. (2006) ▬ Basisdiagnostik: – Neugeborene: – Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/ transitorisch evozierte otoakustische Emissionen – Tympanometrie (1-kHz-Sondenton) – Stapediusreflexe – Klick-Schwellen-FAEP (frühe akustisch evozierte Potenziale; Sog und Druck, Einsteckhörer) – Reflexaudiometrie ▼ – Kinder unter 6 Jahren: 271 – Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/ transitorisch evozierte otoakustische Emissionen – Tympanometrie – Stapediusreflexe – Klick-Schwellen-FAEP (Sog und Druck, Einsteckhörer) – Verhaltensaudiometrie: Ablenkreaktionen/ Spielaudiometrie/Sprachaudiometrie, auch im Störgeräusch – Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene: – Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/ transitorisch evozierte otoakustische Emissionen – Tympanometrie – Stapediusreflexe – Klick-Schwellen-FAEP (Sog und Druck, Einsteckhörer) – Reinton- und Sprachaudiometrie, auch im Störgeräusch ▬ Bei Verdachtsdiagnose »auditorische Synaptopathie/Neuropathie«: – weiterführende Diagnostik: – Elektrokochleographie: Nachweis von Mikrophonpotenzialen bei Pegeln von <80 dB HL als ausreichender Hinweis auf mechanoelektrische Transduktion in Haarsinneszellen (subjektiver Promontorialtest vor Einsetzen eines Kochleaimplantats, bei älteren Kindern/ Erwachsenen ggf. Hirnstammaudiometrie mit elektrischer Stimulation) – kontralaterale Suppression der Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen – mittlere/späte akustisch evozierte Potenziale – Beurteilung der Psychoakustik – Prüfung der Vestibularisfunktion – Untersuchung der Sprache (rezeptiv und produktiv) – Bildgebung: Magnetresonanztomographie von Schädel und Felsenbein (Nachweis neuronaler Strukturen, insbesondere des Hörnervs, sowie morphologisch fassbarer Schäden entlang der Hörbahn) – ggf. Überprüfung einer Hörgeräteversorgung – ergänzende Diagnostik: – »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins – neurologische, ophthalmologische und humangenetische Untersuchung – Positronenemissionstomographie (wenn verfügbar) 3 272 Kapitel 3 · Ohr > Wichtig Es besteht der Verdacht auf eine auditorische Synaptopathie/Neuropathie, wenn frühe akustisch evozierte Potenziale trotz vorhandener otoakustischer Emissionen nicht oder erst bei hohen Pegeln (80 dB HL) nachweisbar sind. 3 Differenzialdiagnostik ▬ Bei Frühgeborenen: Hörbahnreifungsverzögerung (bis zum Alter von 12–18 Monaten Reifung der Hörbahn möglich → bei Verdachtsdiagnose Wiederholung der Messungen nach 2–3 und 5–6 Monaten) Procedere und rehabilitative Versorgung ▬ Siehe nachfolgende Übersicht Prozedere und rehabilitative Versorgung. Nach Moser et al. (2006) ▬ Neugeborene: – probatorische Hörgeräteversorgung bei erhöhter subjektiver Hörschwelle – Kontrolluntersuchung (FAEP, otoakustische Emissionen, subjektiv) nach 8–12 Wochen (ggf. mehrfach) – engmaschige Kontrolle der Hörreaktionen und der otoakustischen Emissionen – pädagogische Frühförderung ▬ Kinder unter 6 Jahren: – Hörgeräteversorgung, wenn subjektive Hörschwelle (Ablenkreaktion/Spielaudiometrie) besser ist als 80 dB HL – engmaschige Kontrolle von Sprachentwicklung und Sprachverständnis – Kochleaimplantat, wenn subjektive Hörschelle schlechter ist als 80 dB HL bzw. kein Fortschritt der Sprachentwicklung unter Hörgeräten eintritt – Hör- und Sprachtherapie ▬ Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene: – Kochleaimplantat, wenn beide Ohren betroffen sind sowie bei ausbleibendem Erfolg der Hörgeräteversorgung – Hör- und Sprachtherapie (zumindest für schulpflichtige Kinder) Taubheit (Surditas) Definition ▬ Beidseitiger vollständiger Verlust des Hörvermögens Einteilung ▬ Prälinguale Taubheit: angeboren oder vor dem Zeitpunkt der Sprachbahnung (vor Abschluss des 2. Lebensjahrs) entstanden ▬ Peri- und postlinguale Taubheit: Ertaubung während des Erlernens oder nach dem Erlernen der Sprache (im Alter von 2–4 Jahren) Ätiopathogenese ▬ Fehlbildungen: genetisch bedingte Taubheit ohne (nichtsyndromal) oder mit weiteren genetisch bedingten Fehlbildungen/Erkrankungen (syndromal) ▬ Entzündungen (pränatal, perinatal, frühkindlich): Otitis media mit Labyrinthitis, Meningitis, Zoster oticus, Cholesteatom ▬ Traumata: Geburtstrauma, Contusio labyrinthi, Felsenbeinfraktur, akutes akustisches und Explosionstrauma, ototoxische Chemikalien und Medikamente, Barotrauma ▬ Tumoren und Metastasen ▬ Idiopathisch, »Hörsturz« (dann meist metachron) Klinisches Bild ▬ Vollständiger Verlust des Sprachverständnisses bei noch messbarer Tongehörschwelle oder ▬ Anakusis, d. h. nicht mehr messbare Tongehörschwelle, oder ▬ Taubheit in der Begutachtung: prozentualer Hörverlust von 100 %36 Diagnostik ▬ Siehe oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit« > Wichtig Bei akuter Taubheit immer objektive Audiometrie (z. B. otoakustische Emissionen) zum Ausschluss dissoziativer (»psychogener«) Hörstörungen durchführen Differenzialdiagnostik ▬ Dissoziative Hörstörung (»psychogene Ertaubung«) ▬ Auditorische Neuropathie Therapie ▬ Akut: abhängig von Ätiologie (# Kap. 13.4) ▬ Chronisch einseitig: CROS-Versorgung (»contralateral routing of sound«) mit konventionellen beidseitigen Hörgeräten (z. B. über Kabelverbindung am Brillengestell oder Bluetooth), knochenverankertem Hörgerät oder (aktuell diskutiert) einseitigem Kochleaimplantat ▬ Chronisch beidseitig: Kochleaimplantat, Lippenablesetraining 36 nach Röser (1980) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis 273 Verlauf und Prognose Knochenerkrankungen ▬ Bei akuter Taubheit von der Ätiologie abhängig ▬ Prognose i. A. schlechter als bei geringergradiger Hörminderung ▬ Otosklerose (# Kap. 3.5.5) ▬ Morbus Paget (Osteitis deformans): in 50 % der Fälle Schallleitungs-, sensorineurale oder kombinierte Schwerhörigkeit Sonstige Erkrankungen37 Neurologische Erkrankungen Strahlenschäden Multiple Sklerose ▬ Bestrahlung des Felsenbeins mit Innenohr und N. vestibulocochlearis kann zur Schallempfindungsschwerhörigkeit führen ▬ Stereotaktische Bestrahlung von Vestibularisschwannomen → in etwa 50 % der Fälle hochgradiger Hörverlust ▬ In 4–10 % der Fälle Hörstörung ▬ Klinisches Bild: sensorineuraler Hörverlust mit unterschiedlicher Charakteristik (akut oder progredient, einseitig oder beidseitig, symmetrisch oder asymmetrisch) ▬ Diagnostik: abnormale akustisch evozierte Potenziale, magnetresonanztomographisch evtl. Plaques in Ncl. cochlearis und Colliulus inferior Pseudotumor cerebri (idiopathische intrakranielle Hypertension) ▬ Klinisches Bild: Kopfschmerz, Sehstörungen (progrediente Atrophie des N. opticus) auditorisch (objektiver) pulsierender Tinnitus (verschwindet bei Kompression der V. jugularis), sensorineurale Hörminderung (häufig im Tieffrequenzbereich fluktuierend, ein- oder beidseitig), evtl. Schwindel und Druckgefühl im Ohr ▬ Diagnostik: Augenhintergrundspiegelung, Hirndruckmessung, Hirnstammaudiometrie, Elektrokochleographie ▬ Therapie (Neurologe, Augenarzt): Diuretika, ggf. Shunt-Anlage Vaskuläre und hämatologische Erkrankungen Ursachen und Differenzialdiagnostik ▬ Migräne ▬ Basilararterienverschluss (A. cerebelli inferior anterior; Symptomatik ähnlich dem Wallenberg-Syndrom, außerdem akut einsetzender Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Tinnitus, Hörverlust) ▬ Rheologische Störungen (Makroglobulinämie Waldenström, Kryoglobulinämie, Sichelzellenanämie, Leukämien, kardiopulmonale Bypassoperation) ▬ Gefäßschlingen mit Kontakt zum N. vestibulocochlearis im Kleinhirnbrückenwinkel (Zusammenhang nicht gesichert) Therapie ▬ Behandlung der Grunderkrankung Hörstörung bei Morbus Menière ▬ Ätiologie und Pathogenese des Morbus Menière sind ungeklärt (s. unten, »Gleichgewichtsstörungen«) ▬ Enge Verbindung zum idiopathischen Endolymphhydrops (Felsenbeinstudien: Endolymphhydrops bei allen Patienten mit Morbus Menière; alle Präparate von Patienten mit Hörverlust ebenfalls mit Hydrops, aber in unterschiedlichen Frequenzbereichen sowie nicht unbedingt fluktuierend und ohne weitere MenièreSymptome) ▬ Unterschiedliche ätiologische Faktoren können zum Endolymphhydrops führen; ob dieser Ursache, Epiphänomen oder gemeinsame Endstrecke verschiedener Homöostasestörungen des Innenohrs ist, wird diskutiert ▬ Ätiologie des Hydrops: am ehesten lokale Störung der Ionenhomöostase des Innenohrs, für welche verschiedene Entstehungsmöglichkeiten existieren (traumatisch, entzündlich, immunassoziiert etc.) ▬ Vereinfachte Hypothese, dass ein Endolymphhydrops durch eine »Überproduktion von Endolymphe« (als Flüssigkeit), eine Blockade des »longitudinalen Endolymphflusses« in den Ductus endolymphaticus oder eine verminderte Resorption im Saccus endolymphaticus entsteht, kann in dieser Form nicht weiter aufrechterhalten werden: – physiologisch relevanter, kontinuierlicher Endolymphfluss von der Kochlea in den Saccus endolymphaticus bisher nicht nachgewiesen – »Endolymphproduktion« im Sinne der Aufrechterhaltung einer einzigartigen Ionenzusammensetzung kann ohne eigentliche Produktion eines Flüssigkeitsvolumens durch effektive Transportprozesse über lokale Ionenkanäle gewährleistet werden Neubildungen ▬ Vestibularisschwannom (»Akustikusneurinom«; # Kap. 37 traumatisch/ototoxisch: # Kap. 3.6.2; entzündlich bedingte sensorineurale Schwerhörigkeit: # Kap. 3.6.3, »Labyrinthitis«; Fehlbildungen des Innenohrs: # Kap. 3.6.1 3.6.6) ▬ Paragangliome (Glomustumoren) des Mittelohrs und der Schädelbasis (# Kap. 3.5.6) 3 274 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Meningeome, intrakranielle Metastasen, Meningiosis carcinomatosa mit Affektion des N. vestibulocochlearis ▬ Tumor des Saccus endolymphaticus: niedriggradiges Adenokarzinom im Rahmen eines von-HippelLindau-Syndroms (neuroektodermales Fehlbildungssyndrom aus der Gruppe der Phakomatosen, gekennzeichnet durch multifokale Präsenz von Tumoren: retinale Angiome, Hämangioblastome des Zentralnervensystems, Nierenzellkarzinome, Phäochromozytome, Zysten des Pankreas und der Niere; Inzidenz 1/30.000–50.000 Einwohner) Sonderform: Hyperakusis ▬ Neurologische/psychiatrische Krankheitsbilder: z. B. Epilepsie, Migräne, Autismus, Neurosen, Depressionen, Angstneurose, Persönlichkeitsstörung, Manie, Schizophrenie, Schädel-Hirn-Trauma, posttraumatisches Stresssyndrom, Lyme-Erkrankung ▬ Krankheitsbilder mit genetischen Defekten: Williams-Syndrom (Konzentrationsprobleme, gestörte motorische Kontrolle, Probleme bei der räumlichen Orientierung; 5-Hydroxytryptamin-Dysfunktion), Cogan-Syndrom, Tay-Sachs-Syndrom ▬ Sonstiges: Patienten mit akustischer Überforderung (z. B. höheres Alter), emotionale Abwehr Definition, Einteilung und klinisches Bild Literatur ▬ Synonyme: »recruitment«, Phonophobie, Geräuschempfindlichkeit, Geräuschangst, akustische Nervosität, akustische Sensibilisierung, Dysakusis, Lärmschmerz, Gehörhyperästhesie ▬ Sammelbegriff für akustische Eindrücke, die von externen Schallquellen stammen und als zu laut oder unangenehm wahrgenommen werden ▬ Nicht identisch mit quälend laut empfundenem, subjektivem Tinnitus (aber oft bei Patienten mit Tinnitus vorkommend) ▬ Einteilung: – allgemeine Hyperakusis (bei Normalhörigkeit): subjektive Überempfindlichkeit für Geräusche normaler Lautstärke (ab 70–80 dB) – Hyperakusis mit »recruitment«: tritt besonders zu Beginn der Innenohrschädigung, bei mittleren Schädigungsgraden und v. a. bei Schädigungen im Tieftonbereich auf – Hyperakusis als Phonophobie: subjektive Überempfindlichkeit für bestimmte Geräusche normaler und auch geringer Intensität, die vom Patienten als bedrohlich erlebt werden und Angstzustände mit vegetativer Reaktion auslösen Arts AH (2005) Sensorineural hearing loss: evaluation and managment in adults. In: Cummings WC (ed) Otolaryngology – head and neck surgery. Elsevier Mosby, Philadelphia, pp 3535–3561 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (1998) Die Verwendung hoher Schallpegel in der audiometrischen Diagnostik und Kernspintomographie. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 017/059 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004) Hörsturz. