styloid

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3
Ohr
S. Bisdas, P. Dost, H. Iro, P.R. Issing, T. Keck, C. Klingmann, P. Kummer, R. Leuwer, A.
Limberger, E. di Martino, S. Maune, S. Mattheis, P.K. Plinkert, S. Plontke, M. Reiß, G. Reiß, B.
Schick, K. Schwager, R. Siegert, F. Waldfahrer, T.J. Vogl
3.1
Anatomische Grundlagen – 140
3.2
Physiologische Grundlagen – 147
3.3
Diagnostik – 159
3.4
Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
3.5
Erkrankungen des Mittelohrs
3.6
Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich
Laterobasis – 250
– 218
– 193
140
Kapitel 3 · Ohr
3.1
Anatomische Grundlagen
M. Reiß, G. Reiß
3
3.1.1 Entwicklungsgeschichte
Ohrmuschel
▬ Entwickelt sich aus dem 2. Kiemenbogen16
▬ Ab der 4. Fetalwoche erscheinen beiderseits der
1. Kiemenfurche 6 Ohrhöcker (Proliferationszentren);
aus dem mandibulären 2. Höcker entsteht der Tragus,
3.–5. Höcker konfluieren in der 6. Woche zu 2 parallelen Falten (hintere Falte → Anthelix; vordere Falte →
Helix ascendens)
▬ Cavum conchae entstammt der primitiven Ohrmuschelgrube
▬ Bis zum Ende der 7. Woche erfolgen Drehungen der
Ohrmuschel um 2 Achsen
Äußerer Gehörgang
▬ 7. Fetalwoche: Cavum conchae vertieft sich zu einem
engen Kanal (primärer Gehörgang)
▬ 9. Fetalwoche: vom Fundus des primären Gehörgangs
dringt ein Epithelstrang gegen den Unterrand der
Paukenhöhle vor (Gehörgangsplatte) → knöcherner
Gehörgang
▬ 5. Fetalmonat: Aufspaltung der Gehörgangsplatte durch
Rückbildung der zentralen Epithelschichten, mit primärem Gehörgang Anlage des äußeren Gehörgangs
Mittelohr
▬ 3. Fetalwoche: aus einem dorsalen Rezessus der 1. entodermalen Schlundtasche entwickelt sich der Recessus tubotympanicus (primäre Paukenhöhle); dieser
nähert sich in der 4. Woche dem primären Gehörgang
▬ Zwischen Ektoderm des Gehörgangs und Entoderm
der Paukenhöhle schiebt sich das Mesoderm der Viszeralbögen → primäres Trommelfell
▬ 7.–8. Fetalwoche: Einengung des proximalen Teiles
der primären Pauke → Anlage der Tuba auditiva; der
distale Teil bildet die definitive Paukenhöhle
▬ 9. Fetalwoche: Entwicklung des Anulus aus 4 Ossifikationsherden
▬ Durch Verdünnung der mesodermalen Zwischenschicht Ausbildung der Pars tensa; ab der 12. Fetalwoche besitzt das Trommelfell seine endgültige Konfiguration
▬ Erweiterung und Umgestaltung der Pauke und der
Tube am Ende des 1. Lebensjahrs
16
Otto (1981)
Mittelohr und Pneumatisation
▬ 10. Fetalwoche: Bildung der oberen und unteren
Wand des Mittelohrs durch einen Fortsatz der Labyrinthkapsel (Proc. petrosus superior)
▬ Verknöcherung der lateralen Wand beginnt in der
8. Fetalwoche
▬ Zellbildung beginnt in der 33. Fetalwoche und endet
im 3.–4. Lebensjahr
▬ Pyramidenzellen treten in der 28. Fetalwoche auf
▬ Mehrzahl der Warzenfortsatzzellen entwickeln sich
vom Antrum mastoideum aus
Gehörknöchelchen und Ohrbinnenmuskeln
▬ Abkömmlinge des mandibulären und hyoidalen Viszeralbogens (außer Lamina stapedialis)
▬ 4.–5. Fetalwoche: Anlage des Stapes als kugelige Verdichtung im 2. Viszeralbogen
▬ 5. Woche: Stapesanlage wird ringförmig und verbindet sich mit der Lamina stapedialis (Bestandteil der
Labyrinthkapsel)
▬ 9. Woche: Stapesfußplatte verschmilzt mit Lamina
stapedialis zum Lig. anulare
▬ Verknöcherung und Ausbildung der Steigbügelschenkel sowie des Köpfchens in der 18.–20. Fetalwoche
beendet
▬ Hammer und Amboss sind in der 6. Fetalwoche im
Mesenchym des 1. Viszeralbogens angelegt
▬ Trennung der gemeinsamen Anlage durch die Chorda
tympani durch 2 abwärts ziehende Mesenchymverdichtungen zu Hammergriff und langem Ambossfortsatz
▬ 7. Fetalwoche: Bildung des Hammer-Amboss- und
des Amboss-Steigbügel-Gelenks
▬ 8. Woche: im 1. Vizeralbogen Anlage des M. tensor
tympani
Innenohr
▬ Entwicklung beginnt mit Ohrplakode (ektodermale
Verdickung in Höhe des späteren Rautenhirns)
▬ Durch Einsenkung des Epithels beiderseits der noch
offenen Neuralrinne entsteht die Ohrgrube und durch
Verlust ihres Zusammenhangs mit dem Oberflächenepithel das Ohrbläschen (Otozyt)
▬ 31. Fetaltag: Beginn der Differenzierung zum membranösen Labyrinth
▬ Durch Bildung einer Falte an der dorsalen Wand des
Hörbläschens Abgrenzung des Recessus labyrinthi;
aus diesem bilden sich Saccus und Ductus endolymphaticus
▬ 5. Fetalwoche: Hörbläschen gliedert sich in einen oberen dorsalen (Bogengänge, Vestibulum) und einen
unteren ventralen Abschnitt (Ductus cochlearis)
▬ 6. Fetalwoche: embryonales Bindegewebe um membranöses Labyrinth → Vorknorpel
▬ Anlage der Bogengänge aus 2 taschenförmigen Ausstülpungen (gemeinsam oberer und hinterer, gesondert lateraler Bogengang)
▬ 8.–9. Fetalwoche: Labyrinthkapsel (Jungknorpel)
wandelt sich in hyalinen Knorpel → Verknöcherung
in der 22. Fetalwoche
▬ 9. Fetalwoche: Perilymphraum im Bereich der Cisterna perilymphatica
▬ 10. Fetalwoche: Ausbildung der Schneckenskalen von
der Basis bis zur Spitze
▬ 11.–12. Fetalwoche: Beginn der Entwicklung der Perilymphräume
▬ 17. Fetalwoche: Helikotrema
▬ 22. Fetalwoche: Bogengänge haben ihre endgültige
Größe erreicht
▬ Sakkulus und Utrikulus bilden sich aus dem oberen
dorsalen Abschnitt des Hörbläschens
Nerven und Sinneszellansammlungen
▬ 3. Fetalwoche: Trennung des Ggl. acusticofaciale in
Ggl. acusticum und Ggl. geniculi
▬ 5. Fetalwoche: vom Ggl. geniculi aus Einwachsen von
Fazialisfasern in das Mesenchym des 2. Viszeralbogens
▬ 4. Fetalwoche: an medialer Wand des Hörbläschens
primäre Makula → Differenzierung in oberen (Macula utriculi, Cristae ampullares des oberen und lateralen Bogengangs) und unteren Teil (Macula sacculi,
Crista des horizontalen Bogengangs, Papilla basilaris
→ Corti17-Organ)
Literatur
Ingenhoff U, Viereck E (1989) Anatomie und Embryologie der Ohrmuschel. Fortschr Kiefer Gesichtschir 34: 127–129
Moser F (1986) Embryologie und Anatomie des Ohres. In: Moser F
(Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie. Erkrankungen an Hals, Nase, Ohr
und an den oberen Luft- und Speisewegen. Bd 1: Erkrankungen
des Ohres. Gustav Fischer, Jena, S. 17–44
Otto H-D (1981) Zwei bisher unbekannte Verlagerungsbewegungen
in der Branchialregion des menschlichen Keimlings dargestellt an
der Ontogenese des äußeren und des Mittelohres einschließlich
der periaurikulären Region sowie an der Pathogenese ihrer Missbildungen (Der Irrtum der Reichert-Gaupp’sehen Theorie). Diss. B,
Charité, Medizinische Fakultät, Berlin
Proctor B (1963) Surgical anatomy and embryology of the middle ear.
Trans Am Acad Ophthalmol Otolaryngol 67: 801–814
Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin
Heidelberg New York Tokyo
Zechner G, Altmann F (1979) Entwicklung des menschlichen Ohres. In:
Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde
in Praxis und Klinik. Bd 5. Ohr I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New
York, S. 1.1–1.26
17
Alfonso de Corti (1822–1876), Anatom, Würzburg/Utrecht/Turin
3
141
3.1 · Anatomische Grundlagen
3.1.2 Klinische Anatomie
Äußeres Ohr (Auris externa)
▬ Besteht aus: Ohrmuschel, äußerer Gehörgang, äußerer Anteil des Trommelfells
▬ Meatus acusticus externus: Porus acusticus externus
osseus (oben hinten Spina supra meatum) reicht bis
zur Membrana tympani
Ohrmuschel
▬ ⊡ Abb. 3.1
▬ Hautfalte, die elastischen Knorpel einschließt; verengt
sich trichterförmig gegen den äußeren Gehörgang
▬ Ohrläppchen (Lobulus auricularis) enthält nur Fettgewebe
▬ Concha auriculae:
– Cavum conchae (Cavitas conchalis, Innenhof):
wird von Anthelix, Tragus, Antitragus und Incisura
intertragica begrenzt; geht in den äußeren Gehörgang über
– Cymba conchae: hinten oben zwischen Crus helicis
und Crus inferior anthelicis
▬ Helix: Crus helicis (zwischen Cymba conchae und
Cavum conchae), Cauda helicis (oberhalb des Ohrläppchens)
1
2
3
4
9
10
6
11
5
7
8
12
13
⊡ Abb. 3.1. Laterale Fläche der Ohrmuschel (rechtes Ohr). 1 Helix; 2
Crura anthelicis; 3 Skapha; 4 Anthelix; 5 Concha auriculae; 6 Cymba
conchae; 7 Cavum conchae (Cavitas conchalis); 8 Antitragus; 9 Fossa
triangularis; 10 Crus helicis; 11 Incisura supratragica; 12 Tragus; 13
Incisura intertragica;
142
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Anthelix: zwischen Helix und Concha auriculae; oben
Crura (superior und inferior) anthelicis mit Fossa
triangularis, unten Antitragus
▬ Skapha: zwischen Helix und Anthelix
▬ Incisura intertragica: zwischen Tragus und Antitragus
▬ Incisura supratragica: zwischen Tragus und Crus helicis
▬ Arterielle Versorgung: A. temporalis superficialis,
A. auricularis posterior, A. occipitalis
▬ Venen: Verlauf entsprechend der Arterien
▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei, Nodi lymphatici cervicales laterales profundi
▬ Innervation: N. auricularis magnus (laterale Fläche;
Plexus cervicalis), N. auriculotemporalis (vorderer
Bereich; 3. Trigeminusast), R. auricularis nervi vagi
(Koncha), N. auricularis magnus, N. occipitalis minor
(mediale Fläche; Plexus cervicalis)
Äußerer Gehörgang
▬ 24 mm lang
▬ Lateraler knorpliger (1/3) und medialer knöcherner
Teil (2/3)
▬ In Frontal- und Horizontalebene gewunden
▬ Innervation: N. meatus acustici externi aus N. auriculotemporalis (vordere und obere Wand), R. auricularis nervi vagi (hintere und zum Teil untere Wand),
Rr. auriculares des N. facialis und des N. glossopharyngeus (hintere Wand und Trommelfell)
– grenzt oben an mittlere und hinten an hintere
Schädelgrube (Bogengang, Karotiskanal, Vestibulum, Kochlea)
– Pars tympanica (Os tympanicum, tympanischer
Knochen):
– Hauptanteil des äußeren knöchernen Gehörgangs
– legt sich als Belegknochen von unten an die Pars
squamosa und die Pars petrosa an
– 2 Fissuren: Fissura tympanomastoidea (hinten →
Mastoid) und Fissura tympanosquamosa (vorn
→ Pars squamosa)
▬ Weiterhin sind abzugrenzen:
– Proc. styloideus ossis temporalis (Pars hyoidea;
Styloidknochen) an der Pars petrosa; Ansatz des
Lig. stylohyoideum
– Proc. mastoideus (Pars mastoidea, Warzenfortsatz,
mastoidaler Knochen; Ansatz des M. sternocleidomastoideus) – wird aus Pars petrosa und Pars squamomastoidea gebildet:
– Pars petrosa: hintere und untere Grenze des Felsenbeins
– Pars squamomastoidea: vorderer und oberflächlicher Teil des Mastoids
> Wichtig
Das Felsenbein ist der komplizierteste Knochen und
beherbergt das empfindlichste Sinnesorgan des menschlichen Körpers.
Felsenbein (Schläfenbein, Os temporale)
▬ Form einer dreiseitigen Pyramide (an Bildung zweier
Schädelgruben beteiligt)
▬ Fusion aus 3 Hauptteilen (Kenntnis für die Felsenbeinpräparation wichtig):
– Pars squamosa (Squama temporalis, Schläfenbeinschuppe) – laterale Fläche bzw. lateraler Anteil
– stellt den größten Teil des Jochbogens dar
– Ausgangspunkt des Proc. zygomaticus
– läuft nach hinten in die Linea temporalis (inferior) aus
– an der Wurzel des Proc. zygomaticus: Tuberculum articulare (dahinter: Fossa mandibularis)
– Pars petrosa und Pars squamosa sind durch einen Knochenspan voneinander getrennt; vor
dem Span Fissura petrosquamosa, hinter dem
Span Fissura petrotympanica
– Pars petrosa (Felsenbeinpyramide; durch Sutura
petrosquamosa mit Pars squamosa verbunden) –
hinterer und medialer Teil
– Pyramide dreiseitig, etwa 45° nach vorn medial
gerichtet
Schädelbasis
▬ Die seitliche Region der Schädelbasis enthält 3 Schädelgruben: Fossa cranii anterior, media und posterior
(# Kap. 5.1.2)
▬ Laterale Schädelbasis:
– Grundlage bildet das Os temporale mit den angrenzenden Knochen (Os sphenoidale, Os occipitale, Os
parietale)
– Pars petrosa der Felsenbeinpyramide hat 2 Flächen:
– Facies anterior (Facies cerebralis): Eminentia arcuata (oberer bzw. vorderer Bogengang); medial
Hiatus canalis nervi petrosi majoris und Hiatus
canalis nervi petrosi minoris (Durchtrittsstellen
für Nn. petrosus major et minor des N. facialis);
außerdem: Tegmen tympani, Impressio trigeminalis (Ggl. trigeminale)
– Facies posterior (Facies cerebellaris): Porus acusticus internus → Meatus acusticus internus (für
N. facialis, N. intermedius, N. vestibulocochlearis, A. labyrinthi); lateral: Apertura externa
aquaeductus vestibuli (Ductus endolymphaticus
143
3.1 · Anatomische Grundlagen
→ Saccus endolymphaticus); außerdem: u. a. Sulcus Sinus sigmoidei, Apertura canaliculi cochleae
(für Ductus perilymphaticus)
– Pyramidenkante (Margo superior partis petrosae):
Grenze zwischen beiden Flächen – Trennung der
mittleren von der hinteren Schädelgrube mit Anheftung des Tentorium cerebelli (Sulcus Sinus petrosi superioris mit Sinus petrosus superior → Sinus
transversus)
▬
▬
Mittelohrräume
Trommelfell (Membrana tympani)
▬ Rand im Sulcus tympanicus (Anulus fibrosus; Limbus)
▬ Elliptische Form: nach innen eingezogener Trichter,
Umbo als Spitze (unterer Ansatz des Hammergriffs)
▬ Neigungswinkel von 40–45°
▬ Dicke: etwa 0,1 mm
▬ Pars tensa im Anulus tympanicus – 3 Schichten (von
außen nach innen):
– Gehörgangsepidermis (Stratum cutaneum)
– Lamina propria mit Stratum radiatum und Stratum
circulare
– innere Schleimhaut (Stratum mucosum)
▬ Pars flaccida (Shrapnell-Membran): kleinerer, schlafferer Teil oberhalb der Plica mallearis anterior et posterior (variable Lamina propria)
▬ Arterielle Versorgung:
– meatale Seite: A. auricularis profunda (A. maxillaris), A. temporalis superficialis, A. auricularis posterior; Pars tensa: 2 Plexus (zentraler und peripherer)
– tympanale Seite: A. tympanica anterior, A. tympanica posterior; Anastomose mit den einstrahlenden
Ästen der A. auricularis profunda
▬ Venen: Verlauf entsprechend der Arterien
▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei und Nodi
lymphatici cervicales laterales profundi
▬ Innervation: N. tympanicus (N. auriculotemporalis,
3. Trigeminusast), R. auricularis nervi vagi, N. glossopharyngeus (über Tube), Plexus tympanicus
▬
▬
▬
Paukenhöhle (Cavum tympanica)
▬ Besteht aus 3 Etagen:
– Epitympanon (Recessus epitympanicus; Attik) –
kaudal durch Prominentia canalis facialis begrenzt,
ventral durch Proattik
– Mesotympanon
– Epi- und Mesotympanon: mehrfache Unterteilung durch Ossikula, Bänder und Ohrbinnenmuskeln (z. B. Lig. incudis superior, Lig. mallei
superior, Lig. laterale, Tensor-tympani-Sehne)
▬
▬
– Prussak-Tasche: Raum zwischen Pars flaccida,
Lig. mallei laterale und Hammerhals
– Hypotympanon (Recessus hypotympanicus): Raum
unterhalb der Trommelfellebene
Mittelohrschleimhaut besteht aus Stroma und einreihigem kubischen Epithel
Mediale Wand – Paries labyrinthicus tympani:
– Proc. cochleariformis (N. facialis): Ansatz der Sehne
des M. tensor tympani, medial des Hammerhalses,
anterosuperior des ovalen Fensters und des Promontoriums
– Promontorium: flacht nach vorn ab und geht in
den knöchernen Tubenkanal über – basale Windung der Kochlea
– ovales Fenster (Fenestra ovalis/vestibuli): Stapesfußplatte (Scala vestibuli der Kochlea), inferior des
tympanalen Segments des N. facialis, superior parallel davon die Prominentia canalis semicircularis
lateralis
– rundes Fenster (Fenestra rotunda): in Fossula fenestrae cochleae (Rundfensternische – überhängender Knochen), inferior des ovalen Fensters
– tympanale Öffnung des Canaliculus tympanicus
am unteren Rand des Promontoriums (N. tympanicus und A. tympanica inferior)
Laterale Wand – Paries membranaceus: Trommelfell
und knöcherner Rahmen (Pars tympanica, Fissura
petrotympanica)
Posteriore Wand – Paries mastoideus:
– posterior des ovalen Fensters (Unterteilung durch
N. facialis) mit nach außen bzw. lateral gelegenem
Proc. pyramidalis (Sehne des M. stapedius)
– Recessus facialis: begrenzt durch Anulus und N. facialis (lateral)
– Sinus tympani: medial des N. facialis, Pontikulus
(etwa in einem Winkel von 90° zum N. facialis)
unterteilt Sinus tympani in 2 Rezessus (medial)
– Zugang zum Antrum (Aditus ad antrum)
Anteriore Wand – Paries caroticus (Mündung des
Canalis musculotubarius):
– Semicanalis musculi tensoris tympani
– Semicanalis tubae auditoriae (Tubenostium, Ostium tympanicum)
Obere Wand – Paries tegmentalis:
– Tegmen tympani: grenzt an mittlere Schädelgrube
(papierdünne Knochenlamelle)
– im Epitympanon: Hammerkopf und Ambosskörper
– Epitympanon geht dorsal in den Aditus ad antrum
über
Untere Wand – Paries (Fossa) jugularis:
– grenzt an Bulbus venae jugularis
– Cellulae tympanicae
3
144
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Arterielle Versorgung:
– im Wesentlichen Äste der A. carotis externa:
– A. maxillaris (A. tympanica anterior, A. meningea
media, A. tympanica superior)
– A. pharyngea ascendens (A. tympanica inferior)
– A. auricularis posterior (A. stylomastoidea →
A. tympanica posterior)
– A. carotis interna (Rr. caroticotympanici)
▬ Venen: V. auricularis profunda, Bulbus superior venae jugularis, Plexus pterygoideus, Plexus pharyngeus, Sinus sigmoideus, Sinus petrosus superior, Sinus
petrosus inferior
▬ Lymphabfluss: Nodi lymphatici parotidei, Nodi lymphatici mastoidei, Nodi lymphatici retropharyngeales,
Nodi lymphatici cervicales superficiales, Nodi lymphatici cervicales laterales profundi
▬ Nerven: Plexus tympanicus aus N. tympanicus (aus
N. glossopharyngeus), R. communicans cum plexu
tympanico (N. facialis), Nn. caroticotympanici
Gehörknöchelchenkette
▬ Bewegliche Kette vom Trommelfell zur Fenestra vestibuli:
– Hammer (Malleus):
– Kopf (Caput mallei), Hals (Collum mallei), Hammerstiel (Manubrium mallei), 2 Fortsätze (langer
Proc. anterior, kurzer Proc. lateralis); Manubrium
mallei und Proc. lateralis mit Trommelfell verwachsen
– Sehne des M. tensor tympani, dessen Bauch im
Semicanalis musculi tensoris tympani untergebracht ist, biegt im rechten Winkel um den
Proc. cochleariformis nach außen und zieht in
horizontaler Richtung zum Manubrium mallei
– Amboss (Inkus):
– Körper (Corpus incudis), 2 Schenkel (Crus longum incudis, Crus breve incudis)
– an der Vorderseite des Körper Gelenkfläche mit
dem Malleus (Articulatio incudomalearis)
– Crus longum incudis parallel zum Manubrium
mallei
– Proc. lenticularis (Ende des Crus longum) bildet Gelenk mit Caput stapedis (Articulatio incudostapedialis → Diarthrose)
– Steigbügel (Stapes):
– Kopf (Caput stapedis), 2 Schenkel (Crus anterior,
Crus posterior), Steigbügelplatte (»Fußplatte«,
Basis stapedis)
– füllt Fenestra vestibuli nicht vollständig aus,
sondern ist durch ein System radiärer Fasern
beweglich mit dem knöchernen Rand verbunden
– M. stapedius entspringt im Canalis pyramidalis
und geht in Höhe der Eminentia pyramidalis in
eine zarte Sehne über, diese inseriert am Hals
oder an der Hinterfläche des Caput stapedis
▬ Innervation:
– motorisch: N. facialis (M. stapedius), N. mandibularis (N. trigeminus; M. tensor tympani)
– sensorisch: N. tympanicus, Nn. caroticotympanici
(sympathische Fasern)
Antrum und Proc. mastoideus (Warzenfortsatz)
Aditus ad antrum und Antrum mastoideum
▬ Aditus oberhalb des ovalen Fensters und des Fazialiskanals – Verbindung zwischen Pauke und Antrum
▬ Vom Antrum gehen die luftgefüllten Warzenfortsatzzellen aus (unregelmäßig begrenzt), der laterale Bogengang befindet sich an seiner Schwelle
Mastoid
▬ Pneumatisation der Mittelohrräume (Cellulae mastoideae) sehr variabel: kompakter Warzenfortsatz vs.
ausgedehnte Zellsysteme (umwelt- oder anlage-/genetisch bedingt)
▬ Zellzüge (Tractus): terminale Zellen im Sinus-DuraWinkel (Citelli-Zellen), retrosinöse Zellen, PogányZellen (Zellen am knöchernen Kanal des N. facialis),
auch Zellzüge im Os temporale, im Jochbogen und in
der Pyramidenspitze (⊡ Tab. 3.1)
▬ Körnersches Septum (Lamina petrosquamose): Knochenlamelle, die bei Verschmelzung von Pars squamosa und Pars petrosa entstehen kann
»Brücke«
▬ Chirurgisches Artefakt: wenn bei der Operation die
seitlichen Anteile des äußeren Gehörgangs bis auf die
Knochenleiste um den hinteren Anteil des Anulus
tympanicus entfernt worden sind
⊡ Tab. 3.1. Pneumatisation des Felsenbeins
Knochenstruktur
Region
Mittelohr
Epi-, Meso- und Hypotympanon, posteriores Tympanon, Protympanon
Mastoid
Antrum, periantrale Zellen, zentral,
bispheral, tegmental, sinodural, perifazial, Spitze, lateral, medial
Perilabyrinthär
Supralabyrinthär, infralabyrinthär
Pyramidenspitze
Peritubal, apikal
Akzessorisch
Zygomatisch, Schläfenbein, okzipital,
Styloid
145
3.1 · Anatomische Grundlagen
▬ An der Brücke haftet der hintere obere Anteil des
Trommelfells
▬ Im unteren Anteil liegt die Brücke in der Nähe des
N. facialis
! Cave
Die Nachbarschaft des Mastoids zum Kleinhirn und
zum Sinus sigmoideus begünstigt die Überleitung entzündlicher Prozesse.
Ohrtrompete ( Tuba auditoria sive auditiva,
Eustachi-Röhre)
▬ Verbindung zwischen Paukenhöhle und Epipharynx
(# Kap. 3.2.2)
▬ Besteht aus einem knöchernen (1/3) und einem
knorpligen Teil (2/3); Grenze: Tubenisthmus
▬ Verläuft S-förmig gekrümmt von hinten oben lateral
nach vorne unten medial; liegt gleichmäßig schräg zu
allen Ebenen in einem Winkel von 45°
▬ Länge: 31–38 mm (bis 44 mm möglich)
▬ Pars ossea:
– beginnt an der vorderen Wand der Paukenhöhle
(Ostium tympanicum)
– liegt im vorderen Teil der Pars petrosa ossis temporalis (medial unten Karotiskanal, medial oben
Schneckenkapsel)
– Hauptteil der knöchernen Begrenzung wird durch
Pars tympanica und Pavimentum (Boden) pyramidalis (Pars petrosa) gebildet, welches sich zwischen
Os temporale und Pars tympanicum von unten her
einschiebt
– nimmt unteres Fach des Canalis musculotubarius
(Semicanalis tubae auditoriae, grenzt an Fissura
petrotympanica) ein
– Dach der Pars ossea: Tegmen tympani (Pars petrosa) und Keilbein
– Pars ossea wird weiterhin durch Tubenzellen (Verbindung mit Pyramidenspitze und Kochlea) gebildet; Gestalt der Tube ist aufgrund der verschiedenen, an der Bildung beteiligten Knochen sehr
variabel
▬ Pars cartilaginea:
– medial, oben und zum Teil lateral knorplig, in übrigen Teile bindegewebig (Lamina membranacea)
– endet am Ostium pharyngeum (1–2,5 cm niedriger
als Ostium tympanicum)
▬ Querschnitt hakenförmig; nach unten offene Rinne
(dort Begrenzung durch Lamina membranacea)
▬ Tube mit Flimmerepithel ausgekleidet, Kinozilien
schlagen rachenwärts
▬ Arterielle Versorgung: aus A. carotis interna und
R. accessorius der A. meningea media (Pars ossea)
– A. pharyngea ascendens, A. palatina descendens,
A. sphenopalatina, A. canalis pterygoidei (Pars cartalaginea)
▬ Venen: Plexus pterygoideus, Vv. pharyngeales, Venen
der Paukenhöhle, Plexus venosus caroticus internus
▬ Lymphabfluss: direkt oder über Nodi lymphatici
retropharyngeales in die Nodi lymphatici cervicales
laterales profundi, außerdem in die Nodi lymphatici
juguloomohyoidei und die Nodi lymphatici parotidei
▬ Innervation: R. tubarius aus Plexus tympanicus
(Pars ossea), Plexus pharyngealis (Pars cartilaginea),
N. glossopharyngeus und R. pharyngeus aus Ggl. pterygopalatinum (Ostium pharyngeum)
Labyrinth und Innenohr (Auris interna)
▬ Besteht aus Hörschnecke, Vorhof (Vestibulum) und
Bogengängen (Gesamtvolumen: 140 mm3)
▬ Befindet sich in der Pars petrosa ossis temporalis,
eingebettet in kompaktes Knochengewebe
▬ Verbindung zur Schädelhöhle durch den Meatus acusticus internus und zum Cavum tympani durch Fenestra vestibuli (ovalis)
▬ Einteilung:
– knöchernes Labyrinth (Labyrinthus osseus): Vestibulum, Canales semicirculares ossei (knöcherne
Bogengänge), Kochlea (knöcherne Schnecke)
– membranöses Labyrinth (Labyrinthus membranaceus): Utrikulus, Sakkulus, Ductus semicirculares (häutige Bogengänge), Ductus cochlearis (häutiger Schneckengang)
▬ Zwischen knöchernem und häutigem Labyrinth: Spatium perilymphaticum
Kochlea
▬ Form eines Schneckenhauses, etwa 2,5 Windungen
(# Kap. 3.2.1)
▬ 3 flüssigkeitsgefüllte Kompartimente: Scala tympani,
Scala vestibuli, Scala media
▬ Modiolus (zentrale Achse der knöchernen Kochlea,
Schneckenspindel) ist innen hohl (Ggl. spirale cochleae, afferente und efferente Nervenfasern, Gefäße)
und öffnet sich durch Tractus spiralis foraminosus
in den Fundus meatus acustici interni (N. cochlearis,
Vasa auris interna)
▬ Lamina spiralis ossea windet sich bis zur Spitzenwindung (Helikotrema: Loch zwischen Rand des Hamulus laminae spiralis und der Lamina modioli) um
Modiolus
▬ Wird durch Lamina spiralis membranacea ergänzt
▬ Unterteilung in 2 mit Perilymphe gefüllte Kanäle:
Scala vestibuli (beginnt im Vestibulum), Scala tym-
3
146
3
Kapitel 3 · Ohr
pani (endet an Fenestra rotunda); beide Kanäle gehen in der Spitzenwindung ineinander über (Helikotrema)
▬ Basilar- und Reisner-Membran inserieren an Lamina
spiralis ossea
▬ Scala media (Ductus cochlearis) mit dreieckigem
Querschnitt (Reissner-Membran, Scala vestibuli/Basilarmembran, Scala tympani/Stria vascularis), endet
blind
Vestibulum
▬ Liegt zwischen Cavum tympani und Meatus acusticus
internus
▬ Abgeflachter elliptoider Raum (Höhe: 4–7 mm; Breite:
3–4 mm; Tiefe: 5–6 mm)
▬ Enthält Utrikulus (schlauchförmiges Säckchen) und
Sakkulus (rundliches Säckchen): Otolithenapparate
(Linearbeschleunigungsmessorgane)
▬ Otolithenorgane: Maculae, bedeckt mit Membran mit
Otolithen
▬ Hauptachsen von Sakkulus und Utrikulus stehen in
einem Winkel von 90° zueinander
▬ Vestibulum steht mit Bogengängen und Schnecke in
Verbindung
▬ Aquaeductus vestibuli beherbergt den Ductus endolymphaticus, der an der Hinterfläche des Felsenbeins mit dem Saccus endolymphaticus endet
Bogengänge (Canales semicirculares)
▬ 3 Bogengänge → 3 Drehbeschleunigungsrezeptoren:
– seitlicher bzw. lateraler Bogengang (horizontal; erst
bei Vorwärtsneigung des Kopfes um 30° befindet er
sich in der horizontalen Ebene)
– oberer bzw. superiorer Bogengang (vertikal; Eminentia arcuata in mittlerer Schädelgrube)
– hinterer bzw. posteriorer Bogengang (ebenfalls
vertikal, jedoch rechtwinklig zum oberen Bogengang)
▬ Bogengänge stehen annähernd in den 3 Hauptrichtungen des Raumes
▬ Die häutigen Gänge bilden Endolymphschläuche, die
sich vor der Einmündung in den Utrikulus zu jeweils
einer Ampulle aufweiten (5 Öffnungen)
▬ Sinnesepithelien im Otolithenapparat und in den
Ampullen der 3 Bogengänge
▬ Ampulle: Rezeptor der Drehbeschleunigung mit Cupula und Crista ampullaris
▬ Crista ampullaris enthält die vestibulären Haarzellen
▬ 2 Typen von Haarzellen: Typ-I- (flaschenförmig) und
Typ-II-Haarzellen (zylindrisch)
▬ Haarzellen tragen jeweils etwa 60 Stereozilien und ein
Kinozilium (Kinozilie)
Gefäße und Nerven des Labyrinths
▬ Arterielle Versorgung:
– häutiges Labyrinth: A. labyrinthi (mehrere Arteriolen; zieht mit VIII. Hirnnerv durch den inneren
Gehörgang, Endarterie) aus A. cerebelli inferior anterior (85 %) oder A. basilaris (15 %), teilt sich in
einen R. cochleae und Rr. vestibulares
– knöchernes Labyrinth: A. meningea media, A. carotis interna, A. pharyngea ascendens
▬ Venen: V. aquaeductus cochleae (Bulbus superior venae jugularis), Vv. labyrinthiae, V. aquaeductus vestibuli (Sinus petrosus inferior)
▬ Innervation: N. vestibulocochlearis mit 2 funktionell
verschiedenen Anteilen (Nn. vestibulares, N. cochlearis)
Innerer Gehörgang (Meatus acusticus internus)
▬ Hinterfläche der Felsenbeinpyramide
▬ Verläuft in schräger Richtung von innen nach außen
und hinten
▬ Länge: 1 cm
▬ Von Dura und Arachnoidea ausgekleidet
▬ Unterteilung in 4 Quadranten:
– superior: frontal N. facialis, okzipital N. vestibularis
superior (getrennt durch Crista verticalis bzw. Bill’s
bar: wichtiger Orientierungspunkt)
– inferior: frontal N. cochlearis, okzipital N. vestibularis inferior
– superiore und inferiore Anteile werden durch Crista
transversa getrennt
Sonstige Strukturen
Sinus sigmoideus und Bulbus jugulare
▬ Zahlreiche Variationen bezüglich Verlauf, Dicke und
Anlage
▬ Confluens sinuum → Sinus sigmoideus (1. Sinusknie
im Mastoid) → abwärts zum 2. Sinusknie (Mastoidspitze) → steigt an zum 3. Sinusknie → zieht nach
unten zum Bulbus jugulare → Foramen jugulare
Intratympanaler Anteil des N. facialis
▬ Verläuft im Fallopio-Kanal durch den Meatus acusticus internus
▬ Labyrinthärer Anteil (Ggl. geniculi, 1. Knie): N. petrosus major
▬ Tympanaler Abschnitt: horizontal (oberhalb der Fenestra vestibuli, unterhalb des Canalis semicircularis
lateralis)
▬ Mastoidaler Abschnitt: vertikaler Verlauf, endet im
Foramen stylomastoideum
▬ R. stapedius: Abgang in Höhe der Eminentia pyramidalis
147
3.2 · Physiologische Grundlagen
▬ Chorda tympani:
– Abgang im mastoidalen Abschnitt
– sensorische und präganglionäre Fasern
– Verlauf in der Pauke: Apertura tympanica canaliculi
chordae tympani → durchquert bogenförmig die
Pauke → laterale Seite des langen Ambossschenkels
→ mediale Seite des Hammerhalses (kranial vom
Ansatz der M.-tensor-tympani-Sehne) → Fissura
petrotympanica
Saccus endolymphaticus
▬ »Blindes« Ende eines Endolymphschlauchs, der vom
Sakkulus des Schneckenvorhofs medial des oberen
Bogengangs zur Dura verläuft
▬ Liegt innerhalb einer Duraduplikatur am Übergang
von der mittleren zur hinteren Schädelgrube
▬ Innere Oberfläche von einem hochprismatischen Epithel ausgekleidet: transportiert K+ aktiv aus der Endolymphe in den subepithelialen Raum (umgekehrte
K+-Ionen-Pumprichtung wie im Bereich der Stria vascularis)
Literatur
Beck C (1979) Anatomie und Histologie des Ohres. In: Berendes J, Link
R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik. Bd 5. Ohr I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 2.1–20.60
Bollobas B, Hajdu I (1975) The development of the tympanic sinus.
ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec 37: 97–102
Krmpotic-Nemanic J, Draf W, Helms J (1985) Chirurgische Anatomie des
Kopf-Hals-Bereichs. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Sanna M, Khrais T, Falcioni M, Russo A, Abdelkader T (2006) The temporal bone: A manual for dissection and surgical approaches.
Thieme, Stuttgart New York
Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin
Heidelberg New York Tokyo
3.2
Physiologische Grundlagen
3.2.1 Hören
S. Plontke
Ohr – Strukturelle Organisation und
physiologische Aspekte
Innenohr
▬ Siehe auch oben, # Kap. 3.1.2
▬ Basilarmembran trennt Scala tympani von Scala media (Ductus cochlearis); an der Basis der Kochlea
schmaler und steifer als in den oberen Windungen
(Zunahme der Breite in Richtung Helikotrema) →
wichtig für Tonotopie der Kochlea (s. unten)
▬ Corti-Organ: liegt auf Basilarmembran, besteht aus
Haarsinneszellen
▬ Stütz- und Pfeilerzellen, die u. a. die Haarsinneszellen
in Position halten (Basiselemente: Haarsinnes-, Stützund Pfeilerzellen)
▬ Mit Perilymphe gefüllte Räume (Nuel-Tunnel)
Ionenzusammensetzung der Innenohrflüssigkeiten
▬ Scala vestibuli und Scala tympani (Perilymphe):
ähnlich der Extrazellulärflüssigkeit (hoher Natriumgehalt: 140–150 mmol/l; niedriger Kaliumgehalt:
ca. 5 mmol/l)
▬ Endolymphraum der Scala media: ähnlich der Intrazellulärflüssigkeit (niedriger Natriumgehalt: etwa
1 mmol/l; hoher Kaliumgehalt: ca. 157 mmol/l)18
> Wichtig
Der Flüssigkeitsraum unterhalb der Lamina reticularis (in
dem die Zellkörper der Haarsinneszellen liegen) gehört
zur Scala media bzw. zum Ductus cochlearis, enthält aber
Perilymphe.
▬ Perilymphraum kommuniziert über Aquaeductus
cochlearis mit Zerebrospinalflüssigkeit (beim Erwachsenen nicht immer offen)
▬ Endolymphraum steht über Ductus endolymphaticus
mit Saccus endolymphaticus in Verbindung
Haarsinneszellen
▬ Entlang der Basilarmembran angeordnet
▬ Eine Reihe innerer Haarsinneszellen (ca. 3500): kelchförmig, mit zentral angeordnetem Zellkern, vollständig von Stützzellen umgeben
▬ Meist 3 Reihen äußerer Haarsinneszellen (insgesamt
etwa 12.000): zylindrische Form, Stabilisierung durch
Membrana reticularis und Deiters-Zellen
▬ Nuel-Raum umgibt äußere Haarsinneszellen
▬ Länge der äußeren Haarsinneszellen nimmt in Richtung Helikotrema zu
▬ Ruhepotenzial der inneren Haarsinneszellen: etwa
–40 mV
▬ Ruhepotenzial der äußeren Haarsinneszellen: etwa
–70 mV
Stereozilien
▬ 50–150 pro Haarsinneszelle, V- oder W-förmig angeordnet (äußere Haarsinneszellen) oder abgeflacht
U-förmig (innere Haarsinneszellen)
▬ Im Unterschied zu vestibulären Haarsinneszellen kein
Kinozilium
18
Wangemann u. Schacht (1996)
3
148
Kapitel 3 · Ohr
▬ Äußere Haarsinneszellen: Kontakt zur Tektorialmembran
▬ Innere Haarsinneszellen: kein Kontakt zur Tektorialmembran
▬ Aus Aktinfilamenten aufgebaut
3
▬ Kopf- und Ohrmuschelform wahrscheinlich Grundlage für Richtungshören in der Vertikalebene (Änderung des Frequenzspektrums eines Schallsignals bei
Elevation; s. unten)
Akustische Impedanz des Ohres
Afferente Innervation
▬ Typ I (90–95 %): myelinisiert; jede innere Haarsinneszelle wird von mehreren Nervenfasern innerviert
▬ Typ II: nicht myelinisiert; eine Nervenfaser innerviert
mehrere äußere Haarsinneszellen
Efferente Innervation
▬ Mediale Efferenzen (vom medialen Anteil des Ncl.
olivaris superior) kontaktieren den Zellkörper der
äußeren Haarsinneszellen
▬ Laterale Efferenzen (vom lateralen Anteil des Ncl. olivaris superior) kontaktieren die Dendriten der Typ-INervenfasern
Schallübertragung zur Kochlea
Schalldruck
▬
▬
▬
▬
Einheit: Pascal (N/m2)
Schalldruck an der Hörschwelle: 2 × 10–5 Pa = 20 µPa
Schalldruck an der Schmerzgrenze: 2 × 101 Pa = 20 Pa
Angabe des Schalldrucks in Dezibel (dB; p: Schalldruck; p0: Schalldruck an der Hörschwelle):
dB = 20 log
p
p0
▬ Beispiele für Schallpegel (vgl. unten, 3.3.2):
– Raumgeräuschpegel: etwa 40 dB
– Umgangssprache: ca. 60 dB
▬ Schall erreicht die Kochlea über den Gehörgang und
das Mittelohr oder über den Knochen
Gehörgang als Resonator
▬ Schalldruck am Trommelfell höher als am Gehörgangseingang; Maximum: nahe 3 kHz ca. 10 dB (Resonanzfrequenz)
▬ Resonanzfrequenz von Geometrie des Gehörgangs
abhängig (bei Tympanometrie bei Kindern höherer
Sondenton)
Kopfeffekte
▬ Kopf und Ohrmuschel verändern den Schalldruck am
Gehörgang
▬ Effekt von Frequenz und Einfallswinkel abhängig
▬ Zeit- und Intensitätsunterschiede eines Schallsignals
an beiden Ohren als Grundlage für Richtungshören
in der Horizontalebene
▬ Maß für den Widerstand, der der Bewegung durch
den Schall entgegensetzt wird
Mittelohr (Impedanzwandler)
▬ Trommelfell und Gehörknöchelchenkette transportieren Schallenergie der Luft zu den Innenohrflüssigkeiten, d. h. die Schallwelle wird durch das Trommelfell sowie Hammer, Amboss und Steigbügel auf die
Perilymphe übertragen
▬ Hohe Impedanz der Kochlea (Flüssigkeit) wird an
niedrige Impedanz der Luft angepasst
▬ Akustischer Widerstand (Impedanz) des Trommelfells ist optimal an Schallwellenwiderstand der Luft
angepasst → Erkrankungen des Mittelohrs können
z. B. durch Versteifung zu Störungen der Impedanzanpassung führen
▬ Teil des eintreffenden Schalls wird am Trommelfell
reflektiert
▬ Hydraulischer Effekt Trommelfellfläche : Fußplattenfläche von 17 : 1
▬ Hebeleffekt zwischen Hammergriff und langen Ambossfortsatz von 1,3 : 1
▬ Gesamtverstärkung von 22 : 1
▬ Impedanzanpassung des Mittelohrs im mittleren Frequenzbereich am größten (Gewinn durch Impedanzanpassung bei 0,9 kHz: etwa 30 dB); bei höheren
Frequenzen Abnahme der Verstärkung um ca. 8 dB/
Oktave
▬ Mittelohrmuskeln dämpfen Schwingung der Gehörknöchelchenkette:
– längeres Nachschwingen wird vermieden
– durch Kontraktion der gelenkig gleitenden Verbindungen wird verhindert, dass extreme Trommelfellverlagerungen durch Schwankungen des Umgebungsdrucks zum Innenohr gelangen
▬ Bei intaktem Trommelfell größere Kraft auf das
ovale als auf das runde Fenster (Schallwellen erreichen beide Fenster mit unterschiedlichen Phasen) →
Kraftunterschiede führen zur Bewegung der Innenohrflüssigkeiten
▬ Rundes Fenster ist durch Ränder der runden Fensternische und durch intaktes Trommelfell schallgeschützt
▬ Trommelfelldefekte/-perforationen mit und ohne Ossikelunterbrechungen; Hörverlust (ca. 10–42 dB) abhängig von:
149
3.2 · Physiologische Grundlagen
– Größe und Lokalisation von Trommelfelldefekten
– zusätzlichen Ossikelunterbrechungen
– Konsistenz und anatomischer Anordnung des Resttrommelfells (Schallprotektion des runden Fensters, Massenbelastung des ovalen Fensters und Phasendifferenz des Schallsignals an beiden Fenstern)
Physiologie der Kochlea
▬ Mechanische Stimulation des auf der Basilarmembran aufsitzenden Corti-Organs als Ergebnis der sich
in Flüssigkeitsräumen ausbreitenden Wanderwelle
▬ Hörtheorie der Wanderwellen nach von Békésy19 (hydrodynamische Theorie):
▬
▬
▬
▬
▬
19
– periodische Stapesschwingung → Volumenverschiebung der angrenzenden Perilymphe zwischen
Scala vestibuli und Scala tympani (Voraussetzung:
elastischer Verschluss gestattet ein Ausweichen der
Perilymphe) → Wellenbewegung des dazwischen
liegenden Ductus cochlearis zieht zum Helikotrema
→ an der Stelle, die der Frequenz der Stapesschwingung entspricht, entsteht ein Schwingungsmaximum
→ Verschiebung zwischen Membrana tectoria und
Basilarmembran → Scherbewegung zwischen Tektorialmembran und Corti-Organ mit einer Phasenverschiebung um 180° → Reizung der Haarsinneszellen
– Amplitude der Wanderwelle wächst bis zu einem
Maximum an und bricht danach schnell zusammen
In der Kochlea Auftrennung des Schallsignals in
spektrale Komponenten durch »Wanderwelle« → verschiedene Frequenzanteile stimulieren unterschiedliche Nervenfaserpopulationen
Tonotopie: Prinzip der räumlich getrennten Stimulation von für verschiedene Frequenzen kodierenden
Hörnervenfasern (vgl. unten)
Maximale Lageveränderung der Basilarmembran
direkt von der Frequenz des Reizes abhängig; bestimmte Frequenzen werden in definierten Bereichen
der Kochlea abgebildet (Dispersion bzw. räumliche
Trennung nach Frequenzen):
– hohe Frequenzen: basokochleär (Schneckenbasis)
– tiefe Frequenzen: apikokochleär (Schneckenapex)
Tonotope Organisation gilt auch für die Nervenfasern
im überwiegenden Anteil der aufsteigenden Hörbahn
und im auditorischen Kortex
Auslenkung der Basilarmembran durch die Wanderwelle führt zu Scherbewegungen zwischen Tektorialmembran bzw. Endolymphe und Stereozilien im
Georg von Békésy (1899–1972), Otophysiologe, Budapest/Boston/
Honolulu, Nobelpreis für Medizin 1961
Endolymphraum des Sulcus spirale, die die Sinneshaare tangential verschieben (adäquater Reiz für die
Haarsinneszellen) → Umsetzung von mechanischer
Energie in Ionenströme (mechanoelektrische Transduktion an inneren Haarsinneszellen) → Nervenimpulse, die über afferente Nervenfasern zum Ggl. spirale laufen
> Wichtig
Die Basilarmembran schwingt vertikal (nach oben und
unten), und die Tektorialmembran führt eine Scherbewegung zur Lamina reticularis aus.
▬ Resonanztheorie von von Helmholtz20 (nur historische Bedeutung): im Innenohr vollzieht sich eine
Schallanalyse (Reizverteilung); Basilarmembran besteht aus verschieden langen und verschieden stark gespannten, quer verlaufenden Fasern – diejenige Faser,
deren Eigenfrequenz dem einwirkenden Schall entspricht, soll durch Resonanz in Schwingung geraten
Innere Haarsinnszellen
▬ Mechanoelektrische Informationsvermittler des Innenohrs
▬ Stereozilien haben keinen Kontakt zur Tektorialmembran
▬ Erregung bei niedrigen Frequenzen durch Endolymphströmung
▬ Mechanoelektrische Transduktion:
– im Bereich des Amplitudenmaximums wird das
akustische Reizmuster durch Anregung der Haarsinneszellen in Nerveneinzelentladungen transformiert; in den Sinneszellen kommt es zu einer
reizsynchronen Änderung des Rezeptorpotenzials,
die über ein Generatorpotenzial bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle (Alles-oder-NichtsPrinzip) ein Aktionspotenzial auslöst
– mechanosensitive Ionenkanäle in den Stereozilien
werden geöffnet (Stereozilien sind untereinander
mit Filamenten verbunden – »tip links«) → K+Ionen-Einstrom → Depolarisation der inneren
Haarsinneszellen → Öffnung spannungsgesteuerter
Ca2+-Kanäle → Einstrom von Ca2+-Ionen aus CortiLymphe (Perilymphe) → Freisetzung von Glutamat
(wichtigster Neurotransmitter) bei Entleerung von
Transmittervesikeln in den synaptischen Spalt →
Bindung an Glutamatrezeptor (NMDA-, AMPA-,
Kainatrezeptoren) der afferenten Synapse → Aufbau des postsynaptischen Generatorpotenzials
20
Hermann von Helmholtz (1821–1894), Physiologe und Physiker,
Berlin
3
150
3
Kapitel 3 · Ohr
– Repolarisation durch energieverbrauchenden Ionenrücktransport
– innere Haarsinneszelle bildet hochspezialisierte
sog. Bändersynapse mit 5–30 peripheren Axonen
der Spiralganglienneurone, die mit zahlreichen Kalziumkanälen und glutamathaltigen Vesikeln hohe
Übertragungsraten mit kurzer Refraktärzeit und
damit eine schnelle und gleichzeitig lang anhaltende Transmitterfreisetzung erlauben
Äußere Haarsinneszellen
▬ Kochleärer Verstärker für die inneren Haarsinneszellen
> Wichtig
Die Stereoziliendeflektion führt bei den äußeren Haarsinneszellen zu einer spannungsabhängigen Längenänderung, bei den inneren Haarsinneszellen dagegen zu einer
Öffnung spannungsgesteuerter Kalziumkanäle.
▬ Aktive Elemente: enthalten »Motorprotein« Prestin
zur aktiven Umwandlung von elektrischer Spannung
in mechanische Kraftwirkung
▬ Verstärken durch schnelle, aktive, schallinduzierte
Längenänderung (bis etwa 5 %) die Auslenkung
der Basilarmembran bei geringen Schallpegeln um
ca. 50 dB (Hörschwelle bei Verlust der äußeren Haarsinneszellen: etwa 40–60 dB) und erhöhen die Frequenzselektivität
▬ Langsamere (und größere) Längenänderung (kalziumabhängig) moduliert Sensitivität der Kochlea →
Amplitudenkompression
▬ Verantwortlich für Nonlinearität der Schallverarbeitung in der Kochlea, ohne die eine Schallpegelkodierung über einen großen Dynamikbereich nicht
möglich wäre
▬ Aktivität der äußeren Haarsinneszellen wird überwiegend efferent durch mediale olivokochleäre Efferenzen beeinflusst (genaue Bedeutung des efferenten
Systems noch nicht sicher geklärt)
▬ Äußere Haarsinneszellen sind Grundlage für die Erzeugung von Schallsignalen, welche »rückwärts« über
die Gehörknöchelchen auf das Trommelfell übertragen werden und als otoakustische Emissionen im
Gehörgang gemessen werden können (# Kap. 3.3.2)
> Wichtig
Die gute Frequenzselektivität beruht zum einen auf der
(passiven) Wanderwelle und zum anderen auf der aktiven Verstärkung der Wanderwelle durch die äußeren
Haarsinneszellen. Der aktive Teil übersteigt den passiven
erheblich.
▬ Aktuell geführte Debatte über Anteil prestinvermittelter, somatischer Motilität und aktiver Bewegungen
des Haarbündels der äußeren Haarsinneszellen an der
kochleären Verstärkung noch nicht abgeschlossen
▬ Periodizitätsanalyse: für komplexe Signale, bei mittlerem und hohem Schalldruck relevant
Endokochleäres Potenzial
▬ Ständige, nichtakustisch evozierte Potenzialdifferenz
zwischen Endo- und Perilymphraum (basal 80–
120 mV, apikal 50–80 mV); Potenzialdifferenz zwischen Endolymphraum und Zytoplasma der inneren
Haarsinneszellen: ca. 155 mV
▬ Aufrechterhaltung des endokochleären Potenzials
durch K+-Ionen-Sekretion in die Endolymphe durch
Stria vascularis
▬ Stria vascularis:
– mehrschichtiges Epithel zwischen Endolymphraum
und Lig. spirale
– verantwortlich für endokochleäres Potenzial sowie
Ionenzusammensetzung (K+-Ionen-Konzentration)
und Volumenregulation der Endolymphe (Homöostase des Innenohrs)
▬ Sensorische Aktivierung von Haarsinneszellen →
erhöhter K+-Ionen-Fluss durch die Zellen in den
Perilymphraum, von dort K+-Recycling in den Endolymphraum erforderlich
> Wichtig
Bei gestörtem K+-Recycling Störung der Innenohrhomöostase
Akustisch evozierte elektrische Potenziale in
der Kochlea (kochleäre Reizfolgepotenziale)
Kochleäres Mikrophonpotenzial
▬ Reizsynchrone Wechselspannungspotenziale (vorwiegend aus dem basalen Bereich der Kochlea, folgen der
Wellenform des Schallsignals)
▬ Bei Ableitung an Promontorium oder Rundfenstermembran v. a. durch äußere Haarsinneszellen der basalen Kochlearegion generiert
▬ Amplitude wächst linear bis Sättigungsbereich
Kochleäres Summationspotenzial
▬ Von inneren und äußeren Haarsinneszellen generiert
(wahrscheinlich Gleichspannungsanteil des Rezeptorpotenzials)
▬ Entspricht Gleichspannungsabweichung der Grundlinie des kochleären Mikrophonpotenzials
▬ Je nach Reiz, Ableitort und Messmethode positiv oder
negativ
▬ Veränderungen bei Homöostasestörungen des Innenohrs (z. B. Hydrops)
▬ Interindividuell sehr variabel
151
3.2 · Physiologische Grundlagen
Summenaktionspotenzial
▬ Nervales Reizfolgepotenzial der distalsten Nervenanteile (innerhalb der Kochlea)
▬ Entsteht durch synchrone Erregung der afferenten
Nervenfasern (N1-Welle) und des Ncl. cochlearis (N2Welle)
Elektrokochleographie, »Promontorialtest«
▬ Einzelkomponenten: kochleäres Mikrophonpotenzial,
kochleäres Summationspotenzial, Summenaktionspotenzial (nur geringer Anteil von N2)
Elektrokochleographie: akustische Reize
▬ Promontorialtest: Applikation biphasischer Stromimpulse
▬ Zur klinischen Diagnostik geeignet (# Kap. 3.3.2)
Anatomie des auditorischen Nervensystems
Aufsteigende Hörbahn
▬ »Klassisches« (tonotopes) System:
– 3 Hauptrelaisstationen zwischen Hörnerv und primärem auditorischen Kortex:
– 1. Umschaltung (Hirnstamm): Ncl. cochlearis
(dorsaler – hier terminieren v. a. afferente Fasern
– und ventraler Anteil) über oberen Olivenkomplex der ipsilateralen und kontralateralen Seite
(von Neuronen des ventralen Kochleariskerns)
sowie Lemniscus lateralis der Gegenseite (vom
dorsalen Kochleariskern)
– 2. Umschaltung (Mesenzephalon): Colliculus inferior (größter auditorischer Kern)
– 3. Umschaltung (Thalamus): Corpus geniculatum
mediale
– häufige Aufzweigungen → Zunahme der Nervenfasern in Richtung Kortex
– häufig beidseitige Verbindungen durch zusätzliche
Kreuzung der Fasern, v. a. in oberem Olivenkomplex, Colliculus inferior und auditorischem Kortex
(⊡ Abb. 3.2)
▬ »Diffuses« (»polysensorisches«) System:
– projiziert (im Gegensatz zum tonotopen System)
über den dorsalen Anteil des Corpus geniculatum mediale (z. B. zum sekundären auditorischen
Kortex unter Umgehung des primären auditorischen Kortex und über eine kürzere Verbindung
primäre Hörrinde
Hörstrahlung
Corpus geniculatum
mediale
Colliculus inferior
(Vierhügelplatte)
Nucleus lemnisci
lateralis
Lemniscus
lateralis
Olivia
superior
Kochlea
Nucleus cochlearis ventralis
Nucleus cochlearis dorsalis
links
rechts
⊡ Abb. 3.2. Schematische
Darstellung der Hörbahn
3
152
3
Kapitel 3 · Ohr
als beim tonotopen System) subkortikal (unbewusst) zur Amygdala (limbisches System, Emotionen)
– Verbindungen zur Formatio reticularis
– empfängt Informationen anderer sensorischer Systeme (visuell, somatosensorisch)
Absteigende Hörbahn
▬ Im Wesentlichen parallel zur aufsteigenden Hörbahn (aber reziprok, vom Kortex zu den Haarsinneszellen)
▬ Modulation der Aktivität niederer durch höhere Zentren
▬ Am besten untersucht: mediales olivokochleäres System zu den äußeren Haarsinneszellen und laterales
olivokochleäres System zu den Dendriten der afferenten (Typ-I-)Nervenfasern unterhalb der inneren
Haarsinneszellen
Separation auditorischer Information im auditorischen
System
▬ Parallelverarbeitung: die gleichen Informationen
werden in verschiedenen Neuronenpopulationen verarbeitet; Grundlage ist die Aufzweigung der Nervenfasern in der Hörbahn
▬ Stream-Segregation: verschiedene Informationen
eines akustischen Signals werden in verschiedenen
Neuronenpopulationen verarbeitet (vgl. Segregation
der Objektinformation – »Was?« – und der Rauminformation – »Wo?« – im visuellen System)
Auditorischer Kortex
▬ Anatomische Unterteilung: Heschl-Querwindung,
Planum temporale, Gyrus temporalis superior, Sulcus
temporalis superior
▬ Funktionelle Unterteilung: primärer, sekundärer und
tertiärer auditorischer Kortex
▬ Tonotope Organisation von untergeordneter Bedeutung
▬ Analyse komplexer Schallsignale und Diskrimination
auditorischer Zeitmuster
Schallsignalkodierung in Hörnervenfasern
▬ Zeitdauer der Aktivierung
▬ Schalldruckpegel → Entladungsrate (nichtlinear, Sättigungsverhalten)
▬ Frequenz:
– Frequenzselektivität der Basilarmembran (Tonotopie) als Voraussetzung für das Ortsprinzip der Frequenzunterscheidung
– Phasenkopplung der Nervenaktivität als Grundlage der zeitlichen Auflösung des Schallsignals (bis
ca. 5 kHz)
▬ »Tuning-Kurven« (Frequenzabstimmkurven) von
Hörnervenfasern zeigen die niedrigste Schwelle bei
Bestfrequenz (charakteristische Frequenz); eine Hörnervenfaser wird entsprechend ihrem Innervationsort
in der Kochlea dann am stärksten erregt, wenn im
Schallsignal eine Frequenzkomponente enthalten ist,
die an diesem Ort die Haarzellen am stärksten reizt
→ jede Hörnervenfaser besitzt die Eigenschaft eines
Frequenzfilters in Form ihrer Frequenzabstimmungsbzw. Tuning-Kurve
Frequenzselektivität
▬ Erreichen eines differenzierten Tonhöhenunterscheidungsvermögens
▬ Charakteristische Eigenschaft des gesamten auditorischen Nervensystems
Tonotope Anordnung
▬ Bestimmte Nervenfasern/Zellen in Hörnervenkernen
und im auditorischen Kortex sind für bestimmte Frequenzen maximal sensitiv
Binaurales (stereophones) Hören
▬ Verbessert Sprachdiskrimination vor Hintergrundgeräuschen/im Störlärm
▬ Physikalische Grundlage für Richtungshören in der
Horizontalebene: dieses kommt infolge des Schallschattens des Kopfes über die Schalldruck-, die
Frequenz- und die Zeitdifferenz zustande (s. oben,
»Schallübertragung zur Kochlea«)
> Wichtig
Physiologie des auditorischen
Nervensystems
▬ Jede Nervenfaser hat eine Frequenz, durch die sie am
leichtesten in Erregung versetzt wird (Bestfrequenz)
und die der entsprechenden Frequenz auf der Basilarmembran zugeordnet ist (Tonotopie; s. oben, »Physiologie der Kochlea«)
▬ Bei höheren Frequenzen werden mehrere Nervenfasern zusammengeschaltet
Sprache wird über eine Analyse der Zeitstruktur und der
Intensitätsunterschiede sowie über akustische Erkennungsmuster verständlich gemacht.
Akustisch evozierte Potenziale im auditorischen
Nervensystem
▬ Alle neuralen Strukturen der aufsteigenden Hörbahn
können akustisch evozierte elektrische Potenziale er-
153
3.2 · Physiologische Grundlagen
zeugen (diese können durch Elektroden abgeleitet
werden)
▬ Evozierte Potenziale des Hörnervs repräsentieren eine
fortgeleitete Nerventätigkeit
▬ Zahl der Impulse steht im Verhältnis zur Lautstärke
und zur Frequenz
▬ Hirnstammpotenziale (»auditory brainstem response«) bestehen aus 5 charakteristischen Wellen
(# Kap. 3.3.2)
Akustischer Mittelohrreflex
▬ Kontraktion des M. stapedius bei akustischer Stimulation ab 85 dB HL (»hearing level«; # Kap. 3.3.2; bei
Normalhörenden)
▬ Latenz: 25–100 ms
▬ Afferenter Schenkel des Reflexbogens: VIII. Hirnnerv; efferenter Schenkel: VII. Hirnnerv (multiple
Verschaltungen, u. a. Ncl. cochlearis, obere Olive,
Ncl. facialis)
▬ Stärke der Muskelkontraktion steigt mit Stärke des
Schallreizes
▬ Einseitige akustische Stimulation führt zu ipsi- und
kontralateraler Kontraktion, ipsilaterale Schwelle etwas niedriger
▬ Kontraktion des M. stapedius verringert die Schallübertragung auf die Kochlea (v. a. für tiefe Frequenzen) → Änderung der akustischen Impedanz des
Ohres (klinische Anwendung: # Kap. 3.3.2)
Pathophysiologische Aspekte der
Innenohrschwerhörigkeit
▬ Schwerhörigkeit ist ein Symptom des Hörsystems
▬ Schädigungen des Hörsystems führen i. A. zu einer
Hörverschlechterung und/oder Tinnitus
▬ Einteilung der Schwerhörigkeit:
– Schallleitungsschwerhörigkeit
– Innenohrschwerhörigkeit
– retrokochleäre/zentrale Schwerhörigkeit
> Wichtig
Pathophysiologisch können verschiedene Funktionsstörungen im Innenohr zur Schwerhörigkeit führen. Dazu
gehören: Dysfunktion der kochleären Ionenhomöostase,
der Haarsinneszelltransduktion, der Elektromotilität der
Haarsinneszellen, der synaptischen Transmission oder der
neuronalen Erregungsbildung und -leitung.
▬ Aktuell sind diese Funktionsstörungen Gegenstand
intensiver molekularbiologischer und zellphysiologischer Forschung, insbesondere an Mausmutanten, häufig mit Parallelitäten zu humanen, genetisch
(meist nichtsyndromal) bedingten Innenohrschwerhörigkeiten21
▬ Besondere Bedeutung der Ionenhomöostase im Innenohr (insbesondere Kaliumhomöostase); beteiligte
Mechanismen: aktive Kaliumsekretion in der Stria vascularis, Kaliumreflux aus den Haarsinneszellen und
Kalium-Recycling zur Stria vascularis über epitheliale
und mesenchymale »Gap-junction«-Systeme (Störungen der Ionenhomöostase sind in der Regel von einer
Reduktion des endokochleären Potenzials begleitet)
▬ Einteilung der Innenohrschwerhörigkeit nach anatomisch-funktionellen Gesichtspunkten prinzipiell in
2 Hauptgruppen bzw. 4 verschiedene Typen22 (Modell
ist auch auf den Tinnitus anwendbar; # Kap. 3.6.4):
– sensorische Innenohrschwerhörigkeit (Störung einer der 3 verschiedenen sensorischen Funktionselemente; Typen I–III):
– Typ I (Motorinnenohrschwerhörigkeit): Störung
oder Funktionsverluste der Motilität äußerer
Haarzellen mit Verschlechterung der Hörschwelle
(innere Haarzellen haben eine Erregungsschwelle
von 50–70 dB); die durch die Verstärkung erzeugte scharfe Spitze der Wanderwelle geht verloren → Verlust der Sprachdiskrimination, Auftreten eines Rekruitment (Verlust der nichtlinearen Verstärkung der Wanderwelle; # Kap. 3.3.2),
Einschränkung des räumlichen Hörens und der
Signalerkennung vor Hintergrundgeräuschen
– Typ II (Transduktionsinnenohrschwerhörigkeit):
Ausfall der mechanoelektrischen Schalltransduktion an den inneren Haarsinneszellen; Innenohrschwerhörigkeit von >50–70 dB bis Taubheit
möglich
– Typ III (Transformationsinnenohrschwerhörigkeit;
Synonym: kochleosynaptische oder Signaltransferinnenohrschwerhörigkeit): Störung der Funktion
der Synapse zwischen inneren Haarzellen und afferenten Hörnervenfasern (auditorische Synaptopathie/Neuropathie, Einschränkung der zeitlichen
Verarbeitung akustischer Signale mit schlechtem
Sprachverstehen, insbesondere im Störgeräusch
ohne Korrelation zum Tonaudiogramm: »Hören,
ohne zu verstehen« → geringer Nutzen einer Hörgeräteversorgung, Störung des räumlichen Hörens
und Störung der Tonhöhendiskrimination bei
niedrigen Frequenzen; # Kap. 3.6.4); klinisch kann
Typ III derzeit nicht von Typ II abgegrenzt werden
– extrasensorische Innenohrschwerhörigkeit (Typ IV):
alle übrigen, d. h. extrasensorischen sensorineura21
22
Strenzke et al. (2008)
Zenner u. Zimmermann (2002)
3
154
3
Kapitel 3 · Ohr
len Mechanismen der Innenohrschwerhörigkeit,
v. a. Störung der Stria vascularis, z. B. durch eine
Durchblutungsstörung, die sich im gesamten Innenohr bemerkbar macht (eine Innenohrschwerhörigkeit Typ IV wird also eher bei einer pantonalen,
weniger bei einer Hochtoninnenohrschwerhörigkeit vorliegen)
▬ Mischformen sind möglich und nicht selten
▬ Aus Anamnese, evtl. bekannter Ätiologie und begleitenden audiologischen Symptomen/Befunden können ggf. klinische Rückschlüsse auf den Entstehungsmechanismus, den Entstehungsort und die mögliche
pharmakologische Therapie erfolgen
Literatur
Böhme G, Welzl-Müller K (2005) Audiometrie. Hörprüfungen im Erwachsenen- und Kindesalter, 5. Aufl. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle
Hellbrück J, Ellermeier W (2004) Hören. Physiologie, Psychologie und
Pathologie, 2. Aufl. Hogrefe, Bern Toronto Seattle
Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl.
Thieme, Stuttgart New York
Møller AR (2006) Hearing: Anatomy, physiology, and disorders of the
auditory system, 2nd edn. Academic Press Elsevier, Burlington
San Diego London
Strenzke N, Pauli-Magnus D, Meyer A, Brandt A, Maier H, Moser T
(2008) Update zur Physiologie und Pathophysiologie des Innenohrs: Pathomechanismen der sensorineuralen Schwerhörigkeit.
HNO 56: 27–36
Wangemann P, Schacht J (1996) Homeostatic mechanisms in the
cochlea. In: Dallos P, Popper AN, Fay RR (eds) Springer handbook
of auditory resaerch. The Cochlea. Vol. 8. Springer, New York, pp
130–186
Zenner H-P (1994) Hören: Physiologie, Biochemie, Zell- und Neurobiologie. Thieme, Stuttgart New York
Zenner H-P, Zimmermann U (2002) Pathophysiologie der chronischen Innenohrschwerhörigkeit. In: Biesinger E, Iro H (Hrsg.)
HNO-Praxis heute. Bd 21. Springer, Berlin Heidelberg New York
Tokyo, S. 1–26
3.2.2 Tuba auditiva ( Tuba Eustachii)
Anatomie
▬ Länge: 31–38 mm (Erwachsene)
▬ Zwischen Vorderwand des Mittelohrs und Seitenwand des Nasopharynx (# Kap. 3.1.2)
▬ Medial und kranial: Tubenknorpel
▬ Lateral angrenzend: Ostmann-Fettkörper und M. tensor veli palatini
▬ Im Laufe des Schädelwachstums erhebliche Veränderungen von Form und Größe:
– Säugling/Kleinkind: gerade, kurze Röhre, 20 mm
lang
– Erwachsene: 2fach im Raum angulierte Röhre
▬ Abschnitte: knorpliger (Pars cartilaginea) und knöcherner Teil (Pars ossea); funktionelle Engstellen treten fast immer in der Pars cartilaginea auf
▬ Tubenlumen entspricht im Querschnitt einem flachgedrückten Schlauch
– kaudaler Abschnitt des Tubenquerschnitts: Mukosafalten, Becherzellen und Drüsen (Produktion von
Schleim)
– kranialer Abschnitt: Zylinderepithel
– der kraniale Abschnitt ist von allen Seiten mit
Knorpel umgeben, sodass er im Querschnitt eine
charakteristische Hirtenstabform hat (enges, schlitzförmiges Lumen mit Erweiterung zum kranialen
Anteil hin)
– nur im kranialen Abschnitt findet die Ventilation
statt (sog. Rüdinger-Sicherheitskanal; immer offener Raum, von Luft oder Schleim ausgefüllt)
▬ Einflussgrößen auf die Funktion der Tuba auditiva:
– elastische Spannung des Tubenknorpels
– Druck des peritubaren Gewebes (z. B. OstmannFettkörper)
– Oberflächenspannung des Schleimfilms im Lumen
der Tube
– Form und Länge der Tuba auditiva (v. a. bei Kindern: kurze, gerade Tube)
– muskuläre Compliance
M. tensor veli palatini
R. Leuwer
Definition der Tubenfunktion
▬ Schlüsselposition in der Physiologie des Mittelohrs
durch:
– Ventilation: Be- und Entlüftung des Mittelohrs
– Drainage von Flüssigkeiten aus dem Mittelohr
– Protektion des Mittelohrs vor Schalldruck, Luftdruckschwankungen, Keimen und Körperflüssigkeiten aus dem Pharynx (besondere Bedeutung
beim Syndrom der klaffenden Tube: Autophonie
und Ohrdruck)
▬ Innervation: N. mandibularis
▬ Befindet sich in einer unbeweglichen Schädelbasisnische (zwischen der Unterfläche des Keilbeinflügels
und dem Proc. pterygoideus)
▬ Als isometrisch kontrahierender Muskel definiert
er seine Funktion nur mit Hilfe sog. Hypomochlien
(Ankerpunkte):
– Hamulus pterygoideus
– Ostmann-Fettkörper
– M. pterygoideus medialis
▬ Durch Kontraktion öffnet bzw. erweitert der M. tensor veli palatini die kranialen Tubenabschnitte und
155
3.2 · Physiologische Grundlagen
komprimiert gleichzeitig die kaudalen; damit hilft er
gleichzeitig bei der Ventilation (kranial) und bei der
Drainage durch Auspressen der Sekrete in Richtung
Pharynx (basal)
▬ Einziger Tubenöffner; andere Muskeln haben für die
Tubenfunktion wahrscheinlich keine Bedeutung
Physiologie
▬ Im Ruhezustand ist die Tuba auditiva geschlossen
▬ Komplexes Zusammenspiel von Tubenmuskulatur,
Ostmann-Fettkörper und Tubenknorpel
▬ Öffnet sich durch Kontraktion des M. tensor veli palatini beim Schlucken und Gähnen
▬ Gähnen erleichtert die Tubenöffnung durch Relaxation und Lateralbewegung des M. pterygoideus bei
der weiten Mundöffnung (sog. Eppendorf-Manöver)
▬ Dauer der Tubenöffnung: 400 ms
▬ Tubenöffnung erfolgt beim wachen Erwachsenen einmal pro Minute, während des Schlafes einmal alle
5 min
▬ Tubenschluss: passiv durch peritubaren Gefäßplexus
und Ostmann-Fettkörper
Literatur
Bluestone CD (2005) The eustachian tube: structure, function and role
in the middle ear. BC Decker, Hamilton London
Leuwer R, Schubert R, Wenzel S, Kucinski T, Koch U, Maier H (2003)
Neue Aspekte zur Mechanik der Tuba auditiva. HNO 51: 431–437
Pahnke J (2000) Morphologie, Funktion und Klinik der Tuba Eustachii.
Laryngorhinootologie 79 (Suppl 2): S1–S21
3.2.3 Gleichgewicht
M. Reiß, G. Reiß
Aufbau des Gleichgewichtssystems
▬ Peripherer und zentraler Anteil
▬ Vestibulookulärer Reflex (VOR)
▬ Vestibulospinaler (propriozeptiver) Anteil
Aufgaben des Gleichgewichtssystems
(sensomotorische Integrationsfunktionen)
▬ Räumliche Orientierung (Information über die Stellung des Kopfes im Raum – perzeptiv)
▬ Informationen über das Einwirken von linearen und
angulären Beschleunigungskräften
▬ Koordination und Regulation der Augenbewegungen
(damit bei Kopfbewegungen ein Blickziel möglichst
schnell und scharf gesehen werden kann – okulomotorisch)
▬ Koordination von Bewegungsabläufen durch Einflüsse auf die Skelettmuskulatur und die Gewährleistung eines Reflextonus (Aufrechterhaltung der Körperhaltung – postural)
> Wichtig
Das Gleichgewichtssystem kann seine komplexen Funktionen nur mit anderen Sinnessystemen gemeinsam
erfüllen.
Sinnesepithelien des vestibulären Labyrinths
▬ Sie befinden sich in den Ampullen der 3 Bogengänge
und im Otolithenapparat
▬ 2 Typen vestibulärer Haarzellen: flaschenförmige
Typ-I- und zylindrisch geformte Typ-II-Haarzellen
▬ Funktionieren als mechanosensorische Rezeptoren
(Reizung durch Dreh- oder Linearbeschleunigung →
mechanoelektrische Transduktion)
▬ Rezeptorpol beider Zelltypen enthält Stereozilien (bei
Aufsicht hexagonale Anordnung)
▬ Scherbewegung der Sinneshärchen als adäquater Reiz
▬ Ampullen der Bogengänge:
– lateral des Stereozilienbündels befindet sich eine
Kinozilie
– Stereozilien und Kinozilie tauchen in Cupula ein
– Ablenkung der Cupula durch den Endolymphstrom
– Verbiegung in Richtung Kinozilie → Depolarisation (exzitatorisch)
– Bewegung in die entgegengesetzte Richtung → Hyperpolarisation (inhibitorisch)
– lateraler Bogengang:
– Verbiegung in Richtung Utrikulus: exzitatorisch
– Verbiegung in Gegenrichtung: inhibitorisch
▬ Macula utriculi et sacculi:
– Stereozilien besitzen an der Oberfläche eine Membran (Otolithenmembran)
– enthält Kalziumsteinchen (Otolithen, Statolithen
bzw. Otokonien, Ohrsteinchen)
– Bewegung → Informationen über lineare Beschleunigung und Position des Kopfes im Raum
Bogengänge
▬ Funktion: Regulation der Blickführung
▬ Ampulle beherbergt den Rezeptor der Drehbeschleunigung (besteht aus der Cupula, welche auf der Crista
ampullaris wie auf einem Scharniergelenk gelagert
ist)
▬ Bewegung wird durch subcupularen Raum ermöglicht
3
156
Kapitel 3 · Ohr
Otolithenorgane
3
▬ Funktion: Kontrolle von Stand und Gang
▬ Macula bzw. Sinneszellansiedlungen im Vestibulum
des Labyrinths
▬ Dienen der Messung geradliniger Beschleunigungen
(z. B. der Schwerkraft)
▬ Macula sind von einer Membran mit prismatischen
Kalziumkarbonatkristallen (Otolithen) bedeckt; wie
an der Cupula führt eine Tangentialverschiebung dieser Membran zur Verbiegung der Sinneshärchen →
Aktivierung bzw. Hemmung in Abhängigkeit von der
Bewegungsrichtung
▬ Einheitliche Polarisation der Sinneszellen in den Cristae, dagegen kompliziertere funktionelle Verhältnisse
in den Maculae
▬ Durch bogenförmig verlaufende Grenzlinie (Striola)
Teilung der Sinnesepithelien in 2 Hälften
▬ Sinnespolarisationen der Otolithenorgane verlaufen
nicht parallel, sondern entsprechend bogenförmig
(sind damit in allen Richtungen einer Ebene vorhanden)
▬ Hauptachsen der beiden Otolithenorgane Sakkulus
und Utrikulus stehen in einem Winkel von 90° zueinander (Sakkulus steht senkrecht)
▬ Zur Horizontalen bilden die horizontalen Bogengänge
und die Utrikuli einen nach vorne offenen Winkel
von 30°
▬ Beim Gehen (auf unebener Ebene) leichte Neigung
des Kopfes nach vorne → weitestgehend horizontale
Ausrichtung der horizontalen Bogengänge und der
Utrikuli – optimale Arbeitsebene
▬ Nn. utriculares et sacculares → oberer Anteil des
Ggl. vestibulare (Scarpae)
▬ Ein Nerv zieht vom Sakkulus zum Ggl. vestibulare
inferior
▬ Alle Cristae (vorderer und lateraler N. ampullaris) →
oberes vestibuläres Ganglion
▬ Hinterer Bogengang → N. singularis und N. ampullaris posterior → Ggl. vestibulare inferior
▬ Im Ggl. vestibulare Nervenzellen des 2. Neurons
▬ Efferente Bahnen steuern Typ-I- und Typ-II-Zellen
(ohne Spezifität)
Vestibulariskerne (Medulla oblongata)
▬ Ermöglichen durch multisynaptische Verschaltung
die Integration der einzelnen Informationen
▬ Nehmen vestibuläre Reize und Bewegungsinformationen aus visuellen und propriozeptiven Sinnessystemen entgegen
▬ 4 Vestibulariskerne:
– Ncl. vestibularis superior (Bechterew): Blickfeldmotorik bzw. vestibulookulärer Reflex
– Ncl. vestibularis lateralis (Deiters): Stützmotorik
bzw. statische Reflexe
– Ncl. vestibularis medialis (Schwalbe): Blickfeldmotorik bzw. vestibulookulärer Reflex
– Ncl. vestibularis inferior: Integration der Reizeingänge und Zerebellum
▬ Kerngebiete sind durch Kommissurenfasern miteinander verbunden (internukleäre Verbindungen) → ermöglicht Kompensation einseitiger Labyrinthausfälle
> Wichtig
Von besonderer klinischer Bedeutung ist die Lage der
Otolithenorgane in unmittelbarer Nähe zur Fenestra
vestibuli bei Gleichgewichtsstörungen nach Stapesplastik
(Abstände zum ovalen Fenster von dessen oberem Rand
zum Utrikulus mit 0,3 mm am geringsten; Distanz zwischen Steigbügelfußplatte und Sakkulus: vorne 0,75 mm,
hinten 1,6 mm, im mittleren Anteil der Fußplatte etwa
1 mm).
Wichtige Afferenzen und Efferenzen
▬ Siehe auch unten, »Vestibulookulärer Reflex«
▬ Vestibuläre Rezeptoren → über N. vestibularis in die
vestibulären Kerne der Medulla oblongata
▬ N. vestibularis (Pars vestibularis superior et inferior)
und N. cochlearis → innerer Gehörgang
▬ Zum Ggl. vestibulare (am Boden des inneren Gehörgangs) ziehen vorwiegend afferente und nur wenige
efferente Fasern
Vestibulookulärer Reflex (VOR)
▬ Reflektorisch ausgelöste langsame Augenbewegungen
▬ Dient Stabilisierung von Blickzielen auf der Retina bei
Kopfbewegungen
▬ Über einen Reflexbogen aus 3 Neuronen verschaltet
(sog. 3-Neuronen-Reflexbogen, Kernstück des VOR)
▬ Labyrinth → Vestibularisnerven (1. Neuron; Ggl. vestibulare im inneren Gehörgang) → Vestibulariskerngebiet/vestibuläre Projektionen im Hirnstamm
(Fasciculus longitudinalis medialis, Brachium conjunctivum, aufsteigender Deiters-Trakt; 2. Neuron im
Vestibulariskerngebiet) → Kerngebiete der okulomotorischen Hirnnerven der Gegenseite (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens; 3. Neuron)
▬ Aufgabe: Stabilisierung des Blickfelds – kompensatorische Augenbewegungen während Kopf- oder Körperbewegungen (sonst Auftreten von Oszillopsien,
d. h. ein betrachtetes Objekt wäre während einer Bewegung an verschiedenen Retinaorten abgebildet)
157
3.2 · Physiologische Grundlagen
▬ Außer der okulomotorischen Projektion des VOR besteht eine weitere, zum vestibulären Kortex ziehende
Projektion (Raumorientierung und Wahrnehmung)
▬ VOR verfügt über 3 Schenkel: okulomotorischer, perzeptiver und posturaler Schenkel → Schädigung kann
die einzelnen Symptome/Charakteristika des vestibulären Schwindels erklären (Nystagmus, Schwindel,
Fallneigung)
▬ Aufbau des VOR erklärt rasche Generierung der
kompensatorischen Augenbewegungen
▬ Leitungszeit beträgt nur etwa 20 ms (ermöglicht nahezu gleichzeitige Augenbewegungen während Kopfbewegungen)
▬ VOR auch durch hohe Plastizität gekennzeichnet
(nach Neuanpassung einer Brille muss VOR neu einreguliert werden, dies erfolgt innerhalb weniger Stunden)
▬ 3 Hauptrichtungen des VOR bzw. der von ihm generierten Augenbewegungen (bei Klassifizierung des
zentralen Schwindels wichtig; ⊡ Abb. 3.3):
– horizontal: bei Kopfbewegungen um die vertikale
Körperlängs-(Z-)Achse (»yaw«)
– vertikal: Beugung und Reklination des Kopfes in
sagittaler Richtung um die horizontale binaurale
Y-Achse (»pitch«)
– torsionell: bei seitliche Bewegungen des Kopfes um
die Seh-(X-)Achse (»roll«)
> Wichtig
Der Gleichgewichtssinn wird erst dann bewusst, wenn
eine Störung des Gleichgewichtssystems in Form von
Schwindel auftritt.
Optokinetischer Reflex (Nystagmus,
Rucknystagmus/»jerk«)
▬ Unwillkürliche, rhythmische Augenbewegungen mit
einer langsamen und einer entgegengesetzten schnellen Phase
▬ Stabilisierung visueller Ziele auf der Retina bei Kopfoder Körperbewegungen
▬ Optokinetische Reizung → schnelle Rückstellbewegungen der Augen (Sakkaden; # Kap. 3.3.4, ⊡ Tab. 3.7)
→ Nystagmus
▬ Optokinetischer Nystagmus besteht aus:
– schnelle Phase: Sakkaden (Rucke)
– langsame Phase:
– direkte Komponente: langsame Folgebewegungen (beginnt sofort nach Reizung)
– indirekte Komponente: Ausdruck des Geschwindigkeitsspeicherungsmechanismus
Vestibulospinaler Reflex
▬ Über sensible und Mechanorezeptoren Vermittlung
von Informationen über Glieder- bzw. Muskelspannung
▬ Unwillkürliche Kontrolle der Spinalmotorik (Kontrolle des Ruhetonus der Streckmuskulatur)
▬ Aufrechterhaltung der Körperhaltung
▬ Projektion, die vom Vestibulariskerngebiet über den
medialen oder lateralen vestibulospinalen Trakt zieht
und für die Haltungsregulation verantwortlich ist
Funktionelle Aspekte der vestibulären Rezeptoren
Bogengänge
▬ Reagieren vorzugsweise auf:
– anguläre Reizvorgänge bzw. Winkelbeschleunigung
(Kopfbewegungen oder Karussellfahren) – messen
die Drehbeschleunigung
– thermische Reize
– Vibration
Rotation
⊡ Abb. 3.3. Hauptrichtungen des vestibulookulären Reflexes
▬ Cupula wird bei Rotation durch die Trägheit der Endolymphe zum Bogengang ausgelenkt
▬ Horizontale Drehung → trägheitsbedingte Zurückbewegung der beiden horizontalen Bogengänge bzw. der
Endolymphe → Auslenkung der Cupulae in der zur
Winkelbeschleunigung entgegengesetzten Richtung
▬ Erreichen einer konstanten Drehung → allmähliches
Zurückgehen der Cupulae (aufgrund der Eigenelastizität) in die Ausgangslage
▬ Schnelles Abbremsen der Rotation → Bewegung der
Cupulae in entgegengesetzte Richtung
3
158
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Rotation nach rechts:
– rechter Bogengang: Cupulaauslenkung zum Utrikulus (utrikulopetal) → Depolarisation → Steigerung
der Spontanaktivität mit entsprechender Nervenreizung
– linker Bogengang: Cupulabewegung vom Utrikulus
weg (utrikulofugal) → Auslenkung zur entgegengesetzten Seite → Hyperpolarisation → Verminderung der Aktionspotenzialrate
▬ Über mediale Längsbündel Fortleitung der Nervenimpulse zu den ipsilateralen Augenmuskelkernen
▬ Aufgrund des VOR entsteht bei Rotation nach rechts
zunächst eine langsame Augenbewegung in die entgegengesetzte Richtung des Reizes, d. h. nach links →
zentrale Generierung einer schnellen Rückstellbewegung des Auges (schnelle Phase des Nystagmus)
▬ Drehbeschleunigungen können aufgrund der 3 Bogengänge dreidimensional wahrgenommen werden
▬ Raumebene eines Bogengangs korreliert mit einer
Hauptzugrichtung eines verschalteten Augenmuskels:
– horizontaler Bogengang: horizontale Augenbewegung
– oberer bzw. vorderer Bogengang: Bewegung der
Augen nach oben mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang
– hinterer Bogengang: Bewegung der Augen nach unten mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang
▬ Paramediane Formatio reticularis der Pons: wesentliches Integrationszentrum für die Augenbewegungen,
z. B. Kontrolle horizontaler Sakkaden durch prämotorische Burst-Neurone mit monosynaptischen Eingängen auf den N. abducens
Thermische Reizung
▬ Kalt- und Warmspülung des Gehörgangs → vestibuläre Reizung
▬ Abhängig von Temperatur und Kopfhaltung
▬ Durch Wärmeleitung und -strahlung
▬ Bárány23 im senkrecht gestellten horizontalen Bogengang (Kopf im Liegen um 30° nach vorne geneigt)
→ thermischer Reiz → Konvektion (Strömung der
Endolymphe durch Dichteänderung)
▬ Im schwerelosen Raum Auslösung von thermischen
vestibulären Reizungen möglich (Strömung durch
Unterschiede der Dichte kann es dort nicht geben;
Prinzip der Konvektionsströmung kann Phänomen
nicht ausreichend erklären)
▬ Warmspülung → utrikulopetal gerichtete Endolymphströmung
23
Robert Bárány (1876–1936), Otologe, Wien/Uppsala, Nobelpreis für
Physiologie und Medizin 1914/1916 für seine Arbeiten über Physiologie und Pathologie des Vestibularapparats
▬ Kaltspülung → utrikulofugal gerichtete Endolymphströmung
> Wichtig
Die Bogengänge lassen sich thermisch (isoliert; lateraler
Bogengang grenzt an Hinterwand des äußeren Gehörgangs) und rotatorisch (Drehprüfung) reizen.
Otolithen
▬ Reagieren auf lineare Reize (Gravitation bei Normalstellung des Kopfes, im Aufzug oder bei Beschleunigen oder Bremsen eines Autos)
▬ Durch eine lineare Beschleunigung werden die gegenüber der Endolymphe träger reagierenden Otolithen
bewegt, sodass sie schließlich in den afferenten Nerven Impulse auslösen
Augenbewegungen
▬ Einteilung: langsame und schnelle Augenbewegungen
▬ Nystagmus (s. auch oben, »Optokinetischer Reflex«):
– Richtung: schnelle Phase (leichter zu beobachten);
schnelle Augenbewegungen können unwillkürlich
(vestibulär, optokinetisch) oder willkürlich auftreten
– langsame Komponente: kompensatorische Augenbewegungen des VOR
– Ursachen:
– peripher: z. B. periphere Vestibulopathie (bzw.
periphere Vestibularisstörung), Morbus Menière
(im Anfall), Labyrinthitis, Felsenbeinfraktur, benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
– zentral: z. B. Multiple Sklerose, Tumor, vorangegangenes Schädel-Hirn-Trauma, Alkoholkonsum
Vestibuläre Kompensation
Definition
▬ Vorgänge, die den Verlust eines der Rezeptororgane
mehr oder weniger ausgleichen (Ausgleichsmechanismen)
▬ Zeit- und altersabhängiger neuronaler Prozess, an
welchem mehrere Sinnesmodalitäten beteiligt sind
Mechanismen und Systeme
▬ Zelluläre Regeneration: funktionelle Erholung der geschädigten Rezeptoren oder Neurone
▬ Spontanheilung: vergleichbar mit Hörsturz
▬ Vestibuläre Adaptation: Reduzierung der Reizantwort
während eines einmaligen kontinuierlichen Reizes
▬ Substitution: entsprechende Funktionen werden
durch andere Organsysteme übernommen bzw. ersetzt oder gesteuert
159
3.3 · Diagnostik
▬ Habituation: Reduzierung der Symptome nach beständig wiederholten spezifischen Reizen auf einer
anderen Empfindlichkeitsstufe
Voraussetzungen
▬ Ungestörte höhere Hirnfunktionen (zu beachten: Alter, eventuelles Schädel-Hirn-Trauma, Grundkrankheiten, Medikamente – alle sedierenden Antivertiginosa, ACTH-Antagonisten, Kalziumantagonisten und
Alkohol hemmen die Kompensation; Prednisolon,
Koffein und Amphetamin fördern die Kompensation)
▬ Kompensation wird durch aktive Bewegungsübungen
in Form von speziellen Trainingsprogrammen erheblich gefördert und beschleunigt
> Wichtig
Bei peripheren (einseitigen) vestibulären Störungen ist
eine Kompensation eher möglich als bei zentralen. Das
Ausmaß hängt bei Letzteren vom Ort und vom Umfang
der Schädigung ab.
Literatur
Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system.
Oxford University Press, New York Oxford
Brandt T (2003) Vertigo: Its multisensory syndromes. Springer, London
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Desmond A (2004) Vestibular function. Evaluation and treatment.
Thieme, Stuttgart New York
Hamid M, Sismanis A (2006) Medical otology and neurotology: A clinical guide to auditory and vestibular disorders. Thieme, Stuttgart
New York
Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston
Stoll W, Most E, Tegenthoff M (Hrsg.) (2004) Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Diagnostik, Klinik, Therapie, Begutachtung. Ein interdisziplinärer Leitfaden für die Praxis. Thieme, Stuttgart New York
3.3
Diagnostik
3.3.1 Anamnese, klinische Untersuchung
und Funktionsprüfungen
Missempfindungen
▬ Völlegefühl, Ohrdruck oder Juckreiz
▬ Charakter, Lokalisation und zeitlicher Ablauf
▬ Ursachen beachten: äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr,
innerer Gehörgang, in der Nachbarschaft des Ohres
gelegene Strukturen (Speicheldrüsen, Kiefergelenk,
Lymphknoten)
Otorrhö (Ohrenlaufen, Ausfluss)
▬ Geruch: geruchlos, fade, fötide
▬ Beschaffenheit: serös, schleimig, eitrig, fadenziehend,
blutig, wässrig (z. B. Liquor)
▬ Quantität: spärlich, profus
▬ Kombination mit anderen Ohrsymptomen (Schmerz,
Brennen, Juckreiz)
Hörstörungen (Dysakusis)
▬ Schwerhörigkeit:
– familiäre Schwerhörigkeit
– Kinderkrankheiten
– Autoimmunkrankheiten
– ototoxische Medikamente
– jetzige Beschwerden: Entwicklung (akut, chronisch,
allmähliche Verschlechterung, fluktuierend), Ausmaß, Art, Tinnitus, Schwindel
– Unfälle mit Kopf- oder Halswirbelsäulenbeteiligung
▬ Diplakusis (Doppelthören; Wahrnehmung mehrerer
unterschiedlicher Tonhöhen, obwohl Schallquelle nur
eine Tonhöhe produziert):
– binaurale Diplakusis: Tonhöhenempfindung unterscheidet sich auf beiden Ohren
– monaurale Diplakusis: monotisch gebotene Sinustöne werden als Mehrfachtöne und/oder Geräusch
wahrgenommen
▬ Hyperakusis: nicht einheitlich definiertes Symptom
(# Kap. 3.6.4.)
▬ Autophonie (Tympanophonie): lautes Hören bzw.
Hall der eigenen Stimme, auch des eigenen Atemgeräusches
Schwindel
M. Reiß
Anamnese
Schmerzen
▬ Otodynie: Schmerzen, die vom Ohr und seinen Strukturen ausgehen
▬ Otalgie: Schmerzen, die von ohrfernen Strukturen
ausgelöst, jedoch in das Ohr projiziert werden (z. B.
Neuralgien)
▬ Schmerzcharakter, Schmerzlokalisation
▬ Schilderung der Beschwerden mit eigenen Worten:
Dreh-, Schwank-, Lift-, Unsicherheitsgefühl, Schwarzwerden vor den Augen, Bewusstlosigkeit
▬ Verlauf der Erkrankung, Beginn und Dauer
▬ Beeinflussbarkeit, Provokation, Verstärkung, Abschwächung
▬ Andere (Nachbarschafts-)Symptome, Schwerhörigkeit, Tinnitus, neurologische Symptome
▬ Medikamente und Genussmittel
▬ Schädel-Hirn-Trauma, Allgemeinerkrankungen (HerzKreislauf- und Stoffwechselerkrankungen)
3
160
Kapitel 3 · Ohr
– Mittelohrschleimhaut: trocken, feucht, gerötet, verdickt
Tinnitus
3
▬ Charakter (Rauschen, Summen, Fiepen), Dauer, Lautheit
▬ Zusammenhang mit einer Hörstörung
▬ Belästigungsgrad
▬ Verstärkungsfaktoren (Stress, Lärm)
▬ Einfluss auf die Lebensführung (Konzentration, Leistungsfähigkeit, Probleme beim Ein- oder Durchschlafen)
▬ Maskierung durch Umgebungsgeräusche
▬ Medikamentenanamnese
Ohrerkrankungen in der Eigen- oder
Familienanamnese
▬ Familiäre Schwerhörigkeit (# Kap. 2.1.4)
▬ Ohrerkrankungen in der Familie (z. B. Otosklerose)
Klinische Untersuchung
Inspektion und Palpation
▬ Otoskopie bzw. besser Ohrmikroskopie (mit Säuberung des äußeren Gehörgangs)
▬ Endoskopie des Gehörgangs mit dünner starrer Optik
(# Kap. 1.1.3)
▬ Gegebenenfalls Untersuchung mit batteriebetriebenem Otoskop
▬ Achten auf:
– Gehörgang:
– trocken, feucht, schuppig, gerötet, Pilzrasen
– Zerumen, Fremdkörper
– Einengung, Stenose, Exostose, Tumor, diffuse
Schwellung, Defekte
– Sekretion (Abstrich, subtile mechanische Säuberung mit dem Sauger): wässrige, seröse, trübe,
fadenziehende und/oder fötide Sekretion, Eiter
(pulsierend), Blutung
– Trommelfell (4 Quadranten):
– Reflex an typischer Stelle
– vorgewölbt oder retrahiert
– Farbe (gelblich, Gefäßinjektion, diffus gerötet)
– verdickt (Kalkeinlagerungen), atrophisch
– Flüssigkeitsspiegel, Luftbläschen, Neubildung
– pulsierendes Trommelfell
– Perforation: Lokalisation, Größe, Rand, Beschaffenheit, Erreichen des Limbus, Mehrfachperforationen, Sekret
– Retraktion: Lokalisation, Ausdehnung, überschaubar oder nicht überschaubar
– Pars tensa: auf Promontorium aufliegend, Änderung bei Valsalva-Manöver
– Shrapnell-Membran: eingezogen, Cholesteatom,
Sekret
Spezielle Untersuchungen und
Funktionsprüfungen
Beweglichkeit im Siegle-Trichter (pneumatische Lupe/
Ohrtrichter nach Siegle24)
▬ Beurteilung der Trommelfellbeweglichkeit (Hammerkopffixation, Paukenerguss, kleine Trommelfellperforation)
▬ Vorgehen: Einführen des Trichters in Gehörgang, sodass der Gehörgang abgedichtet wird → Inspektion
des Trommelfells → Kompression und Dekompression des Ballons → Über- und Unterdruck im Gehörgang → normalerweise Bewegung des Trommelfells
Prüfen des Fistelsymptoms
▬ Positives Fistelsymptom: wichtigster Hinweis auf eine
Labyrinthfistel im Bereich der Bogengänge aufgrund
einer Knochenzerstörung bei Cholesteatom; weiterhin indiziert bei Verdacht auf Perilymphfistel bzw.
Fensterruptur
▬ Vorgehen: Aufsetzen eines dicht abschließenden Politzer-Ballons mit Metallolive auf den äußeren Gehörgang → vorsichtige Kompression und Dekompression
→ Über- und Unterdruck im Gehörgang
▬ Beurteilung: positives, d. h. nachweisbares Fistelsymptom bei Schwindel und Nystagmus (bei Kompression
zur erkrankten, bei Aspiration zur anderen Seite), z. B.
bei Einbruch eines Cholesteatoms in das Labyrinth
> Wichtig
Bei Nachweis von Schwindel und Nystagmus muss die
Prüfung sofort abgebrochen werden. Bei einem zu erwartenden positiven Fistelsymptom sollte man zunächst
vorsichtig mit dem Finger prüfen (Symptom kann auch
durch Alltagsreize wie z. B. Luftzug ausgelöst werden)
▬ Fistelsymptom ist von Schwindel beim Absaugen von
Radikalhöhlen abzugrenzen, da der Bogengang hier
freiliegen kann
Auskultation der Halsgefäße und der Ohrregion
▬ Indiziert bei pulsierendem Tinnitus
Glyzeroltest nach Klockhoff
▬ Methode zum Nachweis eines endolymphatischen
Hydrops (Morbus Menière)
▬ Spezifische, aber wenig sensitive Methode
24
Emil Siegle (1833–1900), Ohrenarzt, Stuttgart
161
3.3 · Diagnostik
▬ Durchführung: 1,5 g Glyzerin/kg KG 1 : 1 mit NaCl verdünnen, zusätzlich etwas Zitronensaft zur Geschmacksverbesserung beigeben → morgens nüchtern trinken
lassen → alle 60 min Tonschwellenaudiogramm
▬ Bei Hydrops Dehydratation des Labyrinths mit nachfolgender Hörverbesserung für einige Stunden, ggf.
Verschwinden des Tinnitus
▬ Positives Testergebnis: im Tonaudiogramm Anstieg
der Schwelle für 3 benachbarte Frequenzen (mindestens 10–15 dB)
Lidocaintest
▬ Intravenöse Gabe von Lidocain zur Selektion von
Patienten für eine ionotrope Therapie zur temporären
Suppression eines Tinnitus (# Kap. 13.4.4)
▬ Durchführung: i. v. Applikation von 2 mg Lidocain/
kg KG innerhalb von 20 min (internistische Kontraindikationen müssen vorher ausgeschlossen werden)
▬ Bei positivem Lidocaintest (Besserung des Tinnitus
für wenige Minuten bis zu einer halben Stunde; Registrierung der Nebenwirkungen) Therapieversuch
mit einem Antiarrhythmikum
Immunologische Diagnostik
▬ Vor allem T-Suppressorzell-Aktivität, antinukleäre
Antikörper, Serumspiegel der Immunglobuline, spontane Lymphozytenproliferation (# Kap. 3.6.3, »Immunkrankheiten des Innenohrs«)
Literatur
Beck C (1997) Differentialdiagnose: HNO-Krankheiten, 2. Aufl. Enke,
Stuttgart
Günnel F (1973) HNO-ärztliche Untersuchungstechnik. Nachdruck der
2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt
Hamid M, Sismanis A (2006) Medical otology and neurotology: A clinical guide to auditory and vestibular disorders. Thieme, Stuttgart
New York
Maurer J (Hrsg.) (1999) Neurootologie mit Schwerpunkt Untersuchungstechniken. Thieme, Stuttgart New York
Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2.
Aufl. Thieme, Stuttgart New York
3.3.2 Audiologie
A. Limberger, S. Plontke
Definition und Einteilung
▬ Audiologie: Wissenschaft vom Hören (experimentelle/klinische und angewandte Audiologie)
▬ Audiometrie: Lehre von der Funktionsprüfung des
Gehörs/Messung des Hörvermögens
– subjektive Verfahren: Untersucher auf Angaben des
Patienten angewiesen
– objektive Verfahren: Aussagen über das Hörvermögen ohne Mitarbeit des Patienten
Grundbegriffe
▬ Töne: harmonische, sinusförmige Schallschwingungen; charakterisiert durch Frequenz und Amplitude
▬ Frequenz: Anzahl der Schwingungen, die in einer
Sekunde durchlaufen werden
– Frequenz in Hertz (Hz): reziproker Wert der Wellenlänge (λ)
– Höhe der Frequenz bestimmt auch die Tonhöhe
(je höher die Frequenz, desto höher wird der Ton
empfunden)
▬ Klang: aus Teilhöhen zusammengesetzter Schall; enthält neben dem Grundton mehrere, die subjektive
Klangfarbe bestimmende Obertöne
▬ Rauschsignale: Schallschwingungen mit sich zufällig verändernden Amplituden; charakterisiert durch
Amplitudenmittelwert und Verteilung der Schallenergie
– Schmalbandrauschen: Bandbreite von einer Terz;
wird für Vertäubung bei Tonaudiometrie verwendet
– Breitbandrauschen, z. B. »weißes Rauschen« (»white
noise«):
– enthält alle Frequenzen in gleicher Lautstärke
– als gefiltertes Breitbandrauschen dem Frequenzspektrum der Sprache angepasst
– wird für Vertäubung bei der Sprachaudiometrie
und zur Prüfung der Verdeckbarkeit von Tönen
(z. B. Geräuschaudiometrie nach Langenbeck)
verwendet
▬ Lärm: Schall, der störend oder schädigend wirkt
Schallpegel
▬ Schall: Ausbreitung nur in Medien, nicht im luftleeren Raum
▬ Schallgeschwindigkeit in Luft: 340 m/s
▬ Physikalische Schalleigenschaften: z. B. Reflexion,
Beugung
▬ Schalldruck wird (linear) in Pascal (Pa; N/m2) gemessen
▬ Notwendiger Schalldruck für die Auslösung eines subjektiven Höreindrucks: 1 kHz (20 μPa bzw.
20 × 2 × 10–5 Pa =^ 0 dB); Schmerzempfindung bei etwa
200 Pa erreicht (7 Zehnerpotenzen)
– ein solch weiter Bereich von 6–7 Zehnerpotenzen kann nur logarithmisch beschrieben werden:
Schalldruck von Skalenstufe zu Skalenstufe mit 10
multiplizieren: 1, 10, 100, 1000, 10.000 etc.
3
162
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Der 20fache dekadische Logarithmus des linearen
Verhältnisses zweier Werte (20 log p/p0) wird als
Schalldruckpegel L bzw. SPL (»sound pressure level«)
bezeichnet und ist frequenzabhängig; Bezugswert ist
der absolute Schalldruck p0 (20 μPa bzw. 2 × 10–5 Pa;
geringste noch wahrnehmbare Schallintensität von
Sprache bzw. Hörschwelle für Sprache)
▬ 20 dB entsprechen einer Verzehnfachung des Ausgangsschalldrucks (oder einer Verhundertfachung
der Schallstärke), 40 dB dem Hundertfachen etc.
(⊡ Tab. 3.2); eine Steigerung des Schallpegels um 3 dB
bedeutet eine Verdopplung des Schalldrucks bzw. der
akustischen Energie (sog. 3-dB-Regel)
▬ In tiefen und hohen Tonlagen sind größere Schalldrücke erforderlich, um die gleiche schwellenhafte
Hörempfindung auszulösen (z. B. Schalldruck von
250 Hz: etwa 10faches bzw. um 20 dB größer; absolute
bzw. physikalische Darstellung der Hörschwelle, d. h.
die Kurve verläuft gekrümmt)
– Lautheitsempfinden gehorcht nicht einer geometrischen Stufung, sondern einer logarithmischen
(Weber-Fechner-Gesetz)
– Gehör bewertet Reizintensität nach einer Potenzfunktion
▬ Bei der Audiometrie interessiert nicht der absolute
Schalldruckpegel, der bei einem Schwerhörigen zu
einer Hörempfindung führt, sondern die Abweichung
vom Normalen in einem Zahlenwert → Einführung
des Dezibel (dB; 1/10 Bel) als logarithmisches Verhältnismaß (# Kap. 3.2.1)
▬ Mit Hilfe der dB-Skala erreicht man eine Unterteilung jeder Verzehnfachung in weitere 20 Einzelschritte (20 dB entspricht dem 10fachen des Ausgangsschalldrucks, 40 dB dem 100fachen, 60 dB dem
1000fachen)
> Wichtig
Dezibelpegel beziehen sich immer auf einen Bezugsschalldruckpegel und nicht auf eine absolute Größe
(keine physikalische Größe) – Beschreibung des Verhältnisses eines Schalldrucks zu einem anderen (Bezugswert). Dezibelwerte dürfen nicht einfach addiert
werden.
Bezugsschalldruck bei der Tonschwellenaudiometrie
▬ Relativer Bezugsschalldruckpegel wegen der frequenzabhängigen Empfindlichkeit des Gehörs: dB HL
(»hearing level«); dabei tiefe und hohe Frequenzen
auf 0 dB normiert
⊡ Tab. 3.2. Skalen für Schalldruck und Schalldruckpegel im Vergleich
Schalldruck [Pa]
Intensitätsverhältnis [1 : ...]
Schalldruckpegel [dB SPL]
Beispiel
200
1014
140
Schmerzgrenze
1013
130
Düsentriebwerk
20
1012
120
Bohrhammer
2
1011
110
Schmiede
1010
100
Papiermaschine
109
90
Mechanische Werkstatt
10
8
80
Fahrgeräusch (Pkw)
10
7
70
Straßenverkehr
6
60
Umgangssprache
5
50
Leise Musik
104
40
Raumgeräuschpegel
103
30
Flüstern
102
20
Ruhiges Wohnzimmer
10
10
Blätterrauschen
1
0
Hörschwelle (1 kHz)
2 × 10–2
10
10
–3
2 × 10
2 × 10–4
2 × 10–5
SPL »sound pressure level«
163
3.3 · Diagnostik
▬ Durchschnittlicher Schwellenwert Normalhörender
bei der jeweiligen Frequenz als Bezugsschalldruck p0
(relative Hörschwelle)
▬ Pegel bezieht sich nicht für alle Frequenzen auf den
Schalldruck 20 μPa, sondern auf den Verlauf der
menschlichen Hörschwelle
▬ Normale Hörschwelle (0 dB HL) gilt für otologisch
normale Jugendliche im Alter von 18 Jahren (ist für
alle Frequenzen auf 0 dB HL festgelegt); Anstieg der
Hörschwelle v. a. im Alter (für Beurteilung einer
Lärmschädigung wichtig)
▬ Das menschliche Ohr ist im mittleren Frequenzbereich um 1000–4000 Hz am empfindlichsten; Empfindlichkeit nimmt zu höheren und tieferen Frequenzen ab → Audiometer benötigt bei 0 dB HL für tiefere
Frequenzen als 1000 Hz und für höhere Frequenzen
als 4000 Hz absolut höhere SPL-Werte
▬ Individuelle Hörschwelle eines Patienten (bzw. Hörschwelle des untersuchten Ohres) als Bezugsgröße →
Pegel oberhalb dieser Hörschwelle: dB SL (»sound/
sensation level«); Bezug auf individuelle Hörstörung
Weitere Formen der Lautstärkemessung
▬ »Bewerteter Schallpegel«:
– Angabe in dB (A) bei Lärmmessung
– in den Schallpegelmessern wird ein einheitlicher
Filter mit einer definierten Charakteristik vorgeschaltet, der die Empfindlichkeit des Ohres nachbildet (bevorzugte Anwendung der Filterkurve A;
bewertet die tief- und hochfrequente Schallanteile
erheblich schwächer als die mittelfrequenten: Frequenzbewertung)
– Zeitbewertung: Festlegung von 3 Stufen für die
Anzeigedynamik (S: »slow«; F: »fast«; I: »impuls«)
▬ Äquivalenter Dauerschallpegel: Langzeitmittelwert,
ausgehend von der Schalldruck-Zeit-Funktion
▬ Lautheitsmessung in Sone: Erfassung der subjektiv
empfundenen Lautstärke
▬ Phon: veraltete Lautstärkebezeichnung
Einheiten der Lautstärkemessung
▬ dB SPL (»sound pressure level«; Schalldruckpegel):
Bezug auf Schalldruck von 20 μPa
▬ dB HL (»hearing level«): Bezugsgröße 0 dB (frequenzabhängige Normalhörschwelle)
▬ dB nHL: Pegel kurzer Reize (Klicks) über der norma-
Subjektive Audiometrie
Stimmgabelprüfungen
Versuch nach Weber25
Prinzip und Durchführung
▬ Orientierende Hörprüfung, zusammen mit dem
Stimmgabelversuch nach Rinne (s. unten) zur Differenzialdiagnostik von Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit
▬ Angeschlagene Stimmgabel – 440 Hz (A1) oder
512 Hz (C2) wird auf Mittellinie des Schädels, der
Stirn oder des Nasenrückens (ggf. Kinn bei zusammengebissenen Zähnen) aufgesetzt → Patient gibt an,
ob Stimmgabelton auf einer Seite lauter ist oder im
ganzen Kopf gleich laut gehört wird
> Wichtig
Um Oberfrequenzen (d. h. Erzeugung von höheren Frequenzen) zu vermeiden, sollte die Stimmgabel niemals
auf einer Tischkante oder Ähnlichem, sondern besser auf
dem Knie des Untersuchers angeschlagen werden.
Beurteilung
▬ Normal: Stimmgabelton wird im ganzen Kopf gleich
laut gehört (Weber nicht lateralisiert oder median)
→ Normalhörigkeit oder symmetrische Schwerhörigkeit
▬ Pathologisch: Stimmgabelton wird auf einer Seite lauter gehört (lateralisiert nach rechts oder links) →
Hinweis auf Schallleitungsstörung auf dieser Seite
oder auf Schallempfindungsstörung der Gegenseite
▬ Versuch nach Weber fällt erst ab einer Schallleitungsschwerhörigkeit von 15 dB pathologisch aus
Versuch nach Rinne26
Prinzip
▬ Luft- und Knochenleitung einer Seite werden miteinander verglichen
Durchführung
▬ Angeschlagene Stimmgabel wird zunächst auf das
Mastoid aufgesetzt (Ohrmuschel darf nicht berührt
werden) und anschließend vor das gleichseitige Ohr
gehalten → Patient soll angeben, ob er den Ton vor
dem Ohr lauter (Rinne positiv) oder leiser (Rinne
negativ) hört als dahinter
▬ Alternativ: Patient soll angeben, ob er die Stimmgabel
nach Abklingen des Knochenleitungstons am Mastoid
vor dem Ohr wieder hört
len Hörschwelle
▬ dB SL (»sensation level«): Bezug auf frequenzabhängige Hörschwelle
25
26
Ernst Weber (1795–1878), Anatom und Physiologe, Leipzig
Heinrich T. Rinne (1819–1868), Psychiater, Hildesheim
3
164
Kapitel 3 · Ohr
Beurteilung
▬ Normal: Ton wird über Luftleitung lauter gehört
▬ Wird der Ton über Knochenleitung lauter gehört,
weist dies auf eine Schallleitungsstörung hin (>15 dB)
3
Beispiele
▬ Weber lateralisiert nach rechts, Rinne rechts negativ,
links positiv → Schallleitungsstörung rechts
▬ Weber lateralisiert nach links, Rinne beidseits positiv
→ Schallempfindungsstörung rechts
! Cave
Weber median und Rinne beidseits positiv bedeutet
nicht automatisch ein normales Hörvermögen. Dieser
Befund bedeutet lediglich: seitengleiches Gehör ohne
wesentliche Schallleitungskomponente.