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 017/010 McCabe BF (1979) Autoimmune sensorineural hearing loss. Ann Otol Rhinol Laryngol 88: 585–589 Moser T, Strenzke N, Meyer A et al. (2006) Diagnostik und Therapie der auditorischen Synaptopathie/Neuropathie. HNO 54: 833–841 Nelting M (Hrsg) (2003) Hyperakusis. Frühzeitig erkennen, aktiv handeln. Thieme, Stuttgart New York Plontke S (2005) Gestörtes Hören. Konservative Verfahren. Laryngorhinootologie 84 (Suppl 1): 1–43 Plontke S, Zenner HP (2004) Aktuelle Gesichtspunkte zu Hörschaden durch Berufs- und Freizeitlärm. Laryngorhinootologie 83 (Suppl 1): 122–164 Rauch SD, Ruckenstein MJ (2005) Autoimmune inner ear disease. In: Cummings WC (ed) Otolaryngology – head and neck surgery. Elsevier Mosby, Philadelphia, pp 2926–2932 Röser D (1980) Schätzung des prozentualen Hörverlustes nach dem Tonaudiogramm. In: Kolloquium Berufliche Lärmschwerhörigkeit. Fragen der Begutachtung nach dem Königsteiner Merkblatt. Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e. V., Bonn, S. 91–97 Sha SH, Qiu JH, Schacht J (2006) Aspirin to prevent gentamicin-induced hearing loss. N Engl J Med 354: 1856–1857 Epidemiologie ▬ Schwankende Angaben aufgrund unterschiedlicher Definitionen und verschiedener Patientenkollektive; etwa 2–15 % in entsprechenden Erhebungen Tinnitus (Ohrgeräusche) S. Plontke Ätiologie ▬ Oft keine Ätiologie oder Grunderkrankung nachweisbar ▬ Medikamente und exogene Substanzen: z. B. Azetylsalizylsäure, Koffein, Chinin, CO2, Benzodiazepine ▬ Krankheitsbilder mit Störungen v. a. im Bereich des Mittelohrs, der Kochlea und des N. vestibulocochlearis: z. B. Innenohrschwerhörigkeit, Morbus Menière, vorangegangene Stapesoperation, Perilymphfistel Definition ▬ Subjektive (nur vom Betroffenen wahrgenommen; fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen System) oder objektive Wahrnehmung (vom Betroffenen und vom Untersucher zu hören) eines Tones oder Geräusches ohne akustische Stimulation von außen (wird auch als »Unmöglichkeit, Stille wahrzunehmen« beschrieben) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis > Wichtig Tinnitus ist ein Symptom unterschiedlicher Genese und keine Diagnose. Einteilung ▬ Objektiv vs. subjektiv: – objektiver Tinnitus: Schallaussendungen körpereigener Schallquellen werden gehört (z. B. gefäßoder muskelbedingte Schallgeräusche) – subjektiver Tinnitus: fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen System ohne Einwirkung eines akustischen Reizes Epidemiologie ▬ Etwa 25 % der deutschen Bevölkerung (über 10 Jahre) geben an, schon einmal Ohrgeräusche gehabt zu haben ▬ Prävalenz wird in internationalen Studien auf 3–36 % geschätzt (je nachdem, wie die Fragebögen aufgestellt sind) ▬ Vorkommen in jedem Lebensalter ▬ Zu 12–50 % tritt Tinnitus als Begleitsymptom von Lärmschwerhörigkeit auf ▬ Häufigkeit in den vergangenen 20 Jahren drastisch gestiegen ▬ Ort der Entstehung: – äußeres Ohr – Mittelohr – Innenohr – Hörnerv – zentrales auditorisches System ▬ Zeitlicher Verlauf: – akut: <3 Monate – subakut: 3 Monate bis 1 Jahr – chronisch: >1 Jahr ▬ Qualität: Pfeifen, Rauschen, Summen, Klingeln, Pulsieren, Sägen etc. ▬ Sekundärsymptomatik: – kompensierter Tinnitus: Patient registriert das Ohrgeräusch, kann jedoch so damit umgehen, dass zusätzliche Symptome nicht auftreten; es besteht kein oder nur geringer Leidensdruck, und die Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt – dekompensierter Tinnitus: Ohrgeräusch hat massive Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche und führt zur Entwicklung einer Sekundärsymptomatik (Angstzustände, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Depressionen); es besteht hoher Leidensdruck, und die Lebensqualität ist wesentlich beeinträchtigt ▬ Schweregrad38: – 1: kompensiertes Ohrgeräusch, kein Leidensdruck – 2: Tinnitus tritt hauptsächlich bei Stille in Erscheinung und wirkt bei Stress sowie psychisch-physischen Belastungen störend – 3: Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Bereich; es treten Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich auf – 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich Ätiologie 38 39 nach Biesinger et al. (1998) 275 ▬ Objektive Ohrgeräusche: Schallaussendungen körpereigener Schallquellen: – Glomus-tympanicum-, Glomus-jugulare-Tumor (pulsierendes Rauschen) – tonisch-klonische Kontraktionen der velopalatinalen Muskulatur, des M. stapedius oder des M. tensor tympani – Stenose der A. carotis oder der A. occipitalis (pulssynchrones Rauschen) ▬ Subjektive Ohrgeräusche: können als Begleitsymptom nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten, die an der Prozessierung akustischer Reize beteiligt sind (Ohr bzw. auditorisches System); wichtige Ursachen: Lärm, Entzündungen, psychische Belastungssituationen, z. B. fehlende bzw. falsche Stressbewältigung Pathogenese – Entstehungsmodelle des subjektiven Tinnitus39 ▬ Schallleitungstinnitus (z. B. Tubenventilationsstörungen, Otosklerose, Otitis media) ▬ Sensorineuraler Tinnitus (# Kap. 3.2.1, »Pathophysiologische Aspekte der Innenohrschwerhörigkeit«): – Typ I: Motortinnitus (äußere Haarsinneszellen): z. B. akustische Traumata, Lärmschwerhörigkeit – Typ II: Transduktionstinnitus (innere Haarsinneszellen) – Typ III: Transformationstinnitus (Synapse zur afferenten Hörnervenfaser): z. B. akustische Traumata (Exzitotoxizität) – Typ IV: extrasensorischer Tinnitus (z. B. Stria vascularis, Spiralligament, Tektorialmembran): altersassoziierte Schwerhörigkeit (?) ▬ Zentraler Tinnitus: – primär zentraler Tinnitus (z. B. Erkrankungen des Zentralnervensystems) – sekundär zentraler (zentralisierter) Tinnitus Zenner (1998) 3 276 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Sekundäre Tinnituszentralisierung durch neurophysiologische Mechanismen40: – Ursache eines Tinnitus liegt in der Regel ursprünglich in der Kochlea – zentralnervöse Verarbeitung des Tinnitusreizes führt zu einer zentralen Reizantwort (»stimulus response«) – häufige Antworten: Aufmerksamkeitslenkung zum Tinnitus, Angstauslösung und/oder Muskelverspannungen – bei schwer betroffenen ist die jeweilige Antwort deutlich ausgeprägter als bei leicht betroffenen Patienten – Ursache: neurophysiologische Verarbeitung des Tinnitusreizes im Gehirn – nach Jastreboff handelt es sich um einen konditionierten Reflex mit zeitlich engem Zusammentreffen von 2 Ereignissen (hier: Tinnitus und negative emotionale Assoziation); Auslöschung durch einen dem auslösenden Reiz ähnlichen Reiz → Tinnitus-Retraining-Therapie nach Jastreboff mit einem Schallreiz (z. B. mittels Noiser appliziert) – nach Zenner und Birbaumer handelt es sich um eine kognitive Sensibilisierung: – entsteht durch »spezifische Attribute« des Tinnitus, z. B. Angstauslösung, erlebte Hilflosigkeit (Kontrollverlust), subjektiv erlebte potenzielle Schädlichkeit, unvorhersehbarer Verlauf – gekennzeichnet durch Herabsetzung der kognitiven Schwelle für die Auslösung der Reizantwort → Auslösung einer individuellen, pathologischen, unerwünschten, ausgeprägte Antwort – Störung auf kognitiver Ebene → Therapie durch kognitive Interventionen, z. B. kognitive Verhaltenstherapie ▬ beide Mechanismen schließen einander nicht aus, sondern können gleichzeitig vorliegen – depressive Verstimmung, Depressionen, Blockade – psychosozialer Rückzug – Störung der auditiven Wahrnehmung, Verzerrung, Hyperakusis – Schlafstörungen, Leistungsabfall, Arbeitsunfähigkeit bis zum Suizid – Konzentrationsstörungen Diagnostik41 ▬ Anamnese: – genaue Anamnese für Einteilung, gezielte Diagnostik und Therapie des Tinnitus wichtig – hoher Zeitaufwand – erfragt werden: Dauer, zusätzliche otologische Symptome und Beschwerden wie Hörminderung und/oder Schwindel, gleichzeitiges Auftreten von Hörminderung und Tinnitus, Charakter des Tinnitus (Pfeifen, Rauschen etc.; kontinuierlich, unterbrochen), tageszeitlicher Verlauf (z. B. nur morgens, beim Einschlafen), Maskierung durch Umweltgeräusche, Lärmanamnese, Medikamenteneinnahme, Erkrankungen oder Beschwerden auf neurologischem, endokrinologischem und kardiovaskulärem Gebiet, neurochirurgische Operationen, Verstärkung und Abschwächung des Tinnitus (z. B. durch körperliche Belastung, bestimmte Kopfhaltungen, Stress, psychische Einflüsse), Vorhandensein von Konzentrationsstörungen, Ein- und Durchschlafstörungen, Beeinflussung der Lebensqualität etc. – für die Beurteilung der Beeinträchtigung und von Ko-Morbiditäten sowie des Schweregrads sind das strukturierte Tinnitus-Interview nach Goebel und der Fragebogen nach Goebel und Hiller hilfreich ▬ Untersuchungen: > Wichtig Da Tinnitus ein Symptom verschiedener Erkrankungen sein kann, dienen die auf der Anamnese basierenden Untersuchungen insbesondere der Diagnostik bzw. dem Ausschluss behandlungsbedürftiger Erkrankungen. Klinisches Bild ▬ Bei Ohrgeräuschen kann es sich um zeitweilig oder kontinuierlich auftretende Schallempfindungen gleichbleibender oder wechselnder Intensität und unterschiedlicher Art handeln; sie können z. B. als reine Sinustöne, schmalbandiges oder breitbandiges Rauschen oder auch als komplexe Geräusche wie z. B. »Surren«, »Brummen«, »Klingeln«, »Zirpen« oder »Knacken« sowie als Mischung verschiedener akustischer Komponenten auftreten ▬ Ko-Morbiditäten (Auswahl): – muskuläre Verspannungen (Halswirbelsäule, Bruxismus, Kaumuskulatur → Kiefergelenkverspannung) – HNO-ärztliche Untersuchung inklusive Ohrmikroskopie, Nasopharyngoskopie und Prüfung der Tubendurchgängigkeit – Auskultation der A. carotis sowie Abhören des Gehörgangs, v. a. bei pulssynchronem Ohrgeräusch – Tonaudiometrie, otoakustische Emissionen, Unbehaglichkeitsschwelle 41 40 teilweise zitiert aus: Zenner (2008) adaptiert nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (1998) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – Tympanometrie und Stapediusreflexe (ggf. inklusive Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen) – Bestimmung der Tinnituslautheit, der Frequenzcharakteristik und der Maskierungskurven nach Feldmann mit Schmalbandrauschen oder Sinustönen, Feststellung der Lautstärke-Lautheits-Diskrepanz – Hirnstammaudiometrie: Ausschluss einer retrokochleären Störung – Vestibularisprüfung (inklusive kalorischer Prüfung) – Halswirbelsäulendiagnostik, v. a. in Hinblick auf funktionelle Störungen – orientierende Untersuchung des Gebisses und des Kauapparats – Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien (extra- und transkraniell) bei Hinweis auf objektive Ohrgeräusche oder Zeichen einer zerebralen Durchblutungsstörung, v. a. beim Kopfdrehen – »High-resolution«-Computertomographie der Felsenbeine zum Nachweis von ossären Destruktionen, entzündlichen Vorgängen und Fehlbildungen – Magnetresonanztomographie des Schädels bei pathologischer oder nicht aussagekräftiger Hirnstammaudiometrie sowie bei Verdacht auf ein zentrales auditorisches Geschehen oder eine neurologische Erkrankung – ggf. digitale Subtraktionsangiographie des zerebrovaskulären Systems bei pulssynchronem Tinnitus – Labordiagnostik (bei entsprechendem Verdacht): Infektionsserologie (Borreliose, HIV-Infektion, Lues), Immunpathologie (Immunglobuline, Rheumafaktoren, gewebespezifische Antikörper), Liquordiagnostik (bei Hinweis auf entzündlichen Prozess des Zentralnervensystems), Stoffwechsel (Blutzuckerspiegel, Blutfettwerte, Leberenzymaktivitäten, Schilddrüsenhormonwerte, Blutbild) – internistische Untersuchung bei Verdacht auf kardiovaskuläre, endokrinologische oder rheumatologische Erkrankungen – neurologische Diagnostik – psychologische Diagnostik bei psychischer KoMorbidität und hohem Belastungsgrad ! Cave Bei akutem Tinnitus sollten überschwellige Hörtests wegen der Gefahr einer Lärmbelastung in einem Zeitabstand von mindestens einer Woche durchgeführt werden (inklusive Magnetresonanztomographie; s. oben, »Hörstörungen« → »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«). 