▬ Einseitige Taubheit: Stimmgabelton wird beim Weber-Versuch im gesunden Ohr gehört, Rinne-Versuch
fällt am tauben Ohr negativ aus (Überhören des Tones über Knochenleitung im gesunden Ohr) → beim
Rinne-Versuch ist immer auch das Ergebnis des Weber-Versuchs zu beachten
Weitere Stimmgabelversuche
▬ Versuch nach Schwabach:
– Vergleich der Tonwahrnehmung mit dem Ohr des
Untersuchers bzw. dem gesunden Ohr
– Abschätzung der Schwerhörigkeit: Messung der
Hördauer über die Knochenleitung
– angeschlagene Stimmgabel wird auf Warzenfortsatz
des Patienten aufgesetzt → Messung der Dauer der
Tonwahrnehmung → Patient nimmt Stimmgabel
nicht mehr wahr → Aufsetzen der noch schwingenden Stimmgabel auf das Mastoid des normalhörigen Untersuchers, alternativ kann die angeschlagene Stimmgabel abwechselnd vor das Ohr
des Patienten und das des Untersuchers gehalten
werden
– Versuch nach Schwabach hat heutzutage nur noch
Bedeutung, wenn eine Audiometrie nicht möglich
ist
▬ Versuch nach Gellé:
– Test zur Differenzialdiagnostik bzw. Verifizierung
einer Fixation der Gehörknöchelchenkette
– luftdichtes Verschließen des äußeren Gehörgangs
mit dem Politzer-Ballon → Kompression und Dekompression → schwingende Stimmgabel wird an
Warzenfortsatz oder Olive (alternativ: Stirn/Scheitel) gesetzt
– Gellé positiv: schwankender Höreindruck (Kompression → Abschwächung der Lautstärke)
– Gellé negativ: kein schwankender Höreindruck (Fi-
xation des Stapes bzw. der Gehörknöchelchenkette
bei Otosklerose, Paukensklerose, Kettenunterbrechung)
▬ Versuch nach Bing: nach Abklingen einer Stimmgabel auf dem Warzenfortsatz wird der Ton durch
Zuhalten des Gehörgangs wieder hörbar (Okklusionseffekt: tritt nur bei intaktem Schallleitungsapparat
auf)
Sprachabstandsprüfung (orientierende
Hörprüfung, klassische Hörweitenprüfung)
▬ Prüfung des Verständnisses von Flüster- und Umgangssprache normaler Lautstärke in Abhängigkeit
von verschiedenen Entfernungen zwischen Untersucher und Patient
▬ Grob orientierendes, weitestgehend überholtes Verfahren; wird lediglich manchmal zu gutachterlichen
Zwecken eingesetzt
▬ Voraussetzung: Raumdistanz von 6 m mit guter
Dämpfung und geringer Nachhallzeit
▬ Vorteile: schnelle Durchführung, nicht an apparative
Ausstattung gebunden
▬ Nachteile und Fehlerquellen: uneinheitliches Prüfmaterial bzw. uneinheitliche Sprache (Artikulation,
Tonhöhe), differierende Raumakustik und Störpegel,
nicht klar definierte Angabe (Hörweite)
▬ Durchführung: das nichtgeprüfte Ohr des Patienten
wird mit der Kuppe des »schüttelnden« Zeigefingers
(bei Prüfung von Flüstersprache; oder Audiometerrauschen mit 60 dB) oder mittels Barany-Lärmtrommel (bei Prüfung von Umgangssprache; oder Audiometerrauschen mit 90 dB) vertäubt → Untersucher
prüft mit 2-stelligen, 4-silbigen Zahlen (21–99) in
Flüster- und Umgangssprache, ohne dass er vom Patienten gesehen werden kann (Verhindern des Lippenablesens)
▬ Normal: Abstände von >6 m für Flüster- und Umgangssprache (⊡ Tab. 3.3)
Reintonaudiometrie
Definition
▬ Definition Audiometrie: s. oben, »Definition und Einteilung«
▬ Audiogramm: graphische Darstellung audiologischer
Messergebnisse zur Beurteilung des Hörvermögens
▬ Reintonaudiometrie: häufigste audiologische Untersuchung und wichtigstes Instrument zur Beurteilung
des Hörvermögens
> Wichtig
Eine audiologische Untersuchung ohne Reintonaudiometrie ist unvollständig
165
3.3 · Diagnostik
⊡ Tab. 3.3. Grad der Schwerhörigkeit, bestimmt mittels orientierender Hörprüfungen
Grad der Schwerhörigkeit
Hörweite für Umgangssprache
Hörweite für Flüstersprache
Gering
>4 m
>4 m, <6 m
Mittel
<4 m, >1 m
<4 m, >1 m
Hoch
<1 m, >25 cm
<1 m bis ad concham
An Taubheit grenzend
<25 cm
–
Prinzip
Durchführung
▬ Bestimmung der Hörschwelle im Frequenzbereich von
125–8000 (10.000) Hz (Hochfrequenzaudiometrie: bis
16.000 Hz; v. a. für wissenschaftliche Fragestellungen)
▬ Tonaudiometer erzeugen elektrische Wechselströme
verschiedener Frequenz und Intensität und betreiben
Luftschall- sowie Knochenleitungsschallhörer, die einen möglichst reinen Sinuston erzeugen
▬ Eichung des Audiometers als Voraussetzung für jede
audiometrische Messung
▬ Normale Hörschwelle stellt sich als gerade Linie bei
0 dB dar, eine Hörstörung als Abweichung (in einem
Zahlenwert) von der Normalkurve in dB (Relativoder Hörverlustdarstellung)
▬ Im Audiogramm liegt die Hörschwelle oben, der Hörverlust in dB nimmt nach unten hin zu
▬ Die Luftleitungsschwelle kann normalerweise nicht
besser sein als die Knochenleitungsschwelle (Ursache:
fehlerhafte Patientenangaben, falsche Audiometriedurchführung oder fehlerhafte Kalibrierung)
▬ Knochleitungshören ist Ausdruck der Innenohrfunktion – Resultat des Zusammenwirkens von Vibrationen der Labyrinthkapsel (direkter Knochenschall)
und der Schallzuleitung aus Gehörgang und Mittelohr (osteotympanaler Knochenschall)
▬ DIN EN ISO 8253 regelt Durchführung von Hörprüfungen und Ausstattung von Audiometrieräumen
▬ Begonnen wird mit der Luftleitung (über Kopfhörer
oder Einsteckhörer gemessen)
▬ Vorgehen in der Praxis:
– vor dem Aufsetzen des Kopfhörers Brille, Ohrschmuck oder Hörgerät entfernen
– Kopfhörer wird durch den Untersucher aufgesetzt,
um richtigen Sitz zu gewährleisten (rot: rechtes
Ohr; blau: linkes Ohr)
– Verwendung von Pulstönen (pulsierender Sinuston)
– auf dem besseren Ohr anfangen (bei Frequenz von
1 kHz; mindestens 8 verschiedene Frequenzen)
– Patient zeigt Hören des Messtons durch Druck auf
eine Taste an (alternativ: Heben der Hand)
– Geschwindigkeit der Pegelsteigerung richtet sich
nach dem Patienten
– niedrigster Pegel, bei welchem das Prüfsignal 3-mal
gehört wird: Hörschwelle
– Kontrolle, ob Überhören (s. unten) möglich ist
– Überleitungsverlust von der schlechteren zur besseren Seite: 50 dB
– anschließend Prüfung der Knochenleitung mit speziellem Knochenleitungshörer (auf Mastoid; mit
Federbügel oder vom Patienten mit der Hand angedrückt)
– analoges Vorgehen wie bei der Luftleitung
– Kontrolle, ob Überhören möglich ist
– Überleitungsverlust: 0 dB
> Wichtig
Eine Erhöhung der Knochenleitungsschwelle kann durch
eine Schädigung der Sinneszellen oder des Hörnervs
verursacht werden. Solange die Ursache nicht durch überschwellige oder objektive Messungen differenziert wurde,
spricht man von einer Schallempfindungsschwerhörigkeit.
Hörer
▬ Anbieten des akustischen Signals über:
– Kopfhörer (Flachkopfhörer, zirkumaurale Kopfhörer)
– Einsteckhörer
– Knochenleitungshörer
– Lautsprecher (freier Schall)
Patientenanweisung
»Sie hören jetzt verschiedene Töne. Geben Sie immer
an, wenn Sie einen unterbrochenen Ton hören, auch
wenn er nur ganz leise ist. Sollten Sie ein Rauschen hören, versuchen Sie, nicht darauf zu achten.«
3
166
3
Kapitel 3 · Ohr
Überhören
Übervertäubung
▬ Wenn bei der Audiometrie des schlechter hörenden
Ohres hohe Schalldrücke notwendig sind, kann das
besser hörende Ohr die Töne vom Testohr zuerst hören
▬ Knochenleitungshörer versetzt auf der Messseite den
Schädelknochen in Schwingungen, die auch das Innenohr der Gegenseite erreichen (Ton wird fast ohne
Verlust auf die andere Seite übergeleitet)
▬ Über Luftleitung gerät der Knochen erst ab etwa
50 dB in Schwingung, d. h. der Schall kommt über die
Luftleitung mit einem Überleitungsverlust von 50 dB
auf der anderen Seite an
▬ Verschlechterung der Hörschwelle auf dem geprüften
Ohr durch Vertäubung
▬ Vertäubungsgeräusch auf dem besseren Ohr gelangt
ab 50 dB wieder an das geprüfte Ohr
▬ Normalerweise nur bei der Untersuchung der Knochenleitung von Bedeutung
▬ Sicheres Erfassen der Luftschwelle bis 90 dB und der
Knochenleitung bis 50 dB ohne Gefahr der Übervertäubung bei Vertäubung des Gegenohrs mit 50 dB
Vertäubung
▬ Definition: vorübergehende akustische Ausschaltung
des besser hörenden Ohres bei der Hörprüfung
▬ Besteht die Gefahr, dass ein Ton vom schlechteren
auf das bessere Ohr übergehört werden kann, muss
das bessere Ohr vertäubt (künstlich verschlechtert)
werden
▬ Regeln, die bei der Vertäubung zu beachten sind: vertäubt werden muss immer dann, wenn
– gemessene Schwellenwerte bei Luftleitung 50 dB
über der Knochenleitungsschwelle des Gegenohrs liegen (Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung vom schlechteren zum besseren Ohr:
50 dB)
– gemessene Schwellenwerte bei Knochenleitung
0–10 dB über der Knochenleitungsschwelle des Gegenohrs liegen (Differenz zwischen Knochen- und
Knochenleitung vom schlechteren zum besseren
Ohr: 0–10 dB)
– gemessene Schwellenwerte bei Luftleitung ≥15 dB
über der Knochenleitungsschwelle des gleichen
Ohres liegen (Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung auf dem gleichen Ohr: ≥15 dB)
Unbehaglichkeitsschwelle
▬ Durchführung mit Tonaudiometer:
– Patient gibt an, ab welchem Pegel ein Schmalbandrauschen als unangenehm empfunden wird
a
b
c
d
e
f
g
h
> Wichtig
Übergehört wird über Knochenleitung, vertäubt wird
über Luftleitung (Rauschen aus einem Knochenleitungshörer würde schon bei einem geringen Pegel das zu prüfende Ohr erreichen).
Gleitende Vertäubung
▬ Für den Pegel des Vertäubungsgeräusches gibt es
3 verschiedene Bereiche: Untervertäubung, korrekte
Vertäubung und Übervertäubung
▬ Der Vertäubungspegel bei mehrfach durchgeführter
Schwellenmessung wird so weit erhöht, bis die ermittelte Schwelle trotz Erhöhung des Rauschens 3-mal
stabil bleibt
⊡ Abb. 3.4a–h. Klassifikation audiometrischer Kurvenformen – Schallempfindungsschwerhörigkeit (Erläuterungen im Text)
167
3.3 · Diagnostik
Typen der Tonschwellenkurven
▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit (Innenohrhörverlust; ⊡ Abb. 3.4):
a) Hochtonverlust mit schräg abfallendem Verlauf
b) Hochtonverlust mit steil abfallendem Verlauf (basokochleärer Hörverlust)
c) umschriebene Senke
d) verbreiterte Senke
e) Hochtonverlust mit Plateaubildung
f) Tieftonverlust mit ansteigendem Verlauf (apikokochleärer Hörverlust)
g) horizontaler oder flacher Verlauf (pankochleärer
Hörverlust)
h) Mitteltonverlust mit wannenförmigem Verlauf
(mediokochleärer Hörverlust)
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit (v. a. Mittelohrhörverlust; ⊡ Abb. 3.5):
a) Dämpfungstyp: Zunahme der Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Mittelohrerguss) (1)
b) Typ der elastischen Versteifung: Abnahme der
Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Steigbügelfixation) (2)
2
2 3 4 6 8 10
0,125 0,25 0,5 1
Frequenz (kHz)
0
10
20
20
40
40
60
60
80
90
100
110
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
rations- als Hörempfindungen (bei tiefen Frequenzen
<1 kHz) missgedeutet werden und eine falsch-gute
Knochenleitungshörschwelle ergeben
▬ Carhart-Senke:
Knochenleitungsschwerhörigkeit
(wahrscheinlich mittelohr-, nicht innenohrbedingt)
von 15 dB mit Maximum um 2000 Hz – Verlust des
osteotympanalen Knochenschalls bei Fixation des
Stapes; zur Ausbildung der maximalen Knochenleitungsschwelle trägt ein Schallleitungsanteil um
2 kHz bei, der aufgrund der Fixierung des Stapes
fehlt (Schallleitungsanteil wird normalerweise von
der knöchernen Wand des äußeren Gehörgangs als
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
3
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
5
Hörverlust (dB HL)
Hörverlust (dB HL)
4
Besonderheiten
▬ Fühlkurve: bei ausgeprägtem Hörverlust können Vib-
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
2 3 4 6 8 10
0,125 0,25 0,5 1
Frequenz (kHz)
6
Hörverlust (dB HL)
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
Hörverlust (dB HL)
Hörverlust (dB HL)
1
c) indifferenter Typ: konstante Schallleitungskomponente mit steigender Frequenz (z. B. Trommelfelldefekt) (3)
d) Mittelohrblock (Schallleitungsblock): Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung für alle Frequenzen
ungefähr gleich (z. B. fortgeschrittene Otosklerose
mit Carhart-Senke; s. unten, »Besonderheiten«) (4)
e) Kettenunterbrechung: frequenzunabhängiger Mittelohrhörverlust von bis zu 50 dB (5)
f) kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit (6)
Hörverlust (dB HL)
– Anhaltspunkt für kochleäre Hörschädigung, Einschätzung der Dynamik bei Hörgeräteversorgung
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
⊡ Abb. 3.5. Klassifikation audiometrischer Kurvenformen – Schallleitungsschwerhörigkeit (Erläuterungen im Text). HL »hearing level«
3
168
Kapitel 3 · Ohr
Luftschall abgestrahlt und läuft durch das Mittelohr;
schwingungsmechanische Erklärung)
Sprachaudiometrie
Übersicht
3
Definition
▬ Standardisierte Untersuchung zur Messung des Sprachverständnisses
Prinzip
▬ Ein auf Tonträger aufgesprochener Sprachtest wird
über Kopfhörer oder Lautsprecher in definierten,
einstellbaren Lautstärken (in dB; Sprachschallpegel:
>20 μN/m2, entsprechend >20 μPa) wiedergegeben
▬ Abgesehen von Hörweitenprüfung beschränken sich
tonaudiometrischen Verfahren auf die Prüfung des
Tongehörs – im Rahmen der täglichen Kommunikation ist v. a. das Sprachverständnis wichtig
Indikationen
▬
▬
▬
▬
▬
Verordnung und Anpassung von Hörhilfen
Gutachten
Präoperativ vor Ohroperation
Überwachung des Therapieverlaufs
Kontrolle unklarer Tonschwellenaudiogramme
Sprachaudiometrische Tests
▬ Vielfältig → den passenden Test für jeweilige Fragestellung wählen
▬ Auswahl:
– Freiburger Sprachverständnistest nach DIN 45 621
(s. unten)
– Sprachverständlichkeitsmessung mit Satztests:
– Oldenburger Satztest
– Marburger Satztest
– Göttinger Satztest
– Hochmair-Schulz-Moser-Satztest
– Kindersprachtests:
– Mainzer Kindersprachtests I–III
– Göttinger Kindersprachtests I und II
– Oldendburger Kinderreimtest
– Oldenburger Kindersatztest
– Reimtests:
– nach Sotschek
– Aachener Dreisilberstest
– dichotische Tests:
– dichotischer Diskriminationstest nach Feldmann
– dichotischer Diskriminationstest nach Uttenweiler (für Kinder)
▬ Alle Tests – bis auf die dichotischen – werden zum
Teil mit und ohne Störgeräusch angewendet, obwohl
gerade der Freiburger, der Mainzer und der Göttinger
nicht dafür ausgelegt sind; die Untersuchung mit Störlärm (Geräusch entsprechend dem Langzeitspektrum
des Sprachmaterials, umweltstimulierendes Rauschen,
Wortgewirr) soll alltägliche Hörsituationen simulieren,
um damit weitere Informationen über die durch die
Hörstörung bedingten Einschränkungen zu erhalten
Freiburger Sprachverständnistest
(DIN 45 621; nach Hahlbrock)
▬ Standardsprachtest in der Audiometrie
▬ Besteht aus 2 Teilen: Zahlen und einsilbige Wörter
(Nachbilung von Umgangssprache)
▬ Testmaterial enthält 10 Gruppen mit je 10 mehrsilbigen Zahlen und 20 Gruppen mit je 20 einsilbigen
Wörtern ohne sinnvollen Zusammenhang
▬ Beim Wert 0 dB SPL werden Zahlwörter zwar gehört,
aber noch nicht verstanden
▬ Normalhörende verstehen die Hälfte aller Zahlen bei
einem Sprachschallpegel von 18,5 dB SPL und alle
dargebotenen Zahlen bei 30 dB SPL
▬ Alle Einsilber sind bei gesundem Gehör erst bei einem Sprachschallpegel von 50 dB SPL zu verstehen
▬ Formular enthält 2 Bezugslinien, die die Mittelwerte
für die Verständlichkeit von Zahlen und Einsilbern
bei Normalhörenden darstellen (⊡ Abb. 3.6)
▬ Für die Auswertung des Zahlentests enthält das Formular eine zusätzliche Hörverlustskala (HVZ: Hörverlust für Zahlen) bei einer Verständlichkeit von
50 % (Sprachverständlichkeitsschwelle; beginnt mit
0 dB HVZ bei 18,5 dB SPL Sprachschallpegel, entsprechend dem Zahlenverstehen von Normalhörenden)
▬ Verständlichkeit: Fähigkeit, Worte/Zahlen richtig
nachzusprechen
▬ Diskriminationsverlust: fehlende Fähigkeit, Worte richtig nachzusprechen (100 % minus Verständlichkeit)
Ziel
▬ Erfassung von 2 verschiedenen Aspekten des Sprachgehörs:
– bei welchem Schalldruckpegel (in dB SPL) der Patient Sprache (Zahlen) hört – Schwelle des Sprachverstehens
– bei welchem Schalldruckpegel (in dB SPL) der Patient Sprache (Einsilber) versteht – Diskrimination
oder Sprachverstehen
Durchführung
▬ Voraussetzung für jede Sprachaudiometrie ist das
Vorliegen eines Tonaudiogramms
▬ Zahlen:
– Prinzip: 2-stellig, 2- oder 4-silbig; 10 Zahlen, jede
Zahl zählt 10 %
169
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
rechts
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
HV für Zahlen
0
20
40
60
80
dB
Sprachschallpegel (dB SPL)
Sprachschallpegel (dB SPL)
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verständlichkeit (%)
Hörverlust (dB HL)
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
5 dB
100 %
Knochenleitung
= Luftleitung
HVZ
Vmax
40 dB
80 %
20
40
60
80
dB
HVZ
Vmax
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
30 dB
100 %
Knochenleitung
= Luftleitung
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
rechts
HV für Zahlen
0
20
40
60
80
dB
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verständlichkeit (%)
c
HVZ
Vmax
10 dB
100 %
Knochenleitung
= Luftleitung
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
Sprachschallpegel (dB SPL)
Sprachschallpegel (dB SPL)
d
HV für Zahlen
0
b
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
rechts
HV für Zahlen
10
0
20
30
20
40
50
40
60
70
60
80
90
80
100 US
dB
110
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verständlichkeit (%)
rechts
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
0,125 0,25 0,5 1
2 3 4 6 8 10
Frequenz (kHz)
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verständlichkeit (%)
Hörverlust (dB HL)
HVZ
Vmax
a
Hörverlust (dB HL)
Knochenleitung
= Luftleitung
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
Sprachschallpegel (dB SPL)
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
Hörverlust (dB HL)
Hörverlust (dB HL)
3.3 · Diagnostik
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
rechts
HV für Zahlen
0
20
40
60
80
dB
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Verständlichkeit (%)
e
HVZ
Vmax
20 dB
30 %
⊡ Abb. 3.6. Sprachaudiogramme
(unten; oben jeweils die entsprechenden
Reintonaudiogramme). a normales
Gehör; b Schallleitungsschwerhörigkeit;
c Innenohrhochtonschwerhörigkeit;
d pankochleäre Innenohrschwerhörigkeit;
US Unbehaglichkeitsschwelle; e neuraler
Hörschaden. HV Hörverlust; HVZ Hörverlust für Zahlen; KL Knochenleitung;
LL Luftleitung; SPL »sound pressure
level«; Vmax maximale Verständlichkeit
für Einsilber
3
170
3
Kapitel 3 · Ohr
– Berechnung des Anfangspegels: Tonhörschwelle bei
500 Hz + ca. 20 dB oder Mittelwert bei 250, 500 und
1000 Hz + etwa 20 dB (bei Hochtonverlust); Wert
um 50 % ermitteln
– Beginn der Untersuchung am besser hörenden
Ohr: Untersucher kontrolliert über Mithörer, welche Zahlen vom Patienten richtig wiedergegeben
werden, z. B. bei 45 dB SPL 2 von 10 Zahlen: 20 %
→ Pegelerhöhung um 5 dB (50 dB SPL) → Wahrnehmung von 8 von 10 Zahlen: 80 % → Verbindungslinie schneidet HVZ bei 25 dB, d. h. Hörverlust für Zahlen liegt bei 25 dB; Werte zwischen 30 %
und 70 % können einfach eingetragen werden, hier
reicht ein Wert, durch den eine Parallele zur Normhörkurve gelegt wird
> Wichtig
Die Sprachverstehenschwelle für Zahlen ist als derjenige
Pegel definiert, bei dem der Patient 50 % der Zahlen versteht (Differenz zwischen diesem Wert und der Sprachverstehenschwelle Normalhörender – 18,5 dB – wird als
Hörverlust für Zahlen bezeichnet).
▬ Worte/Einsilbertest:
– Prinzip: einsilbige Substantive, 20 Worte, jedes Wort
zählt 5 %
– Pegel des optimalen Verständnisses ermitteln
– Beginn mit der ersten Wortgruppe bei einem
Sprachschallpegel von etwa 20 dB SPL über demjenigen Pegel, bei dem 50 % der Zahlen verstanden
wurden
– beim Normalhörenden: bei etwa 40 dB 100%ige
Einsilberverständlichkeit (weitere Untersuchungen
mit Einsilbern können entfallen)
– beim Schwerhörigen Erhöhung des Pegels um
15 dB, bis optimale Verständlichkeit erreicht ist
oder Unbehaglichkeit eintritt
> Wichtig
Die Anzahl der richtig wiederholten Wörter (ausgedrückt
in %), ergibt das Sprachverstehen (Diskrimination) bei
dem jeweiligen Prüfschallpegel.
▬ Bei Gutachten: zur Ermittlung der Minderung
der Erwerbsfähigkeit Worte bei 60, 80 und 100 dB
testen
▬ Für Hörgeräteversorgungen: Pegel bei 55, 65 und
80 dB wichtig
Auswertung
▬ Ermittlung des Hörverlusts für Sprache
▬ Ermittlung des Diskriminationsverlusts bzw. des
dBopt (Lautstärke, bei der das beste Sprachverständnis erreicht wird)
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit: Patient erreicht meist
100 % Verständlichkeit (jedoch sind höhere Lautstärken notwendig)
▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit: auch größere
Lautstärken führen nicht immer zu einer 100%igen
Verständlichkeit
> Wichtig
Die Sprachaudiometrie hat nur dann Aussagekraft,
wenn es sich um die Muttersprache handelt oder der
Patient gute Kenntnisse der vorgesprochenen Sprache hat.
Anwendung und Bedeutung
▬ Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit
▬ Abschätzung des Erfolgs einer Hörsystemversorgung
▬ Überprüfung der Hörsystemversorgung (schwierig
bei modernen Hörsystemen, die Einsilber nicht als
Sprache erkennen)
▬ Abschätzung, ob ein Kochleaimplantat infrage kommt
(Sprachverständnis mit optimal angepassten Hörsystemen: 30–50 % bei 70 dB im Freifeld)
▬ Keine Normierung im Störgeräusch
Kindersprachtests
▬ Der Entwicklung des Kindes angemessen
▬ Mainzer Test: je 5 Gruppen mit 10 Wörtern; 3 Teile (je
nach Alter: 3–6 Jahre) mit Bildmaterial, keine Normierung im Störgeräusch
▬ Göttinger Test: konsequent mit Einsilbern, Phonemverwechslungen auswertbar; 2 Teile (je nach Alter:
4–7 Jahre), keine Normierung im Störgeräusch
▬ Oldenburger Kinderreimtest: 1.–4. Klasse
Kritische Bewertung der Freiburger, Göttinger und
Mainzer (Kinder-)Sprachtests
▬ Wort kommt unvermittelt ohne Vorwarnung
▬ Testwort muss nachgesprochen werden → Problem
bei mangelnder Hörleistung des Untersuchers und
fehlendem Wortschatz des Kindes
▬ Phonemverwechslungen nur mit sehr hohem Aufwand auswertbar
▬ Worte nicht ausgewogen
▬ Oft falsche Durchführung
Satztests
▬ Oldenburger Satztest:
– zur Kontrolle einer Hörsystemversorgung gut geeignet
– Bestimmung von »intelligibility level difference«
und »binaural intelligibility level difference«
171
3.3 · Diagnostik
– Prinzip: Bestimmung der Sprachverständlichkeitsschwelle (50%ige Sprachverständlichkeit), 40 Testlisten à 30 Sätze
– Aufbau: Name, Verb, Zahlwort, Adjektiv, Objekt,
z. B. »Peter bekommt neun nasse Sessel«
– Durchführung: meist im Freifeld, wobei Signal und
Rauschen aus der gleichen Richtung (von vorne)
kommen, oder Verwendung einer räumlichen Auftrennung, um beidseitiges Hören zu testen
– Auswertung: bestimmt wird der Signal-Rausch-Abstand (S/N-Ratio); Norm: –5 bis –10 dB
▬ Oldenburger Kindersatztest:
– Unterschied zum Oldenburger Satztest: Satz besteht
nur aus 3 Wörtern (Zahlwort, Adjektiv, Objekt, z. B.
»neun nasse Sessel«)
– Durchführung und Auswertung analog zum Oldenburger Satztest
▬ Hochmair-Schulz-Moser-Satztest: Untersuchung der
Sprachverständlichkeit im Störschall, v. a. bei Patienten mit einem Kochleaimplantat (besteht aus 30 Listen mit je 10 kurze Sätzen)
▬ Göttinger Satztest: enthält 20 Testlisten mit je 10 kurzen Sätzen gleicher Phonem- und Wortanzahl mit guter Übereinstimmung der Verständlichkeit
▬ Andere Satztests: verlieren mehr und mehr an Bedeutung, da keine Normierung im Störgeräusch
Dichotische Diskriminationstests (»dichotic listening«)
▬ Test nach Feldmann/Uttenweiler zur Diagnostik zentraler Hörstörungen
▬ Für die Bestimmung der auditorischen Hemisphärenlateralisation ist z. B. der Test nach Hugdahl besser
geeignet
▬ Feldmann-Test: gleichzeitiges Anbieten verschiedener, jeweils 3-silbiger Wörter auf dem linken und
rechten Ohr; Prozentzahl der richtig wiedergegebenen Wörter wird seitengetrennt registriert; Auswertung:
– Normalhörende: erreichen beidseits 100 %
– Verdacht auf zentrale Störung der Hörbahn: Diskriminationsverluste auf beiden Ohren oder auf
einem Ohr (bei normaler Verständlichkeit am Gegenohr)
▬ Dichotischer Test nach Uttenweiler: kindgerechte
Modifikation des Feldmann-Tests
Hörfeldskalierung
▬ Wird v. a. zur Hörsystemanpassung verwendet (im
Freifeld)
▬ Durchführung: Patient hört verschiedene Arten von
Schmalbandrauschen in verschiedenen Lautstärken
und gibt an, wie laut er diese empfindet (leise, ange-
nehm, laut, sehr laut, unangenehm); Daten werden in
Diagramm mit Normkurve eingetragen
▬ Auswertung:
– Kurve des Patienten parallel zu höheren Pegeln
verschoben: Schallleitungs- oder retrokochleäre
Schwerhörigkeit
– verschobene Kurve bei leisen Pegeln und steiler
verlaufende Kurve: Schallempfindungsschwerhörigkeit mit »recruitment« (kochleärer Schaden)
▬ Untersuchung mit und ohne Hörgeräte: gibt Aufschluss über Erfolg der Hörgeräteversorgung und
Hinweise auf Einstellungen, die vorgenommen werden müssen, um ein gutes Anpassungsergebnis zu
erzielen
Recruitment-Tests
▬ »Recruitment«: Begriff für die lineare, nicht mehr
kompressive Schallverarbeitung im Innenohr; Ausdruck einer Schädigung der äußeren Haarzellen und
damit einer fehlenden aktiven Dämpfung mit der Folge
überproportional erhöhter Lautheitsempfindungen
und einer Absenkung der Unbehaglichkeitsschwelle
▬ Recruitment-Tests (überschwellige Hörtests) untersuchen, ob sich bei dem Schwerhörigen ein sog. Lautheitsausgleich zeigt (ob er sich in seinem Hörvermögen bei höheren Pegeln wie ein Normalhörender
verhält)
▬ »Recruitment« positiv: mit größter Wahrscheinlichkeit kochleäre Hörstörung
▬ »Recruitment« negativ (der Patient ist zum Lautheitsausgleich unfähig): neurale bzw. retrokochleäre
Schwerhörigkeit als Ursache möglich
▬ Tests: SISI, Lüscher-Test, Langenbeck-Geräuschaudiometrie, Fowler-Test, Békésy-Audiometrie, Schwellenschwundtest nach Carhart, Hörfeldskalierung,
Prüfung des Reflex-Decay, Pegel-Latenz-Darstellung
der BERA (s. unten)
SISI (»short increment sensivity index«)
Prinzip
▬ Index bzw. prozentuales Erkennen von 1-dB-Lautstärkeschwankungen, Detektion kleiner Intensitätsunterschiede (»increment«) im Pegelbereich der Erregung
innerer Haarsinneszellen
▬ Bei Schallempfindungsschwerhörigkeit von ≥40 dB
anwendbar
Durchführung
▬ Angebot von 20 1-dB-Inkrementen (Pegelsprünge),
Beginn mit 5-dB-Sprüngen, dann 3-dB-, anschließend
1-dB-Sprünge
▬ Testung bei 20 dB SL (20 dB über Lufthörschwelle)
3
172
Kapitel 3 · Ohr
▬ Erst ab 40 dB HL Hörverlust (40 dB + 20 dB = 60 dB →
Pegelbereich für Erregung innerer Haarsinneszellen)
▬ Jeweilige Wahrnehmung bzw. hörbarer »Sprung« wird
durch Tastendruck vom Patient bestätigt
▬ Index erkannter Inkremente ermitteln
3
einen Kopfhörer geschaltet (Rauschen kommt nicht
wie bei der Vertäubung von der Gegenseite)
▬ Erfolgt üblicherweise bei Tonschwellenaudiogrammen mit Hochtonabfall
Durchführung
Patientenanweisung
»Sie hören einen Ton, der ab und zu für kurze Zeit etwas lauter wird. Drücken Sie die Taste, wenn Sie einen
solchen Sprung hören. Die Sprünge sind erst deutlich,
später sind sie schlechter zu erkennen.«
Beurteilung
▬ 70–100 %: »recruitment« positiv, kochleärer Schaden
▬ 0–30 %: »recruitment« negativ, z. B. retrokochleärer
Schaden
▬ 35–65 %: keine Aussage möglich
Lüscher-Test
Prinzip
▬ Aufsuchen der Intensitätsunterschiedsschwelle
▬ Die Unterschiedsschwelle nimmt mit zunehmendem
Pegel zu; kleinstmöglicher hörbarer Unterschied bei
Pegeln von 80–100 dB: 0,2 dB
▬ Zunächst Standardtonschwellenaudiometrie → Bestimmung des Bezugspunkts: Lautstärkepegel bei der
Frequenz (zwischen 0,5 und 4 kHz) mit der größten
Schädigung (45–75 dB HL) bzw. bei Hochtonabfall
im Bereich des Abfalls (Lautstärke des Rauschens) →
Hörschwelle für die anderen Töne erneut bestimmen:
Mithörschwelle (Unterbrechung des Geräusches beim
Frequenzwechsel zur Vermeidung eines Schwellenschwunds)
▬ In der Nähe der Mithörschwelle macht sich der Ton
zunächst durch Klangänderung des Rauschens bemerkbar; Ton erscheint bei Steigerung der Lautstärke
sprunghaft, d. h. er tritt deutlich aus dem Geräusch
hervor: Klarpunkt
Patientenanweisung
»Sie hören ein Rauschen. Drücken Sie bitte die Taste,
wenn Sie im Rauschen einen Ton hören.«
Durchführung
Beurteilung
▬ Wie bei SISI bei 20 dB SL (s. oben)
▬ Einmünden der Mithörschwelle in den Bezugspunkt
und Mithörschwelle liegen für jede Frequenz im
Rauschpegel oder um höchstens 5 dB erhöht: kochleärer Schaden
▬ Mithörschwelle >10 dB über dem Rauschen, d. h. sie
mündet nicht in den Bezugspunkt (weicht vor dem
Abfall der Tonschwelle aus): retrokochleärer Schaden
Patientenanweisung
»Bitte drücken Sie die Taste, wenn der gehörte Ton in
seiner Intensität zu schwanken beginnt.«
Beurteilung
Fowler-Test
▬ Patient hört Intensitätsunterschied von ≤1 dB: kochleärer Schaden
▬ Patient hört Intensitätsunterschied von >1 dB: retrokochleärer Schaden
Prinzip
Langenbeck-Geräuschaudiometrie
Voraussetzung
Prinzip
▬ Asymmetrisches Gehör mit Differenz von ≥30 dB
▬ Tonschwellenaudiometrie im standardisierten Hintergrundgeräusch (Mithörschwelle von reinen Tönen wird
in gleichmäßig verdeckendem Geräusch bestimmt)
▬ Der Normalhörende und auch der Innenohrschwerhörige erkennen einen Ton im Geräusch bereits dann,
wenn beide die gleiche Lautstärke aufweisen
▬ »Langenbeck-Geräusch« (gleichmäßig verdeckendes
Rauschen) wird zusammen mit den Prüftönen auf
▬ Beruht auf dem subjektiven Lautheitsausgleich zwischen 2 Ohren mit unterschiedlicher Hörschwelle (an
einem Patienten)
Durchführung
▬ Audiometer mit Wechseltaktverfahren
▬ Untersucher gibt Lautstärke auf dem schlechteren
Ohr mit 20 dB SL (über der Hörschwelle) vor
▬ Auf dem besseren Ohr wird nachgeregelt, bis Patient
subjektiv seitengleiche Lautheit empfindet; Steigerung
auf 40 und 60 dB SL
173
3.3 · Diagnostik
Patientenanweisung
»Sie werden einen kurzen Ton abwechselnd auf dem
rechten und dem linken Ohr hören. Bitte geben Sie an,
wenn er auf beiden Ohren gleich laut ist.«
Beurteilung
▬ Lautheitsausgleich (Empfindung gleicher Lautstärken
– in dB HL – auf beiden Ohren als gleich laut): kochleärer Schaden
▬ Kein Lautheitsausgleich, d. h. Differenz zwischen beiden Ohren bleibt (auch bei großen Lautstärken von
>100 dB): retrokochleärer Schaden
Automatische Audiometrie nach von Békésy
(Békésy-Audiometrie)
▬ Testung der Separation der Dauertonschwelle von der
Impulstonsschwelle
▬ Frequenzgleitende (stetig gleitende) Methode:
– Bestätigung der Hörschwelle
– Anhaltspunkt für »recruitment«
▬ Frequenzkonstante Methode:
– Wie im Carhart-Test (s. unten) Bestimmung des
zeitabhängigen Schwellenschwunds möglich
– in der Begutachtung Methode der Wahl
Durchführung
▬ Einstellen eines Pegels von 5 dB über der zuvor gemessenen Hörschwelle (bei 1–4 kHz oder in einer
Hörsenke) → hört der Patient den Ton nach einiger
Zeit nicht mehr, folgt eine Erhöhung des Pegels um
5 dB → Ton wird wieder hörbar
▬ Test wird beendet, wenn ein Schwellenschwund um
30 dB erreicht ist oder wenn der Ton mindestens
1 min lang gehört wird; Darstellung in einem Zeitdiagramm oder Markierung durch eine senkrechte Linie
im Audiogramm
Patientenanweisung
»Sie hören einen leisen Ton. Drücken Sie die Taste,
wenn der Ton nicht mehr zu hören ist.«
Beurteilung
▬ Schwellenschwund bis 10 dB: normal
▬ Schwellenschwund bis zu 25 dB: pathologische Adaptation (Ausdruck einer kochleären Störung)
▬ Neuraler Schaden, wenn Schwelle um 30 dB (6 Stufen) oder mehr abwandert
Analyse von Ohrgeräuschen ( Tinnitus)
Tinnitus-Matching
Prinzip
▬ Patient bestimmt seine Hörschwelle selbst: er drückt
einen Knopf, sobald der Ton gehört wird, und drückt
so lange, bis er den Ton nicht mehr hört
▬ Apparatur regelt den Ton bei Knopfdruck automatisch leiser und wieder lauter, sobald der Patient loslässt → Zick-Zack-Kurve um die Hörschwelle
Durchführung
▬ Pulstonschwelle für 1 min und Dauertonschwelle für
2 min bestimmen
▬ Bestimmung der Tonhöhe bzw. Frequenzbestimmung
des Tinnitus
▬ Patient werden Töne sowie Schmal- und Breitbandrauschen mit Pegeleinstellungen von etwa 10 dB über
der Hörschwelle zum Vergleich angeboten, bis eine
weitgehende Übereinstimmung der Frequenz angegeben wird → Bestimmung der Lautstärke, die dem
Tinnitus entspricht; Vergleich kann auch über Gegenohr erfolgen
▬ Wert wird im Tonschwellenaudiogramm eingetragen
Messung der Verdeckbarkeit bzw. Maskierung
Beurteilung
▬ Separation (Dauer- und Pulstonschwelle) bis 30 dB
und Amplitudenverkleinerung im Extremfall bis 1 dB:
kochleärer Schaden
▬ Schwellenabwanderung bis zur Audiometergrenze ohne
Amplitudenverkleinerung: retrokochleärer Schaden
»Tone-decay«-Test (Schwellenschwundtest) nach Carhart
Prinzip
▬ Ein geschädigter Hörnerv ist nicht in der Lage, seine
Erregung für lang andauernde Tonreize aufrechtzuerhalten → bei anhaltender Belastung Erhöhung der
Hörschwelle (Hörermüdung)
▬ Messung der Verdeckbarkeit kann mit Breit- oder
Schmalbandgeräuschen und auch mit Tönen (mit jedem Audiometer möglich) erfolgen → Tinnitusverdeckungs- bzw. Maskierungskurve
▬ Verdeckungsmessung kann monaural (bei einseitigem Tinnitus) auf betroffenem Ohr (ipsilateral), dann
auch vom Gegenohr aus (kontralateral) durchgeführt
werden; bei beidseitigem Tinnitus Bestimmung der
Lautstärke (bei binauraler Beschallung), bei welcher
der Tinnitus zunächst im ipsilateralen und dann im
kontralateralen Ohr maskiert wird
▬ Vorgehen: Patient wird instruiert, sich auf den Tinnitus zu konzentrieren → einzelne Töne steigender In-
3
174
3
Kapitel 3 · Ohr
tensität → Patient gibt an, wenn sein Tinnitus neben
dem Ton unhörbar wird
▬ Tinnitusverdeckungskurven verlaufen in den meisten
Fällen anders als bei Verdeckung eines entsprechend
gehörten Tons → Maskierungsschwellen bei den einzelnen Frequenzen im Audiogramm eintragen
▬ 4 Typen zur Klassifikation des Tinnitus (nach Feldmann):
– Konvergenztyp: Verdeckungskurve verläuft horizontal und legt sich im Bereich des Hochtonverlusts der Schwellenkurve an
– Distanztyp: Schwellen- und Verdeckungskurve verlaufen parallel, aber mit deutlicher Distanz
– Kongruenztyp: Verdeckungskurve verläuft mit
Schwellenkurve
– Persistenztyp: Tinnitus lässt sich durch akustische
Reize nicht verdecken
▬ Kurventypen erlauben bisher keinen Rückschluss auf
eine Erkrankung
▬ ein nicht verdeckbares Ohrgeräusch kann seinen Ursprung im Zentralnervensystem haben
▬ Ausmaß des persönlichen Leidensdrucks durch den
Tinnitus ist audiometrisch nicht zu ermitteln
Simulation, Aggravation, Dissimulation,
psychogene Hörstörungen
▬ Simulation: Patient mit normalem Hörvermögen
täuscht bewusst einen Hörschaden vor
▬ Aggravation: es besteht bereits ein Hörschaden, und
der Patient gibt ihn bewusst ausgeprägter an, als er
tatsächlich ist
▬ Dissimulation: Hörschaden wird bewusst oder unbewusst verborgen oder geringer dargestellt, als er tatsächlich ist (seltener als Simulation oder Aggravation)
▬ Psychogene Hörstörungen (»non-organic hearing
loss«): für eine Person ist es nicht (oder nicht in vollem Umfang) einsehbar, dass die von ihm gemachten
Angaben nicht dem tatsächlichen Hörvermögen entsprechen
Diagnostik
▬ Objektive Untersuchungen:
– Messung der otoakustischen Emissionen
– Untersuchung der Hörschwelle mit auditorisch
evozierten Potenzialen
▬ Hinweise bei der routinemäßigen Hörprüfung
– Vergleich der Hörprüfergebnisse mit dem subjektiven Eindruck des Sprachverstehens des Patienten
bei direkter Unterhaltung
– Tonaudiogramm:
– streuende Angaben bei der Hörschwellenbestimmung
– pantonale Schallempfindungsschwerhörigkeit um
50 dB
– pantonale, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
– Sprachaudiometrie:
– Zahlenverständnis im Vergleich zum Einsilberverständnis zu schlecht
– zu flacher oder zu steiler Anstieg der Zahlenverständniskurve
– große Abweichung bei Testwiederholung bei gleichem Schallpegel
– Diskrepanz zwischen Hörverlust im Tonaudiogramm und Hörverlust für Zahlen im Sprachaudiogramm
▬ Simulationstests bei einseitig normaler Hörschwelle:
– Langenbeck-Überhörversuch: mit Kopfhörern wird
die Hörschwelle des angeblich tauben Ohres ohne
Vertäubung geprüft; bei Normalhörigkeit auf der
Gegenseite muss eine Überhörkurve von 60 dB
nachweisbar sein, bei Simulation fehlt sie
– Stenger-Versuch:
– basiert auf dem Phänomen, dass ein akustisches
Signal, welches auf beiden Ohren gleichzeitig angeboten wird, bei einer Pegeldifferenz von etwa
>5–10 dB subjektiv nur auf der Seite der lauteren
Darbietung wahrgenommen wird; verschiedene
Testdurchführungen
– Durchführung I: Bestimmung der Luftleitungsschwellen beider Ohren entsprechend den Angaben des Patienten → am (angeblich) schlechter
hörenden Ohr wird ein Ton 10 dB unter der
angegebenen Schwelle eingestellt (dürfte für Patient eigentlich nicht zu hören sein; darf nicht zu
laut sein, sonst Überhören) → nochmalige Bestimmung der Tonschwelle des besser hörenden
Ohres
– Durchführung II: Anbieten eines Signals 10 dB
über der Hörschwelle auf dem als gut angegebenen Ohr, dabei Anweisung an Patient: »Wann
wird Signal auf dem Ohr unhörbar?« → das gleiche Signal simultan auf das »schlechter« hörende
Ohr geben, dort langsame Erhöhung des Pegels
– Auswertung zu I: organischer Schaden: Tonschwelle des besser hörenden Ohres ändert sich
nicht; Simulation: auf dem besser hörenden Ohr
kann nicht die gleiche, normale Hörschwelle angegeben werden (Hörschwelle richtet sich nach
dem Pegel des angeblich schlecht hörenden anderen Ohres)
– Auswertung zu II: organischer Schaden: Signal
bleibt auf der gut hörenden Gegenseite hörbar; Simulation: Signal »verschwindet« auf dem
175
3.3 · Diagnostik
gut hörenden Ohr (bei Pegelübersteigung von
5–15 dB)
▬ Simulationstests bei beidseitig erhöhter Hörschwelle:
– Békésy-Audiometrie (s. oben): Hörschwelle fällt
unabhängig davon, ob mit Rauschsignal, Dauerton oder Impulssignal gemessen wird, annähernd
gleich aus (Angabe der Impulsschwelle bei höheren
Pegeln)
– Lombard-Test: Patient liest fortlaufenden Text vor
→ Darbietung eines Rauschens (80 dB); Auswertung: bei Schwerhörigkeit Weiterlesen in unveränderter Lautstärke (Rauschsignal unhörbar oder
leise), bei Simulation/Aggravation steigert der Patient die Lautstärke
– Lee-Versuch: Patient liest fortlaufend Text vor →
Aufnahme der Sprachsignals mit einem Mikrophon
→ verzögerte Darbietung über Kopfhörer; Auswertung: kann der Patient das zurückgespielte Signal hören (Simulation/Aggravation), kommt er
bei Verzögerungen von 0,1–0,3 s ins Stocken; ist
das Signal für den Patienten unhörbar, besteht ein
unbeeinflusster Redefluss
Beurteilung
Objektive Audiometrie
Stapediusreflexmessung
▬ Zunehmende Bedeutung
▬ Hörvermögen kann teilweise objektiviert werden
▬ Eigentlich semiobjektives Verfahren, da Ergebnisse
interpretiert werden müssen
▬ Lokalisations-(Topo-)Diagnostik
Anwendung
Tympanometrie
Durchführung
Vorbemerkung
▬ Akustische Impedanz (Widerstand) des Trommelfelles: Maß für den Widerstand, den das Trommelfell
▬ Gleiche Apparatur wie bei Tympanometrie
▬ Gemessen wird, bei welcher Lautstärke der Stapediusreflex (Impedanzänderung) gerade auslösbar ist
▬ Reflexbogen: # Kap. 3.2.1
▬ Voraussetzung: normales Tympanogramm oder leichter Unterdruck
▬ Nach Erstellung des Tympanogramms Einstellen des
Drucks, bei dem die größte Compliance besteht →
Prüfung bei verschiedenen Frequenzen (500 Hz, 1, 2
und 4 kHz), Beginn mit Schallpegel von 70 dB, der bis
zum Eintreten des Reflexes um jeweils 5 dB gesteigert
wird → bei Auftreten einer Nachgiebigschwankung
Erreichen der Reflexschwelle → Registrierung für
entsprechende Messfrequenz
der Bewegung durch den Schall entgegensetzt
▬ In der Praxis nicht Messung der Impedanz, sondern
des Kehrwerts (Compliance: elastische Beweglichkeit
oder Nachgiebigkeit)
Durchführung
▬ Es darf keine Trommelfellperforation vorliegen, und
Gehörgang muss frei von Zerumen sein
▬ Sonde im Gehörgang mit Lautsprecher für den Sondenton, Mikrophon, Druckpumpe
▬ Gehörgang wird luftdicht abgedichtet → Erzeugung
eines Unter- und Überdrucks
▬ Bei verschiedenen Drücken wird die Nachgiebigkeit
(Compliance) des Trommelfells gemessen → Registrierung einer Messkurve, die die Nachgiebigkeit vom
höchsten (rechts) zum geringsten Druck (links) darstellt
▬ Normaler Mittelohrdruck: Gipfel (»peak«, gipfliger
Verlauf) von etwa 100 mm Wassersäule (Dekapascal)
▬ Verschobenes Tympanogramm: Kurve bei Unterdruck
nach links verschoben
▬ Flaches Tympanogramm: Flüssigkeit hinter dem
Trommelfell (Paukenerguss), ausgeprägte Tympanosklerose, raumfordernder Prozess des Mittelohrs
▬ Abgeflachtes Tympanogramm: verminderte Nachgiebigkeit des Trommelfells durch Bewegungsbehinderung, z. B. Vernarbungen des Trommelfells, Otosklerose
▬ Mehrgipflige Kurve: atrophische Vernarbungen des
Trommelfells
▬ Überhöhtes Tympanogramm: überhöhte Compliance
des Tommelfells durch Unterbrechung bzw. Luxation
der Gehörknöchelchen (auffällig hohe Kurven; Überschreiten des Darstellungsformats: nach oben geöffnete Kurve ohne abgebildeten Höhepunkt)
> Wichtig
Beachte die Frequenz des Sondentons: bei kleinen
Gehörgängen höhere Frequenz
▬
▬
▬
▬
Topodiagnostik bei Fazialisparese
Diagnostik der Otosklerose
Bestimmung des Metz-Recruitment
Objektivierung einer Schwerhörigkeit
! Cave
Die Stapediusreflexmessung ist bei einer akuten Innenohrstörung (z. B. Hörsturz, akuter Tinnitus) frühestens nach Ablauf einer Woche durchzuführen (Gefahr
eines Innenohrlärmtraumas).
3
176
Kapitel 3 · Ohr
Unterscheidung
▬ Reizohr, in dem der Reflex ausgelöst wird
▬ Sondenohr, in dem der Reflex registriert wird (ipsiund kontralateral)
3
Bewertung
▬ Normale Reflexschwellen findet man bei 80–95 dB HL
(⊡ Tab. 3.4)
▬ Kettenunterbrechung:
– erkranktes Ohr: kein Reflex
– normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral kein Reflex
▬ Trommelfelldefekt:
– erkranktes Ohr: kein Reflex (da kein normales
Tympanogramm)
– normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral Reflexsteigerung
▬ Otosklerose:
– erkranktes Ohr: kein Reflex (da Kette fixiert)
– normales Ohr: ipsilateral Reflex auslösbar, kontralateral Reflexsteigerung
▬ Schenkelfraktur des Stapes: kein Reflex (wegen Stapeskontraktur)
▬ Innenohrschaden:
– Reflexschwelle für Sinustöne erhöht sich bis zu einem Innenohrhörverlust von ≤50 dB kaum (Schädigung äußerer Haarzellen wirkt sich kaum auf das
Hören lauter Pegel aus)
– Hörverlust von >50 dB: Reflexschwelle steigt wie
Hörschwelle linear an
– Metz-Recruitment: beträgt Unterschied von Hörschwelle und Stapediusreflexschwelle <60 dB, liegt
eine Innenohrschädigung vor
▬ Hörnervenschaden mit Ermüdung des Reflexes (Reflex-Decay):
– Abnahme der Reizamplitude um 50 % bei einer
Reizdauer von 10 s mit einem Schalldruckpegel von
10 dB oberhalb der Reflexschwelle
– Prüfung über eine Reizdauer von 10 s mit einem
Pegel von 10 dB über der Stapediusreflexschwelle:
bleibt Kontraktion des Stapediusmuskels bei Messfrequenzen von 500 Hz (kontralateral) und 1 kHz
nicht während der gesamten Reizdauer bestehen
(innerhalb von 10 s Verminderung der anfänglichen Amplitude um 50 %), besteht der Verdacht auf
eine Erkrankung des Hörnervs
⊡ Tab. 3.4. Impedanzbefunde bei verschiedenen Krankheitsbildern
Krankheitsbild
Tympanogramm
Mittelohrdruck
[Dekapascal]
Compliance
Stapediusreflex
– (Normalbefund)
»Peak« bei ±0
±0
Normal
Registrierbar
Mittelohrerguss
Flach
–200 bis –300 oder
nicht ableitbar
Sehr klein
Nicht auslösbar
Tubenfunktionsstörung
»Peak« im Unterdruck
–100 bis –200
Normal
Registrierbar
Schlaffes Trommelfell, Schenkelfraktur des Stapes
Überhöhter »peak«
±0
Groß
Registrierbar
Ambossdefekt
Deutlich überhöhter
»peak« (oben offen)
±0
Groß
Nicht auslösbar
Otosklerose/Stapesfixation
Erniedrigter »peak«
±0
Leicht erniedrigt
Nicht auslösbar
Offene Tube
»Peak«
±0
Normal; atemsynchrone
Bewegungen
Registrierbar
Glomustumor
Flach
Nicht ablesbar
Sehr klein
Nicht registrierbar
Sensorische Schwerhörigkeit
»Peak« bei ±0
±0
Normal
Registrierbar
Neurale Schwerhörigkeit (1. und
2. Neuron)
»Peak« bei ±0
±0
Normal
Nicht auslösbar
oder Reflex-Decay
Zentralneurale Schwerhörigkeit
(oberhalb des Reflexbogens)
»Peak« bei ±0
±0
Normal
Registrierbar
177
3.3 · Diagnostik
▬ Fazialisparese:
– peripher intratemporal: einseitiger Reflexausfall
ohne Hörverlust
– infratemporal: Reflex auslösbar
▬ Reizgeber → Lautsprecher → Schall im Gehörgang
(Störschall und Signal aus Kochlea) → Mikrophon →
Verstärkung → Datenerfassungssystem → Verarbeitung im PC
> Wichtig
Spontane OAE (SOAE)
Ein Rückschluss von der Reflex- auf die Tonhörschwelle
ist nicht möglich.
▬ Schallwellen, die im Innenohr entstehen, von dort
ausgesendet werden und im äußeren Gehörgang mit
einem Miniaturmikrophon gemessen werden können
▬ Phänomen des normalen Hörvorgangs: physiologisch
erzeugte Geräuschaussendungen
▬ Leise akustische Aussendungen des Innenohrs ohne
externe Stimulation
▬ Einzelne, sinusförmige, über längere Zeit andauernde
Signale; Pegel liegt meist deutlich unter 20 dB SPL
und entspricht Frequenzbereich einzelner Spektrallinien
▬ Nur bei ca. 50 % der Bevölkerung (Männer mehr als
Frauen, Kinder/Jugendliche mehr als ältere Erwachsene)
▬ Keine Korrelation zu Tinnitus (SOAE werden von
Probanden/Patienten in der Regel nicht gehört)
Einteilung
Transitorisch evozierte OAE ( TEOAE)
▬ Spontane OAE: SOAE
▬ Transitorisch evozierte OAE: TEOAE
▬ Distorsionsprodukte (»Verzerrungsprodukte«) otoakustischer Emissionen: DPOAE
– Wachstumsfunktionen von DPOAE
– OAE-Feinstruktur
▬ Akustische Antwort der Kochlea auf kurzzeitige
Klickreize (<1 ms, rechteckförmig, Kurzzeitreiz –
transient)
▬ Sehr leise (selten >20 dB SPL)
▬ Emissionen werden poststimulatorisch registriert;
Antworten haben je nach Entstehungsort entlang der
Basilarmembran Latenzen zwischen 1 ms (basal) und
12 ms (apikal)
▬ Trennung zwischen Reiz und Antwort im Zeitbereich
▬ Ausgewertet werden die akustischen Antworten während der ersten etwa 20 ms nach jedem Klick; zur
Ausblendung des Klickreizes erfolgt die Registrierung
erst nach 5 ms
▬ Mit Hilfe einer schnellen Fourier-Transformation
wird auf verschiedene Frequenzbänder zurückgerechnet
▬ Kleiner Signal-Störschall-Abstand
▬ Amplitude bei 1 kHz größer als bei 4 kHz (zur Diagnostik von Tieftonschwerhörigkeiten besser geeignet)
▬ TEOAE bis zu einem Hörverlust von ca. 30 dB vorhanden, ab Hörverlust von 35 dB keine TEOAE
▬ Auswertung:
– beurteilt wird primär, ob TEOAE nachzuweisen
sind oder nicht
– Beurteilung aufgrund von Zeitverlauf und Spektrum des gemittelten Mikrophonsignals
– Reproduzierbarkeit: 60–80 % (keine einheitlichen
Grenzwerte)
– Pegel des gemittelten Signals (Response-Pegel)
– Differenz zwischen gemitteltem Signal und Rauschen
▬ Wichtigster Bestandteil des Neugeborenenhörscreenings
Otoakustische Emissionen (OAE)
Grundlagen
Definition
Physiologische Grundlagen der Entstehung von OAE
▬ Siehe auch oben, 3.2.1
▬ Als Schallquelle werden die äußeren Haarzellen des
Corti-Organs angesehen: Kontraktion der äußeren
Haarzellen → kleinste Schwingungen der Basilarmembran → Anregung zu verstärkten Eigenschwingungen → retrograde Wanderwelle → durch mechanische Bewegung aktive Abgabe von Schall
▬ In der Regel Emission durch akustische Reize
▬ OAE können auch gemessen werden, wenn der Hörnerv nicht intakt ist
▬ Fehlen der OAE auf akustische Reize: Innenohrschaden
▬ OAE sind vulnerabel gegenüber einigen Einflüssen,
z. B. Lärm, ototoxische Medikamente, Hypoxie
▬ Beeinflussung durch Aktivität medialer olivokochleärer Efferenzen, z. B. Suppression durch kontralaterale akustische Stimulation
Durchführung und Messung
▬ Rahmenbedingungen:
– störschallfreier Messraum
– ruhiger, entspannter Patient
– akustische Isolation des Messmikrophons gegenüber externem Störschall durch dichtes Einführen
der Messsonde in den Gehörgang
3
178
Kapitel 3 · Ohr
▬ Verlaufskontrolle bei der Behandlung kochleärer
Schwerhörigkeiten (Hörsturz)
▬ Ausschluss von Aggravation oder Simulation
▬ Verlaufskontrolle bei Lärmtrauma oder ototoxischen
Medikamenten
3
Distorsionsprodukte der OAE (DPOAE)
▬ Durch Nichtlinearität der äußeren Haarzellen gebildete Verzerrungsprodukte
▬ Innenohr erzeugt bei gleichzeitiger Stimulation mit
2 Sinustönen (unterschiedlicher Frequenz) einen
3. Ton (Verzerrungs- oder Distorsionsprodukt); dieser verhält sich zu den beiden Primärtönen konstant
▬ Ableitung der Verzerrungsprodukte perstimulatorisch
(während Stimulation):
– verwendet werden 2 Sinustöne (Primärtöne) mit
den Frequenzen f1 und f2 (f2 : f1 = 1,22 : 1)
– gemessen wird das Distorsionsprodukt mit der
größten Amplitude beim Menschen bei der Frequenz 2f1 – f2
– Trennung zwischen Reiz und Antwort im Frequenzbereich; größerer Signal-Störschall-Abstand
▬ Erstellt wird ein sog. DP-Gram – bei hoher Frequenzauflösung (kleine Schrittweite von f2) und Normalhörigkeit ist eine DPOAE-Feinstruktur messbar;
Bereich: 1–5 kHz
▬ Auswertung:
– Normalhörigkeit: Pegelwerte der gemessenen
DPOAE (Linie) sind höher (Amplitude bei 4 kHz
größer als bei 1 kHz) als das Spektrum des mittleren Grundrauschens sowie dessen 2fache Standardabweichung (Störgeräuschpegel: im DP-Gram
farbig bzw. schwarz/schraffiert)
– Innenohrschwerhörigkeit: geringere Amplituden
der gemessenen DPOAE (Hörverluste im Hochtonbereich besser zu diagnostizieren)
– Taubheit: keine DPOAE messbar
▬ Emissionen sind bis zu einem Hörverlust von etwa
40 dB nachweisbar
DPOAE-Wachstumsfunktionen
▬ Genauere Untersuchung einzelner Frequenzen:
DPOAE werden mehrmals bei der gleichen Frequenz,
aber mit verschiedenen Stimulationspegeln gemessen
→ Pegel der gemessenen DPOAE als Funktion der
Stimulationspegel → aus Steilheit der Kurve lassen
sich Rückschlüsse auf den Zustand der äußeren Haarzellen ziehen
▬ Nach Janssen Errechnung der Hörschwelle möglich
(objektive Bestimmung der kochleären Leistungsfähigkeit); kann jedoch Audiogramm nicht ersetzen
Akustisch evozierte Potenziale (AEP) – Elektrische
Reaktionsaudiometrie (ERA)
▬ Objektive Hörprüfungen, bei denen die neuronale
Aktivität der Hörbahn durch akustische Stimulation
für eine gewisse Zeit synchronisiert und an der Kopfhaut mit Oberflächenelektroden (für kurze Spannungsschwankung) registriert wird
▬ Hörsignal kann bis in den Hirnstamm bzw. bis zur
Hirnrinde verfolgt werden
▬ Einteilung in Abhängigkeit vom Zeitpunkt ihres Auftretens nach dem Schallreiz (Latenz):
– Elektrokochleographie (sehr frühe AEP)
– frühe akustisch evozierte Potenziale (»brainstemevoked response audiometry«, BERA – Hirnstammaudiometrie; »auditory brainstem response audiometry«): 1,5–10 ms nach dem Schallreiz; Sonderformen: »Notched-noise«-BERA, »auditory steady
state response«
– mittlere akustisch evozierte Potenziale (in der Praxis praktisch keine Anwendung): 10–100 ms nach
dem Schallreiz
– späte bzw. sehr späte akustisch evozierte Potenziale (»cortical evoked response audiometry«,
Hirnrindenaudiometrie): 100–300 ms bzw. 300–
1000 ms
Elektrokochleographie
Definition und Einteilung
▬ 3 Komponenten werden unter dem Namen »Elektrokochleographie« zusammengefasst (# Kap. 3.2.1)
– präsynaptisches kochleäres Mikrophonpotenzial
(»cochlear microphonics«)
– Summationspotenzial: reizsynchrones Gleichspannungspotenzial als Ausdruck der Auslenkung der
Basilarmembran
– postsynaptisches Summenaktionspotenzial N1
Durchführung
▬ Bipolare Ableitung zwischen Promontorium bzw.