277 Differenzialdiagnostik ▬ Ohrgeräusche können als Begleitsymptom nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten, die an der Prozessierung akustischer Reize beteiligt sind ▬ Differenzialdiagnostisch müssen auch Entzündungen, Tumoren und vaskuläre Erkrankungen des Zentralnervensystems sowie kardiovaskuläre, endokrinologische und rheumatologische Erkrankungen in Erwägung gezogen werden Therapie > Wichtig Unabhängig von Zeitverlauf und Schweregrad besteht die Grundlage jeglicher Therapie von Ohrgeräuschen in der ärztlichen Aufklärung und Beratung ( TinnitusCounselling). ▬ Ziele: – akuter Tinnitus: vollständige Beseitigung oder zumindest Minderung der Lautstärke – subakuter Tinnitus: Vermeidung einer Chronifizierung und einer langfristigen Dekompensation – chronisch-dekompensierter Tinnitus: Überführung in einen kompensierten Zustand > Wichtig Bei der Überführung des chronisch-dekompensierten Tinnitus in einen kompensierten Zustand ist einem aktiven, kognitiv-behavioralen, strukturierten Habituationstraining gegenüber einer passiven, auf der Versorgung mit Rauschgeneratoren (»klassische Tinnitus-RetrainingTherapie«) basierenden Therapie der Vorzug zu geben. ▬ Maßnahmen: – objektiver Tinnitus: Beseitigung der körpereigenen Schallquelle: – Paragangliom: operative Therapie – vaskuläre Dekompression im Kleinhirnbrückenwinkel (Abwägung von Risiko und Nutzen) – Myoklonien des Weichgaumens (M. tensor tympani, M. stapedius) mit »klickenden« Ohrgeräuschen: Botulinustoxininjektionen oder Gabe von Carbamazepin – atemsynchrone, »blasende« Ohrgeräusche (durch eine weite Tube): ggf. chirurgische Eingriffe an der Tube – subjektiver Tinnitus: – Therapie einer Erkrankung des Gehörgangs oder des Mittelohrs oder einer kochleären Hörstörung (konservativ oder operativ) – Behandlung retrokochleärer Störungen inklusive neurologischer Erkrankungen (z. B. Pseudotumor cerebri) 3 278 3 Kapitel 3 · Ohr – Behandlung von Erkrankungen des Kauapparats und/oder der Halswirbelsäule – Therapie kardiovaskulärer (z. B. Bluthochdruck), endokrinologischer (z. B. Hyperthyreose) und rheumatologischer Erkrankungen (systemische, nichtorganspezifische Autoimmunerkrankungen mit sekundärer Autoimmunerkrankung des Innenohrs) – Beseitigung des Tinnitus auch bei erfolgreicher Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung nicht immer möglich – Therapie des subjektiven Tinnitus ist von Zeitverlauf, Schweregrad und Ko-Morbiditäten abhängig und folgt einem Stufenkonzept (⊡ Tab. 3.12) die akustische Hintergrundaktivität erhöht und durch eine Verminderung des Signal-Rausch-Abstands (Tinnitus vs. akustische Hintergrundaktivität) die subjektive Wahrnehmung des Tinnitus reduziert werden; die apparative Versorgung mit Rauschgeräten oder Tinnitusinstrumenten (Hörplus Rauschgerät) zeigte jedoch in mehreren Studien keinen nachweisbaren Einfluss auf das Therapieergebnis → Anwendung von Rauschgeneratoren wird zunehmend kritisch gesehen – verhaltensmedizinische Therapie: – die »klassische« Tinnitus-Retraining-Therapie ist eine Geräuschtherapie in Kombination mit einer Beratung (»counselling«) auf Grundlage des neurophysiologischen Tinnitusmodells nach Jastreboff und Hazell (1993); nach diesem Modell ist ist der Tinnitus ein Produkt einer abnormen Aktivitätssteigerung in der Hörbahn, die in höheren auditorischen Zentren als Geräusch oder Ton wahrgenommen wird, wobei Emotions- und aufmerksamkeitssteuernde zentralnervöse Strukturen eine wesentliche Rolle spielen; eine psychologische Betreuung wird von Jastreboff nicht als Bestandteil der Tinnitus-Retraining-Therapie angesehen; die Wirkung kann nach dem derzeitigen Wissensstand noch nicht als belegt gelten – als Erweiterung und Modifikation der klassischen Tinnitus-Retraining-Therapie schlägt die Arbeitsgruppe Retraining der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (ADANO) ein kombiniertes medizinisch-psychologisches Vorgehen vor; der Definition nach ist diese Therapie »... ein Konzept zur ambulanten Therapie des dekompensierten Tinnitus, welches auf der Basis umfassender Diagnostik durch HNO-Ärzte ausgehend von den Modellvorstellungen von Jastreboff und Hazell eine interdisziplinäre Therapie einleitet, die unter fakultativer Zuhilfenahme psychologischer sowie akustisch-apparativer Behandlungsmaßnahmen den Patienten in enger Anbindung weiter betreut. Das Konzept setzt die aktive Mitarbeit des Patienten voraus«42; Elemente: Grundmodul mit weiterführender HNO-ärztlicher und psychologischer Diagnostik, ausführlicher Beratung (»counselling«) und Erarbeitung eines individuellen Tinnitusmodells; Folgemodul mit der »Entscheidung, Einleitung und ggf. Verordnung der apparativ-akustischen Maßnahmen (Hörgeräte, Rauschgeräte) durch den HNO-Arzt in enger > Wichtig Da Ohrgeräusche als Begleitsymptom nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten können, die an der Prozessierung akustischer Reize beteiligt sind, richtet sich die Therapie grundsätzlich nach der (vermuteten) Ätiologie. – pharmakologische Therapie: – eine spezifische medikamentöse Therapie existiert nicht – die Therapie erfolgt in Abhängigkeit von der individuellen Situation (Therapiewunsch, Leidensdruck) und der Abwesenheit audiologischer Begleiterscheinungen (Tinnitus nicht als Begleitsymptom eines Hörsturzes) sowie in Anlehnung an die medikamentöse Therapie des Hörsturzes (# Kap. 13.4) – bei erst wenige Stunden lang andauerndem Tinnitus sollte aufgrund der wie auch beim Hörsturz anzutreffenden Spontanheilungstendenz sowie des Mangels an plazebokontrollierten klinischen Studien auch eine abwartende Haltung (z. B. für 24–48 h) diskutiert werden, bevor man z. B. eine Hochdosisglukokortikoidtherapie initiiert – akustische Stimulation: – Hörgeräte > Wichtig Bei entsprechender audiologischer Indikation ist eine frühzeitige Hörgeräteanpassung sinnvoll. Sie wirkt sich meist auch positiv auf Ohrgeräusche aus. – Rauschgeneratoren (Noiser, Tinnitusmasker): kommen im Rahmen der Tinnitus-RetrainingTherapie zur Anwendung und erzeugen ein gleichmäßiges Rauschen mit einem breiten Frequenzspektrum; durch den Einsatz eines emotional möglichst indifferenten Rauschens soll besonders bei niedriger Umgebungslautstärke 42 zitiert aus: von Wedel u. von Wedel (2000) 279 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis ⊡ Tab. 3.12. Therapie des Tinnitus »Counselling« Pharmakologische Therapie Hörgeräteanpassung Therapie von Halswirbelsäule oder Kiefergelenk Ambulante Tinnitus-RetrainingTherapiei durch ein Team Akut + + – (+)b Je nach Schweregradc Subakut + (+)d (+)e (+)b Chronisch + (+)d (+)e (+)b I: gut kompensiert, kaum Leidensdruck (0–30) +g – (+)e (+)b – – II: kompensiert, leicht störend (31–46) +g – (+)e (+)b (+)h – III: dekompensiert, quälend, evtl. psychische Ko-Morbidität (47–59) + (+)d (+)e (+)b + (+) IV: völlig dekompensiert, extremer Leidensdruck, meist psychische KoMorbidität (60–84) + (+)d (+)e (+)b (+) + Klassifikation Stationäre, komplexe, psychosomatische Therapie durch ein Teama Nach dem Zeitverlauf Nach dem Schweregradf a Team: speziell geschult; Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Hörgeräteakustiker, Krangengymnasten bei diagnostizierten Pathologien des Kauapparats und der Halswirbelsäule: therapeutische Interventionen c auch bei akutem oder subakutem Tinnitus aufgrund des Schweregrads u. U. stationäre Therapie erforderlich d pharmakologische Therapie bei dekompensiertem Tinnitus: umfasst ggf. eine anxiolytische und antidepressive Behandlung als Unterstützung einer psychotherapeutischen Intervention e bei entsprechender audiologischer Indikation frühzeitige Hörgeräteanpassung sinnvoll, die sich in den meisten Fällen auch positiv auf Ohrgeräusche auswirkt f Schweregrad entsprechend des Scores im Fragebogen nach Goebel und Hiller (1994) g Tinnitus-Counselling sollten alle Patienten – unabhängig von Zeitverlauf und Schweregrad des Tinnitus – erhalten, die wegen der Ohrgeräusche einen Arzt aufsuchen; beim völlig dekompensierten Tinnitus (IV) erfolgen Counselling und andere Interventionen im Rahmen der komplexen pyschosomatischen Therapie h bestimmte Elemente einer kognitiv-behavioralen psychologischen Therapie als Kurzintervention auch schon bei noch kompensiertem chronischen Tinnitus sinnvoll und als präventive Maßnahme zur Vermeidung einer Dekompensation zu betrachten i deutsche Tinnitus-Retraining- oder Tinnitusdesensibilisierungstherapie + geeignet; (+) bedingt geeignet; – nicht geeignet b Zusammenarbeit mit einem Hörgeräteakustiker und die weiterführenden, regelmäßigen Beratungen durch den HNO-Arzt und/oder den Psychotherapeuten inkl. der entsprechenden Verlaufsdiagnostik, i. d. R. über 18 Monate ...« der Tinnitushyperaktivierung (Jastreboff ) auf perzeptiver Ebene grundlegend zu unterscheidendes Modell der zentralen Tinnitussensibilisierung. Im Mittelpunkt steht eine kognitive Überempfindlichkeit (Sensitivierung) für den Tinnitus43. Die Diagnose einer Tinnitussensitivierung ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der geringen Tinnituslautheit bei der audiologischen Tinnitusbestimmung und der starken subjektiven Tinnituslautheit bei Messung mit einer Analogskala (Lautstärke-LautheitsDiskrepanz). > Wichtig Ziel der Behandlung des chronischen Tinnitus ist die dauerhafte Gewöhnung an das Ohrgeräusch (Habituation). Grundlage der hohen Wertigkeit eines kognitiv-behavioralen Ansatzes der Tinnitus- (und auch Hyperakusis-)Therapie ist ein vom neurophysiologischen Modell 43 Zenner u. Zalaman (2004) 3 280 3 Kapitel 3 · Ohr – Tinnitusdesensibilisierungstherapie: Kombination überwiegend verhaltensmedizinischer Behandlungsverfahren, die als Therapieergebnis die Habituation über eine primär kognitive Desensibilisierung anstreben; aktive Lernprozesse, die in besonderem Maße die Mitarbeit des Patienten erfordern; Ziel: durch einen spezifischen Lernprozesses die Wahrnehmungsempfindlichkeitsschwelle für den Tinnitus zu regulieren, u. a. mit Hilfe erlernter, konkurrierender Reize > Wichtig Wichtig sind die evidenzbasierte Strukturierung der Therapie (keine Beliebigkeit des Therapeuten) durch speziell geschulte Therapeutenteams aus Ärzten, Psychologen, Psychotherapeuten, Hörgeräteakustikern und Krankengymnasten sowie die standardisierte Erfassung von Therapieergebnissen zur Qualitätssicherung in geeigneten Zentren bzw. Spezialeinrichtungen. – zusätzliche wichtige Elemente verhaltensmedizinischer Behandlungsverfahren: Stress- und Depressionsbewältigung, Anxiolyse, Einschlafhilfen (ggf. mit medikamentöser Unterstützung), Entspannungstechniken (progressive Muskelrelaxation, Biofeedback, autogenes Training, Yoga), Selbsthilfegruppen (wichtige Funktion v. a. für den Informationsaustausch zwischen den Betroffenen; z. B. Deutsche Tinnitus-Liga) – Magnetstimulation (repetitive transkranielle Magnetstimulation): # Kap. 13.4.15 – elektrische Stimulation: # Kap. 13.4.15 Goebel G (1994) Verhaltensmedizinische Diagnostik des Tinnitus. Standardisiertes Tinnitus-Interview (STI). HNO aktuell 2: 281–288 Goebel G, Hiller W (1994) Tinnitus-Fragebogen (TF). Standardinstrument zur Graduierung des Tinnitusschweregrades. Ergebnisse einer Multicenterstudie mit dem Tinnitus-Fragebogen (TF). HNO 42: 166–172 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (1998) Tinnitus. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 017/064; http://leitlinien.net Hesse G (Hrsg.) (1999) Retraining und Tinnitustherapie. Thieme, Stuttgart New York Jastreboff PJ, Hazell JW (1993) A neurophysiological approach to tinnitus: clinical implications. Br J Audiol 27: 7–17 Kröner-Herwig B (Hrsg.) (1997) Psychologische Behandlung des chronischen Tinnitus. Psychologie Verlags Union, Weinheim Tietze G, Lenarz T, Kießling J, von Specht H (1998) Die Verwendung hoher Schallpegel in der audiometrischen Diagnostik und Kernspintomographie. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 017/059; http://leitlinien.net von Wedel H, von Wedel UC (2000) Eine Bestandsaufnahme zur Tinnitus-Retraining-Therapie. HNO 48: 887–901 Zenner H-P (1998) Eine Systematik fur Entstehungsmechanismen von Tinnitus. HNO 46: 699–704 Zenner H-P (Hrsg.) (2008) Praktische Therapie von Hals-Nasen-OhrenKrankheiten, 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart New York Zenner H-P, Pfister M, Birbaumer N (2006) Tinnitus sensitization: Sensory and psychophysiological aspects of a new pathway of acquired centralization of chronic tinnitus. Otol Neurotol 27: 1054–1063 Zenner H-P, Zalaman IM (2004) Cognitive tinnitus sensitization: behavioral and neurophysiological aspects of tinnitus centralization. Acta Otolaryngol 124: 436–439 Gleichgewichtsstörungen M. Reiß, G. Reiß Verlauf und Prognose ▬ Mittelohrbedingter Tinnitus: gut ▬ Kochleäre oder retrokochleäre Ursache: ohne Intervention häufig unbefriedigend ▬ Akuter Tinnitus: in der Regel gute Ergebnisse, wobei qualitativ hochwertige (randomiserte, placebokontrollierte) klinische Studien fehlen ▬ In den meisten Fällen kommt es bei adäquater Intervention (⊡ Tab. 3.12) zur Habituation ▬ Komplikationen: – in der Regel psychische und sekundär auch physische Komplikationen (Ko-Morbiditäten; s. oben) – übersehenes Vestibularisschwannom Literatur Biesinger E, Heiden C, Greimel V, Lendle T, Hoing R, Albegger K (1998) Strategien in der ambulanten Behandlung des Tinnitus. HNO 46: 157–169 Delb W, D’Amelio R, Archonti C, Schonecke O (2002) Tinnitus. Ein Manual zur Tinnitus-Retrainingtherapie. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle Übersicht und Einteilung ▬ Grundsätzlich Unterscheidung zwischen: – physiologischem Schwindel – pathologischem Schwindel ▬ Weiterhin Differenzierung zwischen: – vestibulärem Schwindel (vestibuläre Organe, Zentren und Bahnen) – nichtvestibulärem Schwindel (internistisch, okulär, somatoform) ▬ Verschiedene Einteilungsmöglichkeiten: – nach der Lokalisation: peripher oder zentral – nach der Dauer: Anfalls- oder Dauerschwindel – nach der Qualität: Dreh- oder Schwankschwindel, Benommenheit – Bogengangs- oder Otolithenschwindel ▬ Klassifikation auch nach der Arbeitsebene des vestibulookulären Reflexes möglich (3 Ebenen): »pitch«, »roll«, »yaw« (s. unten, »Zentrale Gleichgewichtserkrankungen«) 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (»benign paroxysmal positional vertigo«, BPPV) Definition ▬ Synonyme: gutartiger anfallsweiser Lagerungsschwindel, Otolithenschwindel ▬ Kurz andauernde, heftige Drehschwindelattacken infolge einer Kanalolithiasis, die durch Herumdrehen im Bett oder Kopfbewegungen ausgelöst werden Einteilung ▬ Kanalolithiasis des hinteren Bogengangs (90 %) ▬ Kanalolithiasis des lateralen Bogengangs (10 %) ▬ Kanalolithiasis des vorderen Bogengangs (sehr selten) Epidemiologie ▬ Häufigste Schwindelursache: 1/3 aller über 70-Jähri- gen bereits einmal erkrankt ▬ Idiopathisch oder degenerativ: Männer doppelt so häufig betroffen wie Frauen ▬ Symptomatisch: Männer und Frauen gleich häufig betroffen Ätiologie ▬ Ablösung anorganischer, spezifisch-schwerer Partikel (Otokonien bzw. Otolithen) durch Trauma (symptomatisch) oder degenerativ-spontan, die in den Bogengang gelangen und flottierende Konglomerate bilden ▬ Oft im Intervall nach einer akuten peripheren Vestibulopathie, auch nach langer Bettruhe Pathogenese ▬ Ursprünglich wurde eine Kupulolithiasis (Anheftung der Otolithen an die Cupula) vermutet (Schuknecht) ▬ Aktuelles Modell: Kanalolithiasis mit frei beweglichen Otolithen in den Bogengängen, welche verklumpen und damit den Bogengang als Pfropf ausfüllen → durch Bewegung des Konglomerats ampullofugale oder -petale Bewegung mit Erregung oder Hemmung der vestibulären Haarzellen ▬ Kupulolithiasis kommt ebenfalls vor, ist aber selten Klinisches Bild ▬ Schwindelattacken häufig in der Nacht oder morgens nach Umdrehen im Bett, auch beim Hinlegen und Aufstehen mit Kopfbewegungen ▬ Ausgeprägter Drehschwindel mit an- und abschwellendem Charakter (Crescendo–Decrescendo) 281 ▬ Nachweis eines Lagerungsnystagmus mittels Lagerungsmanöver (Dix-Hallpike): ist der hintere Bogengang betroffen, kommt es nach einer Latenz zu einem zum unten liegenden Ohr gerichteten Nystagmus, der sich nach dem Aufrichten wieder umkehrt und nach wiederholter Provokation ermüdet Differenzialdiagnostik ▬ Zentraler Lagenystagmus (selten) ▬ Vestibularisparoxysmie ▬ Beidseitiger Lagerungsnystagmus (nach Trauma) Therapie ▬ Ziel: losgelöste Otokine durch physikalische Therapieverfahren (Lagerungsmanöver) aus dem Bogengang herausbefördern ▬ Maßnahmen: – Lagerungsmanöver nach Epley, Semont (# Kap. 14.2.2) – Lagerungsübung nach Brandt-Daroff – bei BPPV des lateralen Bogengangs modifiziertes Lagerungsmanöver – sehr selten operative Okklusion des Bogengangs erforderlich ! Cave Bei der Behandlung des BPPV sind Antivertiginosa bzw. Medikamente nicht indiziert. Verlauf und Prognose ▬ Entsprechend der Bezeichnung gutartig, aber nicht in jedem Fall ▬ Rezidive möglich (20 %) ▬ Klingt innerhalb von Wochen spontan ab, kann aber auch über Jahre anhalten ▬ Unbehandelt persistiert der Schwindel bei etwa 30 % der Patienten ▬ Spontane Besserung beruht auf der Fähigkeit der Endolymphe, das Konglomerat aufzulösen Akute periphere Vestibulopathie Definition ▬ Synonyme: akute einseitige Vestibularisstörung, Neuropathia vestibularis, Neuritis vestibularis, Neuronitis vestibularis ▬ Akute einseitige Funktionsstörung eines Vestibularorgans mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, aber ohne kochleäre Symptome Einteilung Diagnostik ▬ Genaue Anamnese: Schwindel beim Drehen auf eine bestimmte Seite ▬ Kompletter Ausfall des Vestibularorgans ▬ Inkomplette Vestibularisstörung (mit Restfunktion; häufiger als kompletter Ausfall) 3 282 Kapitel 3 · Ohr Epidemiologie Therapie ▬ Vor allem bei Jugendlichen und Erwachsenen ▬ Frauen häufiger betroffen als Männer ▬ Ziele: – Beseitigung der vegetativen Symptome – Wiederherstellung der labyrinthären Funktion und Förderung der vestibulären Kompensation ▬ Maßnahmen: – Gabe von Antivertiginosa (max. für 3 Tage, ansonsten Verzögerung der Kompensation) – Verabreichung von Prednison und rheologische Therapie, z. B. mit Pentoxifyllin (Effekt hierbei umstritten) – vestibuläres bzw. physikalisches Training (sehr wichtig) Ätiologie 3 ▬ 3 verschiedene Hypothesen: – Infektion mit neurotropen Viren (Herpes-simplexVirus) – Mikrozirkulationsstörung – spontane Lösung der Cupula von der Ampullenwand Pathogenese ▬ Meist thermische Untererregbarkeit des lateralen Bogengangs (Pars superior des N. vestibularis) ▬ Selten kompletter Ausfall des Gleichgewichtsorgans Klinisches Bild ▬ Akute, ausgeprägte Schwindelsymptomatik, Lateropulsion zur erkrankten (ipsiversiven) Seite (später durch Gegenregulation zur anderen) ▬ Horizontal schlagender (zum Teil rotatorischer) Spontannystagmus (kontralateral) ▬ Oszillopsien (Scheinbewegungen der Umwelt) ▬ Übelkeit und Erbrechen Diagnostik ▬ Anamnese wegweisend ▬ Nystagmusmuster, Kopfimpulstest, kalorische Prüfung des Labyrinths mit Unter- oder Nichterregung des lateralen Bogengangs ▬ Ohne pathologischen Befund: Audiogramm, Tympanogramm, Stapediusreflexe, Hirnstammaudiometrie, Magnetresonanztomographie ! Cave Patienten mit noch unvollständiger Kompensation sind darüber zu belehren, dass die aktive Teilnahme am Straßenverkehr, Tätigkeiten an Abgründen, auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten an rotierenden Maschinen nicht erlaubt sind. Die Aufklärung ist zu dokumentieren. Verlauf und Prognose ▬ Insgesamt gut ▬ Schwindel hält über Tage bis Wochen an, klingt jedoch meist rasch ab ▬ Oft kommt es zu einer Wiederkehr der thermischen Erregbarkeit; durch zentrale Kompensation auch bei Nichterholung gutartiger Verlauf ▬ Bei jüngeren Menschen schnelle und vollständige Restitution; je älter der Patient, desto langwieriger der Verlauf Morbus Menière Definition Differenzialdiagnostik ▬ Morbus Menière: lang andauernde Attacke ▬ Zoster oticus: Hörstörung, Fazialisparese, Otorrhö ▬ Begleitlabyrinthitis bei Mittelohrentzündung: Schmerzen und Hörminderung ▬ Cogan-Syndrom: interstitielle Keratitis ▬ Lyme-Borreliose: anamnestisch Zeckenstich oder Erythema migrans ▬ Ischämie der A. labyrinthi: Hörverlust ▬ Hirnstamminfarkt: vaskuläre Anamnese, ältere Patienten ▬ Multiple Sklerose: »Pseudoneuritis« vestibularis (zentrale Okulomotoriuszeichen, »ocular tilt reaction« – Symptomentrias: Augenrotation, Kopfneigung, Divergenzstellung der Augen) ▬ Vestibularisschwannom: in der Regel überwiegend Hörstörung ▬ Meist einseitige Innenohrerkrankung unklarer Genese; bis zu 30 % beidseitig ▬ Pathomorphologisches Substrat: endolymphatischer Hydrops (Volumenzunahme der Endolymphräume) ▬ Wird zu häufig diagnostiziert Einteilung ▬ Bewiesene Menière-Erkrankung: histologischer Nachweis des Endolymphhydrops und entsprechende Symptomatik ▬ Sichere Menière-Erkrankung: 2 oder mehr Schwindelattacken von mindestens 20-minütiger Dauer mit nachgewiesener Hörminderung und Tinnitus, wobei andere Ursachen ausgeschlossen wurden ▬ Wahrscheinliche Menière-Erkrankung: eine Schwindelattacke mit Hörminderung und Tinnitus, Ausschluss anderer Ursachen 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis ▬ Mögliche Menière-Erkrankung: Schwindelattacke ohne Hörverlust oder fluktuierende Hörstörung ohne Schwindel, Ausschluss anderer Ursachen ▬ Sonderformen: – Lermoyez-Syndrom: Hörverbesserung während des Anfalls – Tumarkin-Otolithenkrise (»drop attacks«): ohne Prodromi kommt es zu plötzlichen, rezidivierenden Stürzen Epidemiologie ▬ Auftreten meist im 4.–6. Lebensjahrzehnt ▬ Prävalenz geographisch unterschiedlich: 17/100.000 in Japan, 49/100.000 in Finnland, 150/100.000 in den USA ▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen, selten Kinder Ätiologie ▬ Chronisch-rezidivierende virale Entzündung (Herpes-simplex-Virus Typ 1) ▬ Immunerkrankung ▬ Traumatisch ▬ Hormonelle Dysregulation ▬ Familiäre Komponente ▬ Durchblutungsstörung (fraglich) Pathogenese ▬ Lokale Störung der Ionenhomöostase → endolymphatischer Hydrops (s. oben, »Hörstörungen« → »Hörstörung bei Morbus Menière«) Klinisches Bild ▬ Minuten bis Stunden anhaltende Drehschwindelanfälle, die mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen ▬ Anfallsdauer beträgt nicht Sekunden und auch nicht Tage (etwa 20 min bis zu mehreren Stunden, max. 24 h) ▬ Tinnitus: oft tieffrequent, rauschend, bei 90 % der Patienten ▬ Einseitige Schwerhörigkeit, oft auch Völlegefühl im Ohr bzw. Druckgefühl ▬ Fluktuierendes Gehör (typisch: Hörverlust im Tiefund/oder Mittelfrequenzbereich) Diagnostik ▬ Wegweisend: – Anamnese mit Symptomentrias (Schwindelattacken, Hörminderung, Tinnitus) – Ausschlussdiagnostik: Hirnstammaudiometrie, Magnetresonanztomographie (Kleinhirnbrückenwinkel: Ausschluss einer Raumforderung) – Gleichgewichtsprüfung: im Anfall Ausfall- oder Reiznystagmus; Wechsel während des Anfalls mög- 283 lich; thermisch meist Untererregbarkeit (kein charakteristischer Befund) – Elektrokochleographie: endolymphatischer Hydrops wahrscheinlich, wenn Verhältnis des Summationspotenzials zum Aktionspotenzial >0,3 beträgt (Nachweis einer Vergrößerung des Summationspotenzials) – Glyzeroltest: nur bei etwa 30 % der Patienten positiv (Verkleinerung des Summationspotenzials) > Wichtig Bei der Diagnose »Morbus Menière« handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose. Differenzialdiagnostik ▬ Akute periphere Vestibulopathie: Schwindel dauert länger als 24 h an, keine kochleären Symptome ▬ Vertebrobasiläre Funktionsstörung: Hirnstammzeichen, Hirnnervenausfälle ▬ Migräneschwindel: Kopfschmerzen, andere Migräneanzeichen ▬ Vestibularisparoxysmie: Schwindel dauert Sekunden bis Minuten an ▬ Perilymphfistel: Provokation durch Lagewechsel, Pressen oder Tönen Therapie ▬ Ziel: Reduktion von Anfallfrequenz und -stärke ▬ Maßnahmen: – kausale Behandlung nicht bekannt; Stufenschema in Abhängigkeit vom Krankheitsverlauf – im Anfall symptomatische Therapie mit Antivertiginosa, Bettruhe und diätetischen Maßnahmen (salzarme Kost, Kaffee- und Alkoholkarenz; Effekt umstritten) – »ätiologische« Gabe von Glukokortikoiden (z. B. 500–1000 mg Prednisolut/Tag i. v. über 3 Tage) – Anfallsprophylaxe mit Betahistin (3-mal 8–16 mg Betahistinhydrochlorid – Vasomotal; oder 3-mal 6–12 mg Betahistindimesilat, z. B. Aequamen); alternativ Gabe von Sulpirid, Arlevert oder eines Diuretikums (Acetazolamid) – Paukendrainage (bei Tubenbelüftungsstörungen) – intratympanale Instillation von Gentamicin – v. a. bei einseitig bereits eingeschränktem Hörvermögen – über Paukenröhrchen, vor dem runden Fenster liegenden Katheter oder