äußerem Gehörgang und Mastoid bzw. Ohrläppchen
der beschallten Seite (inaktive Elektrode)
– transtympanal: invasives Verfahren; eine Nadelelektrode wird durch das Trommelfell auf das Promontorium gesteckt
– extratympanal im Gehörgang: weniger zuverlässig
und kleinere Amplitude (um Faktor 5–10 kleiner)
Auswertung
▬ Summenaktionspotenzial
▬ Reizantwortschwelle (geringster Pegel, bei dem ein
Summenaktionspotenzial nachweisbar ist)
▬ Amplitude
▬ Verhältnis der Amplitude des Summationspotenzials
zum Summenaktionspotenzial
▬ Kochleäre Mikrophonpotenziale
Klinische Anwendung
▬ Verhältnis des Summationspotenzials zum Summenaktionspotenzial gibt diagnostische Hinweise beim
endolymphatischen Hydrops
▬ Zur Differenzialdiagnostik der neuralen Schwerhörigkeit, v. a. bei Verdacht auf auditorische Neuropathie/Synaptopathie
▬ »Recruitment« besser nachweisbar als mittels BERA
▬ Bestätigung eines kochleären Funktionsausfalls vor
einer Kochleaimplantatversorgung mittels Promontoriumstest (zur Überprüfung der Funktion des Hörnervs): anstelle akustischer Reize werden Stromimpulse verwendet; werden diese auditiv als akustische
Signale empfunden, besteht eine günstige Voraussetzung für ein Kochleaimplantat
▬ Elektrokochleographie hat gegenüber OAE-Messung
und BERA an Bedeutung verloren
»Brainstem-evoked response audiometry«
(BERA; Hirnstammaudiometrie)
Definition
▬ Ableitung der frühen auditorisch evozierten Potenziale (Latenzzeit: <10 ms) zwischen Vertex (Scheitelmitte; +) und Mastoid (–)
▬ Es entstehen Kurven, deren Verlauf der elektrischen
Weiterleitung und damit den anatomischen Strukturen der Hörbahn entspricht
3
179
3.3 · Diagnostik
Generatoren der Antworten
▬ Für die Zuordnung von Generator und Welle (nach
Jewett) erscheinen heute folgende Latenzen wahrscheinlich:
– Welle I: Spiralganglion (identisch mit Welle N1 der
Elektrokochleographie; etwa bis 2,0 ms)
– Welle II: Austritt des Hörnervs aus dem inneren
Gehörgang (ungefähr bis 3,0 ms)
– Welle III: Ncl. cochlearis ventralis (etwa bis 4,0 ms)
– Welle IV: oberer Olivenkomplex und initialer Abschnitt des Lemniscus lateralis (ungefähr bis 5,0 ms)
– Welle V: Lemniscus lateralis (aufsteigender Abschnitt; etwa bis 6,0 ms)
– Welle VI: Colliculus inferior
▬ Für Wellen II, III, IV und V müssen auch weitere
Quellen in Betracht gezogen werden
▬ Besonders die Wellen I, III und V sind für die klinische Diagnostik relevant (⊡ Abb. 3.7)
Auswertung
▬ Ausgewertet werden die Potenziale bis 10 ms (Wellen I–V); deutlich sind meist die Wellen I, III und V
erkennbar
▬ Aussage hauptsächlich im Bereiche um 2–3 kHz
▬ Bestimmung der Absolut- (Bezugspunkt: Reiz) und
Inter-Peak-Latenzen (Latenzdifferenz zwischen den
Wellen) zum Ausschluss retrokochleärer Prozesse,
z. B. Vestibularisschwannom (Akustikusneurinom)
▬ Normale Inter-Peak-Latenz I–V (⊡ Tab. 3.5): 3,6–4,4 ms
(bei Männern im Durchscnnitt 4,0 ms, bei Frauen
3,9 ms)
▬ Pathologische Inter-Peak-Latenz I–V: >4,4 ms
Indikationen
Ableitung
▬ Ableitung eines Elektroenzephalogramms mit Klebeelektroden auf dem Mastoid (beiderseits) und auf der
Stirn
▬ Applikation akustischer Klickreize (breitbandig, von
kurzer Dauer) über Kopfhörer
▬ Mittels schneller Fourier-Transformation wird das
Elektroenzephalogramm herausgemittelt, übrig bleibt
die Antwort des Hirnstamms auf den akustischen
Reiz
Inter-Peak-Latenz
I-V
I-III
10
Vertex-positive Spannung [µV]
▬ Diagnostik retrokochleärer Schwerhörigkeitsursachen (Vestibularisschwannom, Multiple Sklerose)
durch Vergleich absoluter und relativer Werte mit
den Werten der Gegenseite (Pegel-Latenz-Darstellung)
▬ Objektive Hörschwellenbestimmung bei nichtkooperativen Patienten, z. B. Kindern
III-V
9
IV
8
7
II
I
III
V
Amplitude
Welle V
6
5
4
3
2
absolute Latenz
(Welle I, III, V)
1
0
1
2
3
4
5
6
Latenz [ms]
7
8
9
⊡ Abb. 3.7. Frühe auditorische Potenziale (Hirnstammpotenziale)
10
180
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ In Einzelfällen ist Welle III besser ausgebildet als die
Gruppe IV/V → Beurteilung der Inter-Peak-Latenz IIII (Normalwert: 2,0 ms)
▬ Einseitig verlängerte Inter-Peak-Latenz I–V (Seitendifferenz: >0,3 ms; z. B. bei Vestibularisschwannom)
und beidseitig verlängerte Inter-Peak-Latenzen (z. B.
bei Tumoren der hinteren Schädelgrube, SchädelHirn-Trauma, Multipler Sklerose) beachten; auch auf
veränderte Morphologie der Wellen achten
▬ Eingeschränkte Beurteilbarkeit bei starkem Hochtonhörverlust
▬ Beim Neugeborenen liegen im Vergleich zum Erwachsenen verlängerte Inter-Peak-Latenzen vor; innerhalb
der ersten Lebensjahre erfolgt durch Optimierung der
Verschaltungsprozesse eine Verbesserung der Informationsverarbeitung (wichtig für Sprach- und Geräuscherkennen)
Objektiver Hörtest
▬ Welle V kann bis fast zur subjektiven Hörschwelle
nachgewiesen werden
▬ Ableitungen für mehrere Reizpegel (Kinder im 1. Lebensjahr beim Mittagschlaf, bei unruhigen Kindern
in Sedierung, z. B. mit Chloralhydrat oder Melatonin,
oder ggf. in Narkose)
▬ Messung beginnt bei einem relativ leisen Klickpegel
von z. B. 30 dB nHL, damit das Kind nicht aufwacht
(ggf. Vertäubung des Gegenohrs mit Einsteckhörern)
→ Steigerung der Reizpegel in Schritten von 10–80 dB
(evtl. 90 dB) nHL → Aufsuchen der Schwellenreaktionen unter 60 dB nHL
▬ Auswertung: subjektive Hörschwelle liegt etwa 10 dB
unter dem Pegel der objektiven Schwellenreaktion;
auch deutliche Hirnstammreaktion bei 20 dB nHL
kann eine normale Hörschwelle im Frequenzbereich
bedeuten (2–4 kHz)
> Wichtig
Bei Kleinkindern im 1. Lebensjahr sind die Latenzzeiten
verlängert.
Frequenzspezifische Methoden
▬ Einsatz zur frequenzspezifischen Hörschwellenbestimmung und zur Hörbahnbeurteilung (v. a. zur Diagnostik der kleinkindlichen Hörstörung):
– »Notched-noise«-BERA (Lücke-Geräusch-BERA:
»notch«: Kerbe):
– Überlagerung der Tonreize mit Tief- und Hochpassrauschen → nur mittlerer Anteil des Reizspektrums bleibt wirksam
– Potenziale nicht so deutlich ausgebildet wie bei
Klickreizen
– im hochfrequentem Bereich besser geeignet
– lange Untersuchungsdauer
– »auditory steady state response«:
– elektrische Potenziale des auditorischen Systems,
die während der gesamten Dauer eines lang anhaltenden akustischen Reizes entstehen; folgen
der Zeitstruktur des Reizes
– frequenzspezifisches Signal mit Trägerfrequenz,
z. B. 1 kHz, welche amplituden- oder frequenzmoduliert wird
– im Vergleich zur »Notched-noise«-BERA etwas
bessere Aussage im Tieftonbereich, bei hohen
Frequenzen eher schlechter
– Messung im Freifeld möglich
– lange Untersuchungsdauer
– zurzeit aussichtsreiches Verfahren zur Anpassung
von Hörgeräten bei Kleinkindern
»Cortical evoked response audiometry« (CERA)
▬ Registrierung von späten und sehr späten akustisch
evozierten (kortikalen) Potenzialen
▬ Messung mit Tonimpulsen
▬ Patient muss wach sein (Test vigilanzabhängig), bei
Kindern evtl. mit Videosedierung
▬ Bestimmung der frequenzspezifischen Hörschwelle
zwischen 500 und 4000 Hz (z. B. psychogene Taubheit, Simulation)
Neugeborenenhörscreening
⊡ Tab. 3.5. Richtwerte für Inter-Peak-Latenzen
Inter-PeakLatenz
Normalwerte
[ms]
Pathologische Werte
[ms]
I–III
2,0
>2,5
III–IV
2,0
>2,5
I–V
4,0
>4,5
Angegebene Werte näherungsweise; hängen ab von: Messbedingungen, Patient (Geschlecht, Alter), Funktion des auditorischen Systems;
Richtwerte für Latenzen: s. Text (»Generatoren der Antworten«)
▬ Ab Januar 2009 vorgeschriebene Screeninguntersuchung in der Bundesrepublik bei allen Neugeborenen
▬ Messung in der Geburtsklinik und »follow up« – »tracking« – bei auffälligen Befunden (s. unten, »Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie«)
▬ TEOAE oder automatische akustisch evozierte Potenziale in der Geburtsklinik
▬ Keine weitere Messung bei »pass« (»vorhanden«)
▬ Erneute Messung während des stationären Aufenthalts bei »refer« (»nicht vorhanden«), Abschluss bei
»pass«
181
3.3 · Diagnostik
▬ Bei erneutem »refer« Weiterleitung an einen Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie oder HNOHeilkunde, dort meist Screening (akustisch evozierte
Potenziale mit 35 dB); bei »pass« keine weitere Messung, bei »refer« weitere BERA-Messung in Sedierung
bis zum Ausschluss einer Schwerhörigkeit oder deren
Bestätigung → Therapie
Pädaudiologie
▬ # Kap. 3.6.4 (»Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie«), ⊡ Tab. 3.6
▬ Reflexaudiometrie: klassische pädaudiologische Untersuchungsmethode, die der Orientierung dient; unzureichend, da überschwellig
▬ Verhaltensaudiometrie: Prüfung nichtkonditionierter
Hör- (akustische Reize im freien Schallfeld) bzw. visuell konditionierter Ablenkreaktionen
– Ablenkaudiometrie: Kind wird durch Spielzeug
(Ablenker) beschäftigt → akustischer Reiz (Geräusche des täglichen Lebens, Kinderlieder, Wobbeltöne) über Lautsprecher → Registrierung von
Extremitäten- oder Augenbewegungen, Änderung
von Saugreaktionen oder des Pulses etc. unter Berücksichtigung des Entwicklungsalter
– »visual reinforcement audiometry« mit Einsteckhörern oder im Freifeld: Kind wird auf visuelle Reize
(z. B. Monitore mit wechselnden Bildern) konditioniert → Tonreize werden durch einen attraktiven
visuellen Reiz verstärkt bzw. belohnt → mehrfache
Wiederholung dieser Kombination → Reaktionsverbesserung durch alleinige Gabe des Tonreizes
in Erwartung des attraktiven Reizes (ab Alter von
etwa 2,5 Jahren, Methode für ältere Kinder jedoch
nicht mehr interessant)
– Spielaudiometrie: Kind soll z. B. Klötzchen auf ein
Spielbrett stecken, wenn es einen Ton hört
⊡ Tab. 3.6. Hörprüfmethoden in Abhängigkeit vom Entwicklungsalter
Methode
Lebensalter
Otoakustische Emissionen
Ab Geburt
Hirnstammaudiometrie
Ab Geburt
Reflexaudiometrie
0–6 Monate
Verhaltensaudiometrie
Etwa 6–48 Monate
Spielaudiometrie
Etwa 30–55 Monate
Sprachaudiometrie
Etwa 36 Monate
Tonaudiometrie
Etwa 55 Monate
Hörfeldskalierung
Etwa 7 Jahre
Literatur
Böhme G, Welzl-Müller K (2005) Audiometrie. Hörprüfungen im Erwachsenen- und Kindesalter, 5. Aufl. Huber, Bern Göttingen Toronto Seattle
Feldmann H (Hrsg.) (1998) Tinnitus. Grundlagen einer rationalen Diagnostik und Therapie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York
Hugdahl K (Hrsg.) (1998) Handbook of dichotic listening: Theory, methods and research. John Wiley & Sons, Chichester
Janssen T, Arnold W (1995) Wachstumsverhalten der Distorsionsproduktemissionen bei normaler Hörfunktion. Otorhinolayngol Nova
5: 11–222
Janssen T, Arnold W (1995) Wachstumsverhalten der Distorsionsproduktemissionen bei kochleärer Hörstörungen. Otorhinolayngol
Nova 5: 34–46
Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl.
Thieme, Stuttgart New York
Schönweiler R, Raap M (2007) Methodik und diagnostischer Stellenwert der Notched-Noise-BERA. Laryngorhinootologie 86: 336–344
Stange G (1993) Funktionsprüfungen der Hör- und Gleichgewichtssinne. Ein praktischer Leitfaden. Thieme, Stuttgart New York
von Wedel H (2001) Fehlermöglichkeiten in der Ton- und Sprachaudiometrie. HNO 49: 939–956
3.3.3 Tubenfunktionsprüfungen
R. Leuwer
Definition
▬ Prüfung der aktiven und passiven Tubenöffnung
Indikation
▬ Planung und Indikation therapeutischer Maßnahmen
am Mittelohr, z. B. Tympanoplastik (Relevanz umstritten)
Prinzip
▬ Aufbau einer Druckdifferenz zwischen tympanalem
und pharyngealem Tubenostium durch:
– Druckveränderung im Nasopharynx: Valsalva-Manöver, Toynbee-Manöver
– relative Mittelohrdruckänderung in der Druckkammer (bei geschlossenem Trommelfell)
– Veränderung des Drucks im äußeren Gehörgang
bei Trommelfelldefekt (Tubenmanometrie)
Verfahren
▬ Qualitative klinische Untersuchungen (grobe, orientierende Beurteilung):
– Valsalva-Versuch: Einpressen von Luft in das Mittelohr durch den Patienten bei gleichzeitigem Verschluss von Mund und Nase → Otoskopie: Trommelfellvorwölbung
– Toynbee-Versuch: durch Schlucken bei geschlossener Nase wird ein Unterdruck im Mittelohr erzeugt
→ Otoskopie: Trommelfelleinziehung → Schlucken
3
182
3
Kapitel 3 · Ohr
bei offener Nase → Wiederherstellung des Ausgangszustands
– Politzer-Luftdusche: Einführung der Olive eines
Politzer-Ballons in die Nase bei Verschluss des anderen Nasenlochs durch einen Finger → Kompression des Ballons und gleichzeitiges Sprechen
von Worten wie »Kuckuck« oder »Coca-Cola« oder
Schlucken
– Beurteilung unter otomikroskopischer Kontrolle:
Auslenkung des Trommelfells (Valsalva-, Toynbee-Versuch)
– Einsatz eines Hörschlauchs: eine Olive im Gehörgang des Untersuchers, die andere im Gehörgang
des Patienten (Valsalva-Versuch, Politzer-Luftdusche) oder Tympanometrie (Toynbee-Versuch)
▬ Impedanzmessung am intakten Trommelfell (Tympanometrie; gibt nur indirekt Auskunft über die Tubenfunktion, da die Impedanz des Mittelohrs gemessen
wird)
▬ Manometrische Methoden:
– bei defektem Trommelfell:
– Tubensprengung (klassische Tubenmanometrie,
passive Tubenöffnung): Erzeugung eines kontinuierlichen Druckanstiegs im äußeren Gehörgang, bis sich die Tube öffnet; in klinischer Routine werden Drücke bis zu 500 mm Wassersäule
angewandt
– Aspirations-Deflations-Test: Prüfung der Fähigkeit zur aktiven Tubenöffnung durch Schlucken
zum Ausgleich eines Unterdrucks im äußeren
Gehörgang (Erzeugung eines Unterdrucks im
Gehörgang von –200 bis –300 mm Wassersäule
→ Patient wird aufgefordert zu schlucken →
Auslösung einer aktiven Tubenöffnung und Herbeiführen eines Druckausgleichs)
– Inflations-Deflations-Test (Kombinationsverfahren aus Tubenmanometrie und Aspirations-Deflations-Test mit Überprüfung der aktiven und
passiven Tubenfunktion bei Trommelfelldefekt):
zunächst Tubensprengung durch Druckaufbau
im äußeren Gehörgang von bis zu 400 mm Wassersäule → Aufbau eines negativen Drucks von
bis zu –300 mm Wassersäule → Patient wird aufgefordert, mittels Toynbee-Manöver eine Tubenöffnung herbeizuführen; bei fehlendem Erfolg
kann der Versuch alternativ durch das Schlucken
von Wasser bei zugehaltener Nase (Toynbee II)
wiederholt werden
– SSTV-Test (Sprengung, Schlucken, Toynbee,
Valsalva): Patient wird nacheinander aufgefordert, durch Schlucken, Toynbee-Versuch und
abschließend Valsalva-Manöver einen Druck-
ausgleich herbeizuführen; Gesunde sollten einen
Druck von –200 mm Wassersäule ausgleichen
können
– sowohl bei intaktem als auch bei defektem Trommelfell:
– Druckkammerversuche: für experimentelle Untersuchungen, kein Routineverfahren (hoher
Aufwand; Möglichkeit der Simulation verschiedener Drucksituationen im Mittelohr)
– modifizierte Tubenmanometrie nach Esteve:
über kalibrierten Druckgenerator Erzeugung eines Überdrucks in der Nase → Messung des
Drucks im Nasopharynx über einen Drucksensor
(ein weiterer Sensor im luftdicht abgeschlossenen
äußeren Gehörgang) während des Schluckens →
die im Nasopharynx registrierte Druckänderung
durch den Schluckvorgang triggert die Applikation eines Gasbolus mit einem vorgegebenen
Druck → Druckänderungen setzen sich über die
Tube in das Mittelohr fort → Trommelfellauslenkung → Veränderung des Drucks im äußeren
Gehörgang
> Wichtig
Für die klinische Anwendung eignen sich v. a. die klassische Tubenmanometrie bei defektem Trommelfell und
der SSTV-Test (Untersuchung der passiven und der physiologischen aktiven Tubenmechanismen).
▬ Tubenendoskopie: fiberoptische Endoskope mit einem Durchmesser von ≤1 mm (Lokalisation von
Stenosen); Untersuchung über pharyngeales Ostium
oder Mittelohr
▬ Akustische Untersuchungsverfahren: Sonotubometrie
mit Sinuston von 5–8 kHz (Untersuchung des akustischen Verhaltens der Übertragungsstrecke zwischen
Nase und Ohr; unter physiologischen Bedingungen
möglich)
▬ Magnetresonanztomographie:
– mit T2-gewichteten Aufnahmen Darstellung der
epithelialen Auskleidung der Tube
– Untersuchung der funktionellen Morphologie, v. a.
pharyngeale Obstruktionen
– Tumorabklärung
▬ Nuklearmedizinische Untersuchungen: 133XenonVentilationsszintigraphie, 99Technetium-Albumin-Instillation in das Mittelohr (Untersuchung der mukoziliaren Clearance; keine Routinediagnostik – Untersuchungen stellen Ergänzung bisher durchgeführter
Diagnostik dar)
▬ Elektromyographie des M. tensor veli palatini (z. B.
Behandlung des Tremor palatinus mit Botulinumtoxin)
183
3.3 · Diagnostik
▬ Sonstige Untersuchungen: u. a. Luminiszenzuntersuchungen, Sonographie
> Wichtig
Alle Diagnoseverfahren stellen nur Teilaspekte dar. Kein
Verfahren kann alle Aspekte der Tubendynamik abbilden.
Daher existiert kein allgemein gültiger Goldstandard. Am
weitesten ist die Tympanometrie verbreitet.
Literatur
Di Martino E, Di Thaden R, Krombach GA, Westhofen M (2004) Funktionsuntersuchungen der Tuba Eustachii. Aktueller Stand. HNO
52: 1029–1039
Koch U, Pau HW (1994) Tubenfunktionsprüfung. In: Naumann HH,
Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1. Thieme, Stuttgart New York, S.
427–438
Leuwer R, Koch U (1999) Anatomie und Physiologie der Tuba auditiva.
Therapeutische Möglichkeiten bei chronischen Tubenfunktionsstörungen. HNO 47: 514–523
3.3.4 Gleichgewichtsprüfungen
M. Reiß, G. Reiß
Ziel der Vestibularisdiagnostik
▬ Untersuchung einzelner Abschnitte des vestibulären
Systems zur Differenzierung und Lokalisation der
zugrunde liegenden Störung
> Wichtig
Eine gute Schwindelanamnese macht etwa 80 % des
diagnostischen Gesamtaufwands aus.
Koordinationsprüfungen/vestibulospinale Tests
▬ Dienen der Untersuchung komplexer sensomotorischer Funktionen
▬ Fehlerquellen: Medikamente, Alkohol, Beinprothese
▬ Untersuchungen erfolgen in der Regel vor einer kalorischen Prüfung (s. unten, »Thermische Erregbarkeitsprüfung«)
▬ Unterscheidung:
– Stehversuche: Romberg-Test, Posturographie, Kraniokorporographie
– Gehversuche: Unterberger-Test, Blindgang, Schachbrettgehen
– erschwertes Gehen: auf Matratzen oder weichem
Schaumgummi
– Positionsversuche: Finger-Nase-Zeigeversuch, KnieHacke-Versuch, Schreibtest nach Fukuda, vertikaler
Zeichentest nach Stoll
Romberg-Test
▬ Patient steht aufrecht, Füße stehen eng und parallel
nebeneinander, Arme sind nach vorne gestreckt, Augen sind geschlossen
▬ Ohne Vestibularisstörung kann ein Patient 30 s lang
ohne Schwankungen stehen
▬ Verschärfter Romberg: unter Zug verschränkte Arme
(Jendrassik-Handgriff)
▬ Seitenbetonung spricht für eine periphere vestibuläre
Störung (Richtungsabweichungen weisen auf die Seite
der Funktionsstörung hin)
▬ Regellose Abweichung spricht für zentrale vestibuläre
Störung
▬ Abweichung nach hinten: zerebelläre Störung
▬ Kombination mit einer Posturographieplatte möglich
Unterberger-Test/Fukuda-Stepping-Test
▬ Der Patient führt mit geschlossenen Augen 50 Tritte
auf der Stelle aus; Arme sind nach vorne gestreckt,
Knie sollten bis in Hüfthöhe angehoben werden
▬ Registriert wird die Drehrichtung, wobei Abweichungen bis etwa 30° noch normal sind
▬ Periphere vestibuläre Störung: vestibulär bedingte Tonusdifferenz → Abweichung zur Seite des erkrankten
Labyrinths; Patient dreht sich um das erkrankte Labyrinth
▬ Zentrale vestibuläre Störung: regelloses Abweichen
▬ Objektivierung durch Kraniokorporographie
Blindgang (Einliniengang)
▬ Patient geht mit geschlossenen Augen und vorgestreckten Händen 4 m geradeaus
▬ Vestibuläre Abweichung: Abweichung in Richtung
der betroffenen Seite
Finger-Nase-Versuch
▬ Bei geschlossenen Augen wird der Zeigefinger zur
Nasenspitze geführt
▬ Ataxie oder Tremor weist auf eine Kleinhirnschädigung hin
Abdecktest
▬ Der Patient wird gefragt, ob die Beschwerden nach
Abdecken eines Auges verschwinden (zur Abgrenzung vom okulären Schwindel)
Kraniokorporographie nach Claussen
▬ Fotooptische Aufzeichnung von Kopf- und Schulterbewegungen
▬ Dokumentation der vestibulospinalen Tests (Stehbzw. Tretversuche)
3
184
Kapitel 3 · Ohr
Posturographie
3
▬ Aufzeichnung von Körperschwankungen während
des Stehens in Ruhe oder bei Bewegungen:
– statische Posturographie: Registrierung von Schwankungen des Körperschwerpunkts mit Hilfe einer
elektronischen Waage (ruhende Plattform)
– dynamische Posturographie: zusätzlich bewegliche Messplatte mit Kippmöglichkeit (verschiedene
Kipp-Beschleunigungs-Muster)
– langsame Bewegungen: Provokation schwankstabilisierender Gleichgewichtsreaktionen
– schnelle Bewegungen: Reproduktion sturzähnlicher Situationen
– bei horizontal laufenden Streifenmustern optokinetischer Nystagmus (langsame Phase in Richtung des visuellen Reizes)
– Auswertung: Abweichungen zur erkrankten oder
zur gesunden Seite sowie Formveränderungen
▬ Auslösen von Nystagmen durch bestimmte Maßnahmen (Körperlage- und Kopfstellungsänderungen)
▬ Sonderformen: ⊡ Tab. 3.7
> Wichtig
▬ Horizontal richtungsbestimmter (auch rotatorischer) Nystagmus: peripher bedingt
▬ Vertikaler und richtungswechselnder Nystagmus:
zentral bedingt
Fahndung nach Nystagmus
Leuchtbrille nach Frenzel (Frenzel-Brille)
▬ Dient der orientierenden Untersuchung
▬ Leichte Handbarkeit, Robustheit
▬ Wichtigstes Instrument zum Nachweis von Spontanoder Provokationsnystagmen
▬ Hat +15 dpt und konkave Gläser (Ausschaltung der
visuellen Orientierung des Patienten, d. h. Objekte
können nicht fixiert werden; Brille ist nur bei massiver Weitsichtigkeit zum Lesen geeignet); Lämpchen in der Untersuchungsbrille erzeugen indirektes Licht (Ausschluss von Purkinje-Bildern auf der
Retina)
▬ Dokumentation der Befunde im 6-eckigen 5-FelderSchema nach Frenzel
▬ Objektive Aufzeichnung der Nystagmen mittels Elektro- bzw. Videonystagmographie
Nystagmen
Nystagmusformen:
– vestibulärer Spontannystagmus:
– richtungsbestimmter Spontannystagmus (Reiznystagmus zum erkrankten Ohr oder Ausfallnystagmus zum gesunden Ohr – periphervestibulär)
– regelloser bzw. regelmäßiger Blickrichtungsnystagmus (zentralvestibulär)
– Provokationsnystagmus
– optokinetischer Nystagmus:
– entsteht durch Augenfolgebewegungen bei der
aktiven Bewegung eines großflächigen visuellen
Musters um eine Versuchsperson herum
– Auftreten von Rückstellsakkaden (»Eisenbahnnystagmus«)
– Patient sitzt in der Mitte eines Rundhorizonts,
auf den schwarz-weiße Streifenmuster projiziert
werden
Provokationsmaßnahmen
(Lockerungsmaßnahmen)
Kopfschütteln
▬ Wichtiger Bestandteil der Vestibularisprüfung
▬ Kopf des Patienten wird leicht hin und her bewegt,
anschließend Fahndung nach Nystagmus
▬ Nachweis eines abgeklungenen Ausfallnystagmus (latenter Nystagmus)
▬ Verstärkung eines Reiznystagmus
> Wichtig
Das Fehlen eines Kopfschüttelnystagmus schließt eine Vestibularisstörung nicht aus, sondern kann ein Hinweis auf
eine beidseitige periphere oder eine zentrale Störung sein.
Lage- und Lagerungsprüfung
▬ Ziel: Provokation und Erkennen eines Nystagmus
durch Veränderungen der Körperposition
▬ Nachweis latenter Störungen des Gleichgewichtssystems (vertebrobasiläre Insuffizienz, Perilymphfistel,
vertebragener Schwindel)
▬ Basieren auf den Empfehlungen von Hallpike und
Stenger
▬ Differenzierung zwischen peripherer und zentraler
Störung
▬ Suche nach Otolithenschwindel
▬ Lageprüfung:
– statische Prüfung, d. h. Nystagmus wird nicht durch
Lagewechsel, sondern durch eingenommene Lage
ausgelöst
– Patient nimmt verschiedene Kopf- und Körperpositionen ein (Kopf in Mittelstellung sowie nach
rechts bzw. links gedreht, Rücken-, Seiten- und
Kopfhängelage) und hält diese für jeweils 30 s
– Otolithen werden durch die Schwerkraft gereizt →
Nystagmus
185
3.3 · Diagnostik
⊡ Tab. 3.7. Nystagmussonderformen
1
Form
Beschreibung
Crescendo-Decrescendo-Nystagmus
Nystagmus, der zunächst zu- und dann wieder abnimmt
Dissoziierter Nystagmus
Abduzierendes Auge schlägt schneller und grobschlägiger als das adduzierende
Downbeat-Nystagmus
Nach unten schlagender Nystagmus
Nystagmus alternans
Periodischer Wechsel der Schlagrichtung; Ursache: zentrale Schädigung (Tumor,
kongenital)
»Ocular-tilt«-Reaktion
Symptomentrias: Augenrotation, ipsiversive Kopfneigung, Skew-Deviation (paroxysmal oder tonisch); Ursachen: Hirnstammischämie, Hirnstammtumor und -blutung (tonisch), seltener Multiple Sklerose oder vorangegangene akute unilaterale periphere Otolithenläsion (paroxysmal)
Optokinetischer Nystagmus
Ausgelöst durch Betrachten eines bewegten Reizmusters (Eisenbahnnystagmus)
Pendelnystagmus
Nystagmusform, bei der die Geschwindigkeiten der Hin- und Herbewegungen der Augen
gleich sind (pendular)
Richtungsüberwiegen
Kalt-Warm-Dissoziation des kalorischen Nystagmus; Schläge überwiegen bei der thermischen
Prüfung nach rechts oder nach links; spricht meist für ein zentrales Geschehen
Sakkaden
Rasche, in Amplitude, Richtung und Geschwindigkeitsverlauf vorprogrammierte, konjugierte1 Augenbewegungen mit einer maximalen Frequenz von 500–700/s und einer Dauer von
30–100 ms (zum Erfassen neuer Objekte)
Skew-Deviation
Vertikale supranukleäre Divergenzstellung der Augen (ipsilaterales Auge tiefer), wobei das untere Auge nach innen und das obere nach außen rotiert sein kann; tritt bei Schädigungen vom
Mittelhirn bis zum Kleinhirn auf
Torsioneller Nystagmus
Drehende Augenbewegungen um die Sehlinie
Upbeat-Nystagmus
Nach oben schlagender Nystagmus
Bewegung beider Augen in die gleiche Richtung; diskonjugierte Augenbewegungen: Vergenzen
– Auswertung:
– richtungsbestimmter Nystagmus (nur in eine
Richtung schlagend, >60 s): vestibuläre Störung
(peripher/zentral)
– regelmäßiger richtungswechselnder Nystagmus
(schlägt in Richtung, in der sich der Patient befindet): meist zentrale vestibuläre Störung (Alkohol, Medikamente, aber auch benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel)
– regellos richtungswechselnder Lagenystagmus:
zentrale vestibuläre Störung (Medulla oblongata)
▬ Lagerungsprüfung:
– dynamisches Prüfverfahren, d. h. schnelles Einnehmen von Körperpositionen (Lagewechsel)
– Patient sitzt auf einer Liege, deren Kopfteil leicht
abgesenkt ist; Kopf wird vom Untersucher gehalten
und gelenkt → Patient wird von der sitzenden Position schnell in die Kopfhängelage gebracht; Manöver
wird bei verschiedenen Kopfstellungen durchgeführt
– Lagerungsnystagmus wird meist peripher durch
Kanalolithiasis ausgelöst und hält nur für wenige
Sekunden an (Nachweis am besten mittels Manöver
nach Dix-Hallpike; s. unten)
– auch zentrale, vaskuläre oder zervikale Genese
möglich
▬ Dix-Hallpike-Manöver:
– klassischer Test zur Auslösung eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels und zur Identifikation der betroffenen Seite
– Kopf des längs auf einer Liege sitzenden Patienten
wird um 45° zur Seite des zu untersuchenden Ohres gedreht → Patient wird schnell auf den Rücken
gelegt (Kopf in einer reklinierten, weiterhin um 45°
gedrehten Position) → zum unten liegenden Ohr
(geotroper) bzw. zur betroffenen Seite schlagender
Nystagmus (nach Latenz von wenigen Sekunden;
hält nicht länger als 1 min an) → nach Aufrichten
kehrt sich die Richtung des Nystagmus um (ageotroper Nystagmus)
– der hintere Bogengang wird hierbei im unten liegenden Ohr in die Ebene der Kopfrotation gebracht
und damit maximal stimuliert
3
186
3
Kapitel 3 · Ohr
– Ausrichtung des Kopfes zum Rumpf muss während
des gesamten Testmanövers beibehalten werden
(maximale Reizung des hinteren Bogengangs)
– Kopf des Patienten wird vom Untersucher geführt
und gestützt
– Patient muss Augen offen halten und sollte nicht
blinzeln
– Frenzel-Brille nützlich, aber nicht zwingend erforderlich (typischer Nystagmus kann nicht durch Fixation unterdrückt werden)
– alternativ auch Lagerung zur Seite nach rechts bzw.
links möglich, wenn der Patient auf dem Rand der
Liege sitzt (Kopf um 45° zu der dem zu untersuchenden Ohr gegenüber liegenden Seite gedreht)
▬ Kopfimpulstest nach Halmagyi und Curthoys (»head
! Cave
Vor der Spülung mit Wasser muss mikroskopisch eine
Trommelfellperforation ausgeschlossen werden. Der
Trommelfellbefund muss – wie auch bei allen anderen
neurootologischen Untersuchungen – bekannt sein.
> Wichtig
Bei der Untersuchung muss das Vigilanzniveau aufrechterhalten werden.
▬ Warmspülung verursacht einen Nystagmus, dessen schnelle Phase in Richtung des gespülten Ohres
schlägt (heiß – homolateral)
▬ Kaltspülung führt zu einem Nystagmus, dessen schnelle
Phase in Richtung des anderen Ohres schlägt (kalt –
kontralateral; # Kap. 3.2.3, »Thermische Reizung«)
impulse test«):
– dient zur Untersuchung des horizontalen Anteils
des vestibulookulären Reflexes
– Patient kann ein festes Ziel als Zeichen einer vestibulären Funktionsstörung bei aktiven Kopfbewegungen nicht dauerhaft fixieren → Korrektursakkaden, die bei schnellen passiven Kopfbewegungen
nachweisbar sind
– man bittet den Patienten, die Nase des Untersuchers zu fixieren, und dreht den Kopf dann jeweils
um 20–30° einmal schnell nach rechts und nach
links
– normalerweise Auftreten von konjugierten Augenbewegungen entgegen der Drehrichtung des
Kopfes
– rechtsseitige periphere Läsion:
– bei Drehung nach links (gesunde Seite, Reizung
des linken horizontalen Bogengangs) Augenbewegung nach rechts
– bei Drehung nach rechts (Läsionsseite) verlangsamte Augenbewegung mit verminderter Amplitude nach links, anschließend Korrektur- bzw.
Rückstellsakkade
Thermische Erregbarkeitsprüfung
▬ Einzige Technik, mit der jedes Labyrinth separat gereizt werden kann
▬ Wichtig für die topische Zuordnung einer Störung
▬ Vorgehen:
– Kopf in Optimalstellung (Brüning): im Liegen 30°
nach vorn, im Sitzen 60° nach hinten geneigt (lateraler Bogengang steht senkrecht; Reizung aufgrund
der Nähe zum Gehörgang)
– Reizung mit Wasser (30°C und 44°C) unter Verwendung handelsüblicher Kalorisatoren
– Spülmenge: 30–50 ml
Befunde
▬ Rechtes Ohr, Wassertemperatur von 44°C (R44):
Rechtsnystagmen
▬ Linkes Ohr, Wassertemperatur von 44°C (L44):
Linksnystagmen
▬ Linkes Ohr, Wassertemperatur von 30°C (L30):
Rechtsnystagmen
▬ Rechtes Ohr, Wassertemperatur von 30°C (R30):
Linksnystagmen
▬ Alternativ Reizung mit warmer und kalter Luft mit
einem Luftkalorisator (bei perforiertem Trommelfell):
überwiegend qualitative Aussage, ob ein Labyrinth
erregbar ist; nicht für Routinediagnostik bei intaktem
Trommelfell geeignet
▬ Spülung mit Eiswasser (als starker Reiz) bei fehlender
Reaktion auf Warm- und Kaltspülung
▬ Früher Auszählung der Nystagmen unter der Frenzel-Brille, heutzutage Aufzeichnung mittels Computernystagmographie (s. unten) als Standardverfahren
mit gleichzeitiger Auswertung und grafischer Darstellung
▬ Computergestützte Messeinrichtungen können standardisiert auswerten
▬ Auswertung (zahlenmäßige Erfassung):
– Seitendifferenz (»Verhältnis der Erregbarkeit« zwischen rechtem und linkem Gleichgewichtsorgan):
R44 + R30
L44 + L30
– Richtungsüberwiegen:
R44 + L30
L44 + R30
187
3.3 · Diagnostik
Computernystagmographie
▬ Objektive Erfassung von Spontan- und Provokationsnystagmen sowie einzelner Nystagmusparameter
(Amplitude, Geschwindigkeit der langsamen Phase;
⊡ Abb. 3.8) unter Zuhilfenahme der modernen Computertechnologie
▬ Befunddokumentation und Verlaufskontrolle vestibulärer Erkrankungen
▬ Anwendung bei:
– Lage- und Lagerungsprüfung
– thermischer Prüfung
▬ 2 Formen: Elektro- und Videocomputernystagmographie
▬ Photoelektronystagmographie: ältere Methode der optischen Nystagmusregistrierung (Iris-Sklera-Grenze
bzw. Limbus als Kontrast)
Elektronystagmographie
▬ Vorteil: Handhabung einfacher als bei Elektronystagmographie (keine Elektroden, keine Muskelartefakte,
stabile Grundlinie)
▬ Nachteil: Untersuchung bei geschlossenen Augen
nicht möglich
▬ Augenbewegungen werden in 2-dimensionaler Richtung (horizontal, vertikal) registriert
▬ Fortlaufende Bestimmung der Ortsveränderungen
des Pupillenmittelpunkts
▬ Erfassung torsioneller Augenbewegungen zur Untersuchung der Otolithenorgane (3D-VOG)
▬ Analyse von Sakkaden mittels Hochfrequenzkamera
▬ Erfassung von Blickfolgebewegungen und optokinetischer Nystagmen mittels spezieller Kameraführung
Drehprüfungen
▬ Platzieren von jeweils 2 Elektroden horizontal und
vertikal auf der Haut
▬ Auge entspricht einem elektrischen Dipol (zwischen
Kornea und Retina besteht ein Potenzialgefälle): bei
jeder Augenbewegung Änderung der Spannung (proportional der Amplitude und der Frequenz des Nystagmus)
▬ Beste Ergebnisse im abgedunkelten Raum bei geöffneten Augen
▬ Vorteil: Untersuchung ohne optische Störeinflüsse
möglich (z. B. bei geschlossen Augen)
▬ Beurteilung der Funktion des zentralen vestibulären
Systems sowie von Kompensationsvorgängen
▬ Untersuchung von Kleinkindern
▬ Beide Bogengangsorgane (Cupulae) werden gleichzeitig stimuliert (da sich der ganze Körper dreht);
Reizung ist gegenläufig (ampullopetale bzw. -fugale
Reizung; # Kap. 3.2.3, »Rotation«)
▬ Drehreiz → Auslösung des vestibulookulären Reflexes, gleichzeitige Stimulation beider peripherer
Gleichgewichtsorgane
▬ Untersuchungsformen: Langzeitdrehprüfung (rotatorische Prüfung), Pendeldrehprüfung
Videookulographie (VOG)/Videonystagmographie
Rotatorische Prüfung
▬ Weiterentwicklung der Elektronystagmographie
▬ Vollautomatische Nystagmusanalyse mit hoher Genauigkeit und Artefaktreduktion
▬ Drehung → Auslenkung der Cupulae der horizontalen Bogengänge (ipsilateral: ampullopetal; kontralateral: ampullofugal)
▬ Beim Andrehen in Drehrichtung schlagender (perrotatorischer) Nystagmus
▬ Beim Anhalten gegen die Drehrichtung schlagender
(postrotatorischer) Nystagmus
▬ Durchführung: Kopf des Patienten 30° nach vorn
gebeugt; Zeitintervall zwischen ipsilateraler und kontralateraler Drehung von 5 min
▬ Auswertung (Frequenz, Dauer):
– Seitendifferenz: einseitige periphere Schädigung
– fehlende Antwort: beidseitige Schädigung
– unsystematische Nystagmusschläge: Verdacht auf
zentrale vestibuläre Störung
▬ Abnahme der Seitendifferenz nach peripherer Schädigung im Laufe von Wochen (zentrale Kompensation)
α
Geschwindigkeit
der schnellen Phase
Amplitude
sch
nell
e Ph
ase
°
lan
gsa
me
Ph
ase
Dauer
β
t
Geschwindigkeit
der langsamen Phase
Pendeldrehprüfung
⊡ Abb. 3.8. Parameter eines Nystagmus: Amplitude, Geschwindigkeit
der schnellen und der langsamen Phase (GLP)
▬ Erzeugung wechselnder Beschleunigungsreize →
wechselnde Erregung der Bogengänge
3
188
Kapitel 3 · Ohr
▬ Pendelperiode: 5-malige Rechts- und Linksdrehung
▬ Auswertung: wie rotatorische Prüfung; im Akutstadium einer peripheren Störung Spontannystagmus
nicht beeinflussbar
3
Otolithendiagnostik
▬ Otolithenorgane Sakkulus und Utrikulus durch Linearbeschleunigung erregbar
▬ Ziel: Gewinnung von Aussagen zur Otolithenfunktion, z. B. in Form von linearer Beschleunigung
▬ Untersuchung des otolith-okulären Reflexes
▬ Bisher nur wenige und meist indirekte Tests verfügbar
▬ Diagnostik ist in den letzten Jahren wesentlich verbessert worden, hat jedoch u. a. aufgrund der apparativen Voraussetzungen noch keinen breiten Eingang
in die Praxis gefunden
Tests
▬ Prüfung der Augengegenrollung (»ocular counterrolling«):
– Gegenrollung ist eine spezifische Leistung des Otolithenapparats (wahrscheinlich Utrikulus)
– passive Drehung des Kopfes um nasookzipitale
Achse
– einfaches qualitatives Screening mit Frenzel-Brille
– bei intakter Otolithenfunktion: bei langsamen
Kopfneigungen um etwa 30° nach rechts und links
gegenläufige torsionelle Augenbewegungen
– beurteilt werden Seitendifferenz und Winkel der
Augengegenrollung
– quantitative Einschätzung mit 3-dimensionaler Videonystagmographie
▬ Prüfung der haptischen subjektiven Vertikale: Makula bestimmt den Sinneseindruck über die Lage im
Raum; Ausschalten der optischen Orientierung (abgedeckte Augen) → Informationen über Vertikaleindruck des Patienten können registriert werden (z. B.
Zeichnen einer Linie)
▬ Prüfung der subjektiven visuellen Vertikale mittels vom
Patienten einstellbarer projizierter Leuchtlinie (z. B. Laser-Spiegelgalvanometer-System): haptische subjektive
und subjektive visuelle Vertikale hängen nicht allein
vom Otolithenapparat ab → Screening-Verfahren
▬ Klickevozierte vestibuläre myogene Potenziale:
– selektive seitengetrennte Untersuchung des Sakkulus
(Reflexbogen vom Sakkulus über Vestibulariskerne
und Motoneurone zum M. sternocleidomastoideus)
– Ableitung basiert auf Sensitivität des Sakkulus für
»Geräusche«/Klickreize (Mittelohrfunktion sollte
intakt sein) bzw. Vibrationsreize
– Auslösung des Reflexes durch einen lauten Klick
– einzige Methode der seitengetrennten Funktionsprüfung des Sakkulus
▬ Kalorischer Wendetest: Utrikulus kann durch eine
kalorische Reizung in Pronation und Supination bzw.
Rücken- und Bauchlage selektiv geprüft werden
▬ Exzentrische Rotation bzw. lineare Beschleunigung
(Translationsschlitten):
– Methoden mit physiologischem Reizmuster für den
Otolithenapparat
– zentrische Rotation mit Hilfe eines Drehstuhls →
dynamische Veränderung der Zentripetalbeschleunigung mit viel niedrigeren Frequenzen als bei
konventionellen Linearschlitten
– minimal exzentrische Rotation: Lateralverschiebung des Sitzes, sodass ein Labyrinth exakt in der
Drehrichtung liegt → alleinige Abscherung der Zilien des exzentrisch gelegenen Organs; qualitativ
einseitige Prüfung des Sakkulus durch Bestimmung
der subjektiven visuellen Vertikalen oder Videonystagmographie
Literatur
Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system.
Oxford University Press, Oxford New York
Brandt T, Dietrich M, Strupp M (2004) Vertigo. Leitsymptom Schwindel.
Steinkopff, Darmstadt
Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston
Scherer H (1997) Das Gleichgewicht, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Stoll W, Most E, Tegenthoff M (Hrsg.) (2004) Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Diagnostik, Klinik, Therapie, Begutachtung.
Ein interdisziplinärer Leitfaden für die Praxis, 4. Aufl. Thieme,
Stuttgart New York
Walther LE (2007) Diagnostik und Therapie vestibulärer Erkrankungen.
In: Biesinger E, Iro H (Hrsg.) HNO Praxis heute. Bd 27: Schwindel.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 59–78
Westhofen M (2008) Der Wendetest bei der kalorischen Prüfung. In:
Scherer H (Hrsg.) Der Gleichgewichtssinn. Neues aus Forschung
und Klinik. 6. Hennig Symposium. Springer, Berlin Heidelberg
New York Tokyo, S. 25–36
3.3.5 Bildgebende Diagnostik
T.J. Vogl, S. Bisdas
Untersuchungstechniken
Konventionelle Röntgenuntersuchungen
▬ Aufnahme nach Schüller (⊡ Abb. 3.9):
– seitliche Aufnahme: krankes Ohr auf Filmkassette –
Schläfe
– Zentralstrahl kommt 30° von oben von der Gegenseite
189
3.3 · Diagnostik
a
⊡ Abb. 3.10. Aufnahme nach Stenvers bei einem 9-jährigen Patienten
zur Beurteilung der Elektrodeninsertion eines Kochleaimplantats
b
⊡ Abb. 3.9a, b. Aufnahmen nach Schüller. a Rechtes Ohr mit gehemmter Pneumatisation bei Zustand nach Mastoidektomie (Kreuz); b
linkes Ohr mit guter Pneumatisation (Normalbefund)
– grundsätzlich Vergleichsaufnahmen beider Schläfenbeine
– Aussagen über Belüftung des Warzenfortsatzzellsystems bzw. Pneumatisationsgrad (Ausdehnung
der Belüftung, Verschattung)
– zeigt v. a. ossäre Defekte und Position des Sinus
sigmoideus sowie Beziehungen zum Kiefergelenk/
Unterkieferköpfchen, außerdem ggf. Verlauf von
Frakturlinien
– wird zunehmend durch Computertomographie abgelöst
▬ Aufnahme nach Stenvers (⊡ Abb. 3.10):
– sagittale Aufnahme: Orbita und Jochbein liegen
auf Röntgenplatte – Stirn bzw. seitlich vor Orbita
und Jochbein
– Zentralstrahl kommt 12° von hinten
– Darstellung des lateralen und des oberen Bogengangs (Labyrinthblock) sowie von Pyramidenoberkante und -spitze
– Aussagen bei Destruktionen der Pyramidenkante
– durch Computertomographie praktisch ersetzt;
Ausnahme: postoperative Kontrolle der Lage eines Kochleaimplantats
▬ Aufnahme nach Meyer:
– axiale Aufnahme: Einstrahlwinkel von 45° nach
kranial
– Darstellung von äußerem Gehörgang, Epitympanon und Antrum
– Einsatz nur noch in Ausnahmefällen zur Beurteilung des Mastoids und des Unterkieferköpfchens
▬ Transorbitale Darstellung beider innerer Gehörgänge:
– gute Darstellung der Cochleae
– Anwendung v. a. zur postoperativen Kontrolle der
Lage eines Kochleaimplantats
▬ Weitere »klassische« Aufnahmetechniken: nach
Wullstein, Biesalski, Sonnenkalb, Altschul-Uffenorde
Tomographische Verfahren
Computertomographie
▬ Beste Darstellung von Detailstrukturen
▬ Bei »High-resolution«- Computertomographie axiale
Schichtdicke von 1 mm
▬ Gegebenenfalls Rekonstruktion der koronaren und
sagittalen Ebene
▬ Gute Aussagemöglichkeit bei Tumoren des Felsenbeins und bei Frakturen, bedingte Aussage zum
Kleinhirnbrückenwinkel (nach Kontrastmittelgabe)
▬ Nachweis von Komplikationen und intrakraniellen
Entzündungen (knöcherne Einschmelzungen, Abszess)
▬ Obligat vor Einsatz eines Kochleaimplantats (Darstellung der Durchgängigkeit der Schneckenskalen)
3
190
Kapitel 3 · Ohr
Magnetresonanztomographie
3
▬ Beste Darstellung der Weichteilanatomie: Nervenstrukturen des Kleinhirnbrückenwinkels, Kochlea
▬ Nachweis von intrakraniellen Tumoren, Abszessen,
Blutungen
▬ Nach Gadoliniumgabe Darstellung der Strukturen
des inneren Gehörgangs und der Flüssigkeitsräume
des Labyrinths sowie von Ggl. geniculi und Saccus
endolymphaticus
> Wichtig
Die hochauflösende (»High-resolution«-)Computertomographie ist das bildgebende Verfahren der Wahl zur Diagnostik von Erkrankungen des äußeren Ohres inklusive
des äußeren Gehörgangs und des Mittelohrs. Die
Magnetresonanztomographie kommt primär bei Erkrankungen des Innenohrs, des inneren Gehörgangs sowie
des Kleinhirnbrückenwinkels zum Einsatz.
a
Befunde
▬ Pathologische Prozesse im Bereich des äußeren Ohres, des Mittelohrs und der mittleren Schädelbasis
(⊡ Tab. 3.8)
▬ Läsionen im Bereich des inneren Ohres, des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbückenwinkels
(⊡ Tab. 3.9)
Literatur
Ahlhelm F, Nabhan A, Naumann N, Grunwald I, Shariat K, Reith W
(2005) Tumoren der Schädelbasis. Radiologe 45: 807–815
Bisdas S, Lenarz M, Lenarz T, Becker H (2005) Inner ear abnormalities in
patients with Goldenhar syndrome. Otol Neurootol 26: 398–404
Durden DD, Williams DW 3rd (2001) Radiology of skull base neoplasms. Otolaryngol Clin North Am 34: 1043–1064
Frößler A, Pfeffer R (2005) Konventionelle Röntgendiagnostik. Einstelltechnik und Röntgenanatomie. Elsevier – Urban & Fischer,
München Jena
Laine FJ, Nadel L, Braun IF (1990) CT and MR imaging of the central
skull base. Part 1: Techniques, embryologic development, and
anatomy. Radiographics 10: 591–602
Laine FJ, Nadel L, Braun IF (1990) CT and MR imaging of the central skull base. Part 2: Pathologic spectrum. Radiographics 10:
797–821
Vogl TJ (Hrsg.) (2002) Handbuch diagnostische Radiologie: Kopf – Hals.
Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Vogl TJ, Balzer J, Mack M, Steger W (1998) Radiologische Differentialdiagnose in der Kopf-Hals-Region. Schwierige Fälle systematisch
entschlüsseln – Wegweisende Befunde sicher erkennen. Thieme,
Stuttgart New York
Vogl TJ, Juergens M, Balzer JO et al. (1994) Glomus tumors of the skull
base: combined use of MR angiography and spin-echo imaging.
Radiology 192: 103–110
b
⊡ Abb. 3.11a, b. a Kontrastmittelunterstützte Magnetresonanztomographie eines Glomus-jugulare-Tumors in der rechten Fossa jugularis
(Pfeilspitzen). b Die Magnetresonanzangiographie nach Gadoliniumgabe zeigt den hypervaskularisierten Tumor (Pfeil) mit der versorgenden Arterie (A. pharyngea ascendens; Pfeilspitze)
3.3 · Diagnostik
⊡ Abb. 3.12. Kontrastmittelunterstützte Computertomographie einer
Metastase im Klivusbereich (Pfeile) mit Infiltration der Keilbeinhöhle,
der Karotissiphons sowie der Felsenbeinspitzen
191
⊡ Abb. 3.13. Gadoliniumunterstützte Magnetresonanztomographie
des Kleinhirnbrückenwinkels: großes extrameatales Akustikusneurinom (Pfeile)
⊡ Abb. 3.14. Stark T2-gewichtete Magnetresonanztomographiesequenz (»constructive interference in steady state sequence«): im rechten
Innenohrbereich gemindertes Flüssigkeitssignal in der Kochlea (Pfeil), vereinbar mit fibrotischen Veränderungen. Der Patient hat nach einer
Meningitis einen progressiven Hörverlust
3
192
Kapitel 3 · Ohr
⊡ Tab. 3.8. Läsionen des äußeren Ohres, des Mittelohrs und der mittleren Schädelbasis (Os temporale)
Läsionen
Äußeres Ohr
Mittelohr
Mittlere Schädelbasis (Os temporale)
Fehlbildungen/
Variationen









Hypoplasie
Atresie
Ossikelfehlbildung
Anomalien des N. facialis
Anatomische Varianten des
Bulbus venae jugularis bzw.
des Canalis caroticus
 Hypoplasie des Os mastoideum
 Hyperpneumatisation des Os temporale
(bei Akromegalie, adrenogenitalem Syndrom, Lipodystrophie, Dyke-DavidoffMasson-Syndrom)
 Osteosklerosen (Osteogenesis imperfecta, Morbus Paget, fibröse Dysplasie)
Tumoren
 Benigne Tumoren bzw. tumorähnliche Veränderungen
(Cholesteatom, Exostosen,
Osteome)
 Plattenepithelkarzinom
 Basalzellkarzinom
 Melanom
 Sarkom
 Metastasen
 Adenokarzinom
 Adenoid-zystisches Karzinom




Fazialisneurinom
Hämangiom
Paragangliome
Kongenitales Cholesteatom
(Epidermoid)
Cholesterolgranulom
Primäres Karzinom
Rhabdomyosarkom
Histiozytosis X
Meningeom
Lymphom
Multiples Myelom
 Tumoren des Foramen jugulare (Paragangliom, Neurinom, Meningeom, Metastase; ⊡ Abb. 3.11)
 Chordom
 Chondrosarkom
 Kongenitales Cholesteatom (Epidermoid)
 Cholesterolgranulom
 Plasmozytom
 Osteosarkom
 Metastase (⊡ Abb. 3.12)
Entzündungen
 Maligne Otitis externa (durch
Pseudomonas spp.)
 Abszess
 Erworbenes Cholesteatom
 Osteomyelitis
 Serotympanon bzw. Abszessformation
 Akute/chronische Otitis media
 Herpes zoster/Varizellen
 Sarkoidose
 Komplikationen von Cholesteatomen
(Abszess, labyrinthäre Fistel)
 Mastoiditis
 Gradenigo-Syndrom
 Granulom (Tuberkulose)
Traumen und
iatrogene Läsionen
 Liquorfistel
 Serom
 Ansammlung hämorrhagischer Flüssigkeit
 Traumatisches Duraleck
 Zustand nach Mastoidektomie
 Längs-/Querfraktur des Os temporale
3
Mikrotie
Stenose
Agenesie
Atresie (membranös bzw.
knöchern)







⊡ Tab. 3.9. Läsionen des inneren Ohres, des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbrückenwinkels
Läsionen
Inneres Ohr
Innerer Gehörgang
Kleinhirnbrückenwinkel
Fehlbildungen/
Variationen






 Arachnoidalzyste
 Epidermoidzyste
 Gefäßschlinge
 Arachnoidalzyste
 Epidermoidzyste
 Gefäßschlinge
 Schwannom (N. facialis,
N. vestibulocochlearis;
⊡ Abb. 3.13)
 Meningeom
 Hämangiom
 Tumor des Saccus endolymphaticus
 Metastase









 Meningitis
 Hirnabszess
 Frontobasisabszess
Michel-Dysplasie
Aplasie der Kochlea (mit/ohne N. cochlearis)
Mondini-Fehlbildung
Goldenhar-Syndrom
Bogengangdysplasien
Osteodystrophien (fenestrale/kochleäre
Otosklerose, Morbus Paget, fibröse Dysplasie,
Osteogenesis imperfecta)
Tumoren
Entzündungen




(Ossifizierende) Labyrinthitis (⊡ Abb. 3.14)
Entzündliche Fazialisparese
Arachnoiditis
Sarkoidose
Schwannom
Meningeom
Hämangiom
Astrozytom
Medulloblastom
Ependymom
Lipom
Metastase
Raumforderung des Klivus
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
3.4
Erkrankungen des äußeren Ohres
und des äußeren Gehörgangs
3.4.1 Anomalien und Fehlbildungen
S. Mattheis, R. Siegert
193
▬ Versprengte hyoidale Ektodermzellen oberhalb der
hyomandibulären Grenze (zwischen 1. und 2. Kiemenbogen; Hypothese von Otto)
▬ Entstehung beim Verschluss der 1. Kiemefurche in der
1. Hälfte der 6. Embryonalwoche; durch Wachstum
des Gesichts verschiebt sich die Grenze in der Wange
▬ Familiäre Häufungen beschrieben
Allgemeine Aspekte
Klinisches Bild
Einteilung
▬ Aurikuläre und präaurikuläre Anhänge vor der aufsteigenden Helix, dem Lobulus oder dem Eingang des
Gehörgangs; kosmetisch auffällig
▬ Einzeln oder multipel, erbs- bis kirschgroß, breitbasig
angesetzt oder gestielt
▬ Auftreten zusammen mit weiteren Fehlbildungen, z. B.
hemifaziale Mikrosomie, Goldenhar-Syndrom, Ohrdysplasien, Fehlbildungen des Mittel- und Innenohrs
▬ Fehlbildungen im Bereich des äußeren Ohres können
sich grundsätzlich manifestieren in:
– Ohrmuschelfehlbildungen: fließende Übergänge
zwischen Norm und Anomalien
– Gehörgangsfehlbildungen: Verengung, knöcherne
oder bindegewebige Atresie
▬ Veränderungen können isoliert auftreten, Kombinationen (auch mit Fehlbildungen des Mittelohrs
oder im Rahmen von Fehlbildungssyndromen) sind
möglich
Epidemiologie
▬ 50 % aller Fehlbildungen im HNO-Bereich am Ohr
(eine Ohrfehlbildung auf 6000 Neugeborene)
▬ Etwa 5 % aller Neugeborenen weisen Ohranhängsel,
Fisteln oder ein- oder beidseitig abstehende Ohrmuscheln auf
Diagnostik
▬ Blickdiagnose
▬ Ohrmikroskopie
▬ Audiometrie, da evtl. mit Fehlbildungen des Mittelund Innenohrs einhergehend
Differenzialdiagnostik
▬ Gutartige Geschwülste
▬ Atherom
▬ Lipom
Ätiopathogenese
▬ Genetische und äußere Einflüsse (Infektionen, ionisierende Strahlen, teratogene Substanzen)
▬ Je nach Zeitpunkt des Einwirkens können unterschiedliche Hemmungsfehlbildungen auftreten
Therapie
Aurikularanhänge
Ohrfisteln und Zysten
Definition
Definition
▬ Mandibuläre Überschussbildung am Rand der 1. Kiemenfurche
▬ Auftreten mehrerer Aurikularanhänge zusammen
mit einer normalen oder rudimentär ausgebildeten Ohrmuschel: Polyotie (sog. zusätzliche Ohrmuscheln bzw. »Imitation« einer Ohrmuschel; echte
Ohrmuschelverdopplungen sind dagegen extrem
selten)
▬ Melotie: Wangenanhängsel (Wangenohren)
▬ Epitheliale Retentionen im Bereich der 1. Kiemenfurche vor der Helix und oberhalb des Tragus
▬ Meist blind endend, mit Plattenepithel und/oder respiratorischem Epithel ausgekleidet
▬ Typ-I-Zysten/-Fisteln: meist präaurikulär gelegene
»Ohr-Hals-Fisteln« mit epithelialer Auskleidung
▬ Typ-II-Zysten/-Fisteln: vom Hals zum Gehörgang ziehende »doppelte Gehörgänge« mit epithelialer Auskleidung und Knorpelanteilen
▬ Häufig in enger Nachbarschaft zum N. facialis
▬ Plastische Resektion in den Spannungslinien
▬ Bei Kombination mit Ohrmuscheldysplasie Korrektur
im Rahmen der Ohrmuschelrekonstruktion
Pathogenese
▬ Echte Choristome
▬ Im Rahmen der Gesichtsentwicklung kommt es zu
einer Keimverlagerung → unterschiedliche Lage und
Größe
Ätiologie
▬ Embryonale Hemmungsfehlbildung
▬ Anomalien der 1. Kiemenfurche: unvollständige Verschmelzung der 6 Knorpel-(Aurikular-)Höcker
3
194
Kapitel 3 · Ohr
Klinisches Bild
3
▬ Ein- oder beidseitig auftretende, meist präaurikuläre
Fisteln
▬ Sekretion aus der Fistel bei Infektion
▬ Oft erst im Erwachsenenalter durch Infektion und
Abszedierung auffällig
▬ Typ-II-Zysten/-Fisteln oft mit Mittelohr- und Innenohrfehlbildungen kombiniert (familiäre Häufung)
Diagnostik
▬ Inspektion
▬ Ohrmikroskopie
▬ Sondierung des Fistelgangs
Differenzialdiagnostik
▬ Atherome
▬ Dermale Retentionszysten
Therapie
▬ Resektion des Fistelgangs bzw. der Zyste (# Kap. 21.5.1,
»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Ohranhängsel
und Fisteln«)
Verlauf und Prognose
▬ Häufig Infektionen und Abszessbildung
▬ Bei unvollständiger Resektion hohe Rezidivrate
Dysplasien der Ohrmuschel
▬ Einteilung der Fehlbildungen in 3 Schweregrade (entsprechend normal ausgebildeter Strukturen der Ohrmuschel): Schweregrade I–III (Weerda):
> Wichtig
Um alle Fehlbildungen der Ohrmuscheln zu berücksichtigen, sollte statt des Begriffs »Mikrotie« besser der Terminus »Dysplasie« verwendet werden.p
– Dysplasien vom Schweregrad I:
– die meisten Strukturen einer normalen Ohrmuschel sind vorhanden
– nur gelegentlich wird zur Rekonstruktion zusätzliche Haut oder Knorpel benötigt
– Makrotie, abstehende Ohrmuschel, Kryptotie
(Taschenohr), Kolobom (quere Spalte), Stahl-Ohr,
Satyr-Ohr, Lobulusdeformitäten (angewachsener
Lobulus, Lobulushyperplasie, Lobulusspalten, Lobulushypoplasie, Lobulusaplasie), Tassenohrdeformität (»cup ear deformity«; Typen I und II)
– Dysplasien vom Schweregrad II (Mikrotie vom
– zur Teilrekonstruktion werden zusätzliche Haut
und Knorpel benötigt
– Tassenohrdeformität Typ III, Miniohr (»concha
type microtia«)
– der Gehörgang kann stenotisch sein
– Dysplasien vom Schweregrad III (Mikrotie vom
Schweregrad III und Anotie):
– keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel
vorhanden
– zur Rekonstruktion werden zusätzliche Haut und
Knorpel benötigt
– Mikrotie vom Schweregrad III mit Atresia auris
congenita (ein- oder beidseitig), Anotie
– oft zusätzliche Mittel- und Innenohrfehlbildungen oder ipsilaterale hemifaziale Mikrosomie,
ggf. Schädigungen von Hirnnerven
Dysplasien vom Schweregrad I
Makrotie
Definition und klinisches Bild
▬ Einzelne oder alle Bereiche der Ohrmuschel erscheinen relativ zur Körper- und Kopfgröße zu groß
Ätiologie
▬ Hereditär
Diagnostik
▬ Inspektion und Vermessung der Ohrmuschel
▬ Normwerte für die Länge der Ohrmuschel:
– Frauen: 58–62 mm
– Männer: 62–66 mm
Therapie
▬ Ziel: Verkleinerung der Ohrmuschel nach ästhetischen Gesichtspunkten, ohne dass eine zusätzliche
Deformität oder Narbe zurückbleibt
▬ Maßnahme: Kombination der Gersuny-Technik
(# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« →
»Makrotie – Korrektur mittels Gersuny-Technik«)
mit Techniken zur Lobulusreduktion (# Kap. 21.5.1,
»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur einer
Lobulushyperplasie«)
Abstehende Ohrmuschel
Definition
▬ Synonyme: Apostasis otum, Otapostasis, »Segelohren« (»protruding ear«, »bat ear«, »prominent ear«)
▬ Ästhetisch störendes Abstehen der gesamten oder von
Teilen der Ohrmuschel
Schweregrad II):
Einteilung
– einige Strukturen der normalen Ohrmuschel sind
vorhanden
▬ Anthelixhypoplasie
▬ Hyperplasie des Cavum conchae
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
▬ Kavumrotation mit einem abstehenden Lobulus
▬ Treten isoliert oder in Kombination auf und können
mit anderen kleinen Fehlbildungen vergesellschaftet
sein
Epidemiologie
▬ Häufigste Ohrfehlbildung
▬ Auftreten bei etwa 5 % der Bevölkerung
195
Kryptotie ( Taschenohr)
Definition und klinisches Bild
▬ Fehlbildung mit Fixierung des oberen Teiles der Ohrmuschel unter der Haut (wie in einer Tasche)
▬ Gegebenenfalls mit anderen Fehlbildungen kombiniert: oberer Sulkus fehlt, Skapha und Crura anthelicis oft unterentwickelt
Epidemiologie
Ätiologie
▬ Hereditäre Fehlbildung (dominante Vererbung), familiäre Häufung
▬ Exogene und unbekannte Faktoren
Pathogenese
▬ Fehlende oder gestörte Entwicklung der Ohrmuschel
während der Embryonalphase (3.–6. Monat; die Entwicklung der Helix findet etwa im 6. Monat statt)
> Wichtig
Abstehende Ohren stellen per se keine Erkrankung dar,
sondern eine anatomische Variante. Kommt es jedoch
durch das soziale Umfeld zu Hänseleien, können abstehende Ohrmuscheln Krankheitswert erlangen.
Klinisches Bild
▬ Unterschiedlich ausgeprägte Fehlform der Ohrmuschel mit Vergrößerung des Helix-Mastoid-Abstands,
des Winkels zwischen Koncha und Mastoid sowie des
Winkels zwischen Koncha und Skapha
▬ Unterschiedlich ausgeprägte Anthelixhypoplasie und
Protrusion des Lobulus
▬ In Europa selten, in Asien häufiger
▬ Familiäre Häufung
Ätiologie
▬ Anomalie der inneren schrägen und queren Ohrmuskeln
Diagnostik
▬ Blickdiagnose
▬ Ohrmikroskopie und Audiometrie, da evtl. eine Kombination mit anderen Fehlbildungen des äußeren Ohres oder des Mittelohrs besteht
Therapie
▬ Operation (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur der Kryptotie nach Weerda«)
Kolobom
Definition
▬ Synonyme: Fragezeichenohr, »question mark ear«
▬ Quere Ohrmuschelspalte mit Einziehung der kaudalen Helix
Klinisches Bild und Diagnostik
Diagnostik
▬ Vermessung der Ohrmuschel; ungefähre Normwerte:
– Helix-Mastoid-Abstand: bis 20 mm
– Koncha-Mastoid-Winkel: bis 30°
– Skapha-Koncha-Winkel: bis 90°
▬ Fotodokumentation aus 3–5 Blickwinkeln erforderlich
Therapie
▬ Eine Operation ist in jedem Alter bei entsprechender
Indikation möglich; Kinder sollten aus psychologischen Gründen am besten vor der Einschulung operiert werden (ab diesem Zeitpunkt ist nicht mehr mit
einem wesentlichen Wachstum der Ohrmuschel zu
rechnen)
▬ Otoplastik (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Abstehende Ohrmuscheln«; Synonyme:
Ohrmuschelplastik, Anthelixplastik, Otopexie, Otoklisis, »otoplasty«)
▬ Defekt zwischen kaudaler Helix und Lobulus, häufig
kombiniert mit anderen Fehlformen wie abstehendes Ohr, Makrotie, Lobulusdeformität oder Dystopie
(⊡ Abb. 21.6)
Therapie
▬ Operation (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur eines Koloboms«)
Kleine Deformitäten/Fehlbildungen
Definition
▬ Sammelbegriff für:
– Darwin-Höcker (Tuberkulum): aufgrund seiner
Häufigkeit noch als Normvariante angesehene,
umschriebene Verdickung im Bereich des oberen
Helixbereichs; kann u. U. stark ausgeprägt sein
– Stahl-Ohr: überzähliges Crus anthelicis, nach hinten oben verlaufend; gelegentlich fehlt das Crus superius; Ohr häufig abstehend, Helix nach außen ge-
3
196
Kapitel 3 · Ohr
–
3
–
–
–
krempelt (Kombination mit Satyr-Ohr) oder Crus
superius angedeutet (⊡ Abb. 21.7)
Skaphoidohr (Flachohr, Abplattung des Ohrrandes):
Fehlen der Skapha bzw. fehlendes Aufkrempeln
der typischen Helixstruktur; Koncha oder Anthelix
mündet flach in die oben aufsteigende Helix ein;
häufig mit Abstehen der Ohrmuschel verbunden
Fehlender Tragus
Makakus-Ohr (Satyr-Ohr): ausgezogener hinterer
Helixrand im Bereich des Darwin-Höckers, fließender Übergang zum Stahl-Ohr (⊡ Abb. 3.15)
Lobulusdeformitäten: Lobulushyperplasie, -aplasie,
-kolobom, angewachsene Ohrläppchen
Therapie
▬ Darwin-Höcker: Inzision der Skapha → Präparation
der Haut → Resektion des überschüssigen Knorpels
→ Naht in der Skapha
▬ Stahl-Ohr: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Korrektur eines Stahl-Ohres«
▬ Skaphoidohr: an der Vorderseite der Ohrmuschel
etwa 4 mm vom Ohrrand entfernt und parallel dazu
Exzision eines Haut-Knorpel-Streifens aus der Skapha
→ zusätzlich Exzision eines Keiles aus der vorderen
oberen Helix (am oberen Exzisionsrand) → Aufstellen der Helix
▬ Fehlender Tragus: Rekonstruktion mit Knorpel und
Vollhaut
▬ Makakus-Ohr: Resektion des überhängenden Knorpels
und Formung einer neuen Helix; Alternative: entsprechend einer Schablone Knorpel aus dem ipsilateralen
Ohr gewinnen und in den Defekt einpassen, ggf. Hautdefizit durch V-Y-Plastik oder Vollhaut ausgleichen
▬ Lobulusdeformitäten:
– Lobulushyperplasie: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr
und Gehörgang« → »Korrektur einer Lobulushyperplasie«
– Lobulusaplasie: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und
Gehörgang« → »Defekte der Ohrmuschel« → »Lobulusdefekte«
– Lobuluskolobom: # Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und
Gehörgang« → »Korrektur eines Koloboms«
– angewachsene Ohrläppchen: Inzision im Bereich des
Lobulusansatz an der Wange (V-förmig) → Präparation des Lobulus sowie Trimmen des Fettes und der
Lappenüberschüsse → Verschluss der posterioren
Wunde (Verschiebelappen); Alternative: Umschneidung des Lobulusansatzes → 3-schichtige Exzision
im mittleren Lobulus → Hochnähen des Lobulus
Tassenohrdeformität Typ I nach Tanzer
Definition, klinisches Bild und Diagnostik
▬ Geringgradige Deformität der Helix mit kappenartigem Überhängen von Helix und Skapha
▬ Anthelix und Crura abgeflacht
▬ Zu kurzer Helixumfang, sodass die Ohrmuschel zusammengedrückt wird (»constricted ear«)
▬ Häufig abstehende Ohrmuschel
Epidemiologie
▬ 2 % aller Tassenohrdeformitäten
Ätiologie
▬ Autosomal-dominant vererbte Höcker-3-Malformation
Therapie
▬ Otoplastik und ggf. Resektion des Überhangs
(# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr und Gehörgang« →
»Tassenohrdeformität Typ I nach Tanzer«)
Tassenohrdeformität Typ IIa nach Tanzer
Definition und klinisches Bild
▬ Deutliche Deformität der Helix mit ausgeprägtem,
kappenartigem Überhang von Helix und Skapha
▬ Fehlendes Crus superius der Anthelix
▬ Ohrmuschel in der Längsachse verkürzt
▬ Häufig abstehende Ohrmuschel
Therapie
⊡ Abb. 3.15. Makakus-Ohr
▬ Otoplastik mit Aufrichten der Ohrmuschel und ggf.
Verlängerung der Helix (# Kap. 21.5.1, »Äußeres Ohr
und Gehörgang« → »Tassenohrdeformität Typ IIa
nach Tanzer«)
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
197
Tassenohrdeformität Typ IIb nach Tanzer
Therapie
Definition und klinisches Bild
▬ Ziele:
– plastische Rekonstruktion der Ohrmuschel (ggf.
auch von Gehörgang und Mittelohr)
– audiologische Rehabilitation bei beidseitiger Dysplasie
▬ Maßnahmen:
– komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut
– alternativ Ohrmuschelaufbauplastik unter Verwendung von alloplastischen Ohrmuschelgerüsten
(Medpor)
– Alternative zur Ohrmuschelaufbauplastik: knochenverankerte Epithese
– Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten: im
Säuglings- und Kleinkindalter als Stirnband, ab dem
3. Lebensjahr als knochenverankertes Hörgerät
– mehrzeitige, chirurgische Mittelohrkonstruktion in
Verbindung mit dem Gehörgangs- und Ohrmuschelaufbau
▬ Mittelgradige bis schwere Deformität der Ohrmuschel
mit Einkrempelung und vollständigem Überhang der
oberen Ohrmuschel über die mittlere Ohrmuschel
und Fehlen der Crura anthelicis
▬ Ohrmuschel in der Längsachse deutlich verkürzt
▬ Abstehende Ohrmuschel
Therapie
▬ Otoplastik mit Verlängerung der Helix sowie Transplantation von Haut und Knorpel (# Kap. 21.5.1,
»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Tassenohrdeformität Typ IIb nach Tanzer«)
Dysplasien vom Schweregrad II
Tassenohrdeformität Typ III nach Tanzer (Schneckenohr)
Definition und klinisches Bild
▬ Ausgeprägte Deformität der Ohrmuschel
▬ Mikrotie und vollständig eingekrempelte Ohrmuschel, ggf. kombiniert mit Dystopie
Therapie
▬ Komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut
Miniohr
Definition und klinisches Bild
▬ Ausgeprägte Deformität der Ohrmuschel mit Mikrotie und starker (u. U. vollständiger) Einkrempelung,
ggf. kombiniert mit Dystopie
Therapie
▬ Komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut (# Kap. 21.5.1,
»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Mikrotie«)
Dysplasien vom Schweregrad III
(Mikrotie vom Schweregrad III und Anotie)
Definition
▬ Keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel vorhanden
▬ Zur Rekonstruktion werden Haut und Knorpel oder
alloplastische Materialien benötigt
Klinisches Bild
▬ Vollständiges Fehlen der Ohrmuschel oder Vorhandensein von Rudimenten im Sinne einer Mikrotie
vom Lobulustyp; die Rudimente sind häufig dystop
und mit einer Gehörgangsatresie vergesellschaftet
▬ Auftreten im Rahmen von Syndromen (z. B. Goldenhar-Syndrom)
Gehörgangsstenosen und -atresien
Definition und Ätiologie
▬ Genetisch bedingte oder erworbene Fehlbildung des
äußeren Gehörgangs
▬ Isoliert auftretend oder in Verbindung mit Fehlbildungen des äußeren Ohres oder im Rahmen von
Syndromen
Pathogenese
▬ Embryonale Fehlentwicklung der Gehörgangsanlage
Einteilung
▬ Nach Weerda:
– Typ A: Gehörgangsstenose mit intaktem Hautschlauch
– Typ B: teilweise angelegter Gehörgang mit Atresieplatte im medialen Anteil
– Typ C: komplette knöcherne Gehörgangsatresie
Epidemiologie
▬ Inzidenz: etwa 1/10.000 Neugeborene
Klinisches Bild
▬ Unterschiedlich ausgeprägte Schallleitungsschwerhörigkeit bis zum Schallleitungsblock bei Atresie
Diagnostik
▬ Inspektion der Ohrmuschel
▬ Ohrmikroskopie: stenotischer oder blind endender
äußerer Gehörgang, Trommelfell in der Regel nicht
sichtbar
3
198
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Computertomographie mit Bewertung der Mittelohrstrukturen anhand eines Scores (z. B. nach Jahrsdoerfer, Siegert oder Weerda und Mayer; # Kap. 3.5.1,
»Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems«) zur Abschätzung des Operationserfolgs
▬
▬
▬
▬
Differenzialdiagnostik
Goldenhar-Syndrom (Dysostosis oculoauricularis)
▬ Erworbene, postinflammatorische Gehörgangsstenose
▬ Tumoren des Gehörgangs
▬ Halbseitige Gesichtshypoplasie
▬ Makrostomie
▬ Augen- und Ohrfehlbildung: Gehörgangsatresie,
präaurikuläre Anhänge, Astigmatismus, epibulbäres
Dermoid
Therapie
▬ Ziel: audiologische und ästhetische Rehabilitation des
Patienten
▬ Maßnahme: 3-zeitige Gehörgangskonstruktion oder
-erweiterung (bei günstigen anatomischen Vorraussetzungen) aus Rippenknorpel und Haut in Verbindung
mit einem Mittelohraufbau (# Kap. 21.5.1, »Äußeres
Ohr und Gehörgang« → »Gehörgangsatresie«), ggf.
im Rahmen eines Ohrmuschelaufbaus
> Wichtig
Bei der operativen Anlage eines neuen Gehörgangs muss
die räumliche Annäherung von Kiefergelenk und Mastoid
beachten werden (»Raummangel«).
Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen
von Fehlbildungssyndromen
Franceschetti-Zwahlen-/Treacher-Collins-Syndrom
(Dysostosis mandibulofacialis)
▬ Fehlbildung des 1. Kiemenbogens und der Kiemenfurche
▬ Mikrotie und Gehörgangsatresie
▬ Hypoplasie des Epitympanons und des Mastoids
▬ Ein- oder beidseitige hochgradige Mittelohrschwerhörigkeit
▬ Einseitige, selten beidseitige Innenohrschwerhörigkeit
unterschiedlichen Ausmaßes
▬ Einseitige, selten beidseitige vestibuläre Untererregbarkeit möglich
▬ Laterales Lidkolobom und antimongoloide Lidspaltenstellung
▬ Vogelgesicht (»Kobold«): abgeflachter frontonasaler
Winkel, Jochbein-, Oberkiefer- und Unterkieferhypoplasie, Makrostomie (zweithäufigste Gesichtsfehlbildung nach lateralen Gesichtsspalten)
Hypoplasie der Maxilla
Ohrmuschel- und Gehörgangsfehlbildungen
Dysplasien an Hand und Arm
Rippen- und Wirbelanomalien (ähnlich wie bei
Franceschetti-Zwahlen-Syndrom, aber ohne Lidanomalie)
Morbus Crouzon (kraniofaziale Dysostose)
▬ # Kap. 2.1.4
Klippel-Feil-Syndrom (Fehlbildung des Achsenskeletts
heterogener Ätiologie)
▬ Kurz-(»Frosch«)-Hals mit eingeschränkter Halswirbelsäulenbeweglichkeit (Halswirbelsynostosen)
▬ Fassthorax
▬ Nicht selten Tiefstand der Ohrmuscheln, Mikrotie,
Gehörgangsatresie, Dysplasie des Mittelohrs, Innenohrschwerhörigkeit und Gaumenspalte
Möbius27-Syndrom
▬ # Kap. 4.3.4
▬ Auch Ohrfehlbildungen: Gehörgangsatresie, Ausfall
des N. vestibularis, mittlere bis hochgradige Innenohrschwerhörigkeit, bei Fehlbildung des Mittelohrs
auch Schallleitungsschwerhörigkeit
CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom)
▬ Gemeinsames Auftreten mehrerer Fehlbildungen
unklarer Genese: K(C)olobome im Iris-ChoroideaBereich, angeborene Herzfehler unterschiedlicher
Ausprägung, Atresie der Choanen, Retardation der
Entwicklung, Genitalhypoplasie, Ohr-(Ear-)Anomalien (kombinierte Schwerhörigkeit, Fehlbildungen des
äußeren Ohres und des Mittelohrs)
▬ Häufig Beteiligung verschiedener Hirnnerven
▬ Spaltbildungen im Lippen-Gaumen-Bereich
▬ Mikrozephalus
▬ Ösophagusanomalien
▬ Syndaktylie
Nager-de-Rey-Syndrom (Dysostosis otomandibularis)
▬ Dysplasie des aufsteigenden Unterkieferasts und des
Kiefergelenks
▬ Schwere Mikrogenie
27
Paul Julius Möbius (1853–1907), Neurologe und Psychiater,
Leipzig (Möbius-Zeichen: # Kap. 5.5.8, »Wichtige Tumoren« →
»Endokrine Orbitopathie«)
199
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
Edwards-Syndrom ( Trisomie 18)
▬
▬
▬
▬
Autosomale Trisomie der Chromosomengruppe E
Dysplasie des äußeren Ohres
Schallleitungsschwerhörigkeit
Kurzhals, Mikrogenie, evtl. Lippen-Kiefer-GaumenSpalte, ggf. Choanalatresie, hoher Gaumen
Literatur
Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von
Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95
Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2.
Aufl. Thieme, Stuttgart New York
Otto H-D (1981) Zwei bisher unbekannte Verlagerungsbewegungen in
der Branchialregion des menschlichen Keimlings, dargestellt an
der Ontogenese des äußeren und des Mittelohres einschließlich
der periaurikulären Region sowie an der Pathogenese ihrer Missbildungen (Der Irrtum der Reichert-Gaupp’sehen Theorie). Promotion B, Medizinische Fakultät, Charité, Berlin
Tanzer RC (1975) The constricted cup and lop ear. Plast Reconstr Surg
55: 406–415
Weerda H (1994) Anomalien des äußeren Ohres. In: Naumann HH,
Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1. Thieme, Stuttgart New York, S.
488–499
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome
und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
3.4.2 Verletzungen des äußeren Ohres
und des äußeren Gehörgangs,
Gehörgangsfremdkörper
C. Klingmann, P.K. Plinkert
Verletzungen des äußeren Ohres und
des äußeren Gehörgangs
Definition
▬ Verletzung der Ohrmuschel und/oder des äußeren
Gehörgangs durch Gewalteinwirkung
Einteilung und Ätiologie
▬ Ohrmuschelverletzungen:
– stumpfe Traumen mit Abscherung der Haut und
des anliegenden Perichondriums mit Ausbildung
eines Otseroms bzw. Othämatoms
– scharfe Traumata mit Einriss- und Schnittverletzungen, Teilabriss der Ohrmuschel oder kompletter
Ablatio otis
– Schädigung der Haut durch äußere Noxen:
– UV-Licht
– Kälte, Schweregrad I: Abblassen → Hyperämie
und Schwellung → Hypästhesie oder Schmerzen
– Kälte, Schweregrad II: Blasenbildung
– Kälte, Schweregrad III: Nekrosen bzw. Verkohlung
– Hitze, Schweregrad I: Hyperämie
– Hitze, Schweregrad II: Blasenbildung
– Hitze, Schweregrad III: Nekrosen
– Säure- bzw. Laugeneinwirkung
– Sonderform: »Verletzung« durch Piercing (# Kap.
5.4.2, »Weichteilverletzungen«)
▬ Gehörgangsverletzungen:
– Verletzung der Integrität des Gehörgangs durch
direkte Krafteinwirkung wie Fremdkörper (Holzspieß, Grashalm), Ohrstäbchen (»Q-Tips«), unsachgemäße Ohrspülung, Büroklammern etc.
– Mitbeteiligung bei fortgeleiteten Frakturen, z. B.
Laterobasis- und Kiefergelenkfrakturen
– Barotrauma des äußeren Ohres
Pathogenese
▬ Allgemein: bei einer plötzlichen Bedrohung wird das
Gesicht reflektorisch durch eine Bewegung zur Seite
geschützt, sodass das äußere Ohr der unmittelbaren
Gewalt ausgesetzt ist
▬ Otserom, Othämatom: stumpfe, abscherende Kräfte
in tangentialer Bewegung (selten spontan auftretende
subperichondrale Einblutung) → Lösung der Haut
und des Perichondriums vom Ohrknorpel (mit Zerreißung der Blutgefäße) und Ausbildung eines Seroms
bzw. Hämatoms zwischen Knorpel und Perichondrium (meist an der Lateralfläche der Ohrmuschel)
> Wichtig
Da der Knorpel über das Perichondrium ernährt wird, besteht die Gefahr einer Knorpelnekrose (Kammerbildung
im Knorpel; auch postoperativ nach Ohrmuschelkorrekturen möglich).
▬ Äußerliche Noxen: direkte Schädigung der Ohrmuschelhaut
▬ Riss-Quetsch-Wunden: am häufigsten; durch scharfe,
abscherende oder quetschende Kräfte
▬ Schnittverletzungen: je nach Ausmaß liegen kleinere
Verletzungen, Teilamputationen oder eine komplette
Ohrmuschelamputation vor
▬ Direkte Krafteinwirkung auf den Gehörgang:
– abhängig von der Lokalisation können knorpliger
und knöcherner Abschnitt des Gehörgangs betroffen sein
– durch die natürliche Biegung des Gehörgangs treten Verletzungen des Trommelfells seltener auf
▬ Barotrauma des äußeren Ohres:
– beim Tauchen (# Kap. 3.5.2, »Barotrauma«)
3
200
3
Kapitel 3 · Ohr
– eng anliegende Kopfhaube, ggf. bei Entzündungen
des Gehörgangs oder Exostosen → luft- oder wasserdichtes Abschließen des Gehörgangs → Verletzung des Gehörgangs (Schwellungen oder Einblutungen) oder selten des Trommelfells
▬ Fortgeleitete Frakturen:
– bei Fraktur des Kiefergelenks kann die Gehörgangsvorderwand imprimiert werden
– Frakturen der Laterobasis führen häufiger zu einer
Stufenbildung im Bereich des hinteren Gehörgangs
Klinisches Bild
▬ Schmerzen, Brennen, Druck-/Spannungsgefühl der
Ohrmuschel/des Gehörgangs
▬ Verschmutzung der Ohrmuschel
▬ Blutung aus Ohrmuschel/Gehörgang
▬ Rötung, Zyanose, Abblassen der Haut bei Einwirkung
äußerlicher Noxen
▬ Blasenbildung
▬ Deformation der Ohrmuschel, offensichtliche Schnittverletzung
▬ Vorwölbung und Lösung der Ohrmuschelhaut vom
Knorpel, Fluktuation des Hämatoms/Seroms
▬ Verstreichen des typischen Ohrmuschelreliefs (Otserom, Othämatom)
▬ Stufenbildung im Gehörgang
▬ Kieferklemme/-sperre
Diagnostik
▬ Anamnese: Schädigungsmechanismus bzw. Unfallhergang (Ringen, Rugby, Verbrennung, Verätzung,
UV-Licht etc.), Fremd- oder Selbstverschulden
▬ Inspektion: in der Regel handelt es sich um eine
Blickdiagnose; Ausmaß der Verletzung und Gewebeverlust beachten
▬ Palpation der Ohrmuschel: Fluktuation eines Seroms/
Hämatoms
▬ Gegebenenfalls Punktion einer fluktuierenden Raumforderung
▬ Ohrmikroskopie: Epithelverletzung, Stufenbildung,
Gehörgangsfremdkörper
▬ Überprüfung der Mundöffnung (Kiefergelenk)
▬ Hör- und Gleichgewichtsprüfung
▬ Fotodokumentation
▬ Computertomographie (bei Verdacht auf SchädelHirn-Trauma)
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
Erysipel der Ohrmuschel
Perichondritis der Ohrmuschel
»Relapsing polychondritis«
»Grippeotitis« bei Blutung aus dem Gehörgang
Therapie
▬ Ziele:
– Wiederherstellung der ursprünglichen Form bzw.
plastisch-ästhetische Rekonstruktion
– Vermeidung von Sekundärinfektionen und von Gehörgangsstenosen
▬ Maßnahmen:
– alle Ohrmuschelverletzungen müssen gereinigt und
desinfiziert werden, auch Entfernung von Schmutztätowierungen
– bei Freilegung des Knorpels, Lazeration, Bissverletzung und kontaminierten Wunden systemische
Antibiotikatherapie (z. B. Clindamycin, Oralcephalosporin), ggf. Gabe eines Antiphlogistikums
– Schnittverletzungen, Teilamputationen: primärer
schichtweiser Wundverschluss (Perichondrium-zuPerichondrium-Naht)
– Lazerationen: Wundverschluss und modellierender,
druckfreier Salbenverband
– Totalamputation: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr und
Gehörgang« → »Ohrmuschelverletzungen« →
»Versorgung«)
– Otserom/Othämatom: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr
und Gehörgang« → »Ohrmuschelverletzungen« →
»Othämatom, Otserom«)
– Verbrennungen/Verätzungen:
– präklinisch Kaltwasserbehandlung
– lokal desinfizierende Maßnahmen, steriles Abdecken (kein Druckverband), Verband mit Kortisoncreme und ggf. Fenistilsalbe (Verbrennnung
Grad I) bzw. Verband mit Kortisoncreme oder bei
Hauterosionen Hautdesinfektion (Verbrennung
Grad II), geschlossene Wundbehandlung, ggf.
chirugisches Vorgehen (freiliegender Knorpel)
– Erfrierungen: langsames Aufwärmen, kühle Umschläge (kein Druck auf Ohrmuschel), Kortisonsalbenverband (Erfrierung Grad I), lokal Antiseptika,
Blaseneröffnung unter sterilen Bedingungen (Erfrierung Grad II), lokale (Aureomycin, Gentamicin) oder ggf. systemische antibiotische Therapie,
ggf. Nekrosenentfernung (Erfrierung Grad III)
– Gehörgangsverletzungen mit direkter Gewalteinwirkung: Einlegen einer Streifentamponade, getränkt mit Kombination aus Antibiotika und Steroiden
– Gehörgangsverletzung bei fortgeleiteten Frakturen:
Therapie der initialen Fraktur, Gehörgangsreposition
! Cave
Vorsicht bei der Gehörgangsreinigung: mögliche
Liquorrhö bei Schädelbasisfrakturen → nicht spülen
201
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
Verlauf und Prognose
Therapie
▬ Stark vom Ausmaß der Schädigung abhängig:
– Schnittverletzungen, Einrisse und Teilamputationen: sehr gute Prognose, auch wenn die Schwellung
bei Teilamputationen über Wochen anhalten kann
– Infektion einer Schürfwunde (z. B. am Helixrand):
Abszedierung, ggf. Untergang der Ohrmuschel
– Totalamputationen: sehr heterogene Prognose (bis
zum bleibenden Verlust der Ohrmuschel), abhängig vom Ausmaß der initialen Schädigung, von
der Latenz bis zum Beginn der Wundversorgung
und von Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes mellitus)
– Otserom und Othämatom: bei rechtzeitigem und
konsequentem Therapiebeginn gute Prognose
– Komplikationen: Knorpeleinschmelzung, Abszedierung
– Spätkomplikationen: »Ringer«- oder »Blumenkohlohr«
– Verbrennungen, Verätzungen, Erfrierungen: bei
Verletzungen der Schweregrade I und II gute Prognose, bei Schweregrad III in der Regel Teilverlust
der Ohrmschel
▬ Ziele:
– Entfernung des Fremdkörpers
– Vermeidung von Komplikationen
▬ Maßnahmen:
– Fremdkörper mit Häkchen entfernen; Gehörgangsspülungen sind ebenfalls möglich und bei sehr kleinen Fremdkörpern wie Sand, Haaren oder Staub
auch sinnvoll
Gehörgangsfremdkörper
Fremdkörperarten und Pathogenese
▬ Kinder stecken sich alle möglichen Fremdkörper
(kleine Spielzeugteile, Kirschkerne, Erbsen, Steinchen
und andere Gegenstände) in den Gehörgang
▬ Erwachsene stellen sich häufiger mit akzidentell
eingebrachten Fremdkörpern beim Arzt vor: Watte
(nach Ohrreinigung) bzw. Wattepfröpfe, Ohrstopfen,
Reste von Oropax, Streichholzteile, Aststücke, selten
lebende Fremdkörper (Insekten)
Klinisches Bild
▬
▬
▬
▬
▬
Ohrdruck, Schwerhörigkeit
Jucken, Schmerzen
Otorrhö
Tinnitus (Insekt)
Singultus
Diagnostik
▬ Anamnese
▬ Ohrmikroskopie
Differenzialdiagnostik
▬ Cerumen obturans
▬ Exostosen
▬ Cholesteatom (Gehörgangspolyp durch Fremdkörper)
! Cave
Bei aufquellenden Fremdkörpern oder Trommelfellverletzung ist eine Spülung kontraindiziert.
– länger liegende, festsitzende Fremdkörper mit Otitis externa in Lokalanästhesie entfernen (Erwachsene)
– bei Kindern Entfernung des Fremdkörpers (harte,
den Gehörgang verlegende Fremdkörper wie Perlen) häufig nur in Allgemeinnarkose möglich
– verkeilte feste Fremdkörper: ggf. Entfernung
über einen endauralen Zugangsweg (# Kap. 21.5.1,
»Trommelfell und Mittelohr« → »Zugangswege«)
erforderlich
– nach der Fremdkörperentfernung sollte einmalig
eine desinfizierende oder antibiotische Lokaltherapie erfolgen (z. B. Glyzerol- oder Ciprofloxacintropfen)
Verlauf und Prognose
▬ Bei sachgerechter Entfernung gut
▬ Komplikationen: Otitis externa, Gehörgangs-/Trommelfell- und/oder Gehörknöchelchenverletzung
! Cave
Keine Extraktion mit Pinzette oder kleiner Zange, da
beim Abrutschen eine Verletzungsgefahr für das Trommelfell besteht
Literatur
Boenninghaus H-G (1979) Ohrverletzungen. In: Berendes J, Link R,
Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik.
Bd 5: Ohr, Bd I, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S. 20.21–20.48
Ernst A, Herzog M, Seidl RO (2004) Traumatologie des Kopf-HalsBereichs. Thieme, Stuttgart New York
Richter WC (Hrsg.) (1992) Kopf- und Halsverletzungen. Thieme, Stuttgart New York
Strohm M (1994) Traumatologie des Ohres. In: Naumann HH, Helms
J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie
in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S.
647–666
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
Zenner H-P (Hrsg.) (2008) Praktische Therapie von Hals-Nasen-OhrenKrankheiten, 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart New York
3
202
Kapitel 3 · Ohr
3.4.3 Entzündliche Erkrankungen
S. Maune
3
Bakterielle Infektionen des äußeren Ohres
Otitis externa diffusa
Definition
▬ Unspezifische, diffuse bakterielle Entzündung des
äußeren Gehörgangs mit oder ohne Beteiligung des
Trommelfells (Myringitis)
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
Gehörgangsfurunkel
Mikrobielles Ekzem
Gehörgangsverletzung
Gehörgangstumor
Akute Mastoiditis (Senkung der hinteren oberen Gehörgangswand; Bildgebung, Labordiagnostik)
▬ Otitis externa necroticans (maligna)
▬ Fibrosierende (idiopathische; Otitis externa fibrinosa)
oder radiogene Gehörgangsentzündung
▬ Otitis media (bei sekundärer Okklusion des Gehörgangs und nicht einsehbarem Trommelfell)
Ätiopathogenese
▬ Meist bakteriell-mykotische Mischinfektionen: Pseudomonas aeruginosa, Staphylococcus aureus, Proteus
spp., Streptococcus spp., Candida spp., Aspergillus
spp.
▬ Exogene Hautschädigungen, zum Teil Prädisposition
(idiopathische Otitis media)
▬ Begünstigung der Entzündung durch:
– feuchtwarmes Klima
– häufiges Baden (Badeotitis; chlorhaltiges oder unsauberes Wasser) mit Mazeration der Gehörgangshaut
– Wasserretention bei Exostosen oder Stenosen
– eitrige Otitis media acuta/chronica
– Tragen von Hörgeräten oder Schallschutzstöpseln
– Verwendung von Wattestäbchen (mechanische Manipulationen)
– berufsbedingte Staubexposition
Klinisches Bild
▬ Zunächst Juckreiz und Druckgefühl, später diffuse,
starke Schmerzen
▬ Bei Druck auf Tragus oder Zug an der Ohrmuschel
Auslösen von Schmerzen
▬ Gegebenenfalls Hörstörungen bei vollständiger Okklusion
▬ Fötide-eitrige Sekretion
▬ Schwellung der regionalen Lymphknoten
▬ Mitunter reduzierter Allgemeinzustand und Fieber
Diagnostik
▬ Umwelt-, Sozial- und Arbeitsanamnese
▬ Tragusdruck- und -zugschmerz (»Externadruckschmerz«)
▬ Gehörgang gerötet, geschwollen oder verlegt, ggf. Sekretansammlung; in der Regel Beschränkung der Entzündung auf den Gehörgang
▬ Bei Therapieresistenz Abstrich mit Resistenzbestimmung, ggf. Labordiagnostik (Blutbild, Blutzuckerspiegel, HbA1c-Wert)
Therapie
▬ Ziele:
– Abschwellen der Gehörgangshaut
– Rückkehr zum physiologischen Erregerspektrum
– Vermeidung von Komplikationen (Phlegmone, Osteomyelitis, Gehörgangsstenose)
▬ Maßnahmen:
– sorgfältige, aber vorsichtige Reinigung des Gehörgangs (Sekret und Detritus) und Desinfektion
– regelmäßige Analgetikagabe, z. B. Paracetamol (Kleinkinder: 2- bis 3-mal 250 mg/Tag; Kinder: 2- bis 3-mal
500 mg/Tag; ab 14 Jahren: 2- bis 3-mal 1000 mg/Tag)
– bei leichteren Formen lokal Kortikoide und Antibiotika (bei Pseudomonas spp. Ciprofloxacin als Mittel
der 1. Wahl) sowie andere antiseptische Mittel (z. B.
Octenidin), außerdem Ohrentropfen (z. B. Panotile
cipro, 3-mal täglich), ggf. mit Streifen (Dochtwirkung)
– bei ausgedehntem Befall Salbenstreifeneinlagen mit
Antibiotikum (z. B. Sulmycin, Aureomycin) – täglicher Wechsel bis zur Heilung
– bei Beteiligung der Ohrmuschel, Schwellung der
regionären Lymphknoten, massiver Ausprägung,
Diabetikern und immunsupprimierten Patienten:
systemische Antibiotikatherapie
Prophylaxe
▬ Wasserkarenz
▬ Manipulationsverbot (ggf. nachts Handschuhe als
Schutz vor Verletzungen des Gehörgangs durch Fingerkratzen tragen)
▬ Gegebenenfalls operative Gehörgangserweiterung
Verlauf und Prognose
▬ Bei subtiler Gehörgangstoilette und Ansprechen der
Erreger auf Antibiotika Restitutio ad integrum
▬ Eskalation zur phlegmonösen Form und Osteomyelitis bei Diabetikern oder immunsupprimierten Patienten → Otitis externa necroticans (maligna)
203
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
▬ Komplikationen: Perichondritis der Ohrmuschel,
Otitis externa necroticans (s. unten), Lymphknotenoder Parotisabszess, bei chronisch rezidivierenden
Entzündungen Gehörgangsstenose und Blutung
> Wichtig
Im Intervall bzw. nach Abschwellen des Gehörgangs
ist noch einmal eine sorgfältige Ohrmikroskopie zum
Ausschluss einer mittelohrbedingten Sekretion (Cholesteatom) notwendig.
Otitis externa circumscripta
(Gehörgangsfurunkel)
Definition
▬ Abszedierende Infektion eines Haarfollikels im lateralen Teil des äußeren Gehörgangs durch Staphylokokken (v. a. Staphylococcus aureus)
Ätiopathogenese
▬ Infektion des Haarfollikels (begünstigt durch Manipulation, Immundefekten/HIV-Infektion, Diabetes mellitus) → perifollikuläre Entzündung → Abszedierung und Schwellung → starke (bohrende)
Schmerzen, da die Haut straff auf dem Knochen
liegt; Zusammenfließen mehrerer Herde → Phlegmone
Otitis externa necroticans sive maligna
(Pseudomonasotitis)
Definition
▬ Durch Pseudomonas aeruginosa hervorgerufene, destruierende Gehörgangsentzündung mit invasiver Perichondritis und Osteomyelitis bei älteren Patienten mit
Diabetes mellitus oder immunsupprimierten Patienten
▬ Lebensbedrohliches Krankheitsbild
Ätiopathogenese
▬ Geschwächte Abwehr, Produktion aktiver bakterieller
Proteasen → schwere Infektionen von Weichteilen
und Knochen im Gehörgang → Ausbreitung der Entzündung längs der Gefäße bis Os temporale und lateraler Schädelbasis
Klinisches Bild
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Schmerzen wie bei Otitis externa, später Ohrdruck
Kopfschmerzen
Schwerhörigkeit
Perichondritis
Fötide hämorrhagische Otorrhö (süßlich riechend)
Kieferklemme
Parotisschwellung
Schwindel
Fazialisparese (fortgeschrittene Entzündung)
Reduzierter Allgemeinzustand
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Starke Schmerzen (Tragusdruckschmerz, Schmerzen
beim Kauen)
▬ Umschriebene dolente Schwellung und Rötung im
Gehörgang (zentral eitriger Pfropf), die den Gehörgang typischerweise von einer Seite aus einengt
▬ Unter Umständen mastoiditisähnliche Schwellung an
retroaurikulärer Umschlagfalte (Pseudomastoiditis)
Differenzialdiagnostik
▬ Siehe oben, »Otitis externa diffusa«
Diagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Therapie
Inspektion
Funktionsprüfung des N. facialis
Palpation der Gl. parotis (Schmerzen?)
Ohrmikroskopie: zerfallende, leicht blutende Granulationen am Boden des Gehörgangs oder im gesamten
Gehörgang, ggf. freiliegender Knochen (spricht für
Osteomyelitis)
Abstrich: Pseudomonas aeruginosa
Hör- und Gleichgewichtsprüfungen
Computertomographie des Felsenbeins bzw. der Schädelbasis (Ausdehnung der Destruktion)
Sonographie der Gl. parotis
Labordiagnostik: Differenzialblutbild (Leukozytose
mit Linksverschiebung), Blutzuckerspiegel (evtl. Glukosetoleranztest, HbA1c-Wert), Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG), Konzentration des Creaktiven Proteins
Knochenszintigraphie: Früherkennung einer Osteomyelitis
▬ Sorgfältige Gehörgangsreinigung
▬ Lokale Antiseptika oder Antibiotikastreifen, orale
Analgetika
▬ Gegebenenfalls systemische Antibiotikatherapie bei
Temperaturerhöhung oder perifokaler Entzündung
▬ Inzision nur bei Persistenz bzw. wenn keine spontane
Eröffnung erfolgt
▬ Bei Rezidiven Exzision
▬
▬
> Wichtig
! Cave
Bei rezidivierender Furunkulose an Diabetes mellitus und
immunsupprimierende Erkrankungen denken
▬
Bei einer therapieresistenten Otitis externa sollte man
immer an eine Otitis externa maligna denken.
3
204
3
Kapitel 3 · Ohr
Differenzialdiagnostik
Ätiopathogenese
▬ Einfache Otitis externa
▬ Karzinom des äußeren Gehörgangs
▬ Verletzung des Gehörgangs oder Gehörgangsfremdkörper
▬ Streptokokken dringen durch Mikroläsionen (z. B.
Mikrotraumen beim Reinigen) in die Haut ein →
Erysipel breitet sich in Lymphspalten aus
Klinisches Bild und Diagnostik
Therapie
▬ Konservativ:
– mehrmals täglich Gehörgangssäuberung (Absaugen des Sekrets, Antiseptika) mit Abtragung von
Granulationen
– lokale Applikation von Antibiotika gegen Pseudomonas aeruginosa (mehrmals täglich): Polymyxin B, Ciprofloxacin, Piperacillin oder Gentamycin
– i. v. Antibiotikatherapie über mehrere Wochen,
z. B. mit Ciprofloxacin in hoher Dosierung (alternativ: Levofloxacin, Cefepim, u. U. Aminoglykoside)
– Behandlung eines Diabetes mellitus (suffiziente
Einstellung des Blutzuckerspiegels)
– ggf. adjuvant hyperbare Sauerstofftherapie
– ggf. Gabe spezifischer Immunglobuline
▬ Operativ:
– indiziert bei persistierender oder fortschreitender
Osteomyelitis (bei konservativer Therapie selten)
– Prinzip: Entfernung des Granulationsgewebes sowie der Knochen- und Knorpelsequester → radikale Mastoidektomie (Abtragung des gesamten
Gehörgangs) und Petrosektomie
Verlauf und Prognose
▬ Bei optimaler Therapie in der Regel Ausheilung, ansonsten in fortgeschrittenen Fällen letaler Ausgang
durch Sepsis, Meningitis oder Hirnabszess (insgesamt 70 %; ausschließlicher Befall des N. facialis:
50 %; leichte Fälle: 14 %) → frühzeitige Diagnosestellung
▬ Komplikationen:
– Ausdehnung bis Oto-/Schädelbasis und Gl. parotis
über Santorini-Spalten, Foramen stylomastoideum
(→ Fazialisparese) Forman jugulare und Foramen
occipitale magnum (→ Hirnnervenausfälle: N. abducens, N. glossopharyngeus, N. vagus, N. accessorius)
– Thrombose des Sinus sigmoideus/cavernosus
– Meningitis, Epiduralabszess
Erysipel (Erysipelas, Wundrose)
Definition
▬ Akute, durch Streptokokken (Gruppe A, seltener
Gruppe B) bedingte Dermatitis
▬ Umschriebene, scharf abgegrenzte, erhabene Rötung
der Ohrmuschel-, der Gehörgangs- oder der Gesichtshaut; Areal fühlt sich derb und heiß an
▬ Schmerzendes Spannungsgefühl, oft Beteiligung der
regionären Lymphknoten
▬ Hohes Fieber oder Schüttelfrost
▬ Labordiagnostik: Leukozytose, deutlich erhöhte BSG
(differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber
akuter Dermatitis: fehlende Leukozytose)
Differenzialdiagnostik
▬ Perichondritis (s. unten): Lobulus ausgespart
▬ Phlegmone: unscharfe Begrenzung, stärkste Veränderung in der Herdmitte, Pustelbildung, stark klopfende
Schmerzen, Fieber, Schüttelfrost
▬ Beginnender Herpes zoster: nur geringes Fieber, aber
stärkere Schmerzen
Therapie
▬ Lokale und systemische Penicillinbehandlung
▬ Feuchte Umschläge mit antiseptischen Lösungen
Verlauf und Prognose
▬ Sehr gutes Ansprechen auf lokale und systemische
Antibiotikatherapie
▬ Komplikationen: selten phlegmonöse Verläufe mit
Abszessbildungen, selten Perichondritis
Perichondritis
Definition
▬ Übergreifen einer akuten Entzündung des äußeren
Ohres auf das Perichondrium
Ätiopathogenese
▬ Pseudomonas aeruginosa, seltener Proteus spp., Enterokokken, Escherichia coli
▬ Kratzdefekte, mechanische Traumata (Otserom,
Othämatom), operative Eingriffe mit Freilegen des
Knorpels, Erfrierungen, Verbrennungen, Insektenstiche, Piercing
▬ Sekundäre Infektion des Perichondriums und des
Knorpels
▬ Autolyse durch Inhaltsstoffe von Seromen oder Hämatomen
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
205
Klinisches Bild und Diagnostik
Diagnostik
▬ Diffuse, ödematöse Schwellung und Rötung, meist
des Cavum conchae bzw. der Helix mit Verstreichen
des gesamten Ohrmuschelreliefs
▬ Ohrmuschel stark druckschmerzhaft, fühlt sich heiß
an; Lobulus ausgespart
▬ Abstrich, Labordiagnostik
▬ Klinischer Befund
▬ Nachweis der Erreger durch Abstrich aus einer noch
intakten Blase (Pustel)
Differenzialdiagnostik
Therapie
▬ Erysipel: erstreckt sich auch auf den Lobulus, intensive Rötung, hohes Fieber
▬ Herpes zoster: Blasenbildung
▬ Lokal antibiotische Salbe und Lotion mit desinfizierenden Zusätzen
▬ Gegebenenfalls Abtragung der Bläschen
▬ Systemische Antibiotikatherapie (Flucloxacillin, Erythromycin)
▬ Mittelohrsanierung
Therapie
▬ Lokale und systemische Breitbandantibiotikatherapie
(knorpelgängige Antibiotika: Clindamycin, Ciprobay)
▬ Feuchte Umschläge mit Antiseptika
▬ Inzision (bei Eiteransammlung), chirurgische Abtragung des nekrotisierenden Knorpels (postaurikulärer
Zugang; wenn möglich keine Abtragung der Helix →
Erhaltung der Ohrmuschelform)
▬ Gegebenenfalls plastische Rekonstruktion der Ohrmuschel nach Ausheilung
Verlauf und Prognose
▬ Komplikationen: bei nekrotisierenden Verläufen
schwerste Verstümmelungen der Ohrmuschel
Impetigo contagiosa (Impetigo staphylogenes)
Definition
▬ Stark infektiöse, nicht follikulär gebundene, superfizielle Pyodermie, v. a. im Gesicht
▬ Sonderform staphylogenes Lyell-Syndrom: generalisierte Sonderform (v. a. bei Kleinkindern) nach
eitriger Otitis media, Pharyngitis oder Konjunktivitis
mit Ausbildung großer Blasen am gesamten Körper;
klinisch wie flächenhafte Verbrühung vom Schweregrad II
Differenzialdiagnostik
▬ Herpes simplex
Pilzerkrankungen des Ohres
Epidemiologie
▬ Häufigste Otitis-externa-Form in den Tropen, in
nördlicheren Breiten eher selten
Ätiopathogenese
▬ Schimmelpilze: Aspergillus fumigatus, Aspergillus
flavus, Aspergillus niger
▬ Candida albicans
▬ Günstige Wachstumsbedingungen für Pilze im Gehörgang bei Otitis externa und Langzeitmedikation
mit antibiotischen Ohrentropfen
▬ Begünstigung der Infektion durch chronische Entzündungen und feuchtwarmes Milieu
▬ Verlagerung der ausgeglichenen physiologischen
Flora zum Pilzklima → Erliegen der fungiziden Abwehrmechanismen in der Gehörgangshaut
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Infektion mit Staphylo- und/oder Streptokokken
▬ Auftreten bei purulenter/chronischer Otitis media
▬ Putride Inhaltsstoffe stören das mikrobielle Klima im
Gehörgang
▬ Juckreiz, dumpfer Schmerz, Völlegefühl
▬ Gelblich-grünliche bis schwärzliche oder watteähnliche Massen im Gehörgang, mikroskopisch gelegentlich Pilzfäden erkennbar, teilweise auch umschriebene
Pilzgranulome
▬ Intensive hyperämische Hautreaktion in der Umgebung
▬ Ausstriche (ungefärbt, gefärbt), Pilzkulturanlage
Klinisches Bild
Differenzialdiagnostik
▬ Rote Flecken mit Bläschen mit klarem Inhalt → Umwandlung in Pusteln → Platzen der Pusteln → Eintrocknen des Eiters → Ausbildung honiggelber Krusten an der Ohrmuschel
▬ Pruritus
▬ Regionäre Lymphknotenschwellung
▬ Bei pyogenen Mischinfektionen Abgrenzung gegenüber bakteriellen Gehörgangsentzündungen (mitunter schwierig)
Ätiopathogenese
Therapie
▬ # Kap. 13.2.3
3
206
Kapitel 3 · Ohr
Verlauf und Prognose
▬ Rezidivneigung
▬ Gelegentlich mit Knochennekrosen einhergehend
Virale Erkrankungen des äußeren Ohres
3
> Wichtig
Virusinfektionen des äußeren Ohres sind wesentlich
seltener als bakterielle Infektionen.