Trommelfellpunktion – titrierte Applikation (täglich bis wöchentlich) bis zur angedeuteten Reaktion des Innenohrs (Schwindel, Unsicherheit, Nystagmus) – Vestibulotomie, Sakkotomie, Neurektomie der Nn. vestibulares, Labyrinthektomie (# Kap. 21.5.1, »Innenohr und Otobasis«) 3 284 Kapitel 3 · Ohr – Hörgeräte: bei Schallempfindungsschwerhörigkeit – Therapiemaßnahmen bei Tinnitus: s. oben, »Tinnitus« 3 Verlauf und Prognose ▬ Häufig schlecht ▬ Häufigkeit der Anfälle und Verlauf nicht vorhersehbar, aber oft rezidivierend ▬ Patienten im Intervall zunächst beschwerdefrei, entwickeln aber eine zunehmende Schwerhörigkeit und einen permanenten Tinnitus ▬ Häufigkeit der Schwindelanfälle kann abnehmen (»ausgebranntes« Labyrinth) ▬ Frühzeitig Entwicklung psychischer Folgen mit wechselseitiger Bedingtheit der organischen und seelischen Faktoren Bilaterale periphere Vestibulopathie Definition ▬ Synonym: »bilateral vestibular loss« ▬ Beiderseitige Störung bzw. Ausfall des peripheren Gleichgewichtsorgans ▬ Wird zu selten diagnostiziert Epidemiologie ▬ Selten ▬ Kann in jedem Lebensalter auftreten Ätiologie ▬ Autoimmunkrankheiten, ototoxische Substanzen, Meningitis, Tumoren, kongenitale Fehlbildungen sowie zerebelläre Degenerationen ▬ In 20–30 % der Fälle bleibt die Ursache unbekannt Pathogenese ▬ Bei schnellen Kopfbewegungen kann der vestibulookuläre Reflex das Objekt nicht mehr auf der Fovea halten → unwillkürliche Bewegungen, die als Scheinbewegung und Unschärfe imponieren (Dandy-Phänomen) ▬ Bei langsamen Bewegungen des Kopfes kann das Blickziel jedoch weitestgehend stabilisiert werden, ohne dass es zu Scheinbewegungen kommt Diagnostik ▬ Wegweisend: – Kopfimpulstest beidseits pathologisch: Refixationssakkaden aufgrund einer beidseitigen Störung des vestibulospinalen Reflexes – vestibulospinale Tests: vermehrtes Schwanken – Vestibularisprüfung: beiderseitiger Ausfall bzw. Störung – Hörprüfungen Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Zerebelläre Störungen Somatoformer Schwankschwindel Orthostatische Hypotension Sehstörungen Arterielle Hypertonie Therapie ▬ Symptomatisch, kausal oft nicht möglich ▬ Prävention steht an erster Stelle (z. B. Aminoglykosidantibiotika – strenge Indikation, Verlaufskontrollen) ▬ Antiphlogistisch-rheologische Therapie: z. B. Prednison und Pentoxifyllin ▬ Immunbehandlung, ggf. Azathioprin oder Cyclophosphamid ▬ Gleichgewichtstraining: Effekt aufgrund bilateraler Schädigung begrenzt ▬ Verhaltensregeln: nicht im Dunkeln laufen, keine ruckartigen Kopfbewegungen, Laufen mit weichem Schuhwerk auf ebenen Flächen Verlauf und Prognose ▬ Oft zu spät diagnostiziert, sodass Beschwerden zunehmen ▬ Partielle Erholung bei 50 % der Patienten Weitere periphere Gleichgewichtserkrankungen Perilymphfistel Definition ▬ Synonym: Syndrom des dehiszenten Bogengangs ▬ Defekt oder pathologische Elastizität der Labyrinthkapsel, die aufgrund der druckabhängigen Verformbarkeit des Endolymphschlauchs oder eines Peribzw. Endolymphlecks zu Schwindel oder Hörverlust führen kann Klinisches Bild ▬ Oszillopsien mit Sehstörungen bei Kopfbewegungen und beim Gehen ▬ Gangunsicherheit in der Dunkelheit und auf unebenem Gelände (da der Defekt durch das visuelle System nicht mehr ausgeglichen wird) ▬ Störungen des räumlichen Sehens Leitsymptome ▬ Schwank- oder Drehschwindelattacken, Stand- und Gangunsicherheit in Verbindung mit Hörverlusten ▬ Auslösung durch Druckänderungen (Anstrengung, Pressen, Heben, Niesen, große Höhenunterschiede) oder laute Geräusche 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Ätiologie ▬ Traumatisch, iatrogen oder spontan (z. B. anatomische Varianten mit größerer Fläche der Rundfenstermembran bei etwa 1,3 % der Bevölkerung) Diagnostik ▬ Schwierig, da unspezifische Symptome bestehen ▬ Auslösen von Schwindel durch Lageprüfung, Valsalva-Manöver Differenzialdiagnostik ▬ Vielgestaltig: BPPV, Labyrinthfistel, zentraler Lageschwindel, Morbus Menière, Vestibularisparoxsymie, bilaterale Vestibulopathie, somatoformer Schwindel 285 ▬ Untersuchungen weisen auf eine Beteiligung des Sakkulus bei periphervestibulären Erkrankungen hin (akute periphere Vestibulopathie, Morbus Menière, bilaterale Vestibulopathie) ▬ Läsionen des Utrikulus scheinen gegenüber denen des Sakkulus eine klinisch größere Relevanz zu haben; Leitsymptom einer isolierten Erkrankung des Utrikulus ist am ehesten ein Schwankschwindel ▬ Spezifische therapeutische Maßnahmen sind derzeit außer z. B. Trampolinspringen nicht bekannt Vestibularisparoxysmie Definition ▬ Neurovaskuläres Kompressionssyndrom bzw. Gefäßschlingensyndrom Therapie ▬ Viele Perilymphfisteln ohne Hörstörungen und Tinnitus heilen offenbar von selbst ab → konservative Therapie ▬ Tympanotomie bei akutem hochgradigen Hörverlust mit Lagerungsschwindel und Ertaubung Sonderformen ▬ Innere Perilymphfistel: Dehiszenz im Bereich des oberen Bogengangs ▬ Tullio-Phänomen: – Auftreten von Schwindel durch laute Geräusche (>90 dB) – Ursachen: Bogengang und Fußplatte sind durch eine Verwachsung (meist über den Sakkulus) mechanisch gekoppelt bzw. enger Kontakt zwischen Utrikulus und ovalem Fenster (z. B. bei Morbus Menière durch endolymphatischen Hydrops), Bogengangsfistel – Therapie: Gehörschutz, Stapesplastik, Betahistin (s. oben, »Morbus Menière«) ▬ Hennebert-Zeichen: – positives pressorisches Fistelsymptom trotz intakten Trommelfells (umgekehrte Nystagmusrichtung) – Ursache: Lockerung des Steigbügelringbands mit verstärkter Fortleitung auf das Innenohr Symptome und Epidemiologie ▬ Rezidivierende, heftige, kurz andauernde (Sekunden bis wenige Minuten) Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit oder ohne Ohrsymptome (Hörminderung und Tinnitus) ▬ 2 Häufigkeitsgipfel: früherer oder späterer Beginn (40.–60. Lebensjahr) ▬ Männer häufiger betroffen als Frauen Ätiopathogenese ▬ Hirnstammnahe Gefäßkompression des N. vestibulocochlearis Diagnostik ▬ Magnetresonanztomographie mit »constructive interference in steady state sequence« Therapie ▬ Versuch mit Carbamazepin in niedriger Dosierung (200–600 mg/Tag), kann auch diagnostisch hilfreich sein ▬ Indikation zur operativen mikrovaskulären Dekompression ist mit Zurückhaltung zu stellen (mögliche Gefahr eines Hirnstamminfarkts; Bestimmung der betroffenen Seite außerdem relativ schwierig) Otolithenfunktionsstörungen Zentrale Gleichgewichtserkrankungen ▬ Bisher bekannte Störungen: BPPV, posttraumatischer Schwindel, Tumarkin-Krise ▬ Klinische Testverfahren zur seitengetrennten, spezifischen Untersuchung von Sakkulus und Utrikulus sind erst seit Kurzem verfügbar → neue Erkenntnisse über Otolithenstörungen ▬ Störungen des Sakkulus oder Utrikulus können isoliert und auch kombiniert mit Erkrankungen der Bogengänge auftreten Ätiologie ▬ Schädigungen im Bereich der vestibulären Verbindungen von den Vestibulariskernen zu den okulomotorischen Kernen und Zentren im Mittelhirn und zum Zerebellum ▬ Häufigste Ursache: Durchblutungsstörung im Hirnstamm 3 286 Kapitel 3 · Ohr Einteilung 3 ▬ Nach den 3 Hauptarbeitsebenen bzw. -richtungen der vom vestibulookulären Reflex generierten Augenbewegungen: – Tonusimbalance des vestibulookulären Reflexes in der sagittalen (Pitch-)Ebene: vertikaler Nystagmus (Downbeat- oder Upbeat-Nystagmus-Syndrom) – Tonusimbalance in der frontalen (Roll-)Ebene: torsioneller (raddrehender) Nystagmus – Tonusimbalance in der horizontalen (Yaw-)Ebene: horizontaler Nystagmus ▬ Entsprechend der Gefäßversorgung nach dem Ort der Schädigung: vestibulärer Kortex, Zerebellum, Vestibulozerebellum, Hirnstamm ▬ Nach der Symptomatik: – kurze, Sekunden bis Minuten oder wenige Stunden andauernde Dreh- oder Schwankschwindelanfälle – Stunden bis wenige Tage andauernde Schwindelbeschwerden, meist verbunden mit weiteren Hirnstammsymptomen und Dauerschwankschwindel über viele Tage bis Wochen – zentral bedingter Dauerdrehschwindel (selten) ▬ Nach der Ätiologie: – vaskuläre, tumoröse und entzündliche Ursachen des zentralen Schwindels: – vertebrobasiläre Insuffizienz – Kleinhirninfarkt – Wallenberg-Syndrom (dorsolaterales Oblongatasyndrom, Syndrom der hinteren Schädelgrube): Syndrom mit Paresen kaudaler Hirnnerven; Ursache: Durchblutungsstörung der A. cerebelli inferior posterior und der A. vertebralis; betrifft v. a. N. glossopharyngeus und N. vagus; Symptome: akuter Schwindel, Schallempfindungsschwerhörigkeit, Fallneigung zur Herdseite, Affektion des N. trigeminus mit ipsilateralen Sensibilitätsstörungen des Kopfes, kontralaterale Schmerz- und Temperaturempfindungsstörung, Sympathikusläsion mit Horner-Syndrom, Schluck- und Phonationsstörungen (Rekurrens- und Glossopharyngeusparese), Sehstörungen, Zephalgien – Migräneschwindel: rezidivierende Schwindelattacken, die Sekunden bis Wochen anhalten; Basilarismigräne: Schwindelattacken mit anderen Hirnstammsymptomen; vestibuläre Migräne: monosymptomatische Verlaufsform (kochleovestibuläre Attacken) – Multiple Sklerose: Differenzialdiagnose zur akuten peripheren Vestibulopathie (s. oben) – außerdem: z. B. Arnold-Chiari-Malformation, Friedreich-Ataxie, Morbus Parkinson Sonstige Gleichgewichtsstörungen Zervikogener Schwindel ▬ Die Frage, ob es einen zervikogenen (halsbedingten bzw. zervikalen oder vertebragenen) Schwindel bzw. ein Zervikalsyndrom gibt, wird nach wie vor kontrovers diskutiert ▬ Für die Existenz spricht die klinische Erfahrung Symptome ▬ In der Regel uncharakteristisch ▬ Es werden sehr vielgestaltige Symptome angegeben: Nackenkopfschmerzen, Verspannungen im Nacken, evtl. Bewegungseinschränkung, Ohrdruck Ätiologie ▬ Keine bewiesene Ursache; diskutiert werden: Schädel-Hirn-Trauma, Schleudertrauma, Degeneration, Sportverletzung, Narkose, Überlastungen Diagnostik ▬ Anamnese hat in Zusammenhang mit der Halswirbelsäule eine große Bedeutung, denn oft lässt sich die Diagnose eines zervikogenen Schwindels allein anhand der Anamnese stellen Therapie ▬ Hauptdomäne der Manualmedizin ▬ Gelenkmobilisationen, Schmerzausschaltungen, Behandlung von Triggerpunkten Pharmakogener und toxischer Schwindel ▬ Zahlreiche Medikamente und gewerbliche Stoffe, die toxisch auf das Innenohr wirken können ▬ Schwindel, der durch Medikamente ausgelöst wird, ist relativ häufig ▬ Auch viele Medikamente gegen Schwindel verursachen Schwindel Symptome ▬ Schwindel ▬ Hörstörungen ▬ Tinnitus Ätiologie ▬ Ototoxische Medikamente ▬ Medikamente, die zentrale Okulomotoriusstörungen hervorrufen können (Antikonvulsiva) ▬ Herz-Kreislauf-Präparate Diagnostik ▬ Sorgfältige Anamnese 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Therapie ▬ Umsetzen bzw. Dosisreduktion des Medikaments ▬ Im Fall ototoxischer Medikamente: Prophylaxe (strenge Indikation, Monitoring, Überprüfung der Nierenfunktion, keine Kombination mit anderen oto- oder nephrotoxischen Medikamenten), Antioxidanzien Somatoformer Schwindel ▬ Komplexes Schwindelsyndrom (»psychischer Schwindel«) ▬ Tritt zunächst scheinbar ohne psychopathologische Symptomatik auf ▬ Die häufigsten zugrunde liegenden psychischen Störungsbilder sind Angst- und phobische, depressive sowie dissoziative und somatoforme Störungen ▬ Patienten geben sehr variable Schwindelbeschwerden an ▬ Therapie: Einleitung einer Psychotherapie 287 ▬ Prävention durch Körperhaltung (Festhalten oder Anlehnen sowie Hinsetzen) oder Sehen (nahe Gegenstände bzw. Kontraste fixieren, bei Absturzgefahr nicht durch ein Fernglas sehen) Literatur Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system. Oxford University Press, Oxford New York Brandt T (2003) Vertigo: its multisensory syndromes, 2nd edn. Springer, Berlin Heidelberg London New York Tokyo Brandt T, Dietrich M, Strupp M (2004) Vertigo. Leitsymptom Schwindel. Steinkopff, Darmstadt Desmond AL (2004) Vestibular functions: Evaluation and treatment. Thieme, Stuttgart New York Michel O (1998) Morbus Menière und verwandte Gleichgewichtsstörungen. Thieme, Stuttgart New York Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston Stoll W (Hrsg.) (1994) Schwindel und schwindelbegleitende Symptome. Springer, Berlin Heidelberg Wien New York Tokyo Physiologischer Schwindel Kinetosen ▬ Symptomenkomplex, der durch verschiedene Beschleunigungsreize ausgelöst