Herpes simplex
▬ Durch das Herpes-simplex-Virus hervorgerufene
Entzündung
▬ Selten isoliert an Ohrmuschel lokalisiert – Effloreszenzen im Gesicht und besonders am Mund
▬ Diagnostik: klinisches Bild mit typischen Bläschen,
Ohrmuschel nicht empfindlich, keine heftigen Neuralgien, dagegen bei akuter bullöser Myringitis oft
starke Schmerzen
▬ Therapie: im Bläschenstadium lokale Applikation von
Antiseptika oder Virostatika, bei bakteriellen Superinfektionen lokale Antibiotika; Analgetika
– bei Innenohrbeteiligung antiphlogistisch-rheologische Therapie
Otitis externa haemorrhagica (bullosa; bullöse
Myringitis, Grippeotitis)
▬ # Kap. 3.5.4, »Akute Otitis media«
Dermatosen des äußeren Ohres
Ekzem
▬ Akut bis chronisch verlaufende, nichtinfektiöse Entzündungsreaktion von Epidermis und Dermis
▬ Reaktionsform der Haut auf eine Vielzahl exogener
Noxen und endogener Reaktionsfaktoren
▬ Typisches klinisches (Juckreiz, Erythem, Papel, Seropapel, Bläschen, Schuppung, Krustenbildung, Lichenifikation) und histologisches (Spongiose, Akanthose, Parakeratose, lymphozytäre Infiltration) Erscheinungsbild
▬ Untersuchung der Haut des gesamten Körpers kann
bei Diagnostik richtungsweisend sein
▬ Langwierig, häufig rezidivierend (endogene Faktoren)
Kontaktekzem
Definition
Herpes zoster oticus (Zoster oticus)
▬ Infektion mit neurotropem Varizella-Zoster-Virus
(persistiert lebenslang in Ganglienzellen, Reaktivierung einer Varizella-zoster-Infektion); kann mit einer ausgeprägten Entzündung der Ganglienzellen des
N. facialis und/oder des N. vestibulocochlearis einhergehen (# Kap. 2.2.3)
▬ Erythem und Bläscheneruptionen im Bereich des Cavum conchae und des äußeren Gehörgangs
▬ Bläschen einzelständiger und dickwandiger als bei
Herpes simplex
▬ Starke neuralgiforme Schmerzen im betroffenen Bereich
▬ Lähmungen von Hirnnerven, v. a. N. facialis (RamsayHunt28-Syndrom), N. vestibulocochlearis (Hypakusis,
Schwerhörigkeit, Vertigo, Dysgeusie, Fazialisparese)
▬ Allgemeines Krankheitsgefühl und Fieber
▬ Differenzialdiagnostik: Grippeotitis, andere entzündliche Erkrankungen
▬ Therapie:
– Virostatika (z. B. Brivudin, Aciclovir, Famciclovir)
– lokale Behandlung der Hauteffloreszenzen (antiseptisch, austrocknend, z. B. Clioquinol oder Idoxuridin für max. 4 Tage)
– Antibiotika (Cephalosporine) nur bei Verdacht auf
bakterielle Superinfektion
– Analgetika
28
James Ramsay Hunt (1872–1937), Neurologe, New York
▬ Durch Kontakt mit einem Toxin oder Allergen ausgelöstes Ekzem
Einteilung
▬ Akute Kontaktdermatitis: akut toxisch/akut allergisch
(kurze Einwirkung der Noxe)
▬ Chronisch-kumulativ-toxisches und allergisches Kontaktekzem: wiederholte Einwirkung oder längere Exposition (toxisch oder allergisch)
Ätiologie
▬ Endogene Ekzembereitschaft
▬ Reaktion auf verschiedene Reizstoffe:
– Metalle: Nickel, Chrom, Blei
– Chemikalien und Lösungsmittel: Haarfärbemittel,
Kosmetika, Reinigungsmittel
– Medikamente: Neomycin in Ohrentropfen, Cerumenex, Anästhetika etc.
– oft berufliche Reizstoffkontakte
Pathogenese
▬ Noxen wirken unmittelbar auf das betroffene Hautareal ein
▬ Noxen bewirken eine toxische Reaktion (80 %), weniger eine allergische
Klinisches Bild
▬ Kleinherdiger Beginn der Läsion: Haut ist gerötet und
weist Bläschen auf
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
▬ Allmähliche Ausdehnung auf größere Flächen der
Ohrmuschel und des Gehörgangs → Otorrhö
Diagnostik
▬ Genaue, zeitlich detaillierte Anamnese: akuter Beginn und akute Entzündung nach Kontakt mit dem
auslösenden Allergen innerhalb eines Zeitraums von
2 Tagen
▬ Allergologische Diagnostik (Epikutantestung)
Differenzialdiagnostik
▬ Otitis externa (Kontaktekzem geht im Bild einer Otitis externa gelegentlich unter)
Therapie
▬ Lokal:
– sorgfältige Gehörgangsreinigung und anschließende
Spülung
– Austrocknung, Lufttrocknung (Fönen)
– ggf. Streifen mit Antiseptika oder triamcinolonhaltiger Lösung (Volon)
▬ Auslösende Noxen vermeiden (Rezidivprophylaxe)
207
Therapie
▬ Siehe oben, »Kontaktekzem«
▬ Langfristig imidazol- oder kortikoidhaltige Cremes
Endogenes (atopisches) Ekzem
Definition und Ätiopathogenese
▬ # Kap. 2.3.4
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Leichtes, gelegentliches Jucken ohne auffällige Veränderungen bis intensiver, quälender Pruritus mit entzündlicher Verdickung der schuppenden, geröteten
Gehörgangshaut
▬ Bläschen, Quaddeln
▬ Schmerzen, Völlegefühl
▬ Prädilektionsstellen: Ohrmuschel (Koncha), Gehörgang
▬ Weitere Hautstellen beteiligt (u. a. große Gelenkbeugen, Gesicht, Hals)
Differenzialdiagnostik
▬ Kontaktekzem
▬ Mikrobielles Ekzem
Verlauf und Prognose
▬ Abhängig von der Ekzembereitschaft und der exogenen Belastung
Seborrhoisches Ekzem (seborrhoische Dermatitis)
Therapie
▬ Kortikoidhaltige Cremes
▬ Bei Superinfektion lokale antibiotische Behandlung
Definition
Mikrobielles Ekzem
▬ Ekzem durch Konstitutionsanomalie mit Infektionsanfälligkeit und vermehrter Talgdrüsenproduktion
Definition
Epidemiologie
▬ Häufigste Dermatose; bei Erwachsenen und Kindern
gleiche Inzidenz
Ätiopathogenese
▬ Endogene Änderung des Hautstoffwechsels
▬ Verstärkte Talgdrüsenaktivität bei großporiger Haut
▬ Pilzbefall (Pityrosporum ovale)
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Prädilektionsstelle: Ohrmuschel und Umgebung; oft
symmetrisch
▬ Starke Schwellungen, derbe Infiltrationen
▬ Juckreiz → durch Kratzeffekte Auftreten von Erosionen
▬ Infiltrationen und Rhagadenbildungen auch retroaurikulär
▬ Fettige Schuppungen
Differenzialdiagnostik
▬ Kontaktekzem
▬ Disseminierte, meist chronisch verlaufende Erkrankung mit münzgroßen (nummulären), meist juckenden Läsionen
Epidemiologie
▬ Nicht selten
▬ Daten zur Prävalenz streuen erheblich (0,1–9,1 %)
Ätiologie
▬ Insgesamt unklar, in der Regel polyätiologisch: überlagernde Kontaktallergie, atopische Diathese, Exsikkation, chronische mikrobielle Besiedlung der Haut
(Staphylococcus aureus, Staphylococcus haemolyticus, Pseudomonas aeruginosa oder Proteus spp.),
psoriatische Disposition
▬ Auch endogene Faktoren (hormonell, neurovegetativ,
Anomalien Talgsekretion)
Pathogenese
▬ Verschiebung der ausgewogenen apathogenen Mischflora zur Dominanz eines pathogenen Keimes →
nässende Wundflächen oder mazerierte Epidermis
3
208
Kapitel 3 · Ohr
→ Infiltration der Haut mit Bakterien → Erliegen der
natürlichen Abwehrmechanismen
Klinisches Bild
3
▬ Intensive Rötung, nässende Pustelbildung, Epithelabschilferungen
▬ Oft große Flächenausdehnung an Ohrmuschel, Wangenregion, Schläfenregion und Nacken
Diagnostik
▬ Genaue Anamnese (Auftreten einer Otitis externa
nach mechanischem Trauma)
▬ Ohrmikroskopie (Auftreten im Rahmen einer chronischen Otitis media)
▬ Antibiogramm
Differenzialdiagnostik
▬ Otitis externa
▬ Abgrenzung gegenüber abakteriellen Entzündungen
Therapie
▬ Lokale Behandlung mit Breitbandantibiotika, Kortikoide nach sorgfältiger Gehörgangsreinigung
▬ Bei hartnäckigen Verläufen resistogrammbasierte Therapie
▬ Bei sehr ausgedehnten Fällen systemische Antibiotikatherapie
▬ Sekundär ursächliche Behandlung (z. B. Tympanoplastik)
Komedonenakne (Akne vulgaris)
▬ Talgdrüsenzysten am Ohrläppchen bzw. in der Umgebung des äußeren Gehörgangs, bei seborrhoischen
Patienten auch hinter den Ohren
▬ Therapie der Akne: # Kap. 5.4.3 (»Erkrankungen der
Talgdrüsenfollikel«)
Psoriasis
▬ Im Bereich von Ohrmuschel, Gehörgang und Sulcus
auriculotemporalis
▬ Nicht selten generalisierte Hauterscheinungen
▬ Stark juckende, scharf begrenzte, erythematös-squamöse Hautveränderungen mit silbrig glänzenden
Schuppen
▬ Rezidivierende bakterielle Entzündungen
▬ Therapie: kortisonhaltige Lotionen
Gehörgangscholesteatom
▬ Gehört zu den atypischen Cholesteatomen (Cholesteatom bei kongenitaler Atresie des Gehörgangs,
Lappencholesteatom)
▬ Entspringt oft in dem vorne durch Trommelfell und
Gehörgangsboden gebildeten Winkel
▬ Ätiopathogenese: chronische nekrotisierende Entzündungen → chronische Otorrhö → gestörte Migration
→ Exkavation des knöchernen Gehörgangs mit enzymatischem Knochenabbau
▬ Symptome und Diagnostik: rezidivierende Entzündung, perlmuttartige Masse insbesondere im Bereich
des Gehörgangsbodens; ggf. Computertomographie
▬ Therapie: Entfernung der Epithelmassen, Glättung
des Knochens, Auffüllung des Defekts
▬ Komplikation: Zerstörung des Trommelfells mit Einbruch in das Mittelohr
Seltene Entzündungen
▬ Otophym:
– Hypertrophie der Talgdrüsen (wie Rhinophym) am
Ohrläppchen (# Kap. 5.4.3, »Rhinophym«)
– wulstige und knollige Vergrößerungen
– Therapie: chirurgische Verkleinerung mit teilweisem Ausräumen der Retentionszysten
▬ Gehörgangsdiphtherie: charakteristische Membranbildungen
▬ Noma: in die Gesichtsweichteile übergreifende Nekrose der Ohrmuschel
Literatur
Bluestone CD, Casselbrant M, Dohar JE (2003) Targeting therapies in
otitis media and otitis externa. Decker, Hamilton
Braun-Falco O, Plewig G, Wolff HH, Burgdorf WHC, Landthaler M (Hrsg.)
(2005) Dermatologie und Venerologie, 5. Aufl. Springer, Berlin
Heidelberg Berlin New York Tokyo
Strohm M (2002) Die erworbene fibrotische Gehörgangsatresie. Laryngorhinootologie 81: 8–13
Tisch M, Lorenz KJ, Harm M, Lampl L, Maier H (2003) Otitis externa
necroticans. Kombinierter Einsatz von chirurgischer Therapie,
Antibiose, spezifischen Immunglobulinen und hyperbarer Sauerstofftherapie – Ergebnisse des Ulmer Therapiekonzepts. HNO
51: 315–320
3.4.4 Sonstige Erkrankungen
Chondrodermatitis nodularis helicis chronica
circumscripta (»schmerzhaftes Ohrknötchen«)
P. Dost
Definition
▬ Wucherung des Ohrmuschelperichondriums mit regressiven Veränderungen im Zentrum sowie Hyperund Parakeratose der bedeckenden Haut im Sinne
einer lokalen Perichondritis
209
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
Epidemiologie
Literatur
▬ Vor allem Männer im 5. Lebensjahrzehnt betroffen
▬ Rechts > links
Graf K, Fisch U (1979) Geschwülste des Ohres und des Felsenbeines. In: Berendes J, Link R, Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in Praxis
und Klinik. Ohr I. Bd 5. Thieme, Stuttgart New York, S. 22.1–22.69
Rex J, Ribera M, Bielsa I, Mangas C, Xifra A, Ferrandiz C (2006) Narrow
elliptical skin excision and cartilage shaving for treatment of chondrodermatitis nodularis. Dermatol Surg 32: 400–404
Ätiopathogenese
▬ Nicht gesichert
▬ Vermutet werden thermische oder mechanische Reize
(Traumen und Druckbelastungen)
▬ Gewohnheitsmäßiges Schlafen auf derselben Seite
Gichttophi
P. Dost
Klinisches Bild
▬ Etwa 5 mm große, druckschmerzhafte, unverschiebliche, subkutan-kutane, manchmal etwas rötliche
Schwellung, die zentrale Ulzeration aufweisen kann
▬ Am häufigsten an der rostralen Helix (selten an anderen Stellen)
Definition
Diagnostik
Epidemiologie
▬ Richtungsweisend sind starke Druckschmerzhaftigkeit und der häufige Sitz exakt am Helixrand
▬ Histologie
▬ Etwa 50 % der Gichtpatienten (Männer mehr als
Frauen) entwickeln Tophi
▬ In den Überflussgesellschaften Prävalenz von 5 %
Differenzialdiagnostik
Ätiologie
▬ Plattenepithelkarzinom, Basalzellkarzinom: kleine
Tumoren können zum Verwechseln ähnlich sein, sind
aber eher weiter kaudal an der Helix lokalisiert
▬ Druckulkus
▬ Elastotische/kalzifizierende Ohrknötchen und Wetterknötchen: klein, nicht schmerzhaft, multipel, meist
beidseits an der offenen Helixkurvatur
▬ Gichttophus (ältere Menschen)
▬ Sarkoidose: zu 40–50 % Hauterscheinungen, Multiorganerkrankung
▬ Cornu cutaneum: steht senkrecht oder gebogen auf
der Haut, zylindrisch/pyramidenförmig
▬ Aktinische Keratose: meist multipel vorkommend,
rundlich, hyperkeratotisch
▬ Normvariante (Darwin-Höcker): angeborene Knorpelvorsprünge, die zwar am oberen Bereich der Helix
liegen, aber mehr posterior lokalisiert sind
▬ Genetische Prädisposition der Gicht mit Abhängigkeit von der Ernährung
▬ Renale Ausscheidungsstörung der Harnsäure oder –
seltener – Harnsäureüberproduktion
Therapie
Diagnostik
▬ Spindelförmige Exzision im Gesunden unter Einschluss von Knorpelhaut und Knorpel
▬ Subkutane Abtragung der scharfen Kanten des Knorpels zu beiden Enden der Spindel hin
▬ Bestimmung des Plasmaharnsäurespiegels
▬ Exstirpation der Tophi
Verlauf und Prognose
Differenzialdiagnostik
▬ Selten spontane Ausheilung
▬ Nach (zu kleiner) Exzision Rezidive möglich, typischerweise an einem Ende der Narbe
▬ Rezidive häufiger an Anthelix als an Helix
▬
▬
▬
▬
▬ Tophi sind Zeichen der Gicht
▬ Knotenförmige Ablagerung von Harnsäurekristallen
im Knorpel
▬ Ohrmuschel häufigster Ort der Tophibildung
Pathogenese
▬ Primäre oder sekundäre Erhöhung der Serumharnsäurekonzentration mit Ablagerung von Harnsäurekristallen im Gelenkgewebe und im Knorpel
Klinisches Bild
▬ Anfallsartiger Schmerz zunächst eines Gelenks (typisch: Großzehengrundgelenk), später auch mehrere
Gelenke
▬ Im chronischen Stadium gelbliche, harte, subkutanintrakartilaginär liegende, spontan und anfallsartig
schmerzende Knötchen
! Cave
Wegen typischer Wundheilungsstörung keine Probeexzision
Chondrodermatitis nodularis helicis chronica
Basalzellkarzinom
Plattenepithelkarzinom
Sarkoidose
3
210
Kapitel 3 · Ohr
▬ Cornu cutaneum
▬ Aktinische Keratose
▬ Normvarianten (Darwin-Höcker)
▬ Aus geographischer Sicht:
– feucht-heißes Klima: weicher Zerumentyp (mit Zerumen in Mitteleuropa identisch)
– kaltes Klima: trockenes Zerumen
Therapie
3
▬ Exzision der Tophi
▬ Therapie des Anfalls mit Colchicin, Dauertherapie
mit Allopurinol und Diät
Ätiologie
▬ Lebenserwartung bei ausreichender Therapie nicht
eingeschränkt, ansonsten aber Nierenversagen, Herzinfarkt und apoplektische Insulte
▬ Wundheilungsstörung bei unvollständiger Exzision
typisch
▬ Zeruminalpfröpfe können entstehen durch:
– Behinderung der Selbstreinigung des Gehörgangs
durch anatomische Veränderungen
– Überproduktion durch Reize, die zu einer Hyperämie führen
– verminderter Sekretabfluss
– Hineinschieben von Zerumen durch unzweckmäßige, instrumentelle Reinigungsversuche (Wattestäbchen)
Literatur
Pathogenese
Ballhaus S, Mees K, Vogl T (1989) Infratemporaler Gichttophus – eine
seltene Diffentialdiagnose zur primären Parotiserkrankung. Laryngo-Rhino-Otol 68: 638–641
Gries FA, Koschinsky T, Toelle M (1984) Störungen des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels. In: Siegenthaler W, Kaufmann W, Hornbostel
H, Waller HD (Hrsg.) Lehrbuch der inneren Medizin. Thieme, Stuttgart New York, S. 15.5–15.8
McPartlin D, Frosh A (2004) Diseases of the external ear. Practitioneer
248: 578–585
▬ Gehörgangshaut (knorpliger Anteil), die entsprechend der äußeren Haut strukturiert ist, bildet an
ihrer Oberfläche eine Hornschicht, die regelmäßig
abgestoßen und erneuert wird
▬ Abtransport der anfallenden Hautschuppen erfolgt
durch eine kontinuierlich vom Trommelfellniveau in
Richtung Gehörgangseingang gerichtete Wanderung
der Gehörgangshaut
▬ Kleinere eingedrungene Staub- und Schmutzteilchen
werden mitentfernt (Selbstreinigungsmechanismus
des Ohres)
▬ Wiederholte Gehörgangsreinigungen (Wattestäbchen)
→ verstärkte Zerumenproduktion → Teil des Zerumens wird entfernt, anderer Teil wird nach medial
bis vor das Trommelfell geschoben → Blockierung
des Selbstreinigungsmechanismus; zunächst Ablagerungsrand im Gehörgang, später Retention, Eintrocknung und Verhärtung → Aufquellung des Zerumens
(wenn Wasser z. B. nach dem Baden oder Duschen
in den Gehörgang eintritt) → kompletter Verschluss
bzw. Verlegung des Gehörgangs
Verlauf und Prognose
Zerumen (Ohrschmalz) – Cerumen obturans
M. Reiß, G. Reiß
Definition
▬ Mischung aus dem Sekret der im lateralen Gehörgang gelegenen apokrinen Schweißdrüsen (Gll. ceruminosae, Zeruminaldrüsen), dem Talg der ekkrinen
Haarbalgdrüsen, abgestoßenen Hornschichten, Desquamationsmaterial und Verunreinigungen
▬ Sekret der apokrinen Drüsen bedingt die intensive
Braunfärbung
▬ Funktionen:
– filmartiger Zerumenüberzug des äußeren Gehörgangs hat durch bakteriostatische Wirkung eine
Oberflächenschutzfunktion (Aufrechterhaltung des
physiologischen Milieus im sauren Bereich; Fettsäuren, Lysozyme → Schutz vor Infektionen)
– Lärmschutz (?)
▬ Cerumen obturans: Ohrschmalzpfropf (Zeruminalpfropf)
Klinisches Bild
▬ Kann lange symptomlos bleiben – erst wenn Wasser
eindringt, treten Beschwerden auf:
– akuter Hörverlust
– Ohrenschmerzen (bei harten, lange bestehenden
Pfröpfen)
– Druckgefühl, Juckreiz
– Tinnitus
Einteilung
Diagnostik
▬ Nach Konsistenz (Dimorphismus des Zerumens):
– weicher, feuchter, gelb-bräunlicher Typ
– schuppiges, gräuliches Zerumen härterer Konsistenz
▬ Otoskopie: gelblich-braune Masse, die den Gehörgang
vollständig oder teilweise verlegt und den Einblick auf
das Trommelfell verhindert (Pfropf)
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
▬ Stimmgabeltest
▬ Tonaudiometrie
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
Hörsturz: unauffälliger Gehörgang
Fremdkörper
Otitis externa
Epidermispfropf (Keratosis obturans; sehr selten)
Gehörgangscholesteatom: festes, hartes, gelbliches
Konglomerat aus Epidermislamellen, welches im knöchernen Gehörgang lokalisiert ist und ihn ausfüllt
▬ Durchgebrochenes Mittelohrcholesteatom
Therapie
▬ Mechanische Entfernung mit Kürette und/oder Sauger
▬ Bei intaktem Trommelfell Spülung des Gehörgangs
mit Ohrspritze oder Ohrspülgerät (körperwarmes
Wasser; Ohrmuschel nach hinten ziehen; Spülrichtung zur hinteren Gehörgangswand), vorher evtl.
Pfropf mit fettlöslichen Ohrentropfen (z. B. Cerumenex), H2O2 (4%ig) oder z. B. Tacholiquin aufweichen
! Cave
Vor einer therapeutischen Ohrspülung muss anamnestisch
immer eine Trommelperforation ausgeschlossen werden
(ansonsten Gefahr der Keimverschleppung in das Mittelohr).
▬ Bei defektem Trommelfell Ohrschmalz mit Häkchen
oder Kürette entfernen
▬ Prophylaktisches Einfetten des Gehörgangs
> Wichtig
Die Entfernung des Zerumens ist aus diagnostischer Sicht
immer erforderlich.
Literatur
Browning G (2004) Wax in ear. Clin Evid 12: 730–741
Grossan M (1998) Cerumen removal-current challenges. Ear Nose Throat J 77: 541–546, 548
Guest JF, Greener MJ, Robinson AC, Smith AF (2004) Impacted cerumen: composition, production, epidemiology and management.
QJM 97: 477–488
Meyer zum Gottesberge A (1995) Der Dimorphismus des Cerumens,
Fakten und Theorie. Laryngorhinootologie 74: 606–610
Gehörgangsexostosen und Stenosen
S. Maune
Exostosen (Enostosen)
Definition
▬ In der Regel beidseitig und multipel vorkommende,
umschriebene Wucherungen (Neubildungen) des
211
knöchernen äußeren Gehörgangs, meist unmittelbar
vor dem Trommelfell; keine echten Geschwülste,
sondern reaktive Knochenwucherungen (Osteophyten)
▬ Hyperostosen: knöcherne Verdickungen und Auftreibungen der Gehörgangswand in Längsrichtung
Einteilung
▬ Mediale Exostosen: breitbasig, multipel, beidseits
▬ Laterale »Exostosen«: solitär
Epidemiologie
▬ Inzidenz: 3,3–6,3 %
▬ Männer erheblich häufiger betroffen als Frauen
Ätiologie und Pathogenese
▬ Exostosen entstehen im Bereich der Pars tympanica bzw. des tympanalen Ringes des Os temporale
(feste Verbindung zwischen dünner Gehörgangshaut und Knochen: Epidermoperiost mit osteogener
Potenz)
▬ Kaltwasserreiz auf das Periost (im Gehörgang fest mit
Haut verwachsen) bei regelmäßiger Wasserexposition
→ Stimulation des Knochenwachstums → Bildung
eines lamellär geschichteten Knochens:
– dicht und sklerotisch oder weich und spongiös
– im Gegensatz zu Osteomen in der Regel kein von
sklerotischem Knochen umgebenes, vaskularisiertes und osteoblastenreiches Bindegewebe
▬ Vor allem bei häufigem Wasserkontakt: Turmspringer, Wasserballspieler, Schwimmer, Taucher, Bademeister
▬ Beziehung zwischen Expositionsdauer, Wassertemperatur und Auftreten der Exostosen
▬ Genetische und konstitutionelle Faktoren
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Rezidivierende Gehörgangsentzündungen
▬ Nach Eindringen von Wasser Hörminderung (Schallleitungsstörung) und Tinnitus
▬ Retention von Wasser nach Schwimmen bzw. bei Zerumen
▬ Ohrgeräusche und Hörminderung auch bei Kontakt
der Exostosen mit dem Trommelfell oder bei Verschluss des Gehörgangs
▬ Zum Teil symptomlos, Zufallsbefund bei Otoskopie:
beiderseits wulst- oder kappenförmige, weißlich erscheinende Neubildungen, die das Trommelfell teilweise oder vollständig verlegen
▬ Hörprüfungen
▬ Bildgebung: Röntgenaufnahme nach Schüller, Computertomographie bei obturierenden Exostosen
3
212
3
Kapitel 3 · Ohr
Differenzialdiagnostik
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Osteome: einseitig, solitär, am gesamten tympanalen
Knochen lokalisiert
▬ Gehörgangstumor
▬ Kiefergelenkzyste
▬ Äußerlich erkennbare, ein- oder beidseitige Fehlbildungen oder Fehlen der Ohrmuschel (auch Gehörgangsatresie möglich; hochgradige Schallleitungs- oder kombinierte Schwerhörigkeit/Taubheit):
Gehörgang kann trichterförmig sein oder blind
enden
▬ Schwerhörigkeit
(Schallleitungsschwerhörigkeit),
Druckgefühl, Otorrhö
▬ Ohrmikroskopie mit sorgfältiger Reinigung
▬ Hörprüfungen
▬ Bildgebung: Röntgenaufnahme nach Schüller, »Highresolution«-Computertomographie
Therapie
▬ Ziele:
– Gehörgangserweiterung
– Vermeidung der Gehörgangsentzündungen bzw.
der Wasserretention
▬ Maßnahmen:
– regelmäßige Kontrolle sowie Reinigung und Trockenhalten des eingeengten Gehörgangs
– Abtragung: # Kap. 21.5.1 (»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Gehörgangsexostosen«); das alleinige
Vorhandensein von Exostosen ohne Symptome
stellt keine Operationsindikation dar
> Wichtig
Einengungen und Kollapsneigungen des Gehörgangs
können bei der Audiometrie zu Fehlmessungen führen
→ Offenhalten des Gehörgangs durch Röhrchen oder
Ähnliches während der Audiometrie
Verlauf und Prognose
▬ Bei sachgerechter otochirurgischer Behandlung sehr
gute Prognose bzw. sehr guter Verlauf (v. a. Lärmgefährdung des Innenohrs bei Exostosenoperation beachten)
▬ Bei erneuter Exposition gegenüber kaltem Wasser
Rezidive möglich
Stenosen
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
Otitis externa
Exostosen
Tumoren
Fibrosierende Prozesse (idiopathisch, Otitis externa
fibrinosa)
Definition
Therapie
▬ Einengung des häutigen, knöchern-häutigen oder
knöchernen Gehörgangs
▬ Ziel: langfristige Gehörgangsrekonstruktion
▬ Maßnahmen:
– konservativ: Behandlung der entzündlichen
Grundkrankheit; Reinigung bei posttraumatischen bzw. knöchernen Stenosen langfristig nicht
sinnvoll
– otochirurgische Gehörgangserweiterungsplastik bei
rezidivierender Otitis externa, Retention von Zerumen, Schallleitungsschwerhörigkeit, Verdacht auf
Cholesteatom oder Fehlbildungen
– häutige Stenosen: Resektion hypertropher Bindegewebestrukturen und Rekonstruktion des Defekts
mit Spalthaut
– knöcherne Stenosen: Abtragung wie bei Exostosen
bzw. Fehlbildungen (im Rahmen der Rekonstruktion des Mittelohrs)
Ätiologie
▬ Angeboren:
– Kombination mit Fehlbildungen im Bereich der
Ohrmuschel sowie des Mittel- und Innenohrs
– monosymptomatisch familiär gehäuft auftretend
– Teil verschiedener Syndrome, z. B. Klippel-FeilSyndrom, Rowley-Syndrom
▬ Erworben:
– postentzündlich: chronische Otitis externa, chronische purulente Otitis media
– posttraumatisch: Pfählung, Verbrennung, Verätzung/unsachgemäße Ätzungen, Kürretagen, Hörgeräte, Kiefergelenkfrakturen
– postoperativ
Verlauf und Prognose
Pathogenese
▬ Knöcherne Einengung von außen
▬ Zirkulärer Defekt der Gehörgangshaut → Schrumpfung oder Verwachsung des häutigen Gehörgangs
▬ Chronischer Verlauf unter »Ätiologie« genannten Gehörgangserkrankungen
▬ Abhängig von den Grunderkrankungen und dem chirurgischen Erfolg
▬ Komplikationen: Abflussbehinderung von Zerumen,
erschwerte instrumentelle Reinigung, rezidivierende
Entzündungen, Schwerhörigkeit, ggf. chronische Otitis media/Cholesteatom hinter Stenose
213
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
Literatur
Sanna M, Sunose H, Mancini F, Russo A, Taibah A (2003) Middle ear and
mastoid microsurgery. Thieme, Stuttgart New York
Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin
Heidelberg New York Tokyo
Tos M (1997) Manual of middle ear surgery. Vol 3: Surgery of the external auditory canal. Thieme, Stuttgart New York
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
– Lymphadenosis benigna cutis
– Lymphom (Non-Hodgkin-Lymphome, selten ausschließlich am Ohr)
– Osteom
– Merkel-Zell-Karzinom
– Angiosarkom (5-Jahres-Überlebensrate: etwa
15 %)
– Kaposi-Sarkom
Epidemiologie
3.4.5 Tumoren und tumorähnliche
Neubildungen
P. Dost
Allgemeine Gesichtspunkte
Definition
▬ Neubildungen im Bereich der Ohrmuschel und des
äußeren Gehörgangs, bei denen klinisch zunächst
nicht eindeutig ist, ob es sich um gut- oder bösartige
Tumoren, um entzündliche oder lymphatische Infiltrate oder um sonstige Veränderungen mit tumornachahmendem Charakter handelt
Einteilung
▬ Nach der Dignität: gutartig vs. bösartig (# Kap. 3.5.6,
»Übersicht und Einteilung«, ⊡ Tab. 3.10)
▬ Nach dem Ursprungsort: Ohrmuschel-, Gehörgangs-,
Mittelohrkarzinom (mit schlechter werdender Prognose)
▬ Nach dem Ursprungsgewebe: drüsige Strukturen
(Adenom, Adenokarzinom, adenoid-zystisches Karzinom), Haut (Plattenepithelkarzinom häufiger im
Gehörgang), Basalzellkarzinom (häufiger an der
Ohrmuschel)), lymphatisches System (maligne Lymphome), Bindegewebe (Kaposi-Sarkom, Angiosarkom)
– häufig:
– Basalzellkarzinom
– Plattenepithelkarzinom, Spindelzellkarzinom
– seborrhoische Keratose (Alterswarze)
– senile (aktinische) Keratose (Präkanzerose)
– selten:
– malignes Melanom
– Adenom
– Adenokarzinom (Frauen häufiger betroffen als
Männer)
– adenoid-zystisches Karzinom
– Mukoepidermoidkarzinom
– Keratoakanthom
▬ Bei Männer bevorzugt Plattenepithel- und Basalzellkarzinom sowie malignes Melanom
▬ Bei Frauen bevorzugt Adenokarzinom
▬ Im hohen Alter bervorzugt Plattenepithel- und Basalzellkarzinom
▬ Im jungen Alter bevorzugt Gehörgangsosteom
▬ Bei Kaukasiern bevorzugt malignes Melanom und
Merkel-Zell-Karzinom
▬ An der Ohrmuschel bevorzugt Basalzellkarzinom und
malignes Melanom
▬ Am Gehörgang bevorzugt Plattenepithelkarzinom
Ätiologie
▬ Aktinische Belastung fördert Tumorbildung: malignes Melanom, Basalzellkarzinom, Plattenepithelkarzinom, Keratosis senilis
▬ Schlecht heilende Narben nach Erfrierungen oder
Verbrennungen unterstützen die Bildung von Plattenepithelkarzinomen
▬ Immunsuppression prädisponiert für Kaposi-Sarkom
und Plattenepithelkarzinom
▬ Familiäre Häufung: malignes Melanom
Pathogenese
▬ Allgemeine Prinzipien der Entstehung maligner Tumoren nach andauernden exogenen Reizen
Klinisches Bild
▬ Gut- und bösartige Tumoren des äußeren Ohres bieten ein sehr variables Bild
▬ Ulzerationen eher typisch für maligne Tumoren; Ausnahme: sehr aggressives Merkel-Zell-Karzinom wuchert unter intaktem Epithel
▬ Rasches, schmerzloses Wachstum eher typisch für
bösartige Tumoren
▬ Aktinisch geschädigte Haut mit unregelmäßiger Pigmentierung und Präkanzerosen (Keratosis senilis)
verbirgt nicht selten Malignome
▬ Schmerzlose, persistierende, einseitige Lymphknotenschwellung typisch für Metastasen
▬ Beiderseitige, multilokuläre, schmerzlose Lymphknotenschwellung mit scheinbar auf Antibiotikathe-
3
214
3
Kapitel 3 · Ohr
rapie reagierender Größe typisch für maligne Lymphome
▬ Klinische Abgrenzung des malignen Melanoms vom
pigmentierten Nävus manchmal mittels ABCD-Regel
möglich: Asymmetrie der Zirkumferenz, unregelmäßige Begrenzung, variantenreiche K(C)olorierung,
Änderung des Durchmessers oder Durchmesser von
>6 mm; malignes Melanom gelegentlich blutend oder
juckend
▬ Gesichtsnervenlähmung als Hinweis für fortgeschrittenes Karzinom des Gehörgangs
▬ Osteome im Gegensatz zu Exostosen meist einseitig,
schmalbasig und solitär
Diagnostik
▬ Probeexzision: histologische Klassifizierung
▬ Schichtbildgebung (Computer-, Magnetresonanztomographie): Abschätzung der Felsenbeininfiltration
▬ Sonographie des Lymphabflussgebiets inklusive
Gl. parotidea
▬ Audiologie, klinische Gleichgewichtsuntersuchung
▬ Klinische Diagnostik der Funktion des N. facialis
Differenzialdiagnostik
▬ Ohrmuschel: Chondrodermatitis nodularis helicis
chronica, Ekzem, Mykose, Granuloma pyogenicum,
Fibrom, Nävus, Fibroxanthome, Dermoidzyste, Hämangiome, akzessorischer Knorpel, Keloid, Atherom
▬ Gehörgang: prolabierender Mittelohrpolyp, aseptische Gehörgangsnekrose, Otitis externa maligna
(alte Diabetiker, Pseudomonasinfektion, Schmerzen),
Gehörgangscholesteatom, chronische Otitis externa,
Exostose (multilokulär, breitbasig, beiderseitig, ältere
Patienten), Keratosis obturans
Therapie
▬ Ohrmuschel:
– Exzision kleiner Tumoren (Durchmesser von
<1 cm) mit einem Abstand von 3–6 mm, ggf. unter
Erhalt des Perichondriums; evtl. intendierte Sekundärheilung
– größere Tumoren bzw. Tumoren, die das Organ
nach vorne oder hinten penetrieren: radikale Tumorchirurgie, selten Ablatio
– nach Resektion der Knorpelhaut oder des Knorpels 2-zeitige (nach Vorliegen des histologischen
Nachweises der kompletten Exzision) Rekonstruktion des Defekts
– plastische Verfahren: Verschiebe- oder Insellappen, Ohrmuschelverkleinerung nach Keilexzision, Epithese, sehr selten Ohrmuschelaufbau
– sehr radikales Vorgehen mit großzügiger Bildung
breiter Resektionsränder beim Merkel-Zell- und
beim adenoid-zystischen Karzinom notwendig
– Lymphknotendissektion bei klinischen oder bildgebenden Hinweisen auf Lymphknotenvergrößerung, dann evtl. auch Parotidektomie; Resektion
des N. facialis nur bei Hinweis auf Nerveninfiltration
– adjuvante, perkutane Strahlentherapie nach histologischem Nachweis eines Lymphknotenbefalls,
eines perineuralen Wachstums (adenoid-zystisches
Karzinom) oder einer Parotisinfiltration; primäre
Bestrahlung zumeist nicht indiziert
▬ Gehörgang:
– Tumoren dieser Lokalisation werden in der Ausdehnung präoperativ oft unterschätzt
– Exzision des häutigen Gehörgangs und des Trommelfells mit Blindverschluss des äußeren Gehörgangs nur selten und dann bei sehr begrenzten
Karzinomen möglich; dann auch keine adjuvante
Bestrahlung sinnvoll
– bei mittelgradig ausgedehnten und ausgedehnten
Karzinomen Entfernung des häutigen, knorpeligen und knöchernen Gehörgangs, evtl. unter Einschluss des Kiefergelenks und der Gl. parotidea;
radikale Mastoidektomie, evtl. mit Fazialisresektion und »neck dissection«; adjuvante perkutane
Bestrahlung
– primäre Bestrahlung nur bei palliativer Situation
indiziert
Verlauf und Prognose
▬ Schlechtere Prognose der Ohrmuschelkarzinome
nach Infiltration der Ohrmuschelumgebung (Parotis,
Galea, Gehörgang); 5-Jahres-Überlebensquoten:
– kleine, das Perichondrium nicht infiltriende Karzinome: etwa 90 %
– Tumoren mit Knorpelinfiltration: <50 %
– metastasierte Tumoren: ungefähr 15 %
▬ Gehörgangskarzinomen mit radikaler Operation
und adjuvanter Bestrahlung: 5-Jahres-Überlebensquote von etwa 25 %; bei alleiniger Bestrahlung der
Gehörgangskarzinome oft lebenslang sezernierende
Nekrosen
▬ Malignes Melanom: abhängig vom Typ (schlechter
werdend: Lentigo-maligna-Melanom, superfiziell
spreitendes Melanom, noduläres Melanom), von der
Tumordicke (schlecht bei Breslow-Index von >1 mm),
vom Bestehen von Ulzerationen und vom Lymphknotenstatus; bei Fernmetastasierung (Hirn, Leber,
Lunge, Peritoneum) äußerst schlechte Prognose
▬ Merkel-Zell-Karzinom, Sarkome: schlechte Prognose
215
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
Spezielle Tumoren
Gutartige und tumorähnliche Veränderungen
Seborrhoische Keratose
▬ Synonym: seborrhoische Warze (Alterswarze)
▬ Gutartige epitheliale Proliferation, die solitär oder
multipel auftreten kann
▬ Selten vor dem 4. Lebensjahrzehnt; Häufigkeitsgipfel:
60–80 Jahre
▬ Klinisch 2 Maximalvarianten:
– scharf und meist unregelmäßig begrenzte Papel im
Hautniveau
– exophytisch bis kalottenförmige Papel mit in die
Oberfläche eingelassenen Hornperlen
▬ Histologie: 6 Typen (akanthotischer Typ am häufigsten)
▬ Therapie: Entfernung mit scharfem Löffel
Keratoakanthom (Molluscum sebaceum)
▬ Rasch wachsende spinozelluläre Geschwulst, oft an
der Helix
▬ Hautfarbene bis rötliche Papel
▬ Spontane Rückbildung innerhalb von einem halben
bis 1 Jahr möglich
▬ Histologie: zentraler Hornkrater in einer sich kugelförmig unter die überlappende Epidermis schiebenden akanthotischen Geschwulst
▬ 2 klinische Formen: solitär, multipel
▬ Therapie: Exzision im Gesunden
Hämangiom
▬ Gutartige Gefäßneubildung an der Haut, auch an
Ohrmuschel, Mittelohr oder Felsenbein sowie selten
isoliert im Gehörgang
▬ Häufigster Tumor der Kindheit; besteht bereits bei
der Geburt (30 %) oder tritt in den ersten Lebenstagen auf
▬ Solitär, unterschiedliche Größe
▬ Tendenz zu spontaner Rückbildung
▬ Therapie: Kryotherapie, Lasertherapie, Exzision, Sklerosierung, systemische Glukokortikoidtherapie
Histiozytom (Fibroxanthom)
▬ Bindegewebeneubildung, kommt am Ohr nur selten
vor
▬ Solitäre, 0,3–1,5 cm große, bräunliche, sehr derbe
Papel
▬ Therapie: Exzision (wenn störend)
Fibrom
▬ Knotige Vermehrung des Bindegewebes (Dermatofibrom, Fibroma molle)
▬ Weicher bis derber, meist kugeliger, hautfarbener
Knoten im Bereich der Kutis des Ohrläppchens
▬ Therapie: Exzision in toto (wenn kosmetisch störend)
Nävoide Veränderungen
▬ Nävuszellnävi:
– umschriebene Anhäufung von Nävuszellen bzw.
Melanozyten
– teils flache, teils papulöse, hell- bis dunkelbräunliche, teils gesprenkelte, pigmentierte, weiche Papeln
– Therapie: Beobachtung, bei Veränderung Exzision
▬ Naevus flammeus:
– angeborene Erweiterung der Kapillaren, selten im
Bereich des Ohres bzw. auf dieses übergreifend
(meist als Phakomatose)
– großflächige im Hautniveau liegende, hell- oder
blaurote, scharf umschriebene Flecken
– keine Tendenz zur spontanen Rückbildung
– Therapie: Lasertherapie
Zylindrom (Spiegler-, Turbantumor)
▬ Hamartome ekkriner Schweißdrüsen
! Cave
Nicht zu verwechseln mit adenoid-zystischem Karzinom
▬ Familiäres Vorkommen (autosomal, irregulär dominant)
▬ Selten solitär, meist multipel
▬ Kugelige, hautfarbene bis rote, haarfreie Papeln
▬ Therapie: Exzision und plastische Deckung größerer
Tumoren, wenn kosmetisch störend
Zeruminom
▬ Synonyme: Zeruminaldrüsenadenom, Hydradenom,
apokrines Schweißdrüsenadenom
▬ Tumor der zerumensezernierenden apokrinen Drüsen des äußeren Gehörgangs
▬ Vorwiegend bei Männern im 5.–6. Lebensjahrzehnt
▬ Histologisch nicht von anderen Schweißdrüsentumoren anderer Lokalisation zu unterscheiden
▬ Schwerhörigkeit und selten Otorrhö, langsam wachsende Masse im äußeren Gehörgang
▬ Therapie: komplette Entfernung (sonst Rezidive möglich)
Neurofibrom
▬ Bestandteil von des Morbus Recklinghausen (Synonym: Neurofibromatose; autosomal-dominant vererbte Krankheit mit unterschiedlicher Penetranz)
▬ N. statoacusticus und andere Hirnnerven können befallen sein, zum Teil mit entsprechenden Funktionsausfällen
3
216
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ An Ohrmuschel und äußerem Gehörgang klinisch
Neurofibrome und »Café-au-lait«-Flecken (Typ I:
Haut- und Nervenbefall; Typ II: symmetrischer Befall
von Nerven)
▬ Verlauf: Progredienz im weiteren Verlauf, selten maligne Entartung
▬ Therapie: Exzision störender Neurofibrome, prophylaktische Tumorsuche (Magnetresonanztomographie),
ggf. Ohrmuschelverkleinerung und Gehörgangserweiterung bei Vergrößerung der Ohrmuschel
Zysten
▬ Epidermiszyste (Epidermoidzyste, Atherom, Retentionszyste, Talgzyste):
– von Haarfollikeln ausgehende, mehrere Millimeter
bis 2 cm große, kugelige, prallelastische, hautfarbene Zysten, die langsam wachsen
– Wand mit verhornendem Plattenepithel ausgekleidet
– intradermal oder dermal-subkutan gelegene, kugelrunde, pralle Geschwulst; bei Entzündung schmerzhaft und mit Hautrötung einhergehend
– Therapie: komplette Entfernung der Zyste mit primären Verschluss der Haut
▬ Trichilemmalzysten (Haarzysten): nur im Tragusbereich vorkommend; Therapie: komplette Entfernung
▬ Milien: Zysten aus verhornendem Epithel; 0,5–1 mm
große, weißgelbliche, derbe, kugelige Papeln
Keloid (Griechich für »Krebsschere«)
▬ Spontan, nach Trauma oder iatrogen (Piercing, Otoplastik) auftretende, bindegewebige, über das Hautniveau ragende Geschwulst, die über die eigentliche
Narbe hinaus in gesundes Gewebe wächst
▬ Genaue Ursache nicht bekannt, jedoch Nachweis vermehrter Wachstumsfaktoren; familiäre Komponente;
Prädilektion der Keloidbildung z. B. bei der schwarzen Rasse
▬ Prädilektionsorte: Ohren, Gesicht, Hals, oberer Rumpf,
proximale Extremitäten
▬ Anfangs ähnelt Keloid einer hypertrophen Narbe:
rote, derbe, papulöse Effloreszenz bzw. Narbe mit
glatter Oberfläche (spontane Rückbildung der hypertrophen Narbe innerhalb von einem halben bis 1 Jahr)
→ schrittweise Ausbreitung des Keloids; hypertrophe
Narben reichen nicht über ursprüngliche Verletzung
hinaus
▬ Therapie (schwierig, da Rezidivgefahr) nach Stufenschema:
– zunächst Silikongelverbände (für 3 Monate)
– später intraläsionale Injektion von Glukokortikoiden (Kristallsuspension)/Druckverband (zu 50 %
Rezidive)
– Exzision (# Kap. 21.5.1, »Fehlformen nach chirurgischen Eingriffen« → »Behandlung von Keloiden«),
ggf. Kryotherapie oder Laserbehandlung mittels
CO2- oder Neodym:YAG-Laser
– bei älteren Keloiden konservative Therapie nicht
sinnvoll
Lymphadenosis benigna cutis
▬ Gehört zur Gruppe der Pseudolymphome (kann
schwierig oder kaum vom Lymphom unterschieden
werden)
▬ Kutane Reaktion auf Borrelia-burgdorferi-Infektion
(Erythema migrans → Acrodermatitis chronica atrophicans → Lymphadenosis benigna cutis), Insektenstich, Akupunktur oder Tätowierung
▬ Prädilektionsstelle: Ohrläppchen
▬ Kirschgroßer, rötlich-livider, derber Knoten, welcher
das Ohrläppchen durchsetzt
▬ Diagnostik: ggf. Histologie, serologisch (Immunglobuline M und G)
▬ Therapie: Cephalosporin über 10–14 Tage, topisch
Glukokortikoide (bei nicht durch Borrelien bedingter
Lymphadenose)
▬ Übergang in Lymphom möglich
Präkanzerosen
▬ Histologisch und pathogenetisch werden sie als präinvasive Erkrankungen oder als Carcinoma in situ
klassifiziert
▬ Typen an der Haut: aktinische Keratose, Röntgenkeratose, Arsenkeratose, Teerkeratose, Morbus Bowen,
Erythroplasie Queyrat
Aktinische Keratose
Einteilung
▬ Erythematöser Typ: entspricht initialen Verände-
▬
▬
▬
▬
rungen; runde oder ovale, auch unregelmäßige, stets
scharf begrenzte Herde, die gerötet und auch von
Teleangiektasien durchzogen sind; palpatorisch raue
Oberfläche; zunächst nur wenige Millimeter groß,
wachsen jedoch bis zu einem Durchmesser von
1–2 cm; Blutungsneigung nach kleinen Verletzungen
Keratotischer Typ: mit der Zeit wird Hyperkeratose
ausgeprägter → gelbliche, schmutzigbraune oder
grauschwarze und hart verdickte Keratose; im Randgebiet schmaler entzündlicher Randsaum
Cornu-cutaneum-Typ: Hornauflagerungen ragen kegelförmig senkrecht aus der Haut
Lichen-ruber-artige aktinische Keratose: kommt am
Ohr nicht vor
Pigmetierte aktinische Keratose: keratotische,
bräunliche Herde; raue Oberfläche bei Abgrenzung
3.4 · Erkrankungen des äußeren Ohres und des äußeren Gehörgangs
gegenüber pigmentierten Verrucae seborrhoicae seniles hilfreich (auch Differenzialdiagnose zum Lentigomaligna-Melanom)
Epidemiologie
▬ Kommt v. a. bei hellhäutigen Menschen vor, die leicht
Sonnenbrand bekommen und kaum braun werden
▬ Überwiegend Männer betroffen
▬ Inzidenz in Europa steigend
▬ Prävalenz: bei über 70-Jährigen fast 100 %
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ An Ohrmuschel v. a. Helix betroffen (vgl. »Einteilung«)
Differenzialdiagnostik
▬ Verruca seborrhoica: sitzt breitbasig auf, zeigt häufig
eine gepunzte Oberfläche und bleibt meist ohne entzündliche Erscheinungen (Histologie)
Therapie
▬ Chirurgisch; kleine, flache Keratosen können durch
Kürretage mit scharfem Löffel oder mittels Laser entfernt werden (Histologie)
Cornu cutaneum (Hauthorn)
▬ Exophytische, einem Horn ähnelnde Präkanzerose
der Haut, v. a. am freien Rand der Ohrmuschel
▬ Klinische Diagnose
▬ Meist doppelt so hoch wie breit, an der Basis ggf. Entzündungshof
▬ Therapie: Exzision (Histologie)
Lentigo maligna (Melanosis circumscripta praecancerosa)
▬ Präkanzerose v. a. auf der Altershaut
▬ Proliferation atypischer Melanozyten
▬ Kann in Lentigo-maligna-Melanom übergehen (# Kap.