werden kann ▬ »Bewegungskrankheit«; jedoch physiologische Reaktion (»Warnsignal«) ▬ Sensorische Konflikte zwischen verschiedenen Systemen: visuell-vestibuläres System, Bogengänge, Otolithen Erstsymptome ▬ Blässe, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung ▬ Auch Tachykardie, Schweißausbrüche, Hypersalivation, Teilnahmslosigkeit und Apathie Prophylaxe und Therapie ▬ Verhaltensweisen: Kopf nicht bewegen, liegen, Horizont fixieren ▬ Adaptation (Anpassung an einen Dauerreiz), z. B. bei Seereisen nach 2–4 Tagen; Spezifität beachten: Seefahrer können z. B. beim Fliegen Kinetose bekommen ▬ Medikamentöse Therapie: Arlevert, Dimenhydrinat, Cinnarizin, Scopoderm-Pflaster Höhenschwindel ▬ »Distanzschwindel«, hervorgerufen durch »visuelle Destabilisierung« der Aufrechthaltung ▬ An bestimmten, exponierten Standorten (an einem Abgrund, auf Leitern, Hausdächern, Türmen oder Klippen) kommt es zu einem visuell ausgelösten, verstärkten Schwanken und zu einem Unsicherheitsgefühl Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie P. Kummer > Wichtig Kindliche Hörstörungen können die Sprach- und damit die Gesamtentwicklung beeinträchtigen. ▬ Sensible Phasen der zentralen Hörbahnreifung und der Sprachentwicklung in den ersten Lebensmonaten und -jahren erfordern eine flächendeckende, universelle Frühdiagnostik und -intervention ▬ Neugeborenenhörscreening: ermöglicht Frühdiagnostik und -therapie angeborener Schwerhörigkeiten ▬ Später hat neben der Hörtestung die Beurteilung der Sprachentwicklung besondere Bedeutung; ihre Störung ist als mögliches Spätsymptom einer Schwerhörigkeit zu bewerten und erfordert den Ausschluss einer verursachenden, in der Regel permanenten Schwerhörigkeit Ätiologie ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit: – häufigste Form der kindlicher Schwerhörigkeit – meist passager: Tubenventilationsstörung, Seromukotympanon, akute Otitis media; entwicklungsrelevant ab einer Dauer von >3 Monaten; bei chronischem/rezidivierendem Verlauf Gefahr der Entwicklung einer chronischen Otitis media – selten permanent: Tympanosklerose, Fehlbildungen (kraniofaziale Fehlbildung oder Anomalie des äußeren Ohres, Syndrom), Otosklerose ▬ Hereditäre sensorineurale Schwerhörigkeit: – Häufigkeit: bis zu 50 % kongenitaler Schwerhörigkeiten 3 288 3 Kapitel 3 · Ohr – meist nichtsyndromal (Verhältnis von 2 : 1); davon 70–80 % autosomal-rezessiv, 10–25 % autosomaldominant und 2–3 % X-chromosomal vererbt – syndromal: häufiger z. B. Usher-, Pendred- und Waardenburg-, seltener Alport-, Jervell-LangeNielsen- und Branchiootorenalsyndrom ▬ Pränatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit: – Infektion: Zytomegalie, Toxoplasmose, Röteln, Syphilis – auch Spätmanifestation – Progredienz ▬ Perinatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit: – Frühgeburtlichkeit, Geburtsgewicht von <1500 g, peripartale Asphyxie – Hyperbilirubinämie: periphere und zentrale Manifestation (Kernikterus) ▬ Postnatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit: – ototoxische Medikamente: Aminoglykoside, Schleifendiuretika, Chemotherapeutika (Cisplatin, 5Fluorouracil, Bleomycin) – Meningitis, v. a. bakteriell: Auftreten innerhalb von 48 h, Erholung/Progredienz binnen 2 Wochen – Lärmexposition in Freizeit und/oder Beruf – Akustikusneurinom: fast immer bei Neurofibromatose Neugeborenenhörscreening ▬ Universelles Screening aller Neugeborenen ▬ Risiko einer angeborenen Schwerhörigkeit ist nur bei etwa 50 % der Betroffenen erkennbar ▬ Methodik: otoakustische Emissionen oder Hirnstammaudiometrie bei Risikokindern ▬ Systematisches Follow-up auffälliger Kinder und Behandlung (# Kap. 3.3.2, »Neugeborenenhörscreening«, und »Therapie«) Diagnostik ▬ Im Gegensatz zur Erwachsenenaudiometrie erheblich zeit- und ressourcenaufwendiger ▬ Individueller Methodeneinsatz hängt vom Entwicklungsalter des Kindes und von der Erfahrung des Untersuchers ab ▬ Bewertung allein eines Messverfahrens ist ungenügend ▬ Je jünger das Kind, desto notwendiger sind objektive Verfahren, ggf. in Sedierung oder Narkose ▬ Subjektive Hörprüfmethoden können entwicklungsabhängig unterschiedlich weit überschwellige (Reaktions-)Schwellen ergeben; ihre Bewertung erfordert die Kenntnis der individuellen Entstehungsumstände und der Mitarbeit des Kindes (# Kap. 3.3.2, »Pädaudiologie«) – subjektive Hörprüfverfahren: – Reflexaudiometrie – Verhaltensaudiometrie – Spielaudiometrie – Tonschwellenaudiometrie – Reizdarbietung im freien Schallfeld mit Einsteck-, Kopf- und Knochenleitungshörern – Reize: Schmalbandrauschen, (Wobbel-)Töne, Geräusche zwischen 0,5 und 4 kHz, kindgerechte Geräusche/Lieder – Sprachaudiometrie: entwicklungsaltersabhängig, z. B. Mainzer oder Göttinger Kindersprachtest, Oldenburger Satztest – objektive Hörprüfmethoden: – (Multifrequenz-)Tympanometrie, Stapediusreflexaudiometrie – transitorisch evozierte otoakustische Emissionen, Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen – Hirnstammaudiometrie mit Klicks und frequenzspezifischen Reizen (»notched noise«), ggf. Knochenleitungshörer – humangenetische Diagnostik: v. a. bei Syndromverdacht ! Cave Regelmäßige Kontrollen des Gehörs sind bei jedem Kind notwendig, um einen späten Beginn oder eine Progredienz einer Schwerhörigkeit rechtzeitig erfassen zu können. Auditorische Neuropathie (selten) ▬ Otoakustische Emissionen nachweisbar, fehlende Antworten bei der Hirnstammaudiometrie ▬ Im Vergleich zur Tonschwellenaudiometrie teils nur geringe Schwerhörigkeit, aber erhebliche Einschränkung des Sprachverständnisses (s. oben, »Hörstörungen« → »Auditorische Synaptopathie/ Neuropathie«) Therapie ▬ Hörgeräteversorgung: – schwierigere Voraussetzungen als beim Erwachsenen: Tonschwellenbestimmung mit Unsicherheit behaftet, Sprachaudiometrie oft erschwert oder nur eingeschränkt beurteilbar; frequenzspezifische, objektive Aussagen häufig nur durch objektive Verfahren wie »Notched-noise«-Hirnstammaudiometrie möglich – beidohrige Versorgung mit Hinter-dem-Ohr-Geräten bei beidseitiger Schwerhörigkeit 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis – Knochenleitungshörgeräte bei Gehörgangsfehlbildung – vergleichende Anpassung erprobter, in der Regel volldigitaler Geräte; in Hinblick auf langjährige Anwendung wichtig: Verstärkungsreserven, Richtmikrophontechnik, Störgeräusch- und Rückkopplungsunterdrückung – Einstellung und Überprüfung am Kuppler nach »real ear to coupler difference« und In-situ-Messung, durch Bestimmung der Aufblähkurve und der Unbehaglichkeitsschwelle, später Sprachaudiometrie – fortlaufende Nachanpassung, regelmäßige Kontrollen des Gehörs – drahtlose Übertragungs-(Frequenzmodulations-) Anlage ▬ Kochleaimplantat: – Indikation: mittlerer Hörverlust von >90 dB (0,5, 1 und 2 kHz nach National Institute of Health, 1995) – ab 6. Lebensmonat möglich, auch beidseitig (# Kap. 20.1.3) – wegen drohender Obliteration der Kochlea bei durchgemachter Meningitis sofortige Versorgung notwendig ▬ Hör-Sprach-Frühförderung: – begleitend zur Hörsystemversorgung im 1. Lebenshalbjahr – Hörerziehung, Sprachanbahnung – Beratung, Anleitung und Information der Eltern Literatur Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) (2005) Periphere Hörstörungen im Kindesalter. AWMFLeitlinien-Register Nr. 049/010; http://leitlinien.net Niedzielski A, Humeniuk E, Blaziak P, Gwizda G (2006) Intellectual efficiency of children with unilateral hearing loss. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 70: 1529–1532 Wendler J, Seidner W, Eysholdt W (Hrsg.) (2005) Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York 3.6.5 Otoliquorrhö B. Schick 289 Ätiopathogenese ▬ Trauma: laterobasale Frakturen bei etwa 20 % aller Schädelfrakturen ▬ Laterobasale Operationen, z. B. translabyrinthäre Resektion eines Vestibularisschwannoms ▬ Fehlbildungen: Otoliquorrhö bei kochleärer Dysplasie, Hirnhautöffnungen/Schädelbasisdefekten oder bei dem Befund einer Meningozele/Meningoenzephalozele – labyrinthäre Liquorfisteln häufig mit kochleärer Dysplasie/Taubheit assoziiert (embryonale Fehlbildung in der 7. Schwangerschaftswoche: spontan, hereditär, syndromaler Zusammenhang, z. B. Klippel-Feil-, Down-, di-George-Syndrom) – perilabyrinthäre Liquorfisteln durch Dehiszenz oder abnorme Erweiterung u. a. von Fazialiskanal, Hyrtl-Fissur, Canalis petromastoideus oder Aquaeductus cochleae; Cave: Möglichkeit multipler Fehlbildungen der Schädelbasis – labyrinthferne Liquorfisteln, u. a. an der petrosquamösen Sutur, am Sinus-Dura-Winkel und an der Felsenbeinspitze (embryologisch ist die Felsenbeinspitze Teil der vorderen Schädelbasis) ▬ Entzündung, z. B. Cholesteatom (sehr selten) ▬ Tumor: in der Regel als Folge einer Therapie (Radiatio, Operation) ▬ Fortschreitende Knochenresorptionen durch Pulsationen im Bereich der Foveolae granulares mit der Folge von Dehiszenzentwicklungen ▬ Unbekannte Ursache (spontan; sehr selten) Klinisches Bild ▬ Abtropfen von klarer Flüssigkeit aus dem Ohr oder aus der Nase: Ablaufen des Liquors über die Tuba auditiva – (Oto-)Rhinoliquorrhö ▬ Schallleitungsschwerhörigkeit: Liquoransammlung in der Paukenhöhle ▬ Entzündliche Komplikationen (Meningitis, Hirnabszess) mit Nachweis von Erregern der oberen Luftwege (Pneumokokken, Haemophilus influenzae), bei nicht erkannten Liquorfisteln auch rezidivierende Meningitiden Diagnostik Definition ▬ Abfluss von Liquor cerebrospinalis an einem otobasalen Schädelbasisdefekt in die pneumatisierten Räume des Felsenbeins Epidemiologie ▬ Im Vergleich zur Rhinoliquorrhö selten ▬ Etwa 9 % aller Liquorrhöen ▬ Laborchemische Analyse der austretenden Flüssigkeit: β-Trace-Protein, β2-Transferrin, Albumin/ Präalbumin-Quotient (qualitativer Nachweis; # Kap. 1.8.2) ▬ Luftnachweis im Sinne eines Pneumenzephalons als Zeichen einer Duraverletzung ▬ »High-resolution«-Computertomographie zur Darstellung von Knochendefekten 3 290 3 Kapitel 3 · Ohr ▬ Magnetresonanztomographie mit möglicher Darstellung der Liquorfistel, aber auch von Meningo-/Enzephalozelen ▬ Fluoreszeinprobe, computer- oder magnetresonanztomographische Zisternographie zur Darstellung der Liquorfistel durch Liquormarkierung (Topodiagnostik; # Kap. 1.8.2) Differenzialdiagnostik ▬ Erworbene Perilymphfistel ▬ Sekret von Mittelohr- und Mastoidschleimhaut ▬ Synovialflüssigkeit bei Kiefergelenkfraktur mit Impressionsfraktur der Gehörgangsvorderwand Therapie ▬ Antibiotikaprophylaxe umstritten: resistente Keimselektion, kein sicherer Schutz vor Meningitis/Abszess ▬ Bei Trauma: – bei Frakturspalten zunächst abwartende Haltung möglich (steriler Ohrverband; Cave: keine Tamponade des Gehörgangs) – operative Intervention bei persistierender Otoliquorrhö (über 5–7 Tage) – bei größeren Defekten/breitem Frakturspalt (Literaturangaben unterschiedlich: >0,4–1 cm) operative Defektdeckung unabhängig vom möglichen Sistieren einer Otoliquorrhö, z. B. durch eine dünne Archnoideanarbe (kein ausreichender Schutz vor aszendierender Entzündung) – operative Intervention unabhängig von der Defektgröße bei gleichzeitig bestehender Entzündung ▬ Bei laterobasaler Operationen, u. a. translabyrinthäre Resektion eines Vestibularisschwannoms: unterstützende Liquordrainage für 5–7 Tage mit dem Ziel eines Fistelverschlusses durch die Wundheilungsprozesse (Cave: Meningitisgefahr bei länger liegender Lumbaldrainage), bei persistierender Otoliquorrhö operative Revision ▬ Bei Fehlbildungen, Entzündungen und spontaner Liquorrhö: operative Therapie, zumeist mit Wahl eines transmastoidalen oder transtemporalen Zugangs zum suffizienten Hirnhautverschluss ▬ Bei Tumor: Therapie im Kontext der Gesamtbehandlung Verlauf und Prognose ▬ Posttraumatische Otoliquorrhö sistiert häufig spontan ▬ Posttraumatische Meningitisgefahr nach laterobasalen Frakturen in 2–25 % der Fälle ▬ Inzidenz von Meningitiden bei labyrinthnahen Malformationen: 85 % ▬ Inzidenz von Meningitiden bei Malformationen im Bereich des Tegmen tympani: 16 % > Wichtig Sistiert eine Otoliquorrhö bei Fehlbildungen oder spontaner Ätiologie bzw. im längeren Intervall nach einem Trauma, ist ein nur dünner, insuffizienter Hirnhautverschluss zu beachten. Literatur Bryson