5.4.6)
▬ Bräunlich-schwärzliche, teilweise etwas verwaschen
wirkende, unterschiedlich stark pigmentierte Hautveränderungen mit fließender Grenze zur Peripherie
Bösartige Tumoren
Basalzellkarzinom
▬ Synonyme: Basaliom, Epithelioma basocellulare
▬ Häufigster, langsam lokal infiltrierend und destruierend wachsender Tumor; in der Regel keine Metastasierung (nur 0,003–0,1 % aller Basalzellkarzinome
metastasieren, v. a. große, ulzerierte, tief infiltrierende
Tumoren)
▬ Einteilung, Ätiologie und Histologie: # Kap. 5.4.6
▬ An Ohrmuschel v. a. nodulärer Typ: derbe, kalottenförmig aus der Haut aufragende, hautfarbene, rötliche
217
Geschwulst mit glasig durchscheinender Oberfläche;
einziehende Teleangiektasien, zum Teil im Zentrum
aufsitzende Schuppenkruste
▬ Therapie: Exzision (ggf. Keilexzision) mit ausreichendem seitlichen Sicherheitsabstand (3–10 mm); bei Tumoren mit einer Größe von >5 mm am besten mikrographisch kontrollierte chirurgische Techniken
Spinozelluläres Karzinom
▬ # Kap. 5.4.6 (»Plattenepithelkarzinom«)
▬ Histologische Variante des Plattenepithelkarzinoms,
ausgehend von den Zellen des Stratum spinosum mit
primärer lymphogener Metastasierung
▬ Analog zum malignen Melanom wird die Tumordicke
in Millimetern angegeben → Prognose hängt wesentlich von der Tiefenausdehnung ab
▬ Ohrmuschel 10- bis 30-mal häufiger betroffen als Gehörgang
▬ 0,5–1 cm große, derbe, flache, hautfarbene bis graue
Papel mit fest haftender Hyperkeratose; exo- oder
endophytisches Wachstum → Infiltration von Knorpel oder Knochen → initial lymphogene, später auch
hämatogene Metastasierung (0,1–4 %)
▬ Therapie und Prognose: s. oben, »Allgemeine Gesichtspunkte«
Malignes Melanom
▬ Gehört zu den bösartigsten Tumoren der Haut und
der Schleimhaut
▬ Gefährlichkeit des Tumors nicht so sehr durch örtliche Aggressivität, sondern v. a. aufgrund der ausgeprägten und oft frühzeitigen Neigung zur lymphogenen und/oder hämatogenen Metastasierung mit
potenziell letalem Ausgang
▬ 12–19 % der malignen Melanome des Kopf-Hals-Bereichs sind am Ohr lokalisiert
▬ Diagnostik: klinisch mittels ABCD-Regel (s. oben,
»Allgemeine Gesichtspunkte«)
▬ Therapie:
– Exzision (lupenoptisch/operationsmikroskopisch)
im Gesunden; in Abhängigkeit von der histologisch
gesicherten Tumordicke (>1 mm) Nachresektion
bis zur Ablatio auris (in Ausnahmefällen)
– Stellenwert der »neck dissection« wird kontrovers
diskutiert
– keine palpablen Lymphknoten, bei Bildgebung
keine vergrößerten Lymphknoten (<1 cm):
Überlebenswahrscheinlichkeit durch prophylaktische »neck dissection« nicht wesentlich
verbessert
– palpable Lymphknoten oder bei Bildgebung
wahrscheinlich tumorbefallenen Lymphknoten:
3
218
Kapitel 3 · Ohr
selektive »neck dissection« mit lateraler oder totaler Parotidektomie
– adjuvante Therapie: # Kap. 5.4.6
Merkel-Zell-Karzinom
3
▬ Synonyme: neuroendokrines Karzinom, trabekuläres
Karzinom
▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen
▬ Mortalität: 50 %
▬ Klinisches Bild: # Kap. 5.4.6 (»Malignes Melanom«)
▬ Prognose meist infaust; nur bei kleinen, oberflächlichen Knoten nach ausreichender Exzision Aussicht
auf Heilung; bei größeren, die Subkutis miterfassenden Tumoren im 1. Jahr Rezidive oder Lymphknotenmetastasen (etwa 50 %)
▬ Therapie: ausgedehnte Resektion notwendig (2–3 cm;
oft nicht möglich), dennoch schlechte Prognose; Indikation zur prophylaktischen Lymphknotendissektion,
zur Bestrahlung und zur Chemotherapie bislang unklar (keine signifikante Verbesserung)
Metastasen
▬ Metastasen anderer Organe als der Haut sind im Ohrbereich sehr selten
Literatur
Devaney KO, Boschman CR, Willard SC, Ferlito A, Rinaldo A (2005)
Tumors of the external ear and temporal bone. Lancet Oncol 6:
411–420
Dost P, Lehnerdt G, Kling R, Wagner SN (2004) Zur chirurgischen Therapie des malignen Melanoms der Ohrmuschel. HNO 52: 33–37
Rinaldo A, Devaney K, Ferlito A (2005) Merkel cell carcinoma of the
auricle. Acta Oto-Laryngol 125: 125–129
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
3.5
Erkrankungen des Mittelohrs
3.5.1 Anomalien und Fehlbildungen
S. Mattheis, R. Siegert
Fehlbildungen der Paukenhöhle und des
Mastoidzellsystems
Einteilung
▬ Prinzipiell:
– kleine Mittelohrfehlbildung: auf Strukturen der
Paukenhöhle beschränkt; betrifft meist die Ossikel:
partielles Fehlen oder Verklumpung
– große Mittelohrfehlbildung: zusätzlich Außenohr
betroffen, z. B. Gehörgangsstenose; häufig bei Pa-
tienten mit Franceschetti-, Crouzon- oder Goldenhar-Syndrom
▬ 3 Schweregrade nach Kösling:
– leichte Formen: Gehörknöchelchendysplasie bei
normal dimensionierter Paukenhöhle
– mittlere Formen: hypoplastische Paukenhöhle mit
rudimentären oder aplastischen Gehörknöchelchen
– schwere Formen: aplastische oder spaltförmige
Paukenhöhle; in bis zu 40 % der Fälle mit Innenohrfehlbildungen kombiniert
Epidemiologie
▬ Inzidenz von Mittelohrfehlbildungen: keine genauen
Daten
▬ Inzidenz der Atresia auris congenita (Kombination
aus Mittelohrfehlbildung und Fehlbildung des äußeren Ohres): etwa 1/10.000
Ätiologie
▬ Genetisch bedingt oder erworben
▬ Genetisch bedingte Fehlbildungen können isoliert
oder im Rahmen von Syndromen auftreten; spontane
Mutationen sind häufig
▬ Nichtgenetisch bedingte Fehlbildungen des Mittelohrs entstehen durch schädigende Einflüsse während
der Schwangerschaft; häufigste Ursache: Virusinfektionen (Röteln)
▬ Weitere Ursachen: Thalidomid, hohe Vitamin-A-Dosen
Klinisches Bild
▬ Bei den leichten Formen finden sich häufig isolierte
Fehlbildungen einzelner Ossikel
▬ Malleus selten isoliert betroffen; häufig verschmolzener Malleus-Inkus-Komplex mit dysplastischem Inkus, noch häufiger Fehlartikulationen zwischen Inkus
und Stapes mit bindegewebiger Umwandlung des langen Inkusfortsatzes und Dysplasie der Stapessuprastrukturen
▬ Schwerere Formen: Paukenhöhle hypoplastisch, Strukturen der Paukenhöhle nur rudimentär oder gar nicht
vorhanden, Fenster zum Innenohr können verschlossen sein
Diagnostik
▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins
▬ Nach Siegert, Weerda und Mayer kann durch Beurteilung der vorhandenen Mittelohrstrukturen ein
Punkte-Score mit max. 28 Punkten ermittelt werden,
der eine prognostische Grundlage für die Ergebnisse
einer chirurgischen Mittelohrrekonstruktion darstellt;
219
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
beurteilt werden: äußerer Gehörgang, Mastoidbelüftung, Paukengröße, Paukenbelüftung, N. facialis, Gefäßverläufe, Hammer und Amboss, Stapes, ovales und
rundes Fenster:
– 4: z. B. normaler Stapes
– 2: z. B. normaler äußerer Gehörgang
– 1: z. B. dysplastischer Inkus-Malleus-Komplex
– 0: z. B. knöcherne Atresie oder verschossenes ovales
Fenster
Differenzialdiagnostik
▬ Fehlbildungssyndrome, die mit einer Ohrfehlbildung
assoziiert sind
▬ Otosklerose, Ambossluxation, Stapesfraktur, Hammerkopffixation (bei leichten Formen der Mittelohrfehlbildungen)
▬ Audiometrie
▬ Computertomographie des Felsenbeins: Pneumatisation des Mastoids meist gut ausgebildet
Differenzialdiagnostik
▬ Chronische Otitis media
▬ Erworbene Cholesteatome
Therapie
▬ Ziele:
– Entfernung des versprengten Keimgewebes
– audiologische Rehabilitation
▬ Maßnahme: Tympanoplastik mit Resektion des versprengten Keimgewebes und Rekonstruktion von
Trommelfell und Gehörknöchelchenkette
Therapie
Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen
▬ Ziel: audiologische Rehabilitation, v. a. bei beidseitiger Fehlbildung
▬ Maßnahmen:
– bei Schallleitungs- oder kombinierter Schwerhörigkeit Versorgung mit Knochenleitungshörgeräten im
Säuglingsalter
– ab dem 3. Lebensjahr Implantation knochenverankerter Hörgeräte
– bei leichten Formen Versuch der Tympanoplastik
mit Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette
– bei Atresia auris congenita und günstigen anatomischen Verhältnissen 3-zeitiger Mittelohraufbau in
Verbindung mit einer Gehörgangskonstruktion aus
Rippenknorpel und Haut (# Kap. 3.4.1, »Dysplasien
vom Schweregrad III«)
▬ Franceschetti-Syndrom (Dysostosis mandibulofacialis): # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im
Rahmen von Fehlbildungssyndromen«)
▬ Morbus Crouzon (kraniofaziale Dysostose): # Kap. 2.1.4
(»Kraniofaziale Syndrome«)
▬ Albers-Schönberg-Syndrom: progrediente, kombinierte Schwerhörigkeit, zunehmende Fazialisparese,
zunehmender Visusverlust, fortschreitende Osteosklerose aller Knochen
▬ Marfan-Syndrom: ein- oder beidseitige Mittelohrschwerhörigkeit, kombinierte Schwerhörigkeit oder
reine Innenohrschwerhörigkeit, Arachnodaktylie, Ectopia lentis, Herz- und Lungenfehlbildungen, Augenmuskelparesen, Schluckparesen
▬ Paget-Syndrom (Ostitis deformans): ein- oder beidseitige Mittelohrschwerhörigkeit, kombinierte oder
reine Innenohrschwerhörigkeit, fehlbildende Osteitis
(v. a. Felsenbein und Schädelbasis, aber auch andere
Knochen, z. B. untere Extremitäten)
▬ Townes-Brocks-Syndrom: ein- oder beidseitige Innenohrschwerhörigkeit oder kombinierte Schwerhörigkeit, Ohrfehlbildungen (Satyr-Ohren, präaurikuläre
Fisteln und Anhängsel, ggf. Gehörknöchelchenfehlbildungen), Gesichts-(Mandibula-)Hypoplasie, LippenKiefer-Gaumenspalte, Handfehlbildungen (Polydaktylie, Daumenagenesie), Nierenfehlbildungen (renale
Hypoplasie, Ureterabgangsstenose), Skelettanomalien
(fehlende/hypoplastische Zehen, Hallux valgus)
▬ Van-der-Hoeve-de-Kleyn-Syndrom
(Osteogenesis
imperfecta): langsam progrediente, meist kombinierte
Schwerhörigkeit durch Stapesankylose, blaue Skleren,
Knochenbrüchigkeit, Zahnanomalien
▬ Wildervanck-Syndrom: hochgradige Mittelohrschwerhörigkeit, oft Innenohrschwerhörigkeit, Gehörgangsat-
Mittelohrfehlbildungen infolge von Keimversprengungen
Einteilung
▬ Kongenitale Epidermoide (kongenitale Cholesteatome)
▬ Kongenitale Dermoide (mit Hautanhangsgebilden)
Klinisches Bild
▬ Gegebenenfalls Symptome einer chronischen Otitis media (# Kap. 3.5.4), jedoch keine rezidivierende
Otorrhö, aber Schallleitungsschwerhörigkeit
▬ In Kindheit aufgrund des langsamen Wachstums oft
symptomlos
Diagnostik
▬ Ohrmikroskopie: Trommelfell intakt, ggf. dahinter
Cholesteatomperle sichtbar
3
220
3
Kapitel 3 · Ohr
resie oder Mittelohrfehlbildungen unterschiedlichen
Ausmaßes, meist beidseitige vestibuläre Untererregbarkeit, Halswirbelfusion, Abduzenslähmung, eingesunkener Bulbus, selten Gaumenspalte, Mikrogenie,
Mikrognathie
▬ CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom): # Kap.
3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von
Fehlbildungssyndromen«)
▬ Möbius-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«)
u. 4.3.4
Mittelohrfehlbildungen bei Atresia auris congenita
– bei günstigen anatomischen Verhältnissen 3-zeitiger Mittelohraufbau mit Gehörgangskonstruktion aus Rippenknorpel und Haut (# Kap. 21.5.1,
»Äußeres Ohr und Gehörgang« → »Mikrotie« →
»Mehrzeitiger Ohrmuschel- und Mittelohraufbau
mit Rippenknorpel«)
– komplette Ohrmuschelaufbauplastik mit Transplantation von Rippenknorpel und Haut
– alternativ Ohrmuschelaufbauplastik unter Verwendung von alloplastischen Ohrmuschelgerüsten
(Medpor)
– Alternative zur Ohrmuschelaufbauplastik: knochenverankerte Epithese
Definition und klinisches Bild
Literatur
▬ Mittelohrfehlbildung unterschiedlicher Ausprägung
im Rahmen einer Atresia auris congenita
▬ Keine Strukturen einer normalen Ohrmuschel vorhanden: vollständiges Fehlen der Ohrmuschel oder
Vorhandensein von Rudimenten (häufig dystop) im
Sinne einer Mikrotie vom Lobulustyp
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit von >50 dB HL (»hearing level«)
▬ Gelegentlich mit Innenohrfehlbildung und Schallempfindungsschwerhörigkeit verbunden
▬ Zur Rekonstruktion werden Haut und Knorpel oder
alloplastische Materialien benötigt
▬ Gehörgang atretisch oder hochgradig stenotisch
(Typ B oder C nach Weerda)
▬ Variable Fehlbildung im Bereich der Paukenhöhle
und der Gehörknöchelchenkette
Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von
Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95
Jahrsdoerfer RA, Yeakley JW, Aguilar EA, Cole RR, Gray LC (1992) Grading system for the selection of patients with congenital aural
atresia. Am J Otol 13: 6–12
Kösling S, Schneider-Möbius C, König E, Meister EF (1997) Computertomographie bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf eine
Felsenbeinmissbildung. Radiologe 37: 971–976
Naumann HH, Scherer H (1998) Differentialdiagnostik in der HalsNasen-Ohren-Heilkunde. Symptome, Syndrome, Grenzgebiete, 2.
Aufl. Thieme, Stuttgart New York
Siegert R, Weerda H, Mayer T, Brückmann H (1996) Hochauflösende
Computertomographie fehlgebildeter Mittelohren. Laryngorhinootologie 75: 187–194
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome
und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Epidemiologie
▬ Inzidenz der Atresia auris congenita: etwa 1/10.000
Ätiologie
▬ Genetisch bedingt oder erworben
3.5.2 Verletzungen des Mittelohrs
C. Klingmann, P.K. Plinkert
Diagnostik
▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins
▬ Prognostische Grundlage für die Ergebnisse einer chirurgischen Mittelohrrekonstruktion (s. oben, »Fehlbildungen der Paukenhöhle und des Mastoidzellsystems«)
Therapie
▬ Ziel: ästhetische und audiologische Rehabilitation der
Patienten
▬ Maßnahmen:
– bei Schallleitungs- oder kombinierter Schwerhörigkeit: s. oben, »Fehlbildungen der Paukenhöhle und
des Mastoidzellsystems«
Barotrauma
Definition
▬ Synonyme: Aero-Otitis media, Baro-Otitis media
▬ Akute, ein- oder beidseitige, indirekte Verletzung im
Bereich des Mittelohrs als Folge einer Differenz zwischen dem Mittelohrdruck und dem auf den Körper
einwirkenden Umgebungsdruck
Einteilung
▬ Barotrauma des Mittelohrs des
– Abstiegs (90 %)
– Aufstiegs (10 %)
221
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Nach Beteiligung von Trommelfell und Pauke (Stadieneinteilung):
– subjektive Beschwerden bei unauffälligem otoskopischen Befund
– Rötung im Bereich des Hammergriffs oder petechiale Blutungen innerhalb des Trommelfells
– flächenhafte Einblutungen in das Trommelfell
– seröse oder blutige Flüssigkeit in der Pauke (Hämatotympanon)
– Trommelfellperforation
Unterdruck
blockierte Ohrtube
Epidemiologie
▬ Etwa 10 % aller Taucher geben ein Barotrauma des
Mittelohrs in der Vorgeschichte an
▬ Auch bei Flugreisen, Berg-, Gondel- und Druckkammerfahrten (v. a. bei gleichzeitigem rhinogenen Infekt
→ mangelnde Tubenbelüftung), dabei selten Verletzung des Trommelfells (etwa 20 % aller Barotraumen
des Mittelohrs)
▬ Vorkommen in jedem Lebensalter
⊡ Abb. 3.16. Barotrauma: Beim Abtauchen kommt es zu einer Drucksteigerung in der Umgebung und in den flüssigkeitsgefüllten Räumen
des Körpers. Ist die Ohrtrompete blockiert, entsteht ein Unterdruck
im Mittelohr, der zu dessen Verletzung führt. Pfeile Unterdruck; Striche
blockierte Tube. (Modifiziert nach »Moderne Tauchmedizin«, Klingmann/Tetzlaff, Gentner Verlag)
Ätiologie und Pathogenese
▬ Am häufigsten während des Abtauchens: Druck- und
Volumenänderungen in luftgefüllten Hohlräumen
nach dem Gasgesetz von Boyle-Mariotte
▬ Beim Abtauchen, während des Flugzeuglandeanflugs und bei Talfahrten: Umgebungsdruck steigt
→ über Gehörgang und Kalotte Übertragung auf
das Mittelohr → das sich proportional dem Druckanstieg verkleinernde Gasvolumen des Mittelohrs
muss über die Eustachi-Röhre aktiv ausgeglichen
werden (Einwärtsbewegung des Trommelfells nur
bedingt möglich → Unterdruck) → der Taucher
oder Fluggast unterlässt die Durchführung des
Druckausgleichs (zu schnelles Abtauchen) oder die
Tubenfunktion ist aufgrund akuter oder chronischer
Schleimhautschwellungen eingeschränkt → Volumenverkleinerung des Mittelohrs → Schleimhautödem, Exsudation/Einblutung in Trommelfell und
Pauke, Trommelfellruptur (abhängig vom Druckgradienten und von der Stabilität des Trommelfells;
⊡ Abb. 3.16)
▬ Beim Auftauchen, während des Flugzeugsteigflugs
und bei Bergfahrten: Ausdehnung der Luft im Mittelohr → Luft strömt passiv über die Ohrtrompete ab
– Eustachi-Röhre aufgrund einer Schleimhautschwellung blockiert (z. B. als Folge der nachlassenden
Wirkung abschwellender Nasentropfen oder durch
das mehrstündige Einwirken der trockenen, reizenden, klimatisierten Luft im Flugzeug) → Ausdehnung der Luft im Mittelohr → relativer Überdruck
bzw. Volumenvergrößerung → Überdehnung des
Trommelfells in Richtung Gehörgang mit Reizung
der Schmerzrezeptoren, Einblutung in das Trommelfell und Druckbildung im Mastoid
– Druck im Mittelohr übersteigt den Verschlussdruck
der Eustachi-Röhre → Luft strömt aus dem Mittelohr über den physiologischen Weg ab; gelingt dies
nicht, kommt es ggf. zu einer Trommelfellruptur
(notwendiger Tubenöffnungsdruck übersteigt Stabilität des Trommelfells)
Klinisches Bild
▬ Otalgie, Druckgefühl im Ohr, »schmatzendes Geräusch« (Paukenerguss)
▬ Blutung aus dem Gehörgang
▬ Durchblasegeräusch während des Valsalva-Manövers
▬ Hörminderung bis zur Taubheit
▬ Vertigo, Tinnitus
▬ Bei Komplikationen: ausgeprägte Zephalgie, Hirndruckzeichen
> Wichtig
Vertigo kann Symptom einer Ruptur der Mittelohrfenster
mit Perilymphfistel sein.
Diagnostik
▬ Anamnese: typisches Auftreten der Beschwerden
während des Auf- oder Abtauchens bzw. während
des Steig- oder Landeanflugs wegweisend
3
222
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Mikroskopische Otoskopie: retrahiertes Trommelfell,
Rötung und Einblutung des Trommelfells, Paukenerguss, Hämatotympanon, Trommelfellruptur; Ausschluss einer Otitis externa
▬ Stimmgabelversuch (nach Weber/Rinne): Schallleitungsstörung/kochleären Beteiligung
▬ Tympanometrie: flacher Kurvenverlauf (Paukenerguss), kein Druckaufbau bei Trommelfellruptur (zurückhaltend indizieren, da bei frischem Barotrauma
und fehlender Perforation schmerzhaft)
▬ Tonaudiometrie: Schallleitungsschwerhörigkeit, Ausschluss einer kochleären Beteiligung (Barotrauma des
Innenohrs: # Kap. 3.6.2)
▬ Frenzel-Brille: Ausschluss von Spontannystagmen
▬ Vestibularisprüfung (Videonystagmographie: Luftkalorisation)
▬ Bildgebung: Computertomographie (nur bei Verdacht
auf Komplikationen indiziert)
Differenzialdiagnostik
▬ Otitis externa (50 % aller Taucher geben eine Otitis
externa in der Vorgeschichte an)
▬ Otitis media infectiosa
▬ »Grippeotitis«
▬ Neuralgien
Therapie
▬ Ziele:
– Wiederherstellung der Belüftung des Mittelohrs
– Verhinderung eines Sekundärinfekts
– Behandlung der ggf. vorhandenen Innenohrschwerhörigkeit
▬ Maßnahmen:
– abschwellende Nasentropfen (alle 2–3 h)
– Inhalation, Nasenspülungen mit NaCl-Lösung
– topische oder systemische Antibiotikagabe nur bei
Trommelfellperforation
– bei Innenohrbeteiligung antiphlogistisch-rheologische Therapie
– Tauch- und Flugverbot bis zum Vorliegen eines
otoskopischen Normalbefunds; das Flugverbot
kann bei Vorliegen einer Trommelfellperforation
aufgehoben werden, da hierdurch die Belüftung des
Mittelohrs gewährleistet ist
– bei Vorliegen einer Innenohrbeteiligung besteht bei
einem Hörverlust von >40 dB im Vergleich zur
Gegenseite und/oder Vertigo der Verdacht auf eine
Ruptur einer Rundfenstermembran → Tympanotomie mit Inspektion des ovalen und runden Fensters
sowie bindegewebige Abdichtung
– bei persistierendem Paukenerguss oder starker Otalgie Parazentese und Paukendrainage
! Cave
Abschwellende Nasentropfen sind bis 12 h vor dem
Tauchen absolut kontraindiziert, um ein Barotauma
des Mittelohrs während des Aufstiegs zu vermeiden
(in der Regel liegt eine Tubenbelüftungsstörung vor;
Abtauchen ist aufgrund der Nasentropfen problemlos
möglich; nachlassende Wirkung der Nasentropfen
beim Auftauchen → Barotrauma). Bei Flugreisen und
Bergfahrten spielt dies keine Rolle, hier können die
Nasentropfen weiter appliziert werden.
Verlauf und Prognose
▬ Barotraumen des Mittelohrs können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein:
– Trommelfellperforationen sind selten (<10 %)
– abhängig vom Schweregrad (leichte Rötung des
Trommelfells, Hämatotympanon, Trommelfellruptur) kann ein Barotrauma des Mittelohrs innerhalb
von Stunden abheilen, über Wochen Beschwerden
bereiten oder ohne operative Sanierung gar nicht
abheilen
▬ Bei Innenohrbeteiligung (Barotrauma des Innenohrs): Prognose bezüglich kompletter Ausheilung
schlecht (bei 80 % der Patienten persistierender Tinnitus oder Hörminderung)
▬ Beteiligung der Ossikelkette: sehr selten
▬ Komplikationen:
– Trommelfellruptur
– Pneumenzephalon (Rarität) bei Fraktur der Laterobasis (bisher nur Fallbericht)
– Innenohrschädigung: Innenohrbarotrauma, Ruptur
der Rundfenstermembran
– Fazialisparese: sehr selten
> Wichtig
Bei entzündlichen Erkrankungen von Ohr, Nase oder Nasennebenhöhlen sollten keine Tauchgänge erfolgen. Das
gilt auch bei persistierender Trommelfellperforation oder
chronischen Tubenventilationsstörungen
Direkte traumatische Trommelfell- und
Ossikelverletzung
Definition
▬ Schädigung des Trommelfells oder der Ossikelkette
durch direkte Krafteinwirkung (fortgeleitet/indirekt;
# Kap. 3.6.2)
Einteilung
▬ Trommelfellverletzung (Quadranten 1–4):
– vorderer oberer Quadrant (10 %)
– vorderer unterer Quadrant (52 %)
223
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
– hinterer unterer Quadrant (21 %)
– hinterer oberer Quadrant (12 %):
– selten mehrfache Perforationen der Pars tensa
– praktisch nie Verletzungen der Pars flaccida
▬ Ossikelverletzungen durch:
– Luxation (75 %)
– Fraktur (25 %)
Ätiologie
▬ Direkte Trommelfell- und Ossikelverletzungen; entstehen durch direkte Krafteinwirkung von Gegenständen: Zahnnstocher, Äste, Zweige, Haarnadeln,
Stricknadeln, Wattestäbchen, unsachgemäße Ohrspülungen, Schweißperlen, Verätzung, primäre Elektotraumen (Luftelektrizität: Blitzschlag) etc.
▬ Ossikelverletzungen (bzw. Luxationen): bei Manipulation in Gehörgang und Mittelohr sowie auch iatrogen
im Rahmen einer Antrotomie
▬ Indirekte Verletzungen: Ohrfeige, Kopfsprung ins
Wasser, Explosionstrauma (# Kap. 3.6.2)
Pathogenese
▬ Durch die natürliche Krümmung des Gehörgangs
verletzen einspießende Gegenstände meist den Gehörgang und nicht das Trommelfell; liegt jedoch ein
ungünstiger Winkel beim Einspießen des Gegenstands vor (meist vorderer unterer Quadrant betroffen), kommt es zu radiären, zum Teil multiformen
Trommelfellverletzungen; teilweise sind Anteile des
Trommelfells in die Pauke eingeschlagen
▬ Bei Verletzungen durch heiße Gegenstände, Blitzschlag oder Verätzungen in der Regel keine Trommelfelllefzen → im Laufe der auf das Trauma folgenden
Wochen weitere Größenzunahme des Defekts
▬ Verletzungen der Ossikelkette:
– wesentlich seltener als Trommelfellverletzungen
– meist Amboss-Steigbügel- und Hammer-AmbossGelenk betroffen (Amboss nur ligamentär aufgehängt); außerdem (in der Häufigkeit abnehmend):
Frakturen der Stapesschenkel, Hammerfrakturen,
Stapesluxationen
Klinisches Bild
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Otalgie
Blutung aus dem Gehörgang
Durchblasegeräusch während des Valsalva-Manövers
Hörminderung bis zur Taubheit
Tinnitus
Vertigo
Bei Komplikationen: ausgeprägte Zephalgie, Hirndruckzeichen
Diagnostik
▬ Anamnese: gibt Hinweis auf den Traumamechanismus sowie den Verletzungszeitpunkt
▬ Ohrmikroskopie: Trommelfellverletzung (schlitzförmig, dreieckig oder sternförmig), Einblutungen in
das Trommelfell und Trommelfelllefzen (in Richtung
Paukenlumen); ggf. Koagel (Blutung durch Verletzung von Gehörgang oder Paukenhöhle); bei Einspießung in das Labyrinth ggf. Liquorrhö
▬ Abdecken des Defekts, z.B. mit »Zigarettenpapier«
(Abdeck- oder »Prothesen«-Versuch): Persistenz einer Schallleitungsschwerhörigkeit als Hinweis auf Ossikelverletzung
▬ Stimmgabelversuch (nach Weber/Rinne)
▬ Tonaudiometrie (Ausschluss einer Innenohrbeteiligung), ggf. Sprachaudiometrie
▬ Kontrolle der Fazialisfunktion
▬ Frenzel-Brille: Ausschluss von Spontannystagmen
▬ Gegebenenfalls Prüfung der Labyrinthe mit Luft
▬ Bildgebung: ggf. Röntgenaufnahme nach Schüller
(kontrastgebender Fremdkörper; prognostischer Hinweis: ausgedehnte Pneumatisation → gute Heilung;
ggf. gutachterliche Aspekte), Computertomographie
(nur bei Verdacht auf Komplikationen indiziert)
▬ Bei klarer Otorrhö: Liquordiagnostik (z. B. β2Transferrin- und β-Trace-Protein-Bestimmung)
Differenzialdiagnostik
▬ Indirekte Verletzungen: Kompression der Luft im Gehörgang → Druckwellentrauma durch schnelle Änderung des Drucks im äußeren Gehörgang
▬ Otitis media infectiosa
▬ »Grippeotitis« (Anamnese)
Therapie
▬ Ziele:
– Wiederherstellung der Integrität des Trommelfells
– verlustfreie Schallübertragung
– Verhinderung eines Sekundärinfekts
▬ Maßnahmen:
– Gehörgangsreinigung (instrumentell mit Sauger)
! Cave
Keine Ohrspülung
– Fremdkörperentfernung, z. B. Schweißperle, Verunreinigungen, aber auch abgerissene Trommelfellteile
– Schienung des Trommelfells (Onlay-Technik): # Kap.
21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« → »Spezielle
Probleme und Therapieverfahren« → »Verletzungen«)
– Hitzeverletzungen: Demarkation der Nekrosen abwarten, keine primäre Schienung
3
224
Kapitel 3 · Ohr
– Rekonstruktion der Ossikelkette nach 6 Monaten
(Ausnahme: tympanoplastische Sofortmaßnahmen
indiziert)
– Tauch- und Flugverbot bis zur Wiederherstellung
eines stabilen Trommelfells
3
Verlauf und Prognose
▬ Durchtrennung des Trommelfells → Regeneration,
die vom Plattenepithel der Hammergriffregion und
des Anulusbereichs ausgeht → Migrationstendenz
zum gegenüberliegenden Wundrand mit ausgeprägter
mitotischer Aktivität und Nachwachsen der Lamina
propria
▬ Kleinere Trommelfellverletzungen heilen häufig spontan ab; Spontanheilungsrate bezogen auf die Gesamtheit der Trommelfellperforationen: etwa 75 %
▬ Heilungsdauer von Trommelfellperforationen hängt
von der Größe ab:
– stichförmige Inzisionen (wie Parazentesen): 1–2 Wochen
– große Defekte: noch bis zu 30 Tage nach dem
Trauma gute Heilungstendenz, nach 30 Tagen deutlich abfallende Chancen einer Spontanheilung →
Tympanoplastik erforderlich
▬ Durch Trommelfellschienung oder tympanoplastische
Maßnahmen Erhöhung der Heilungsrate auf >95 %
▬ Sekundärinfektionen (z. B. auch Verletzungen nach
Ohrspülungen) vermindern die Chance auf eine
Spontanheilung und reduzieren die Heilungsrate nach
Trommelfellschienung
▬ Ossikelfrakturen: Wachstum der Ossikel ist mit der
Geburt abgeschlossen, sodass es bei entsprechenden
Frakturen zu keiner Kallusbildung und damit zu keiner Frakturheilung kommt; eine Verbesserung einer
bestehenden Schallleitungsstörung ist nur durch einen bindegewebigen Narbenaufbau möglich
▬ Verletzungen durch Hitzeeinwirkung (Schweißperlen
etc.), Verätzungen oder Blitzschlag: über das Trauma
hinausreichende Vergrößerungstendenz durch Nekrosen/Entzündung → schlechtere Prognose; trotz
adäquater Versorgung Rezidivneigung (persistierende
Perforation, Sekretion, Gehörgangsstenose)
▬ Komplikationen:
– Innenohrschädigung durch Innenohrbarotrauma
oder Explosionstrauma (Perilymphfistel, Ruptur
der Rundfenstermembran)
– Verletzung der Fußplatte bei Perforationen im hinteren oberen Quadranten
– persistierende Schallleitungsstörung
– Entwicklung eines sekundären Cholesteatoms
– Verbleib von Fremdkörpern im Mittelohr
– Fazialisparese
Literatur
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vertigo – really a hazard? Otol Neurotol 27: 1120–1125
Klingmann C, Plinkert PK (2005) Hörminderungen bei Tauchern. HNO
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Klingmann C, Tetzlaff K (Hrsg.) (2007) Moderne Tauchmedizin. Handbuch für Tauchlehrer, Taucher und Ärzte. Gentner, Stuttgart
Klingmann C, Wallner F (2004) Tauchmedizinische Aspekte in der
HNO-Heilkunde. 1. Teil: Erkrankungen durch den Tauchsport.
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Vaylet F, Falque L, Berrar J et al. (1998) Dans les suites d’une plongee ... Pneumatocele baro-traumatique. Rev Pneumol Clin 54:
221–223
3.5.3 Tubenfunktionsstörungen
E. di Martino
Allgemeines
Definition
▬ Störungen von Öffnung und/oder Verschluss der Eustachi-Röhre mit konsekutiver Alteration der 3 Hauptfuntionen:
– Belüftung und Druckausgleich von Mittelohr und
Mastoid
– Mittelohrdrainage
– Protektion gegenüber Schall, aszendierenden Keimen und Magensaftreflux
Epidemiologie
▬ Abnahme von Inzidenz und Prävalenz mit zunehmendem Alter:
– bis zu 40 % aller Kinder zumindest passager betroffen
– Prävalenz chronischer Tubenfunktionsstörungen
bei Erwachsenen: etwa 1 %
▬ Spezielle Patientengruppen bis zu 100 % betroffen
(Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Neubildungen im Bereich des Nasenrachens oder Schä-
225
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
delbasisprozessen, bestimmte ethnische Gruppen wie
z. B. Aborigines)
▬ Bei Kindern v. a. beidseitiges chronisches Mukotympanon aufgrund von Adenoiden, allergischen Schleimhautschwellungen oder Reflux (?)
▬ Bei Erwachsenen Tubenfunktionsstörungen v. a. aufgrund von Infekten der oberen Luftwege, Nasenatmungsbehinderung oder rezidivierenden Otitiden
Einteilung der Belüftungsstörungen des Mittelohrs
> Wichtig
Beim nicht voroperierten Ohr nimmt nahezu jede Trommelfellretraktion ihren Ausgang von einer Tubenfunktionsstörung.
Diagnostik
▬ Große Anzahl unterschiedlicher Methoden und Diagnoseverfahren (>40; # Kap. 3.3.3)
▬ Minder- oder schlecht belüftetes Mittelohr (Unterdruck)
▬ Seromukotympanon:
– Serotympanon (seröser Erguss): seromuköse Mittelohrentzündung
– Mukotympanon (visköser Erguss): »glue ear« (Leimohr), seromuzinöse Otitis
▬ Sonderfall: klaffende Tube (s. unten)
Akute Tubenfunktionsstörungen
Ätiologie
Klinisches Bild
▬ Funktionelle Stenosen, z. B. muskuläre Insuffizienz, entzündliche/allergische/hormonelle Schleimhautschwellungen
▬ Anatomische Stenosen: knöcherne Engstellen, Strikturen, Vernarbungen (10 %)
▬ Adenoide Vegetationen, Septumdeviation, Sinusitis (entweder direkt oder indirekt über entzündliche
Komponente), Infekte
▬ Fehlbildungen: Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, syndromale Erkrankungen
▬ Tumoren von Nase/Nasenrachen/Schädelbasis, Schädelbasisbeteiligung, Bestrahlungen
▬ Genetische Prädisposition
▬ Selten: Myoklonus M. tensor veli palatini (sog. Tremor palatinus)
▬ Siehe oben, »Allgemeines«
Klinisches Bild
▬ Akut:
–
–
–
–
–
Druck- und Völlegefühl im Ohr
Schmerzen
fehlender Druckausgleich
Mittelohrerguss (akutes Seromukotympanon)
Hypakusis (typisch: reine Schallleitungsschwerhörigkeit, normales Innenohr)
– Otitis media acuta
▬ Chronisch: akute Symptome sowie:
– Mittelohradhäsivprozess
– chronisches Seromukotympanon
– chronische Otorrhö
– chronische mesotympanale Otitis media
– chronische epitympanale Otitis media
▬ Sonderfall: klaffende Tube (s. unten)
Ätiopathogenese
▬ Meist akute respiratorische Infekte, starke Druckschwankungen, seltener allergische Schleimhautbeteiligung
▬ Anatomische Verhältnisse normalerweise regelrecht
▬ Unterdruck in Paukenhöhle → Schleimhautödem →
Transudation von Serumbestandteilen
! Cave
Bei Erwachsenen mit leerer Ohranamnese ist eine
Tubenfunktionsstörung oft Erstsymptom eines Nasenrachentumors.
Diagnostik
▬ Anamnese
▬ HNO-Status inklusive Nasenrachenspiegelung/-endoskopie und Otomikroskopie: eingezogenes, durchsichtiges, ggf. gerötetes Trommelfell; bei Valsalva-Versuch
ggf. Luftbläschen (bei Ergussbildung)
▬ Orientierende klinische Tubenfunktionsprüfung:
# Kap. 3.3.3
▬ Tympanometrie: flache Unterdruckkurve
▬ Audiometrie zum Nachweis einer Schallleitungsschwerhörigkeit, ggf. otoakustische Emissionen oder
Hirnstammaudiometrie bei Kleinkindern
▬ Im Einzelfall Allergieabklärung, Refluxabklärung
Differenzialdiagnostik
▬ Otitis media acuta: Otalgie, pathologischer Trommelfellbefund
▬ Hörsturz: Innenohrschwerhörigkeit, unauffälliger
Trommelfellbefund
▬ Morbus Menière: Druckgefühl, Schwindel, Ohrgeräusch, Hörminderung
Therapie
▬ Ziel: Wiederherstellung der Tubendurchgängigkeit
und der Mittelohrbelüftung
3
226
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Maßnahmen:
– abschwellende Rhinologika (Nasentropfen/-salbe/gel; Cave: Schwangerschaft, Glaukom)
– Valsalva-Manöver (Cave: bei akutem Infekt Gefahr
der Keimaszension)
– alternativ kortikoidhaltige Sprays
– Analgetika bei Schmerzen (z. B. Paracetamol)
– bei bekannter allergischer Diathese: zusätzlich antiallergische Nasensprays und/oder orale Medikation
(z. B. Ceterizin)
– bei Säuglingen Zurückhaltung mit Rhinologika; alternativ Versuch mit NaCl-Lösung, ggf. Versuch
mit Homöopathika
– bei Verdacht auf Reflux ggf. Versuch mit Protonenpumpenhemmer
– Antibiotika bei Otitis media acuta
– ggf. Parazentese, v. a. bei toxischem Innenohrschaden
– Paukenröhrchen bei protrahiertem Verlauf und/oder
drohenden Komplikationen
Verlauf und Prognose
▬ In der Regel folgenlose Ausheilung
Chronische Tubenfunktionsstörungen
Ätiologie
▬ Häufigster Befund im Kindesalter: adenoide Vegetation durch direkte Verlegung oder akute Schwellung
(indirekte Verlegung sowie funktionelle Behinderung
des pharyngealen Ostiums)
▬ Anatomisch bedingte Stenosen im Tubenlumen werden selten diagnostiziert; funktionelle Insuffizienz im
Bereich der Pars cartilaginea bedeutsamer
▬ Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten
▬ Raumforderungen im (Nasen-)Rachen/an der Schädelbasis: Tumoren, Zysten, Polypen im Tubenostium
▬ Allergische Affektionen der Mittelohrschleimhaut
▬ Chronische Rhinosinusitis
▬ Radiotherapie des Nasopharynx oder der Ohrregion
▬ Schädelbasisfraktur
▬ Langzeitintubation, nasogastrale Sonde
▬ Vernarbungen am Weichgaumen und/oder Nasenrachen (postoperativ, inflammatorisch, Tamponaden)
▬ Wegener-Granulomatose
Klinisches Bild
▬ Typisch: chronisches Seromukotympanon (»glue ear«,
Leimohr):
– otomikroskopisch eingezogenes Trommelfell und
Erguss, ggf. mit Blasenbildung
– bei schleimigem Erguss verdicktes, graublaues oder
bräunlich verfärbtes Trommelfell
▬ Bei anhaltender Persistenz der Belüftungsstörung
mögliche Entwicklung von:
– Mittelohradhäsivprozess
– chronische mesotympanale Otitis media (chronische Schleimhauteiterung)
– chronische epitympanale Otitis media (chronische
Knocheneiterung, Cholesteatom)
Diagnostik
▬ Siehe oben, »Akute Tubenfunktionsstörungen«; zusätzlich im individuellen Fall sinnvoll:
– manometrische Untersuchungen
– Computer-, ggf. Magnetresonanztomographie des
Felsenbeins/der Schädelbasis (Tumor, Labyrinthbeteiligung)
– Sinusitisabklärung
– bei Verdacht auf Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte
enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kieferchirurgen
– bei Tumor ggf. gemeinsame Zusammenarbeit mit
Neuroradiologie/Neurochirurgie sinnvoll
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Pathogenese
▬ Mangelnde Mittelohrbelüftung → Paukenunterdruck
→ Transudat bzw. seröser Erguss (Serotympanon) →
Transformation des Schleimhautepithels zu sekretorisch
aktivem Epithel (Hyperplasie der Drüsen und Vermehrung der Becherzellen) → Bildung von viskösem Sekret
→ zunehmende Eindickung (Mukotympanon)
▬
Otitis media acuta
Otoliquorrhö (posttraumatisch oder spontan)
Hämatotympanon nach Baro- oder Schädeltrauma
Wegener-Granulomatose des Mittelohrs: oft therapieresistenter, seröser Mittelohrerguss aufgrund von
Granulomen der Schleimhaut (erstes Symptom); ggf.
Innenohrdepression
Otitis nigra: wahrscheinlich viral ausgelöste Schleimhauterkrankung mit erhöhter Kapillarpermeabilität (Mikroblutungen, Hämosiderinablagerungen);
leicht vorgewölbtes, bräunliches bis tiefschwarzes Trommelfell (»idiopathisches Hämatotympanon«)
Paragangliom/Glomus-tympanicum-Tumor
Aberrierendes arterielles Gefäß (A. carotis interna,
Aneurysma)
Freiliegender und hochstehender Bulbus venae jugularis
Therapie
▬ Ziel: Wiederherstellung der Tubendurchgängigkeit
und der Mittelohrbelüftung
227
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Maßnahmen: anwendbar sind alle Maßnahmen wie
bei akuten Tubenfunktionsstörungen sowie:
– konservativ:
– Autoinsufflation der Pauke (z. B. mittels Otovent)
– Eppendorf-Manöver: Ausgleich extremer Luftdruckschwankungen (z. B. Landemanöver des
Flugzeugs) durch Gähnen (Kontraktion des
M. tensor veli palatini) mit weit geöffnetem
Mund (Relaxation des M. pterygoideus medialis)
– operativ:
– Parazentese mit Paukenröhrcheneinlage (Dauerröhrchen)
– Adenotomie
– Tumorsanierung
– Spaltenverschluss (in Hinblick auf Tubenfunktion eingeschränkte Erfolgsaussichten)
– Sanierung der Nase/der Nasennebenhöhlen
– lasergestützte Tuboplastik (z. B. bei polypösen
Schleimhautveränderungen im pharyngealen Ostium)
▬ Als umstritten/obsolet gelten:
– Tubendrähte
– Tubenschläuche
– Tubenkatheterismus
– Brachytherapie
> Wichtig
Die Paukenröhrcheneinlage stellt heute die häufigste
operative Behandlung der chronischen Tubenfunktionsstörung dar. Die Maßnahme hat keinen direkten
Einfluss auf die Tubenfunktion, kann aber wesentlich
dazu beitragen, die Homöostase der Mittelohrräume zu
verbessern.
Verlauf und Prognose
▬ Behandlung ist langwierig und oft frustran; als Ursachen hierfür sind u. a. die sekundären Veränderungen
der Mittelohrschleimhaut und die Veränderungen der
Mittelohrgase anzunehmen
▬ Chronische Tubenfunktionsstörungen im Kindesalter
heilen meist mit unterschiedlichen Defektzuständen
der Pauke aus; die chronische Tubenfunktionsstörung
des Erwachsenenalters neigt dagegen zur Persistenz
▬ Eine unbehandelte chronische Tubenfunktionsstörung ist wesentliche Voraussetzung für die chronische
Otitis media und deren otogene Komplikationen
▬ Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte haben
aufgrund der veränderten muskulären Aktivität auch
nach Spaltenverschluss fast immer eine persistierende
Tubenfunktionsstörung → Dauerröhrchen meist unumgänglich
▬ Bei erfolgreich sanierten Tumoren des Nasenrachens kommt es häufig aufgrund von Strikturen/
Vernarbungen zu einer dauerhaften Funktionsstörung der Eustachi-Röhre → häufig Dauerröhrchen
notwendig
▬ Eine funktionierende Mittelohrbelüftung ist wesentliche Vorraussetzung für den Erfolg einer Tympanoplastik
Klaffende Tube (Tuba aperta)
Definition
▬ Pathologisch weite bzw. offene Tube
Einteilung
▬ Typ A: ständig klaffend
▬ Typ B: zeitweise klaffend
▬ Typ C: gewohnheitsmäßiges Sniffen mit Mittelohrun-
terdruck
▬ Typ D: »relative closing failure« (Tube klafft zwar nie
weit, ist aber auch nicht ausreichend geschlossen);
häufigster Typ
Epidemiologie
▬ Häufigkeit: 6–7 % (meist symptomlos)
Ätiopathogenese
▬ Intermittierende oder permanente Verschlussinsuffizienz
▬ Starke Gewichtsabnahme → Reduktion des Körperfettanteils → Reduktion des Volumens der Fettkörper
am Tubeneingang
▬ Asthenischer Habitus
▬ Hormonelle Faktoren bzw. Schwankungen: Anwendung von Kontrazeptiva, Schwangerschaft
▬ Posttraumatisch
▬ Sniffen (forciertes Lufteinziehen durch die Nase) →
vorübergehender Verschluss der Tube, sodass Autophonie (s. unten) kurzzeitig verschwindet → nach
z. B. Schlucken erneute Beschwerden → wiederholtes Sniffen → Entwicklung eines konditionierten
Reflexes
▬ Postoperativ nach Adenotomie oder Tonsillektomie
▬ Genetische Prädisposition (u. a. Aborigines, Inuits)
Klinisches Bild
▬ Autophonie: lästiges Hören der eigenen Stimme in
einem oder beiden Ohren
▬ Ohrdruck und Völlegefühl: (Pseudo-)Druckgefühl
durch permanent ablaufenden Druckausgleich zwischen Epipharynx und Mittelohr
▬ Oft erheblicher Leidensdruck
3
228
Kapitel 3 · Ohr
Diagnostik
3
▬ Siehe oben, »Akute Tubenfunktionsstörungen«, sowie:
– Anamnese: von besonderer Bedeutung
– Ohrmikroskopie: gelegentlich atemsynchrone Auslenkung des Trommelfells
– Audiometrie: normal
– Tympanometrie: »Atemkurve«
– Tubenendoskopie
– ggf. Magnetresonanztomographie von Kopf und
Hals
Therapie
▬ Aufklärendes Gespräch, v. a. über Harmlosigkeit und
Verlauf der Erkrankung sowie über die Besserung oder
das Verschwinden der Symptomatik in Kopftieflage
▬ Gewichtsnormalisierung
▬ Absetzen oder Wechsel des Kontrazeptivums
▬ Kollageninjektion (temporäre Wirksamkeit)
▬ Transposition der Sehne des M. tensor veli palatini
durch Frakturierung des Hamulus
▬ Transtympanale Einlage von Silikonstöpseln zur Verkleinerung/zum Verschluss des Lumens und ggf. zusätzlich Einlage eines Dauerröhrchens in das Trommelfell
▬ Lasergestützte Knorpelaugmentation (Tuboplastik
nach Kujawski)
▬ Transtympanales Einsetzen eines Silikonreduzierstücks in das tympanale Tubenostium (Sato)
▬ Psychosomatische Therapie (beim Sniffen)
> Wichtig
Erfolgsaussichten therapeutischer Maßnahmen sind
unsicher. Bei einem Scheitern operativer Verfahren droht
statt einer Verschluss- eine Tubenöffnungsinsuffizienz mit
chronischem Tubenverschluss.
Verlauf und Prognose
▬ Unsichere Prognose
▬ Begünstigt Cholesteatomentstehung (insbesondere
bei Sniffen)
▬ Bei Gewichtszunahme nicht immer Normalisierung
der Tubenbelüftung
Literatur
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Di Martino E, Di Thaden R, Krombach GA, Westhofen M (2004) Funktionsuntersuchungen der Tuba Eustachii. Aktueller Stand. HNO
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Koch U, Pau HW (1994) Tubenfunktionsprüfungen. In: Naumann HH,
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Leuwer R, Koch U (1999) Anatomie und Physiologie der Tuba auditiva.
Therapeutische Möglichkeiten bei chronischen Tubenfunktionsstörungen. HNO 47: 514–523
Leuwer R, Schubert R, Wenzel S, Kucinski T, Koch U, Maier H (2003)
Neue Aspekte zur Mechanik der Tuba auditiva. HNO 51: 431–438
Pahnke J (2000) Morphologie, Funktion und Klinik der Tuba Eustachii.
Laryngorhinootologie 79 (Suppl 2): S1–S21
3.5.4 Entzündliche Erkrankungen
Akute Otitis media
R. Leuwer
Definition
▬ Akute, in der Regel über die Ohrtrompete aus dem
Nasopharynx fortgeleitete Entzündung der Mittelohrschleimhaut, aber auch der Tuben- und Mastoidschleimhaut
▬ Bei jeder Otitis media acuta kommt es zu einer Begleitmastoiditis (s. unten, »Mastoiditis«)
Einteilung und Sonderformen
▬ Otitis media acuta im Säuglings- und Kindesalter
▬ Rezidivierende Otitis media acuta: ≥4 Episoden innerhalb von 12 Monaten (Erkrankungsalter: 2–4 Jahre)
▬ »Grippeotitis« (Synonym: bullöse Myringitis; hämorrhagische, bullöse, akute Mittelohrentzündung):
– epidermale, sehr schmerzhafte Entzündung (rote,
prall gefüllte Bläschen: Flüssigkeitsansammlung
zwischen Epidermis und Stratum fibrosum) mit
Mittelohrerguss → seröse Labyrinthitis/Innenohrschwerhörigkeit möglich
– Ursache unbekannt; Erreger: nicht nur Viren (Influenza- und Adenoviren), sondern z. B. auch Bakterien (Pneumokokken, Streptokokken, Haemophilus influenzae, Moraxella catharralis, Mycoplasma
pneumoniae)
– Diagnostik: Hörprüfungen (Ausschluss einer Innenohrbeteiligung)
– Therapie: Punktion der Blasen, ggf. anästhesierende
Ohrentropfen (z. B. Otalgan), Analgetika, Nasentropfen; evtl. Antibiotikatherapie, Paukendrainage,
antiphlogistisch-rheologische Behandlung
– Prognose: bleibende Innenohrschwerhörigkeit möglich
– Komplikationen: Vestibularisausfall, Fazialisparese
▬ Akute nekrotisierende Otitis media: extrem selten
(Deutschland), fast ausschließlich Kinder mit reduzierter Abwehrlage betroffen (angeborenes oder erworbenes Immundefizit)
229
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Masernotitis: hämatogene virale Otitis media mit
nachfolgender tubogener bakterieller Superinfektion;
oft auch Entwicklung einer akuten eitrigen Mastoiditis; aufgrund der Allgemeinsymptomatik wird die
Otitis oft übersehen und macht sich erst nach Auftreten von Komplikationen bemerkbar
▬ Scharlachotitis: nekrotisierende Entzündung bei oder
im Anschluss an Scharlach mit Ausbildung eines subtotalen Trommelfelldefekts (toxininduzierte Nekrose),
Gehörknöchelchennekrose und Osteomyelitis des Os
temporale; Therapie: rechtzeitige Antibiotikatherapie
zur Vermeidung von Komplikationen
▬ Akute nichteitrige Otitis media
▬ Sero-/Mukotympanon (# Kap. 3.5.3)
Epidemiologie
▬ Vor allem Kinder: 90 % der Kinder bis zum 6. Lebensjahr; hohe Spontanheilungsrate
▬ Inzidenz hat sich in vergangenen 30 Jahren verdoppelt; in Deutschland 1 Mio./Jahr
▬ Von Jahreszeit abhängig: v. a. Herbst und Winter
▬ In den USA häufigster Grund für Verschreibung eines
Antibiotikums
Ätiologie
▬ Erreger: etwa 80 % aller akuten Mittelohrentzündungen werden durch Viren hervorgerufen; in ungefähr
20 % der Fälle kommt es zu einer bakteriellen Superinfektion
– viral: Rhino-, »Respiratory-syncytial«-, Adeno-, Parainfluenza-, Influenzaviren
– bakteriell: Pneumokokken (40–50 %), Haemophilus
influenzae (30–40 %; meist Subtyp A; Subtyp B: toxische Verlaufsformen), Moraxella (Branhamella) catarrhalis (10 %), β-hämolysierende Staphylokokken
der Gruppe A (10 %), Staphylococcus aureus (5 %)
– Mycoplasma pneumoniae
▬ Risikofaktoren: Alter (am häufigsten zwischen 6. und
11. Lebensmonat: physiologisch insuffiziente Tube
und kurze, gerade Tuba auditiva mit hoher Compliance), Allergien, Gaumenspalten, Flaschenernährung,
Schnullern, HIV-Infektion
Pathogenese
▬ Am häufigsten tubogene Infektion (kräftiges Schnäuzen, Valsalva-Versuche, Politzern bei Infekten des Nasenrachens), seltener hämatogen (Masern, Scharlach,
Sepsis)
▬ Exogen: Infektion über vorbestehende oder traumatische Trommelfellperforation (Eindringen von Badeoder Schmutzwasser sowie Fremdkörper, z. B. bei der
Ohrreinigung)
▬ Stadien:
– Phase der katarrhalischen Entzündung: Hyperämie
und Ödem der Schleimhaut, otoskopisch Hyperämie des Trommelfells, meist am Hammergriff beginnend
– Phase der exsudativen Entzündung: Metaplasie der
Paukenschleimhaut (Becher- und Flimmerzellen),
Granulationsgewebe, eitriges Exsudat, vorgewölbtes Trommelfell mit pulssynchronen Bewegungen,
Fieber (v. a. Kinder), starke Ohrenschmerzen, Hörminderung, Ohrgeräusche, ggf. druckempfindlicher
Warzenfortsatz
– Phase der Abwehr und der Demarkation: Spontanperforation des Trommelfells (vorderer unterer
Quadrant) durch umschriebene Trommelfellnekrose (tritt heutzutage aufgrund einer frühzeitigen
antibiotischen Therapie nur in etwa 30 % der Fälle
auf)
– Heilungsphase: Auflösung des Mittelohrsekrets,
spontaner Verschluss der Trommelfells, Normalisierung des Gehörs
▬ Reizantworten des Epithels: Quellung der Zellen, Epithelverlust oder Ödem, Epitheltransformation, Epitheleinsenkungen, Ausbildung von Schleimzysten,
Entstehung von Schleimhautpolypen, Schleimhautadhäsionen (im Aditus ad antrum → Antrumblock)
Klinisches Bild
▬ Pulsierende, stechende Ohrenschmerzen, ggf. Otorrhö, Hörminderung
▬ Gegebenenfalls Fieber (bei Kindern rasch über 39°C)
und reduzierter Allgemeinzustand
▬ Bei Säuglingen und Kleinkindern oft uncharakteristische Begleitsymptome (z. B. Bauchschmerzen)
Diagnostik
▬ Inspektion: abstehende Ohrmuschel bei akuter Mastoiditis
▬ Palpation: Mastoidklopfschmerz
▬ Ohrmikroskopie: hochrotes oder gelbliches, vorgewölbtes (v. a. im hinteren oberen Quadranten) Trommelfell, ggf. pulsierend, ggf. kleine Spontanperforation mit Eitertropfen
▬ Hörprüfungen: Stimmgabeltests, Audiometrie (zur
Erfassung von Innenohrschäden), ggf. Tympanometrie (objektiver Nachweis; jedoch schmerzhaft)
▬ Gleichgewichtsprüfung: Spontan-, Kopfschüttelnystagmus, ggf. apparative Untersuchung
▬ Abstrich aus Gehörgang und Nasopharynx
▬ Röntgenaufnahme nach Schüller, »High-resolution«Computertomographie bei Verdacht auf Komplikationen
3
230
Kapitel 3 · Ohr
▬ Gegebenenfalls pädiatrisches Konsil, z. B. zum Ausschluss einer Agammaglobulinämie (bei rezidivierender Otitis media)
Differenzialdiagnostik
3
▬ Otitis externa: Tragusdruck- und -zugschmerz, Gehör
nicht betroffen (solange Gehörgang frei ist)
▬ Myringitis: Begleitentzündung bei Otitis externa (Externamyringitis)
▬ Ohrenschmerzen bei normalem Trommelfellbefund
▬ Kaumuskulatur- und kiefergelenkbedingte Schmerzen bei kraniomandibulärer Dysfunktion (früher sog.
Costen-Syndrom)
▬ Neuralgie des N. auriculotemporalis oder des R. auricularis (N. vagus) bei akuter Tonsilitis oder postoperativ nach Tonsillektomie, Glossopharyngeusneuralgie bei Meso- oder Hypopharynxmalignom
▬ Verlängerter Proc. styloideus
▬ Dentitio difficilis bei Kindern, retinierter Weisheitszahn bei Erwachsenen
Therapie
▬ Ziele:
– Behandlung der Symptome/Entzündung inklusive
Wiederherstellung der Belüftung des Mittelohrs
– Vermeidung von Komplikationen
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– abschwellende Nasentropfen (z. B. Otriven 0,1 %,
bei Kindern 0,05 %, bei Säuglingen 0,025 %) alle
3–4 h
– regelmäßige Gabe von Analgetika, z. B. Paracetamol oder Ibuprofen
> Wichtig
Eine sofortige antibiotische Therapie ist nicht in jedem
Fall erforderlich, da die akute Otitis media oft primär viral
bedingt ist.
– Antibiotikatherapie bei Verdacht auf bakterielle Infektion: Amoxicillin, evtl. plus Clavulansäure (Augmentan; v. a. bei jüngeren febrilen Kindern unter
2 Jahren), alternativ bei älteren Kindern Einzelinjektionen von Ceftriaxon (z. B. Rocephin); ohne
Antibiotikagabe Besserung der Symptome bei etwa
60 % der Kinder innerhalb von 24 h und Abheilung der Entzündung in 80 % der Fälle (Häufigkeit
eitriger Komplikationen: 0,12 %) – Voraussetzung
ist jedoch eine engmaschige Befundkontrolle
– Mukolytika, z. B. Azetylzystein (3-mal 100–200
mg/Tag)
– ggf. lokale Wärme (Rotlicht, 2-mal 5 min) – nicht
in der Phase der exsudativen Entzündung
– operativ:
– Parazentese/Paukenröhrcheneinlage bei schmerzhafter Trommelfellvorwölbung mit hohem Fieber, rezidivierender Otitis media acuta oder
Frühkomplikationen (z. B. Labyrinthitis, Fazialisparese; ggf. mit Antrotomie)
– Mastoidektomie inklusive Paukendrainage bei
Mastoiditis/otogenen Komplikationen, aber auch
ggf. bei Säuglingsotitis; ggf. weitere Maßnahmen
erforderlich (s. unten, »Otogene entzündliche
und intrakranielle Komplikationen«)
Präventivmaßnahmen bei rezidivierender akuter Otitis
media
▬ Adenotomie, Parazentese/Paukendrainage im entzündungsfreien Intervall
▬ Gegebenenfalls Chemoprophylaxe (z. B. Amoxicillin
über 6 Monate) bei partieller Immundefizienz (Cave:
Resistenz)
▬ Gegebenenfalls Immunprophylaxe (konjugierte Pneumokokkenvakzine, Impfung gegen Haemophilus influenzae, Influenzaimpfung als Indikationsimpfung)
Verlauf und Prognose
▬ Folgenlose Ausheilung der akuten Otitis media bei
adäquater Therapie
▬ Chronische Folgen der rezidivierenden akuten Otitis media: Trommelfellperforation (akute nekrotisierende Otitis media), Tympanosklerose, Adhäsivprozess, Cholesteatom
▬ Komplikationen (bei gesunden Kindern selten):
akute Mastoiditis (s. unten, »Mastoiditis«), akute Labyrinthitis (# Kap. 3.6.3), Fazialisparese (# Kap. 4.3.2),
Thrombose des Sinus sigmoideus, Meningitis, Subdural- oder Epiduralabszess (s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen«)
Literatur
Alper CM, Bluestone CD, Casselbrant ML, Dohar JE, Mandel EM (Hrsg.)