E, Draf W, Hofmann E, Bockmühl U (2005) Versorgung okkulter Missbildungen der lateralen Schädelbasis. Laryngorhinootologie 84: 921–928 Gjuric M, Winter M (1998) Rhinoliquorrhö und Otoliquorrhö. HNO 46: 205–219 Sikand A, Longridge N (1991) CSF otorrhea complicating osteoradionecrosis of the temporal bone. J Otolaryngol 20: 209–211 Steidtmann K, Welge-Lüßen A, Probst R (1997) Antibiotikaprophylaxe bei laterobasalen Frakturen HNO: 448–452 Walby AP (1988) Cerebrospinal otorrhoea – a temporal bone report. J Laryngol Otol 102: 399–402 3.6.6 Tumoren des Innenohrs und des Felsenbeins H. Iro, F. Waldfahrer Einteilung ▬ Tumoren der Otobasis bzw. des Felsenbeins: Dermoide, Tumoren des Knorpels, des Knochens und des hämatopoetischen Systems ▬ Extra- oder intrakranielle Tumoren, die in die Otobasis einwachsen: Meningeome, Neurinome, Paragangliome ▬ Metastasen: s. unten, »Seltene Tumoren« ▬ Einteilung nach der Histologie (⊡ Tab. 3.10) Oktavusneurinom/Vestibularisschwannom Definition ▬ Benigne, langsam wachsende, solide oder zystische Geschwulst der Schwann-Zellen des N. vestibularis ▬ »Synonym« Akustikusneurinom unrichtig (aber gebräuchlich), da Tumor von Nn. vestibulares (in der Nähe des Ggl. Scarpae) ausgeht; Kleinhirnbrückenwinkeltumor ▬ Widersprüchliche Angaben, ob Tumor bevorzugt von N. vestibularis inferior oder N. vestibularis superior ausgeht 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Einteilung ▬ Nach Wigand und Haid: – A: im Meatus acusticus internus (1–8 mm) – B: in Kleinhirnbrückenwinkel vorwölbend, ohne Flächenkontakt zum Stammhirn (9–25 mm) – C: dem Hirnstamm flächig anliegend, bindegewebig adhäsiv (>25 mm) ▬ Nach Fisch und Wegmüller (nach Lokalisation und Größe): – I: intrameatal, ≤8 mm – II: mittelgroße Tumoren bis zum Kleinhirnbrückenwinkel, ≤25 mm – III: intrakraniell, >25 mm ▬ Nach der Histologie: Antoni A und B (s. »Histologie«) Epidemiologie ▬ Häufigster Kleinhirnbrückenwinkeltumor (etwa 80 %; 8–10 % aller intrakraniellen Raumforderungen) ▬ Inzidenz: 0,78–1,15/100.000 ▬ Je nach Quelle ausgeglichenes Geschlechterverhältnis oder Gynäkotropie (2 : 1) ▬ Laut Sektionsstatistiken 0,8–2,7 % der Bevölkerung betroffen Histologie ▬ Neurinom, ausgehend von Schwann-Zellen ▬ Tumoren verdrängen andere Hirnnerven ▬ Nach Antoni Unterscheidung von 2 Typen: – Antoni A: geordnete Zellzüge, Palisadenstellung der Zellkerne – Antoni B: sternartig angeordnete Kernformationen, Kernpolymorphien, girlandenförmige Gefäßschlingen Klinisches Bild ▬ Frühsymptome: – plötzlicher oder rezidivierender Hörverlust (15–20 %; 1–2 % der Patienten mit plötzlichem Hörverlust haben ein Oktavusneurinom), progrediente Hörminderung (85 %), Tinnitus (50–60 %) – Schwindel eher untypisch (<20 %), da Ausfall und Kompensation parallel verlaufen – Unsicherheit bei besonderer Beanspruchung des Gleichgewichtsorgans (50–60 %) ▬ Spätsymptome (bei Tumordurchmesser von >2 cm): – Trigeminusneuropathie, Fazialisparese, Fazialisparoxysmien bzw. Spasmus hemifacialis – Symptome des gesteigerten Hirndrucks (>4 cm) – Ataxie, Dysdiadochokinese, Dysphagie, Heiserkeit, Abduzensparese (selten) 291 Diagnostik ▬ Audiometrie ermöglicht weder Nachweis noch Ausschluss: – häufig hochtonbetonte Hörminderung, »recruitment« negativ – unverhältnismäßig schlechtes Einsilberverständnis – bei Hirnstammaudiometrie Asymmetrie und Latenzverlängerung (Wellen Jewett I–V: pathologisch ab 5 ms): Treffsicherheit in >90 % der Fälle ▬ Tympanometrie: normal ▬ Stapediusreflexe: fehlen oder Reflex-Decay ▬ Vestibularisprüfung: einseitige Unter- oder Unerregbarkeit, meist mit Zeichen der Kompensation ▬ Goldstandard: Magnetresonanztomographie ohne und mit Kontrastmittel (einzig sicheres Verfahren zum Nachweis oder Ausschluss eines Vestibularisschwannoms; Treffsicherheit: bei 100 %): – kleine Tumoren: ovaläre oder zylinderartige Form – mittelgroße Tumoren: typische Glühbirnen- bzw. Eistütenform; Fassung der Glühbirne bzw. Spitze der Eiswaffel zeigt auf inneren Gehörgang – Standard: T1-Wichtung ohne und mit Kontrastmittel (mit Kontrastmittel deutliches »enhancement« in 100 % der Fälle) – T2: Füllungsdefekt – alternativ »constructive interference in steady state sequence« (CISS; extrem T2-gewichtete Gradientenechosequenz) ▬ Computertomographie: kleine Tumoren wegen Aufhärtungsartefakten (Houndsfield-Balken) nicht nachweisbar ▬ Abschwächung des Konjunktivalreflexes und Hitselberger-Zeichen (Hypästhesie der hinteren oberen Gehörgangswand als Zeichen einer Läsion der sensiblen Äste des N. facialis) gelten heute als Spätsymptome ▬ Fazialiselektromyographie zum Nachweis einer subklinischen Alteration ▬ Konsil: neurologische Mitbeurteilung Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Fazialisneurinom Neurofibromatose Typ 2 Epidermoid des Kleinhirnbrückenwinkels Paragangliom des Kleinhirnbrückenwinkels Andere seltene, primäre oder metastatische Neubildungen im Kleinhirnbrückenwinkel Multiple Sklerose Subarachnoidalblutung Hörsturz Morbus Menière (anfallsweise) 3 292 Kapitel 3 · Ohr Therapie 3 ▬ Ziele: – Verlaufskontrollen bei kleinen Tumoren oder Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand – Entfernung oder zumindest Verkleinerung des Tumors ▬ Therapiemaßnahmen (magnetresonanztomographische Frühdiagnostik bewirkte Wandel des Behandlungsregimes): – ausführliche Aufklärung über alle Therapieoptionen (»watchful waiting«, Radiotherapie, Operation) – »watchful waiting«: – ≥50 % der Tumoren zeigen innerhalb von 1–3 Jahren kein oder ein nur minimales Wachstum – magnetresonanztomographische und audiometrische Kontrolle alle 6–12 Monate – plötzlicher Hörverlust möglich – Entscheidungskriterien: Alter, Ko-Morbidität, Tumorvolumen, Tumorlokalisation und -ausdehnung, Neurofibromatose Typ 2, Hörvermögen (auch kontralateral), Vestibularisfunktion – Radiotherapie: – stereotaktische Bestrahlung (Misnomer-»Radiochirurgie«), z. B. mittels Gamma-Knife: einmalige oder fraktionierte Bestrahlung (bei größerem Tumorvolumen eher fraktioniert) – Vorteile: ambulant durchführbar, keine akuten Nebenwirkungen – aktuelle Dosisempfehlung: 13 Gy; früher höhere Dosierung wegen höherer Komplikationsrate (zu 27 % Trigeminusneuropathie, zu 21 % Fazialisparese und zu 49 % Hörverschlechterung) verlassen – Nachteile: protrahierte Nebenwirkungen (Hörminderung, Gleichgewichtsstörungen, Fazialisparese, Trigeminusneuropathie), limitierte Langzeiterfahrungen (Progredienz, Rezidive, strahleninduzierte Malignome), maximaler therapierbarer Durchmesser (30 mm) ! Cave Hohe Komplikationsraten (Ertaubung und Fazialisparese) bei Operation nach Radiotherapie – Operation (mikrochirurgische Tumorexstirpation) mit 3 Zugangsarten (mit zahlreichen Modifikationen; # Kap. 21.5.1, »Innenohr und Otobasis«): – translabyrinthär (Fazialisparese vom HouseGrad I: 59 %; Liquorleck: 9 %; Kopfschmerzen: 3 %) – transtemporal bzw. erweitert transtemporal (»middle fossa approach«; Hörererhalt: 53 %; Fa- zialisparese vom House-Grad I: 76 %; Liquorleck: 6 %; Kopfschmerzen: 8 %) – subokzipital bzw. retrosigmoidal (typischer neurochirurgischer Zugang; Hörerhalt: 30 %; Fazialisparese vom House-Grad I: 83 %; Liquorleck: 11 %; Kopfschmerzen: 21 %) > Wichtig Operation immer mit hirnstammaudiometrischem und Fazialismonitoring, sofern Nerven präoperativ intakt sind Verlauf und Prognose ▬ Komplikationen: s. »Klinisches Bild« (Spätsymptome) ▬ Mittleres Wachstum: 1 mm3/Jahr ▬ Bei großen, chirurgisch unvollständig entfernten Tumoren Rezidivneigung mit erneutem Tumorwachstum ▬ Nonresponder nach stereotaktischer Bestrahlung: Operation Neurofibromatose Typ 2 (NF 2) Definition und Epidemiologie ▬ Häufig bilaterale Neurofibrome der Nn. vestibulares, daneben Meningeome, Ependymome und Gliome, zu 80–90 % auch spinale Tumoren ▬ Inzidenz: 1/35.000 ▬ Prävalenz: 1/210.000 ▬ 18 % der Patienten jünger als 15 Jahre Einteilung ▬ 3 Subtypen: – Wishart-Typ: bilaterale Vestibularisschwannome, intrakranielle Tumoren im späten Teenager- bis frühen Twen-Alter – Gardner-Typ: bilaterale Vestibularisschwannome, seltener andere intrakranielle Tumoren, spätere Manifestation – segmentale NF 2: somatisches Mosaik (etwa 25 %), uni- oder bilaterale Vestibularisneurofibrome Ätiopathogenese ▬ Vererbung: autosomal-dominant ▬ Mutation des NF2-Tumorsuppressorgens auf Chromosom 22 (NF 1 bzw. Morbus Recklinghausen: »Café-au-lait«-Flecken und Neurofibrome an der Haut, gehäuft Tumoren des Zentralnervensystems verschiedener Lokalisationen; Defekt des Chromosoms 17) ▬ Neurofibrome, aufgebaut aus Schwann-Zellen und Fibroblasten ▬ Tumoren spreizen bzw. infiltrieren andere Hirnnerven 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis Diagnostik ▬ Nach Manchester-Kriterien: – A: bilaterale Vestibularisneurofibrome – B: Verwandter 1. Grades mit NF 2 und einseitigem Vestibularisneurofibrom oder Folgendem: Meningeom, Schwannom, Gliom, Neurofibrom, juvenile posteriore subkapsuläre Linsentrübung – C: einseitiges Vestibularisneurofibrom und 2 der folgenden Erscheinungen: Schwannom, Gliom, Neurofibrom, juvenile posteriore subkapsuläre Linsentrübung – D: multiple Meningeome (≥2) und einseitiges Vestibularisneurofibrom oder 2 der folgenden Erscheinungen: Schwannom, Gliom, Neurofibrom, Katarakt ▬ ≤6 »Café-au-lait«-Flecken möglich (Hautmanifestationen wie bei NF 1 sind untypisch) ▬ Bei gesicherter Diagnose Verwandtenuntersuchung (Ziel: frühe Operation mit Hörerhaltung) Therapie ▬ Grundprinzipien: Frühoperation mit Hörerhalt > Kochleaimplantat > Hirnstammimplantat; auf der anderen Seite »watchful waiting« ▬ Therapie von Tumordurchmesser und Hörvermögen abhängig (⊡ Tab. 3.13) ▬ Operation immer mit hirnstammaudiometrischem und Fazialismonitoring, sofern Nerven präoperativ intakt waren ▬ Stereotaktische Radiotherapie: – fraglich schlechteres Ansprechen als bei sporadischem Vestibularisschwannom – aktuelle Dosierung: 10–15 Gy – Kontrolle: etwa 80 %; Hörerhalt: ungefähr 40 %; Fazialisparese: etwa 5 % – früher höhere Dosis → zu hohe Rate an Hirnnervenparesen – Indikationen: – primär bei Kontraindikationen gegen Operation oder Operationsverweigerung – sekundär nach R1- bzw. R2-Resektion ▬ Experimentelle Ansätze: Antiangiogenese, Gentherapie Meningeom Definition ▬ In der Regel gutartiger, expansiv wachsender Tumor der Hirnhäute ▬ Von Arachnoidalzellen ausgehend ▬ Häufig Zufallsbefund bei der Bildgebung 293 Einteilung ▬ Meningeom des Kleinhirnbrückenwinkels ▬ Extrakranielles, primäres oder primitives Felsenbeinmeningeom: Entstehung im Felsenbein ▬ Sekundäres Felsenbeinmeningeom: primär intrakranielle Entstehung Epidemiologie ▬ Etwa 5–10 % aller Kleinhirnbrückenwinkeltumoren ▬ Gynäkotropie (2 : 1) ▬ Altersgipfel: 42 Jahre bei Frauen, 48–52 Jahre bei Männern ▬ 8–18 % aller Meningeome sind im Kleinhirnbrückenwinkel lokalisiert Ätiologie ▬ Entgegen früherer Annahme kein Kausalzusammenhang mit Schädel-Hirn-Trauma ▬ Risikofaktor: frühere Bestrahlung ▬ Auftreten im Rahmen einer NF 2, eines Werner- oder eines Gorlin-Syndroms ▬ Pathohistologisch typische Psammonkörper (basophile, im Tumor verstreute, konzentrische, kugelförmige, meist verkalkte Formationen), nach WHO 3 Subtypen Diagnostik ▬ Computertomographie: hyperdens oder isodens zum Hirngewebe, homogenes Kontrastmittel-Enhancement, Kalzifikation (10–26 %), Hyperostose (25 %) ▬ Magnetresonanztomographie (Methode der Wahl): – T1: hypo- bis isoindens zum Hirngewebe – T2: uneinheitlich – im Vergleich zum Vestibularisschwannom größer, breitbasiger, exzentrisch, weniger Kontrastierung mit Kontrastmittel Differenzialdiagnostik ▬ Abgrenzung gegenüber Vestibularisschwannom: frühere Fazialisbeteiligung, Hörminderung hingegen später, Tinnitus seltener, Trigeminusaffektion häufiger; Kalzifizierung, Hypertrophie des inneren Gehörgangs Therapie ▬ Vollständige operative (mikrochirurgische) Entfernung ▬ Wahl des Zugangs in Abhängigkeit von Tumorausbreitung (expansiv oder seltener flächig wachsender Typ mit Umscheidung der Gefäß- und Nervenstrukturen), Hörvermögen und Patientenfaktoren 3 294 Kapitel 3 · Ohr ⊡ Tab. 3.13. Therapie von Neurofibromen bei Neurofibromatose Typ 2 in Abhängigkeit von Tumordurchmesser und Hörvermögen Rechtes Ohr 3 Linkes Ohr Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von >2 cm Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von >2 cm Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm Größeren Tumor entfernen (translabyrinthär), kleineren Tumor beobachten Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation, möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Größeren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis Kleineren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Größeren Tumor beobachten, ggf. Dekompression Größeren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm Größeren Tumor entfernen (translabyrinthär), kleineren Tumor beobachten Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation, möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Größeren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis Kleineren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Größeren Tumor beobachten, ggf. Dekompression Größeren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von >2 cm Kleineren Tumor entfernen (transtemporal, subokzipital) Falls kein Hörverlust besteht, Operation der Gegenseite Bei Hörverlust Promontorialtest → positiver Test: »watchful waiting« und sobald Hörverlust auf der Gegenseite auftritt, hier translabyrinthäre Operation und homolaterales Kochleaimplantat; negativer Test: »watchful waiting«, kontralaterale translabyrinthäre Operation mit Erhalt des N. cochlearis, dann Kochleaimplantat (falls N. cochlearis nicht zu erhalten ist: Hirnstammimplantat) Kleineren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat Größeren Tumor beobachten, ggf. Dekompression »Watchful waiting« Transtympanale Operation (Ziel: Erhalt des N. cochlearis für Kochleaimplantat; falls nicht möglich: Hirnstammimplantat) Oder: Dekompression mit oder ohne »debulking« – Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von >2 cm Größeren Tumor entfernen (translabyrinthär), kleineren Tumor beobachten Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation, möglichst mit Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat – – – 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis 295 Verlauf Seltene Tumoren ▬ Wachstumsmuster: Infiltration von Dura, Sinus und Knochen, Verdrängung von Hirngewebe, begleitend Hyperostose (25 %) ▬ In 5 % der Fälle malignes Verhalten ▬ Epidermoid: – eigenständige Erkrankung, die von einer Keimversprengung von Plattenepithel während der Embryonalzeit ausgeht – kugelige Geschwülste (dünner Sack aus einer epithelialen Wand ohne Anhangsgebilde, enthält geschichtete Epithellamellen und bräunlich-grünliche Massen) – Lokalisation: Felsenbein, innerer Gehörgang, Kleinhirnbrückenwinkel ▬ Cholesteringranulom: – selten durch angeborene, meist durch erworbene Störungen der Felsenbeinpneumatisation – besteht aus Granulationsgewebe mit zystischen Hohlräumen – Prädilektionsstelle: Pyramidenspitze; auch Auftreten im Kleinhirnbrückenwinkel – Fazialisparese, Irritation des N. trigeminus oder des N. abducens – Therapie: Drainageoperation, ggf. translabyrinthär oder transtemporal ▬ Hämangiom von Ggl. geniculi, Felsenbein oder Klein- Intralabyrinthäre Schwannome Definition ▬ Ausgehend von Schwann-Zellen des N. vestibularis oder des N. cochlearis (seltener) Klinisches Bild ▬ Häufig asymptomatisch, ansonsten je nach Tumorlokalisation Hörminderung (auch fluktuierend) oder Schwindel (Menière-Symptomatik möglich) Diagnostik ▬ Magnetresonanztomographie (gezielte Bildanalyse erforderlich) Therapie ▬ Je nach Hörvermögen »watchful waiting«, ansonsten translabyrinthärer bzw. transotischer Zugang (mit Erhalt des N. facialis) Tumoren des Saccus endolymphaticus Definition ▬ Heffner-Tumor: aggressive papilläre Tumoren, ausgehend vom Endothel des Saccus endolymphaticus ▬ Papilläre und zystische Komponente ▬ Typisch: Knocheninfiltration, langsames Wachstum ▬ Bislang keine Metastasierung beobachtet Klinisches Bild und Diagnostik ▬ Sensorineuraler Hörverlust, seltener sichtbarer Tumor im Mittelohr, Tinnitus, Fazialisparese, Schwindel ▬ Typische »Fehldiagnosen«: Menière-Symptomenkomplex, Paragangliom ▬ Computer- und magnetresonanztomographische Diagnostik Therapie ▬ R0-Resektion anstreben, ggf. otoneurochirurgische Kooperation ▬ Rolle der adjuvanten Radiotherapie unklar; bei R1oder R2-Situation ist Radiotherapie indiziert hirnbrückenwinkel: – tumoröse Wucherung der Gefäße und/oder ihres Bindegewebes – Leitsymptom: pulsierender Tinnitus – Therapie: operative Entfernung ▬ Eosinophiles Granulom: – gutartige Raumforderung, deren tumoröse Genese nicht gesichert ist – gehört neben der Hand-Schüller-Christian- und der Letterer-Siwe-Erkrankung zur Histozytosis X (monostotischer Skelettbefall der Langerhans-ZellHistiozytose) ▬ Multiples Myelom: kann solitär oder multipel im Kopf-Hals-Bereich auftreten ▬ Trigeminusschwannom: Ausbreitung in mittlere und hintere Schädelgrube mit Atrophie der Pyramidenspitze ▬ Arachnoidalzyste: – primär oder kongenital – kann sich über inneren Gehörgang in den FallopioKanal sowie in Schnecke und Pauke ausbreiten – hochgradige Schwerhörigkeit oder Taubheit, Auftreten unklarer Meningitiden, Fazialisparese – Therapie: operative Resektion und Defektabdeckung ▬ Paragangliom: # Kap. 3.5.6 ▬ Chordom: – maligner Tumor aus Resten des embryonalen Notochords (embryonaler Vorläufer der Wirbelsäule → später Nucleus pulposus) 3 296 3 Kapitel 3 · Ohr – tritt in der sphenookzipitalen Region und im Klivus auf; kann von dort in das Felsenbein, die Sella und den Kleinhirnbrückenwinkel hineinwachsen (Ausbreitung intra- oder extrakraniell) – lymphogene und hämatogene Metastasierung – Raumforderungen im Nasenrachen (Nasenatmungsbehinderung), Verlegung der Tuben (Paukenerguss), Schluckbeschwerden, Fazialisparese – Therapie: – totale Entfernung anstreben – ermutigende Ergebnisse mit Imatinib – spricht schlecht auf Bestrahlung an (ggf. Schwerionenbestrahlung) – Prognose schlecht, Erkrankung endet in der Regel letal ▬ Karzinommetastasen: – hämatogene Metastasen – meist solitär (Mastoid, Felsenbeinspitze, Foramen jugulare, mittlere Schädelgrube) oder von einer karzinomatösen Meningitis ausgehend – Ursprungsorte: Mamma- und Nierenzellkarzinom, Struma maligna, Prostata- und Bronchialkarzinom Klinische Syndrome der Otobasis ▬ Bei Tumoren sowie z. B. bei entzündlichen Prozessen oder Fehlbildungen ▬ Syndrom des Kleinhirnbrückenwinkels: s. oben, »Oktavusneurinom/Vestibularisschwannom« ▬ Syndrom des Foramen jugulare: – IX., X. und XI. Hirnnerv: Schluckstörung, nasale Regurgitation, vermehrte Speichelbildung, Husten, Dysphonie, einseitige Schmeckstörung (hinterer Anteil der Zunge), Sensibilitätsverlust des ipsilateralen Gaumens und des Kehlkopfs – Parese des M. constrictor pharyngis mit Kulissenphänomen (N. glossopharyngeus), einseitige Stimmlippenparese, Parese von M. sternocleidomastoideus und M. trapezius, ggf. ipsilaterale Parese der Zunge bei Beeinträchtigung des Canalis nervi hypoglossi (bei ausgedehnten Prozessen) – z. B. Paragangliome und Neurinome ▬ Syndrom des Hirnstamms (präpontines Syndrom): – Infiltration der mittleren Schädelbasis mit Druck auf den Hirnstamm, v. a. auf II., IV. und VIII. Hirnnerv, auch beidseits – am häufigsten beim Chordom des Klivus, aber auch bei Sarkomen oder Karzinomen des Epipharynx ▬ Syndrom des Klivus: – Kompression des III. Hirnnervs gegen den Klivus – Mydriasis, Lidptosis, umschriebenes Hirnödem, subdurales Hämatom ▬ Syndrom der Felsenbeinspitze (Gradenigo-Syndrom): N. trigeminus und N. abducens betroffen (# Kap. 3.5.4, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen« → »Petrositis«) ▬ Syndrom der petrosphenoidalen Kreuzung: – bei Tumoren, die sich durch das Foramen lacerum nach intrakraniell ausbreiten – Hirnnerven II–VI betroffen – v. a. Gesichtsneuralgien Literatur Engenhart-Cabillic R, Groß MW, Henzel M, Zabel A, Milker-Zabel S, Rades D (2006) Zentrales Nervensystem und Sinnesorgane. In: Wannenmacher M, Debus J, Wenz F (Hrsg.) Strahlentherapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 321–372 Fisch U, Wegmüller A (1974) Early diagnosis of acoustic neuromas. ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec 36: 129–140 Greenberg MS (ed) (2006) Handbook of neurosurgery, 6th edn. Thieme, Stuttgart New York Harsha WJ, Backous DD (2005) Counseling patients on surgical options for treating acoustic neuroma. Otolaryngol Clin North Am 38: 643–652 Jackler RK, Driscoll CLW (eds) (2000) Tumors of the ear and temporal bone. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Neff BA, Welling DB (2005) Current concepts in the evaluation and treatment of neurofibromatosis type II. Otolaryngol Clin North Am 38: 671–684 Wigand ME, Rettinger G, Haid T, Berg M (1985) Die Ausräumung von Oktavusneurinomen des Kleinhirnbrückenwinkels mit transtemporalem Zugang über die mittlere Schädelgrube. HNO 33: 11–16 3.6.7 Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen P. Kummer Definition ▬ Störung zentraler Prozesse des Hörens, welche die Analyse, Differenzierung und Identifikation von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditiv-sprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion und der dichotischen Verarbeitung ermöglichen ▬ Unauffälliges Tonschwellenaudiogramm Epidemiologie ▬ Häufigkeit: bei Kindern 2–3 %, bei älteren Erwachsenen 10–20 % ▬ Männer doppelt so häufig betroffen wie Frauen Ätiologie ▬ Meist unklar ▬ Diskutiert werden: genetische Disposition, Hirnläsionen (kongenital, vaskulär, entzündlich, tumorös), rezidivierende Otitis media 3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis 297 Klinisches Bild Verlauf und Prognose ▬ Störungen der Schalllokalisation, der Spracherkennung im Störschall, der Unterscheidung, Identifizierung, Synthese oder Analyse von Sprachlauten, des Verständnisses verbaler Instruktionen und der auditiven Merkfähigkeit ▬ Eingeschränkte Schulleistungen, v. a. Lese-Rechtschreib-Störungen ▬ Häufig ko-morbide Verhaltens- und/oder Lernstörungen ▬ Analog peripherer Hörstörungen: Beeinträchtigung der Sprachentwicklung, des Schriftspracheerwerbs, der Schulleistungen, der psychosozialen Kompetenz und der kognitiv-sprachlichen Entwicklung Diagnostik ▬ Ausschluss einer peripheren Schwerhörigkeit ▬ Nachweis gestörter zentraler Prozesse des Hörens mit subjektiven Verfahren für: – nichtsprachliche Signale: Richtungshörprüfung, Pegel-, Frequenz- und Zeitauflösung, Hörfeld – sprachliche Signale: Sprachaudiometrie mit oder ohne Störschall, dichotische Hörtests, Tests mit zeitkomprimierter Sprache – phonologische Bewusstheit: Lautdiskrimination und -identifikation, Lauteverbinden – Hörmerkspanne ▬ Objektive Verfahren zur Untersuchung der peripheren Hörfunktion: otoakustische Emissionen ▬ Objektive Verfahren zur Untersuchung der zentralen Verarbeitung und Wahrnehmung: – Impedanzaudiometrie – auditorisch evozierte Potenziale früher (Hirnstammaudiometrie), mittlerer (»middle latency response audiometry«) und später Latenz (»cortical evoked response audiometry«, »mismatch negativity« – negatives Differenzpotenzial im Latenzbereich der späten Potenziale) ▬ Interdisziplinäre Differenzialdiagnostik: Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie Differenzialdiagnostik ▬ ▬ ▬ ▬ Sprachentwicklungsstörung Lernstörung Intelligenzminderung Aufmerksamkeitsstörung (bei Nachweis symptomatische auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen) Therapie ▬ Defizitspezifische übende Verfahren ▬ Kompensatorische metalinguistische, metakognitive Verfahren ▬ Verbesserung der Signalqualität: Raumakustik und Sitzplatz im Klassenzimmer, in Einzelfällen Frequenzmodulationsanlage (drahtlose Signalübertragungsanlage) Literatur Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) (2005) Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS). AWMF-Leitlinien-Register Nr. 049/012; http:// leitlinien.net Wendler J, Seidner W, Eysholdt W (Hrsg.) (2005) Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Wohlleben B, Rosenfeld J, Gross M (2007) Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS): Erste Normwerte zur standardisierten Diagnostik bei Schulkindern. HNO 55: 403–410 3