(2004) Advanced therapy in otitis media. Decker, Hamilton London
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3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
Schilder AG, Lok W, Rovers MM (2004) International perspectives on
management of acute otitis media: a qualitative review. Int J Pediatr Otorhinolaryngol 68: 29–36
Mastoiditis
K. Schwager
Klinische Einteilung und Sonderformen
▬ Mastoiditis mit Osteitis:
– akute Mastoiditis
– Stauungsmastoiditis bei Cholesteatom (s. unten)
– subperiostaler Abszess:
– Durchbruch der Entzündung nach außen (meist
retroaurikulär)
– akute Mastoiditis → Osteolyse → zusätzlich
Eiterdurchbruch unter das Periost des Planum
mastoideum (präformierte Spalten bei Säugling
und Kleinkind) → Infektion der Halsweichteile
– klinisches Bild: hochschmerzhafte, fluktuierende
retroaurikuläre Schwellung, ggf. septische Temperaturen und Schüttelfrost
– larvierte, okkulte Mastoiditis (s. unten)
– Komplikationen:
– Bezold-Senkungsabszess: Eiterdurchbruch über
die Warzenfortsatzspitze in den M. sternocleidomastoideus bzw. die seitliche Hals- und Nackenmuskulatur → schmerzhafter Schiefhals
– Muret-Mastoiditis: Durchbruch in die Fossa digastrica
– Zygomatizitis: Übergriff der Entzündung auf das
Jochbein; fluktuierende Schwellung über dem
Ohr, Gesichtsödem, Kieferklemme (Infiltration
des Kiefergelenks)
▬ Begleitmastoiditis: Entzündung beschränkt sich nur
auf die Schleimhaut und nicht auf den Knochen; bei
jeder akuten Otitis media
Akute Mastoiditis
Definition
▬ Bakterielle Entzündung des Warzenfortsatzes mit Einschmelzung der Knochenbälkchen (Abszedierung),
ausgehend von einer akuten oder chronischen Otitis
media
▬ Komplikation der Otitis media
▬ Voraussetzung: gut pneumatisiertes Mastoid
Epidemiologie
▬ Seit Einführung der Antibiotika Häufigkeit deutlich
rückläufig
▬ Alle Altersgruppen betroffen, Kinder häufiger
▬ 1–4/100.000 Kinder (<14 Jahre)/Jahr
Ätiologie
▬ Meist akute Otitis media, seltener exazerbierte chronische Otitis media mesotympanalis (chronische Schleimhauteiterung) oder epitympanalis (Cholesteatom)
▬ Erreger: Streptococcus pneumoniae (30 %), Haemophilus influenzae (20 %), Staphylococcus aureus
(20 %), Streptococcus pyogenes (5 %), Pseudomonas
aeruginosa, Escherichia coli, Proteus mirabilis
Pathogenese
▬ Entwicklung einer Mastoiditis hängt von verschiedenen Faktoren ab:
– anatomische Verhältnisse des Mittelohrsystems: Tubenbelüftungsstörung, enge Verbindung zwischen
Antrum und Mastoidzellen
– lokale und allgemeine Immunabwehrlage
– Begleiterkrankungen, z. B. Diabetes mellitus, Leberund Nierenerkrankungen
Klinisches Bild
▬ Allgemeine Symptome:
– nach scheinbar in Abheilung begriffener Otitis media erneutes Auftreten von Krankheitssymptomen
– Fieber (subfebril bis septisch)
– allgemeines Krankheitsgefühl, Abgeschlagenheit/
reduzierter Allgemeinzustand
– Kinder: häufig auch Bauchschmerzen
▬ Lokale Symptome:
– klassische Symptomentrias: typischer mastoidaler
Klopfschmerz, abstehende Ohrmuschel, Otorrhö
bei perforiertem Trommelfell
– postaurikuläre Rötung/teigige Schwellung (subperiostaler Abszess)
– Otalgie
– Kauproblem/Druckschmerz am Jochbogen bei Zygomatizitis
– Schmerz/Schwellung an Mastoidansatz/M. sternocleidomastoideus (Bezold-Abszess)/Digastrikusloge
(Muret-Abszess), evtl. mit Schiefhals
– Druckschmerz über Emissarvene bei Thrombophlebitis (Griesinger-Zeichen; s. unten, »Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen« →
»Otogene Sinusthrombose«)
Diagnostik
▬ Klinisches Bild: häufig uncharakteristisch nach vorheriger, v. a. unterbrochener Antibiotikagabe
▬ Inspektion: retroaurikuläre Weichteile, Stellung der
Ohrmuschel, Haltung des Kopfes (Schiefhals als Zeichen eines Bezold-Senkungsabszesses)
▬ Trommelfell- und Gehörgangsbefund (Ohrmikroskopie):
3
232
Kapitel 3 · Ohr
3
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
– Trommelfell:
– Perforation mit Otorrhö (pulsierende Sekretion):
schlitzförmig bei akuter Otitis media, groß und
evtl. mit Polypen verlegt bei chronischer Schleimhauteiterung
– gerötet, geschlossen, verdickt, vorgewölbt
– Paukenerguss
– epitympanale Schuppung, bei Cholesteatom »Signalpolyp«
– auch blande, wenn Otitis media schon abgeheilt ist
– Gehörgang: Absenkung der hinteren Gehörgangswand (entsteht durch subperiostalen Abszess in
Richtung Gehörgang)
Prüfung der Tubendurchgängigkeit
Stimmgabelversuch (Weber zum gesunden Ohr: Ertaubung des erkrankten Ohres)
Tonaudiometrie: Schallleitungs- oder kombinierte
Schwerhörigkeit
Frenzel-Brille: Nystagmus als Hinweis auf Labyrinthitis
Labordiagnostik: Leukozytose (Linksverschiebung), erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentrationserhöhung des C-reaktiven Proteins
Bildgebung:
– Röntgenaufnahme nach Schüller (besser: Computertomographie, v. a. bei Verdacht auf Komplikationen): Verschattung der Mastoidzellen, Einschmelzung der Knochenbälkchen
– wichtige Information für Operation: Lage von Sinus sigmoideus und Dura in Bezug zur mittleren
und hinteren Schädelgrube
– Vorteil der Computertomographie: gleichzeitiger
Ausschluss intrakranieller Komplikationen wie
Thrombophlebitis (Untersuchung mit Kontrastmittel), Meningitis und Hirnabszess; Epiduralabszess
jedoch häufig nicht darstellbar
Abstrich, Antibiogramm
Differenzialdiagnostik
▬ Pseudomastoiditis bei Otitis externa mit Lymphadenitis, postaurikulärer Lymphknoten, abszedierende hohe Lymphadenitis: normaler Trommelfellbefund, bei Bildgebung normaler Warzenfortsatz
▬ Morbus Wegener
▬ Malignom/extranoduläres Lymphom der Mittelohrräume
Therapie
▬ Ziele:
– Beseitigung der Knochenentzündung
– Schaffung einer ausreichenden Belüftung der Mittelohrräume
– Vermeidung bzw. Behandlung otogener Komplikationen
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– in Ausnahmefällen strenge Indikationsstellung zu
konservativem Therapieversuch bei enger Überwachung im Frühstadium
– auch begleitend zur Operation erforderlich
– hochdosierte parenterale Antibiotikatherapie (z. B. Aminopenicilline mit oder ohne
β-Laktamase-Inhibitor, Cephalosporine; ggf.
Umstellung des Antibiotikums entsprechend
dem Resultat des intraoperativ angefertigten
bakteriologischen Abstrichs), abschwellende
Nasentropfen bzw. abschwellendes Nasenspray,
sorgfältige Gehörgangsreinigung (bei Trommelfelldefekt/Otorrhö)
– operativ: # Kap. 21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« → »Mastoidektomie«)
> Wichtig
Eine Mastoiditis mit Knocheneinschmelzung, bei Cholesteatom oder mit otogenen Komplikationen muss grundsätzlich einer Mastoidektomie zugeführt werden.
Verlauf und Prognose
▬ Bei rechtzeitiger Operation und hochdosierter Antibiotikatherapie gut
▬ Komplikationen (s. unten, »Otogene entzündliche
und intrakranielle Komplikationen«):
– intratemporal: Fazialisparese, Labyrinthitis
– Zygomatizitis, Bezold- oder Muret-Mastoiditis
– peritemporal: Thrombose des Sinus sigmoideus/der
V. jugularis, Petrositis/Gradenigo-Syndrom, CitelliAbszess (Durchbruch aus retrosinösen Zellen →
Befall des Hinterhaupts)
– intrakraniell: Meningitis, Epiduralabszess, Schläfenlappenabszess, Kleinhirnabszess – v. a. bei Kindern auch heute noch lebensbedrohlich
Sonderformen
Larvierte, okkulte (verschleierte) Mastoiditis
▬ Chronische Schleimhauteiterung ohne Knocheneinschmelzung, z. B. bei Kindern mit chronischem Mukotympanon oder bei chronisch sezernierender Mittelohrentzündung
▬ Ätiologie: häufig unkontrollierte, inkonsequente Antibiotikagabe, schlechte Abwehrlage
▬ Klinisches Bild: rezidivierende Episoden einer akuten/subakuten Otitis media, Klopfschmerz über dem
Mastoid, unspezifische Symptome (Gedeihstörungen,
Müdigkeit, Kopfschmerzen)
233
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Im Zweifel Mastoidektomie, Adenotomie, evtl. Tonsillektomie
Mastoiditis bei Cholesteatom
▬ Stauungsmastoiditis (Entstehung und Unterhaltung
infolge einer Abflussstauung bei Cholesteatom); hinter
einem Cholesteatom entstandene akute, larvierte oder
chronische Mastoiditis sowie Subperiostalabszess
▬ Voraussetzung: gute Pneumatisation des Mastoids
▬ Therapie:
– Cholesteatomsanierung (# Kap. 21.5.1, »Trommelfell
und Mittelohr« → »Spezielle Probleme und Therapieverfahren« → »Cholesteatomentfernung«); sichere Technik: Verfolgen des Cholesteatoms vom
Ursprungsort in der Pauke/im Epitympanon in
Richtung Antrum unter Herabsetzung der hinteren
Gehörgangswand
– wenn möglich Rekonstruktion der Gehörgangswand
– Anlage einer offenen Mastoidhöhle: sicherer und
im Zweifel immer durchzuführen
> Wichtig
Bei unklarer Situation und Verdacht auf Mastoiditis immer Mastoidektomie (sowohl sanierender als auch diagnostischer Eingriff )
Literatur
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Einteilung
▬ Prinzipiell:
– chronische Schleimhauteiterung (Synonyme:
chronische suppurative – eitrige – Otitis media,
tubotympanische Erkrankung, Otitis media mesotympanalis)
– chronische Knocheneiterung (Synonyme: Cholesteatom, attikoantrale Erkrankung, chronische
epitympanale Otitis media, Perlgeschwulst, Knochenfraß)
▬ Histopathologische Einteilung:
– chronische Otitis media ohne Cholesteatom (Otitis
media mesotympanalis)
– chronische Otitis media mit Cholesteatom
– chronische inaktive Otitis media: Folgezustände der
Schleimhautreaktionen nach Einwirkung kurzfristiger oder chronischer Reize (z. B. Paukenfibrose,
Paukensklerose, Adhäsivprozess)
▬ Einteilung nach dem Verlauf:
– aktives eitriges Stadium
– inaktives trockenes Stadium
Epidemiologie
▬ Etwa 2 % aller Erwachsenen betroffen
▬ Häufiger in Entwicklungsländern vorkommend
Ätiologie und Pathogenese
▬ Ursachen noch nicht restlos geklärt
▬ Tubendysfunktion, die möglicherweise genetisch beeinflusst ist
▬ Ungenügende Belüftung → Unterdruck → Trommelfellretraktion mit Veränderungen der Schleimhaut →
chronische Entzündung
Symptome
▬ Otorrhö
▬ Schwerhörigkeit
▬ Persistierende Trommelfellperforation
Chronische Schleimhauteiterung
Chronische Otitis media
M. Reiß
Übersicht
Definition
▬ Lang andauernde, mehr oder weniger ausgeprägte
Entzündung (schubweiser Verlauf) der Mittelohrräume mit irreversiblen Gewebezerstörungen oder
Neubildungen
▬ In der Regel liegt eine bleibende Trommelfellperforation vor (Ausnahme: z. B. Adhäsivprozess); eine
spontane Restitutio ad integrum ist nicht möglich
Definition
▬ Persistierende, zentrale Trommelfellperforation
(Anulus fibrosus bzw. Limbus ist vollständig erhalten)
▬ Entzündung der Schleimhaut, meist unter Mitbeteiligung der Mastoid- und auch der Tubenschleimhaut;
die knöcherne Begrenzung des Mittelohrs bleibt erhalten (keine Abbauprozesse)
Epidemiologie
▬ Indianer und Inuit > Weiße > schwarze Amerikaner
und Afrikaner
3
234
3
Kapitel 3 · Ohr
Ätiologie und Pathogenese
Diagnostik
▬ Letztendlich nicht völlig geklärt, da die Spontanverschlussrate von akuten Trommelfelldefekten normalerweise hoch ist; diskutiert werden folgende Faktoren:
– genetische Faktoren: Pneumatisationsgrad des
Mastoids, Schleimhautminderwertigkeit, Form des
Nasenrachendachs und dadurch bedingte Tubendysfunktion
– rezidivierende akute Mittelohrentzündungen (bei
wiederholten Perforationen und/oder bei großen
Destruktionen des Trommelfells) aufgrund einer
Tubendysfunktion
– Virulenz/Resistenz der Erreger
– chronisches Mukotympanon: Atrophie der Kollagenfasern der Lamina propria
– traumatisch (große Defekte), v. a. nach Schweißperlen- oder Blitzschlagverletzung (thermisches
Trauma der Blutgefäße bzw. des Gewebes)
– persistierende Perforation nach Paukenröhrcheneinlage
– immunologische Faktoren (z. B. Interleukine 2, 3
und 4)
▬ Erreger: Pseudomonas aeruginosa, Staphylococcus
aureus, Proteus spp., Enterobacteriaceae, Streptococcus viridans
▬ Infekte der oberen Luftwege können zu einer Infektion über die Tube führen
▬ Pathogene Keime (durch Badewasser, Wassersport
etc.) können über den Gehörgang bzw. eine Perforation das Mittelohr besiedeln (durch fehlenden Schutz
des Mittelohrs) → Ohrsekretion (im Intervall symptomlose Perioden)
▬ Ohrmikroskopie, ggf. Endoskopie:
– Abstrich mit Antibiogramm (oft Pseudomonas
aeruginosa)
– Säuberung des Gehörgangs und des Trommelfells
mit dem Sauger
– aktive Entzündung: Paukenschleimhaut gerötet und
verdickt, ggf. Polypenbildung
– Resttrommelfell narbig, verdickt, mit tympanosklerotischen Einlagerungen
– bei gewundenem Gehörgang und bei großer Perforation Trommelfellrand nicht immer voll überschaubar
– ggf. kleine Perforation nur bei Valsalva-Manöver
nachweisbar
▬ Tonaudiometrie:
– bei einem Teil der Patienten Normalhörigkeit
– Schallleitungsschwerhörigkeit: abhängig vom Zustand der Gehörknöchelchenkette (zu etwa 25 %
Gehörknöchelchenläsion, v. a. im Bereich des langen Ambossfortsatzes) sowie von der Lokalisation
(fehlende Schallprotektion des runden Fensters →
Einschränkung der Phasenverschiebung zwischen
rundem und ovalem Fenster) und der Größe
des Defekts (schallaufnehmende Fläche verkleinert)
– Innenohrbeteiligung bei jahrelanger Anamnese
möglich → Veränderung der Knochenleitung durch
Mittelohrprozess beachten
▬ Röntgenaufnahme des Felsenbeins nach Schüller:
Pneumatisationshemmung des Felsenbeins, Verschattung bei Entzündungen
Pathologische Anatomie
Differenzialdiagnostik
▬ Perforationsrand mit Plattenepithel ausgekleidet;
Plattenepithel reicht bis zu 1–2 mm auf die tympanale
Seite
▬ Bestehendes Trommelfell bindegewebig verdickt, vernarbt und undurchsichtig; zum Teil Kalkeinlagerungen
zwischen Bindegewebefasern in der Lamina propria
▬ Paukenschleimhaut: hyperplastisch oder auch polypös
verdickt, Metaplasie (Zunahme der Zahl der Becherund Flimmerzellen) in den Mittelohrräumen; Narbe
und Schleimhautsegel (durch reparative Prozesse) →
Engstellen (z. B. Sekretstau)
▬ Cholesteatom (sichere otoskopische Identifikation des
Defektrands)
▬ Otitis externa
Klinisches Bild
▬ Rezidivierende, in der Regel geruchlose Otorrhö:
wässrig, serös, schleimig, eitrig, gelbgrünlich (Sekretion kann fehlen, v. a. im Alter → trockene, reizlose
Paukenhöhle)
▬ Schwerhörigkeit
Therapie
▬ Ziele:
– konservativ: Ausheilung der aktiven Entzündung,
ggf. Operationsvorbereitung (»Trockenlegen«)
– operativ: Trommelfellverschluss und Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– gründliche mechanische Reinigung (Absaugen
unter Mikroskop)
– ggf. Abtragung von Polypen
– Spülung, z. B. mit NaCl oder H2O2
– Applikation von Antiseptika, z. B. Taurolidon
oder Povidon-Jod
235
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
– Ohrentropfen (3- bis 4-mal täglich, z. B. Ofloxacin, Ciprofloxacin), auch als temporäre Streifeneinlage
! Cave
▬ Die Anwendung von aminoglykosidhaltigen/
potenziell ototoxischen Ohrentropfen (Neomycin,
Polymyxin B) bzw. Antiseptika ist (unter ärztlicher
Kontrolle) nur im aktiven, sezernierenden Stadium
möglich (anhaltende Sekretion, Schleimhauthyperplasie).
▬ Bei reizloser Perforation bzw. freiliegender Mittelohrschleimhaut sind Ohrentropfen wegen der Keimverschleppung in das Mittelohr kontraindiziert.
▬ Bei starker Otorrhö: keine Einlage von Streifen, da
Stauungsgefahr mit Ausbildung von Komplikationen (Schmerzen, Mastoiditis etc.) besteht.
– systemische Antibiotikatherapie (i. v.), auch präoperativ (Effizienz umstritten) bei ausgedehnten
Entzündungen und erfolgloser lokaler Therapie
– chirurgisch:
– Tympanoplastik (Trommelfellverschluss mit oder
ohne Rekonstruktion der Gehörknöchelchenkette;
# Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr«)
– ggf. Gehörgangserweiterung
– ggf. Mastoidektomie bei chronischer Mastoiditis
– ggf. flankierende Maßnahmen (Sanierung des Nasenrachenraums/Adenoidektomie, Septumoperation, Nasenmuscheloperation)
Verlauf und Prognose
▬ Prinzipiell gutartiger Verlauf; aufgrund der Perforation und der Gefahr einer Sekretion Einschränkung
der Lebensqualität
▬ Möglich sind: Schleimhautfibrose, Cholesteringranulom, Gehörgangsekzem
▬ Bei Abflussstauung: Schmerzen, Mastoiditis, Fazialisparese, Labyrinthitis, Gradenigo-Syndrom (sehr selten)
Cholesteatom (chronische Knocheneiterung)
– darunter liegende Granulationsschicht (Perimatrix;
für Knochenabbau verantwortlich; s. unten, »Pathogenese«)
Einteilung
▬ Klassische Einteilung:
– primäres Cholesteatom: meist im Epitympanon,
ausgehend von der Pars flaccida
– sekundäres Cholesteatom: Plattenepithel wächst
durch eine Trommelfellperforation in das Mittelohr
(hinten oben randständiger Defekt oder Defekt im
Bereich der Pars tensa)
▬ Nach dem Ursprungsort:
– ausgehend von der Pars flaccida (Otitis media
epitympanalis, Flaccida- oder Attikcholesteatom)
– ausgehend von der Pars tensa (Pars-tensa-Cholesteatom, Otitis media mit hinten oben randständigem Defekt)
▬ Nach der Lokalisation:
– epitympanale Cholesteatome: Pars flaccida oder
Pars tensa
– mesotympanale Cholesteatome: primäres Tensacholesteatom, sekundäres Cholesteatom der Pars
tensa bzw. Cholesteatom bei Totaldefekt
– pantympanales Cholesteatom: ausgehend von der
Pars flaccida oder bei sekundärem Cholesteatom
▬ Nach dem Schweregrad bzw. der Ausdehnung:
– prospektives Cholesteatom (fixierte Retraktionstasche)
– Prächolesteatom (Anhäufung von Keratinschuppen)
– manifestes Cholesteatom (Knochenabbau)
▬ Nach der Entstehung:
– erworben
– angeboren (genuin; echtes primäres Cholesteatom,
Epidermoid)
▬ Sonderformen:
– traumatisches Cholesteatom
– Rezidivcholesteatom
– Residualcholesteatom
– iatrogenes Cholesteatom
Definition
Epidemiologie
▬ Fehlgeleitete Proliferation von verhornendem Plattenepithel in den Mittelohrräumen (eingewachsen oder
versprengt) → fortschreitender Entzündungsprozess
und Destruktion der Umgebung/Knochenabbau →
Symptome
▬ »Perlmuttgeschwulst«: silberner Glanz der frisch freigelegten Keratinschuppen
▬ 2 Schichten:
– oberflächlich gelegene Epithelschicht mit verhornendem Plattenepithel (Matrix)
▬ Vorkommen in jedem Lebensalter
▬ Genuines Cholesteatom: 3–5 % aller Cholesteatome
Ätiologie
▬ Genetische Faktoren: familiäre Häufung, Rassenunterschiede
▬ Fehlbelüftung des Mittelohrs: Adenoide, habituelles
Sniffen etc.
▬ Lokale Faktoren im Trommelfellbereich (Retraktionstasche)
3
236
Kapitel 3 · Ohr
▬ Rezidivierende Mittelohrentzündungen → Einwachsen von Plattenepithel (z. B. Pars flaccida)
▬ Traumatisch (Felsenbeinfraktur)
Pathogenese
3
▬ Chronische Tubenfunktionsstörung → rezidivierender negativer Druck im Mittelohr → Atrophie des
Trommelfells → Invagination des hinteren oberen
Quadranten (Pars tensa: hinten oben reduzierte Anzahl an Kollagenfasern in Lamina propria; wird bei
Druckveränderungen besonders belastet → erhöhte
Anfälligkeit für die Ausbildung einer Retraktionstasche) oder auch im Bereich der Shrapnell-Membran
(Pars flaccida: keine konsequente Anordnung der
Kollagenfasern; physiologische Belüftungsengstellen
durch anatomische Strukturen, z. B. Hammerhals,
Ambosskörper, Tensorsehne)
▬ Retraktionstasche: Keratinschuppen/Zelldetritus →
aktives Granulationsgewebe → chronische Reizung
→ Tiefenwachstum des Plattenepithels in die Mittelohrräume und Knochenabbau
▬ Migration: aktives Vorwachsen von Plattenepithel
▬ Perimatrix: äußerer Reiz → Aktivierung von Langerhans-Zellen → Aufnahme von Antigenen → Langerhans-Zellen verlassen Epithel → Aktivierung von
Makrophagen → Synthese von Interleukinen → Aktivierung von Osteoklasten → Knochenabbau
▬ Metaplasie: Umwandlung von Mittelohrschleimhaut
in Plattenepithel
▬ Genuines Cholesteatom: Wachstum einer Cholesteatomperle (aus embryonaler Keimversprengung)
hinter intaktem Trommelfell (Kinder), aber auch ausgedehnte Felsenbeincholesteatome (Erwachsene)
▬ Traumatisch:
– ausgehend vom Gehörgang: Einklemmen/Einwachsen von Plattenepithel in Frakturspalt → über knöcherne Dehiszenz Einwachsen in das Mittelohr →
Cholesteatom
– ausgehend von der Tube: Retraktion des Trommelfells durch Belüftungsstörungen → Retraktionstaschen → Entzündungsreiz
– Einwachsen von Epithel bei Trommelfelldefekt bzw.
Einwachsen von Trommelfellteilen in das Mittelohr
Klinisches Bild
▬ Typische fötide Otorrhö (»Schweißfuß«), bedingt
durch Anaerobier
▬ Schwerhörigkeit (Hypakusis), Tinnitus
– subtile Säuberung
– charakteristischer randständiger Defekt in Shrapnell-Membran oder im hinteren oberen Trommelfellrahmen, zum Teil mit weißen Schuppen (»Perlmuttgeschwulst«) oder Granulationen (Zeichen
eines aktiven Um- bzw. Abbauprozesses)
– Retraktionstasche bis zur Destruktion der hinteren
Gehörgangswand (»spontane Radikalhöhle«) möglich
– kongenitales Cholesteatom: intaktes Trommelfell,
weißlicher Prozess in der oberen Paukenhälfte hinter dem Trommelfell bei sonst lufthaltigem Mittelohr
▬ Abstrich: überwiegend Pseudomonas aeruginosa,
aber auch Proteus mirabilis, Staphylokokken und
Mischinfektionen
▬ Prüfung des Fistelsymptoms, Gleichgewichtsprüfung
! Cave
Bei Verdacht auf eine Labyrinthfistel muss die Prüfung
des Fistelsymptoms zurückhaltend erfolgen (zunächst
Prüfung mit dem Finger, nicht zuerst mit dem PolitzerBallon). Eine Impedanzmessung ist wegen der möglichen Bogengangsfistel generell kontraindiziert.
▬ Audiometrie:
– Normalhörigkeit möglich, z. B. im Frühstadium
und bei Cholesteatomen der Pars flaccida, die die
Pauke bzw. Gehörknöchelchenkette nicht tangieren; gelegentlich »Cholesteatomhörer« oder Trommelfell auf Stapesköpfchen
– sehr häufig Schallleitungsschwerhörigkeit
– Innenohrschwerhörigkeit (durch Toxine): Hinweis
auf Komplikation
▬ Bildgebung:
– Röntgenaufnahme nach Schüller: gehemmte Pneumatisation; sichtbare Bogengänge: Zeichen für
großflächigen Knochenabbau (Differenzialdiagnose: Radikalhöhle); kongenitales Cholesteatom:
gute Pneumatisation
– Computertomographie zur Ausdehnungsbestimmung des Entzündungsprozesses und zum Ausschluss von Komplikationen
> Wichtig
Eine bildgebende Diagnostik (Computer-, Magnetresonanztomographie) kann eine »Second-look«-Operation
(Kontrolloperation zum Ausschluss eines Cholesteatoms
nach Cholesteatomoperation) nicht ersetzen.
Diagnostik
Differenzialdiagnostik
▬ Otoskopie mit Untersuchungsmikroskop, ggf. Endoskop:
▬ Chronische Schleimhauteiterung: v. a. zentrale Trommelfellretraktion in der Pars tensa
237
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Otitis externa, Otitis externa maligna
▬ Mittelohrkarzinom: anhaltende Sekretion, »Granulationsgewebe« (Histologie)
▬ »Spezifische« Entzündungen, Wegener-Granulomatose, »relapsing« Polychondritis
Therapie
▬ Ziele:
– Entfernung des Cholesteatoms und Abwendung
von Komplikationen
– Wiederaufbau der Mittelohrstrukturen
– Rekonstruktion des Schallleitungsapparats
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– zur Operationsvorbereitung
– kann Verlauf nur verlangsamen
– als alleinige Therapie nur bei fehlender Operationsfähigkeit
– Entfernung des Keratins → Reduktion des Entzündungsreizes → weitere Ausbildung der Retraktionstasche wird gebremst; ggf. Polypenabtragung
> Wichtig
Bei einem Cholesteatom ist aufgrund der Gefährlichkeit
des Krankheitsprozesses immer eine umgehende operative Therapie indiziert.
– chirurgisch:
– # Kap. 21.5.1 (»Trommelfell und Mittelohr« →
»Spezielle Probleme und Therapieverfahren« →
»Cholesteatomentfernung«)
– radikale Mastoidektomie (offene Technik), in der
Regel mit Höhlenverkleinerung
– 2-Wege-Technik (geschlossene Technik)
– Tympanoplastik, ggf. Ossikuloplastik im Intervall
im Rahmen einer »Second-look«-Operation
Verlauf und Prognose
▬ bei frühzeitiger Operation gut; es besteht jedoch immer die Möglichkeit eines Rezidivs, da die Ursache
durch die Operation nicht beseitigt werden kann oder
Cholesteatomreste bestehen bleiben (Residualcholesteatom; abhängig auch von der gewählten Operationstechnik: bei geschlossener Technik etwa 20–50 %,
bei offener ungefähr 5 %); Rezidive v. a. bei Flaccidaund genuinen Cholesteatomen → ggf. »Second-look«Operation nach 6–12 Monaten erforderlich (ggf. dann
auch Ossikuloplastik), falls keine Radikalhöhlenoperation (geschlossene Technik) erfolgte
▬ Destruktion der oberen und hinteren Gehörgangswand → Ausbildung einer »spontanen« Radikalhöhle
▬ Komplikationen (insgesamt relativ selten):
– intrakranielle Komplikationen (selten, jedoch Cholesteatom in >50 % der Fälle Ursache aller intrakraniellen Komplikationen):
– Meningitis, Hirnabszess, Epi-/Subduralabszess
– Haupteintrittsforte: Labyrinthfistel oder Tegmen
– Diagnostik: Computer-, Magnetresonanztomographie, ggf. Elektroenzephalographie, Szintigraphie
– Therapie: neurochirurgischer Eingriff; Sanierung/
Verschluss des Infektionswegs durch Otochirurg
– intratemporale Komplikationen:
– Mastoiditis inklusive Sonderformen: Zygomatizitis, Citelli-Abszess, Bezold- und Muret-Mastoiditis
– Labyrinthfistel: Knochenabbau im Bereich des
Labyrinths mit Freilegung des häutigen Innenohrs (»Blue-line«-Knochen: oberflächlicher Knochenabbau mit Durchschimmern des häutigen
Bogengangs); Häufigkeit: 6–12 %, fast immer lateraler Bogengang betroffen; Symptome: Schwindel, Nystagmus in das erkrankte Ohr, positives
Fistelsymptom (nur in 40–60 % der Fälle); Therapie: wegen drohender Infektionsausbreitung
immer Operation
– Lähmung des N. facialis: meist durch Cholesteatom (80 % aller chronischen Mittelohrentzündungen); kann schlagartig einsetzen oder
allmählich auftreten; Ursachen: neurotoxische
Substanzen, Neuritis mit Degeneration durch
Freilegung des Nervs; Therapie: immer Operation, oft auch Auftreten einer Labyrinthfistel
– Sinusthrombose
– Dysgeusie (Zerstörung der Chorda tympani)
Sonderformen
Infizierte Radikalhöhle
▬ Unterscheidung:
– unmittelbar postoperativ infizierte Operationshöhlen (# Kap. 24.16.2, »Gehörgang, Mittel- und Innenohr« → »Radikalhöhlenoperation«)
– Radikalhöhle mit hohem »Fazialissporn« und oft
auch engem Eingang:
– ohrmikroskopisch unübersichtlich, schlecht zu
säubern (Detritus in Mastoid)
– v. a. problematisch, wenn ausgedehntes Zellsystem vorliegt → Versuch der konservativen Behandlung
– bei rezidivierenden/chronischen Entzündungen
Nachoperation (»Radikalhöhlenrevision«„)
Tympanosklerose
▬ Degeneration des subepithelialen Bindgewebes mit
anschließender Verkalkung → Kalkeinlagerungen im
3
238
Kapitel 3 · Ohr
▬
3
▬
▬
▬
Trommelfell und Kalkmassen in Paukenhöhle mit Fixierung der Gehörknöchelchenkette (u. U. auch hinter wieder intaktem Trommelfell)
Oft umschriebene Myringosklerose (etwa 30 % aller
chronischen Schleimhauteiterungen mit Kalkeinlagerungen im Trommelfell), seltener ausgeprägte Tympanosklerose (ungefähr 3–5 %); oft junge Frauen betroffen
Ursachen: rezidivierende Mittelohrentzündungen, Entzündungen der Mittelohrschleimhaut, Autoimmunprozesse
Klinisches Bild: Schallleitungsschwerhörigkeit durch Fixation des Stapes, oft zentrale Trommelfellperforation
Therapie: Tympanoplastik (2-zeitig: zunächst Trommelfellverschluss, im Intervall Malleovestibulopexie);
die Indikation zur hörverbessernden Operation sollte
aufgrund der audiologischen Spätergebnisse und der
Gefahr der postoperativen Innenohrschwerhörigkeit
zurückhaltend gestellt werden
Adhäsivprozess
▬ Atrophisches Trommelfell liegt der medialen Paukenhöhle und der Gehörknöchelchenkette fest an →
Trommelfell nicht mehr schwingungsfähig
▬ Meist im Bereich des hinteren oberen Tromelfellquadranten
▬ Einteilung nach Sadé:
– Grad 1: bleibende Trommelfellverlagerung in Richtung Pauke
– Grad 2: bleibende Anlagerung an das Stapesköpfchen (spontane Tympanoplastik Typ III)
– Grad 3: Trommelfell erreicht das Promontorium
– Grad 4: breitflächige Verbindung mit der Schleimhaut des Promontoriums
▬ Schallleitungskomponente oft nicht sehr ausgeprägt
(direkte Schallübertragung auf Kette und wenn das
runde Fenster noch belüftet ist)
▬ Ursache: chronische Tubenfunktionsstörung → Paukenatelektase (reversibel) → Trommelfellschädigung
im Bereich der Lamina propria → Myringomalazie
▬ Therapie: Trommelfellrückverlagerung, Verstärkung
des Trommelfells (Knorpelpalisadentechnik), Verbesserung der Tubenfunktion (Ergebnisse relativ
schlecht, da Ursache nicht beseitigt werden kann)
▬ Komplikationen: Schädigung des Amboss-SteigbügelGelenks bzw. der Gehörknöchelchen (z. B. Stapes),
Ausbildung eines Cholesteatoms innerhalb der Atelektase (bei Störung des Selbstreinigungsmechanismus)
Paukenfibrose
▬ Derbe, narbige Verwachsungen im Mittelohr mit Teilobliteration (speziell um Gehörknöchelchenkette) –
das weißlich bedeckte Trommelfell ist intakt
▬ Folge rezidivierender Mittelohrentzündungen, oft unklare Genese (ggf. Tuberkulose)
▬ Entzündliches Stadium: bindegewebige Organisation
des Exsudats
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit (durch Fibrose und
Ossikeldefekte)
▬ Therapie: Tympanoplastik (ggf. mit Platzhaltereinlage, Paukenröhrchen, Kortikoidgabe); Operationserfolg schlecht (daher zurückhaltende Indikation)
Chronische Myringitis
▬ Granulierende Entzündung der Plattenepithelschicht
des Trommelfells und auch der Lamina propria
▬ Klinisches Bild: Otorrhö; Hörvermögen meist normal
▬ Ursache: unklar, ggf. lokale Ernährungsstörungen
oder Milieuveränderungen
▬ Otoskopie: Trommelfellbereich mit granulierender,
feuchter Oberfläche in Form eines flächenhaften Ulkus oder narbige Veränderungen
▬ Therapie: Lokalbehandlung, Reinigung, bei narbiger
Gehörgangsatresie Operation
▬ Komplikation: Ausbildung von Gehörgangsstenosen
»Spezifische« Entzündungen
▬ Werden besser als »granulomatöse Entzündungen«
bezeichnet (Begriff der »spezifischen« Entzündungen
ist historisch und geht auf die damalige Auffassung
zurück, man könne aus dem histologischen Bild auf
die Ursache der Entzündung schließen); Nachweis
von Granulomen erlaubt jedoch nur eingeschränkt
Rückschlüsse auf die Ursache der Entzündung, eine
Aussage zur Ätiologie erfordert gewöhnlich weitere
Untersuchungen
Tuberkulose
▬ Relativ seltene Erkrankung des Mittelohrs (in letzter
Zeit jedoch steigende Inzidenz) mit uncharakteristischem Erscheinungsbild
▬ 2 Verläufe: akut, schleichend
▬ Schleimhautentzündung → Entzündung von Periost
und Knochen → Gewebenekrosen mit Knochensequestern → bei akuter Form (selten) rasche Zerstörung des Trommelfells, bei chronischer Form schleichender Verlauf
▬ Klinisches Bild: multiple Perforationen des Trommelfells mit Schmerzen und therapieresistenter, lang
andauernder Otorrhö
▬ Röntgenaufnahme nach Schüller: oft gute Pneumatisation
▬ Diagnosestellung durch Operation (Mastoidektomie
und Tympanoplastik) mit Histologie, Abstrich und
bakteriologische Kultur des Gewebes (unfixiert)
239
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Röntgenuntersuchung des Thorax
▬ Therapie: neben chirurgischer Sanierung Tuberkulostatika (# Kap. 2.2.3, 13.2.4)
▬ Komplikationen: Innenohr- und Schallleitungsschwerhörigkeit, Fazialisparese
Aktinomykose
▬ Selten
▬ Primäre Form: Infektion über Tube und Trommelfellperforation
▬ Sekundäre Form: Infektion per continuitatem (Hals,
Parotis, Zähne etc.)
▬ Klinisches Bild: rezidivierende Mastoiditis mit Otorrhö
▬ Therapie: Mastoidektomie mit längerfristigen Antibiotikatherapie (3–6 Monate)
Wegener-Granulomatose
▬ Mittelohr anfangs als akute oder seromuköse Form
betroffen
▬ Innenohrbeteiligung (immunologische Reaktion der
Innenohrstrukturen) und Fazialisparese möglich,
auch beidseitige zentrale Trommelfellperforation;
Pauke mit Granulationen angefüllt
▬ Reduktion des Allgemeinzustands und Beteiligung
anderer Organsysteme (# Kap. 2.3.4)
▬ Therapie: Glukokortikoide und Immunsuppressiva →
rasche Besserung (Verminderung der Otorrhö, Verbesserung des Hörvermögens, Fazialisparese rückläufig)
Seifert G (Hrsg.) (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin
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Otogene entzündliche und intrakranielle
Komplikationen
K. Schwager
> Wichtig
Intrakranielle Komplikationen otogener Entzündungen sind zwar in der Ära der Antibiotika sehr selten
(<1 %), stellen aber trotz moderner Diagnostik und
wirksamer Antibiotika auch heute noch schwerwiegende, lebensbedrohliche Krankheitsbilder dar (Mortalität von etwa 15 %).
Otogene Meningitis
Definition
▬ Durch eine Entzündung der Mittelohrräume hervorgerufene Infektion der Meningen
▬ Häufigste otogene Komplikation (>50 %)
Cholesteringranulom
Ätiologie
▬ Sonderform der Fremdkörpergranulome (Cholesterinkristalle umgeben von Fremdkörperriesenzellen):
– Cholesterinkristalle, Talkumpuder, Nahtmaterial →
Fremdkörperreiz → chronisch-polypöse Entzündungen im Mittelohr
– Reaktion des Mittelohrs auf Abfluss- und Belüftungsstörungen (Narbensegel, Cholesteatomsack,
Restzellen)
▬ Bläuliche oder grünbraune Färbung unter Epithelauskleidung durch Einblutung oder Hämosiderin,
»Schokoladenzyste«
▬ Therapie: operative Ausräumung und suffiziente
Drainage
▬ Fortgeleitet von akuter/chronischer Otitis media/
Mastoiditis
▬ Labyrinthitis (Rarität)
▬ Ausbreitung über präformierte Verbindungen (Blutgefäße, Diploevenen, Dehiszenzen, angeborene Fehlbildungen, z. B. abnormer Aquaeductus cochleae)
oder Frakturen
Literatur
Klinisches Bild
Fisch U (Hrsg.) (2008) Tympanoplasty, mastoidectomy and stapes surgery, 2nd edn. Thieme, Stuttgart New York
Hildmann H, Sudhoff H (Hrsg.) (2006) Middle ear surgery. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Sadé J, Berco E (1976) Atelectasis and secretory otitis media. Ann Otol
Rhinol Laryngol 85: 66–72
▬ Akut einsetzende Symptomatik mit Fieber und Meningismus
▬ Lärm- und Lichtscheu
▬ Berührungsempfindlichkeit, Muskelschmerz, starker
Kopfschmerz
> Wichtig
Bei einer Meningitis mit unklarem Ausgangspunkt (v. a.
bei einer Infektion mit Streptococcus pneumoniae) muss
an das Mittelohr bzw. die Laterobasis als Ausgangspunkt
gedacht werden (Computertomographie).
3
240
Kapitel 3 · Ohr
▬ Übelkeit, Erbrechen
▬ Agitiertheit, Verwirrtheit bis Somnolenz/Koma
▬ Neurologische Herdsymptome: Aphasie, Hemiparese,
Hirnnervenausfälle
▬ Epileptische Anfälle
3
! Cave
Die »klassischen« Symptome und Zeichen einer otogenen Komplikation werden kaum noch beobachtet,
sodass die Gefahr einer Fehldiagnose besteht. Bei der
Kombination von entzündlicher Ohrerkrankung und
neu aufgetretenen neurologischen Symptomen muss
immer nach einer intrakraniellen Komplikation gefahndet werden.
Diagnostik
▬ Anamnese: akute Otitis media/chronische Otitis,
Cholesteatom, Mastoiditis – auch krankheitsarme Intervalle (larvierte Mastoiditis)
▬ Ohrmikroskopie: Befunde wie bei akuter oder chronischer Otitis media; Trommelfell kann auch unauffällig sein
▬ Klinische Prüfung: # Kap. 5.5.4 (»Komplikationen von
Nasennebenhöhlenentzündungen«)
▬ Lumbalpunktion (vorher Computertomographie zum
Ausschluss von Hirnödem und Hydrozephalus; Cave:
Gefahr der Hirnstammeinklemmung im Foramen
magnum)
▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins: Verschattung des Mittelohrsystems
▬ Gegebenenfalls Magnetresonanztomographie
Therapie
▬ Sanierung des Ausgangsherds (Mastoidektomie, Cholesteatomsanierung) nach Stabilisierung des Allgemeinzustands: Eröffnung bzw. Ausräumung der betroffenen Regionen des Ohres und Drainage
▬ Intravenöse Antibiotikatherapie (nach Erreger und
Resistenzlage), Kortikoide
▬ Behandlung der Meningitis durch Pädiater und Neurologen
> Wichtig
Meningitis und andere intrakranielle Komplikationen
erfordern bei radiologisch nachgewiesener Verschattung
und knöchernen Einschmelzungen im Bereich des Os
temporale eine operative Sanierung.
Epiduralabszess (Extraduralabszess,
Pachymeningitis externa circumscripta)
Definition
▬ Eiteransammlung im Epiduralraum (Eiter zwischen
Dura und Periost des Schläfenbeins)
Ätiopathogenese
▬ Meist Komplikation einer Mastoiditis, auch eines
Cholesteatoms, manchmal »Zufallsbefund« bei Mastoidektomie/Cholesteatomsanierung, dann symptomarm/symptomlos
▬ Fortgeleitet bei Meningitis und Thrombophlebitis
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Insgesamt uncharakteristische Symptome bzw. Symptomarmut (Abszess steht nicht mit dem Liquor in
Verbindung): subfebrile Temperaturen, Kopfschmerzen, reduziertes Allgemeinbefinden (obwohl z. B.
Entzündungsherd saniert wurde)
▬ Bei gesteigertem Hirndruck entsprechende zerebrale
Symptome
▬ Computer-/Magnetresonanztomographie
▬ Labordiagnostik (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentration des C-reaktiven Proteins)
Therapie
▬ Immer Sanierung des Ursprungsherds (Mastoidektomie, Cholesteatomsanierung/Radikalhöhlenoperation)
▬ Drainage des Abszesses (Kooperation mit Neurochirurgie), ggf. alleinige antibiotische Therapie bei kleinen Abszessen
▬ Begleitende hochdosierte Antibiotikatherapie, ggf.
Kortikoide
Verlauf und Prognose
▬ Bei adäquater Therapie günstig
Subduralabszess/-empyem
Definition
▬ Eiteransammlung im Subduralraum (Arachnoidalraum)
▬ Seltenes Krankheitsbild
Ätiopathogenese
▬ Otogener Entzündungsherd → Meningitis → Ausbreitung durch Dura → Abszess/Empyem → flächenhafte Ausbreitung über weite Areale der Hemisphäre
bis zur Gegenseite → ggf. Enzephalitis
Verlauf und Prognose
▬ Bei rechtzeitiger, adäquater Therapie relativ gut
▬ Innenohrschwerhörigkeit oder sogar beidseitige Ertaubung möglich
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Schweres Krankheitsbild, bei dem typische klinische
Zeichen fehlen
241
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
▬ Plötzlich einsetzender, starker, einseitiger Kopfschmerz, Somnolenz, Paresen, Krampfanfälle, Aphasie, Fazialisparese
▬ Computer-, besser Magnetresonanztomographie
▬ Liquorbefund: nur geringe Veränderungen
Therapie
▬ Drainage in Kooperation mit Neurochirurgen
▬ Meningitisbehandlung, Sanierung des Ausgangsherds
▬ Antibiotikatherapie, Antiphlogistika
> Wichtig
Alle intrakraniellen Komplikationen, v. a. Abszesse, erfordern immer eine interdisziplinäre Absprache und Therapie mit der Neurochirurgie.
Prognose
▬ Insgesamt schlecht (Hirninfarzierung)
Enzephalitis
Definition
▬ Umschriebene Entzündung von Hirngewebe
▬ Im weiteren Verlauf Entwicklung eines Hirnabszesses
möglich
Ätiologie
▬ Fortgeleitet von einer Meningitis oder einem Epiduralabszess/Subduralempyem
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Klinisches Bild entsprechend Meningitis oder Epiduralabszess/Subduralempyem (s. oben)
▬ Magnetresonanztomographie: unscharf begrenzte
Hypodensität ohne oder mit geringer, unregelmäßiger Kontrastmittelanreicherung (frühe Enzephalitis)
bzw. Hypodensität mit zentraler, flauer, ringförmiger
Kontrastmittelanreicherung (späte Enzephalitis)
Therapie
▬ Antibiotikatherapie: Kombination aus Cefotaxim
oder Ceftriaxon und Metronidazol (bei unbekanntem
Erreger)
▬ Engmaschige Kontrolle durch Bildgebung mittels Computer-/Magnetresonanztomographie (wahrscheinliche
Ausbildung eines Hirnabszesses)
Hirnabszess
Definition und Einteilung
▬ Lokale Infektion des Gehirns, die sich zu einer Eiteransammlung mit Bindegewebekapsel entwickelt;
Temporallappen- oder Kleinhirnabszess (Verhältnis
von 3 : 1)
▬ Stadieneinteilung:
– Initialstadium: begleitende Enzephalitis ohne Einschmelzung
– Latenzstadium: Einschmelzung, Abgrenzung und
Kapselbildung
– Manifestationsstadium: Wachstum des Abszesses,
Herd- und Hirndruckzeichen
– Terminalstadium: meist tödlicher Ausgang (steigender Hirndruck, Einbruch in Ventrikelsystem)
Ätiopathogenese
▬ Vor allem chronische Otitis media (Cholesteatom) →
akute Exazerbation (Verhältnis zwischen akuter und
chronischer Entzündung von 1 : 10)
▬ Fortgeleitet von Meningitis/Sinusthrombophlebitis
▬ Epi-/Subduralabszess/-empyem
▬ Vorausgehende Enzephalitis
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Insgesamt uncharakteristisches klinisches Bild
▬ Zeichen einer akuten oder chronischen Otitis media,
v. a. Otorrhö
▬ Frühzeichen: Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen;
im akuten Stadium Fieber
▬ Reduziertes Algemeinbefinden mit depressiver Verstimmung und Hirndruckzeichen: Schläfrigkeit, Benommenheit, Bradykardie, Somnolenz, Krämpfe, im
Terminalstadium Atemstörungen
▬ Bei deutlicher Erhöhung des Hirndrucks Hirnstammeinklemmungszeichen mit Cheyne-Stokes-Atmung
▬ Auch gering symptomatische Entwicklung möglich, je
nach Abszesslokalisation und Größe des Begleitödems
▬ Temporallappenabszess: v. a. Sprachstörungen (Aphasie), Halbseitenzeichen (epileptiforme Symptome der
Gegenseite, Lähmungen der Hirnnerven I–VIII)
▬ Kleinhirnabszess: v. a. zerebelläre Gleichgewichtsstörungen (Ataxie), Dysdiadochokinese, Störungen der
Blick- und Stützmotorik, Lähmungen der Hirnnerven III, IV, VI und VII
▬ Computer- und Magnetresonanztomographie, Elektroenzephalographie (Allgemeinveränderungen, Herdbefund)
Therapie
▬ Hochdosierte intravenöse Antibiotikatherapie
▬ Bei reifem Abszess Sanierung vom Entstehungsort
aus in enger Kooperation mit der Neurochirurgie:
– Temporallappenabszess über das Dach von Mastoid
oder Paukenhöhle
– Kleinhirnabszess über Trautmann-Dreieck zwischen Sinus petrosus superior, Sinus sigmoideus
und Labyrinthblock
3
242
Kapitel 3 · Ohr
Verlauf und Prognose
▬ Höchste Letalität aller otogenen Komplikationen (bis
zu 50 %)
Otogene Sinusthrombose
3
Definition
▬ Thrombosierung meist des Sinus sigmoideus, die
sich zur generalisierten Sinusthrombose entwickeln
kann
▬ Seltenes Krankheitsbild
stopfen des Sinus sigmoideus mittels Tamponade (hämostyptische Zellulose/Kollagenvlies) bei septischer
Thrombophlebitis
> Wichtig
Bei jeder Mastoidektomie wegen einer akuten Mastoiditis
muss eine Sinuspunktion zum Ausschluss einer Sinusthrombose erfolgen.
▬ In Absprache mit Pädiatrie/Innerer Medizin/Neurologie ggf. Antikoagulation (Heparinisierung zur Vermeidung einer Embolie) – wird kontrovers diskutiert
Ätiopathogenese
▬ Begleitthrombose bei Mastoiditis/Cholesteatom/Meningitis
▬ Durchbruch der Entzündung in perisinösen Raum →
Bildung eines Abszesses mit Periphlebitis des Sinus
sigmoideus → obturierende Thrombosierung
– in kranialer Richtung: Sinus transversus/sagittalis,
Emissarium mastoideum
– in kaudaler Richtung: V. jugularis interna
▬ Infizierter Thrombus → Streuung → otogene Sepsis
Verlauf und Prognose
▬ Heutzutage relativ günstig
▬ Mortalität: <10 %
▬ Komplikationen: Hirnabszess, Meningitis, otogener
Hydrozephalus (s. unten), sehr selten embolische Metastasen (V. cava → rechtes Herz → Lunge, ggf. großer
Kreislauf)
Otogener Hydrozephalus
Definition
Klinisches Bild
▬ Mehrfach täglich hohe Fieberzacken (septische Temperaturkurve) bei septischer Thrombophlebitis
▬ Griesinger-Zeichen als Hinweis: Venen hinter dem
Warzenfortsatz (Vv. emissariae) sind infolge der Sinusvenenthrombose erweitert → Haut ödematös geschwollen und druckschmerzhaft
Diagnostik
▬ Computertomographie mit Kontrastmittel, besser
Magnetresonanztomographie; ggf. digitale Angiographie/Magnetresonanzangiographie zur Darstellung
der venösen Phase
▬ Bei Mastoidektomie Punctio sicca (bei Punktion des
Sinus keine Aspiration von Blut)
▬ Klinische Zeichen – Nachweis einer akuten oder
chronischen Otitis media, Allgemeinsymptome (z. B.
Fieber, Schwellung des hinteren Mastoids) – und
Laborparameter (Blutbild, D-Dimere) sind nicht beweisend
▬ Sich langsam entwickelnder Hydrozephalus im Rahmen chronischer oder chronisch rezidivierender Erkrankungen des Mittelohrs/Mastoids
▬ Seltene Komplikation
Ätiopathogenese
▬ Otogene Sinusthrombose/chronische Mastoiditis
▬ Vermutlich venöse Abflussstörung (v. a. bei einseitiger Hypoplasie des Sinus sigmoideus) bzw. Störung
der intrakraniellen Hämodynamik → erhöhter Hirndruck → Hydrozephalus
Klinisches Bild
▬ Gedeihstörung
▬ Kopfschmerz, Hirndruckzeichen, Stauungspapille
Diagnostik
▬ Computer-/Magnetresonanztomographie
▬ Hirndruckmessung
▬ Spiegelung des Augenhintergrunds
Therapie
Therapie
▬ Primär chirurgisch, sekundär konservativ: Sanierung
des Ausgangsherds, gezielte breite antibiotische Therapie
▬ Weites Freilegen des Sinus sigmoideus → Schlitzung
→ Thrombektomie, bis freier Blutfluss nach zentral
oder peripher möglich ist (vorher ggf. Unterbindung
der V. jugularis zur Vermeidung einer Embolie; bei
Sepsis immer Unterbindung) → extraluminales Ab-
▬ Sanierung des Ausgangsherds: Mastoidektomie
▬ Gabe von Antikoagulanzien
▬ Behandlung des Hydrozephalus
Petrositis (Pyramidenspitzeneiterung)
Definition
▬ Purulente Infektion der Pyramidenspitzenzellen (Petroapizitis), ggf. mit Meningitis
243
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
> Wichtig
Bei intrakranieller Komplikation, v. a. bei Cholesteatom,
immer auch an Anaerobier denken
Einteilung, Ätiologie und Pathogenese
▬ Akute Petrositis: entzündliche Reaktion im Bereich
der pneumatisierten Anteile des Felsenbeins, v. a. perilabyrinthär und apikal
▬ Chronische Petrositis: osteomyelitische Knochenresorption und -neuformation; kann zum Teil unerkannt über Monate und Jahre bestehen
▬ Fortleitung von einer akuten oder chronischen Otitis
media entlang der pneumatisierten Zellen des Felsenbeins (Voraussetzung: gute Pneumatisation der Pyramidenspitze), sehr selten hämatogen oder von einer
Meningitis fortgeleitet
▬ Gelegentlich Auftreten eines Pyramidenspitzensyndroms durch Tumorinfiltration
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Schwere Kopfschmerzen, Klopfschmerzen in der entsprechenden Schädelhälfte
▬ Bei Vollbild Gradenigo-Syndrom (Pyramidenspitzensyndrom):
– Otorrhö (akute oder chronische Mittelohrinfektion)
– ipsilaterale Abduzensparese mit Doppelbildern
(etwa 50 %)
– Trigeminusschmerzen (1. und 2. Ast): Schmerzen
im homolateralen Augenbereich oder hinter dem
Auge (Entzündung des Ggl. trigemini)
▬ Sehr selten Fazialisparese
▬ Bildgebung: »High-resolution«-Computertomographie (»Verschwinden« der oberen Pyramidenkante,
Auflösung der Knochenzeichnung, Aufhellung der
Pyramidenspitzenregion), Magnetresonanztomographie, ggf. Knochenszintigraphie
Therapie
▬ Mastoidektomie, Drainage betroffener Zellen, in
schweren Fällen Petrosektomie (transkochleäre Pyramidenoperation, ggf. über transtemporalen Zugang;
in Abhängigkeit vom Hörvermögen)
▬ Bei akuter Otitis media zunächst Antibiotikatherapie,
bei ausbleibender Besserung Mastoidektomie, ggf.
Pyramidenoperation
Verlauf
▬ In vorantibiotischer Zeit wichtigster Ausgangspunkt
für intrakranielle Komplikationen
▬ Letale Komplikationen: phlegmonöse Entzündung
der A. carotis interna, Thrombose des Sinus cavernosus, Meningitis
Sonstige Komplikationen
▬ Otogene Fazialisparese durch Toxine im Rahmen einer akuten oder chronischen Otitis media bzw. Mastoiditis (# Kap. 4.3.2)
> Wichtig
Im Rahmen eines intrakraniellen Abszesses können fast
alle Hirnnerven einzeln oder in verschiedenen Kombinationen betroffen sein (v. a. N. abducens, N. trochlearis,
N. trigeminus).
▬ Labyrinthitis (# Kap. 3.6.3)
Literatur
Beck C (1994) Otogene entzündliche Komplikationen. In: Helms J
(Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd 1: Ohr.
Thieme, Stuttgart New York, S. 632–647
Fleischer K (1994) Otogener Extraduralabszess – otogene Meningitis.
In: Helms J (Hrsg.) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Bd
1: Ohr. Thieme, Stuttgart New York, S. 263–276
Kaftan H, Draf W (2000) Otogene endokranielle Komplikationen –
trotz aller Fortschritte weiterhin ein ernst zu nehmendes Problem.
Laryngorhinootologie 79: 609–615
Schwager K, Carducci F (1997) Endokranielle Komplikationen der akuten und chronischen Otitis media bei Kindern und Jugendlichen.
Laryngorhinootologie 76: 335–340
3.5.5 Otosklerose
T. Keck
Definition
▬ Durch Knochenumbauprozesse gekennzeichnete Erkrankung der knöchernen Labyrinthkapsel, die klinisch meist durch Stapesfixation und Mittelohrschwerhörigkeit auffällt
▬ Prädilektionsstellen (nach Häufigkeit): ovales Fenster
(bevorzugte Lokalisation), rundes Fenster, Promontorium, enchondrale Verknöcherungszone der Kochlea
(Kapselotosklerose)
Epidemiologie
▬ Erkrankungsbeginn: meist 20.–40. Lebensjahr
▬ Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer
▬ Familiäres Auftreten bei 25–50 % der Patienten (autosomal-dominante Vererbung)
▬ Im Rahmen von Felsenbeinsektionen bei Weißen 10mal häufiger als bei Schwarzen
▬ Klinisch: 8–12 Fälle/100.000 Einwohner/Jahr
Ätiologie
▬ Unklar; diskutiert wird eine Virus- (Maserngenome
in osteoklastischen und osteosklerotischen Bereichen)
bzw. Autoimmungenese
3
244
Kapitel 3 · Ohr
Pathogenese
▬ Mehrphasiger progressiver Knochenumbauprozess
mit Sklerosierung des enchondralen Knochens der
Labyrinthkapsel
3
Klinisches Bild
▬ Schleichend zunehmende Schwerhörigkeit oftmals
beider Ohren (1/3 aller Fälle), bei Frauen häufig nach
Schwangerschaft oder Kontrazeptivagebrauch (Östrogene stimulieren Osteozyten)
▬ Häufig Tinnitus (40–50 %), selten vestibuläre Symptome
▬ Traumatische Kettenluxation (Ambossluxation) oder
Ossikelfraktur, z. B. Stapesfraktur
▬ Weitere Otodystrophien:
– Osteogenesis imperfecta (van-der-Hoeve-Syndrom):
genetisch bedingte Störung im Aufbau des Bindegewebes mit abnormer Knochenbrüchigkeit infolge
einer gestörten Kollagensynthese, Stapesfixation
und/oder Fraktur der Stapesschenkel (# Kap. 3.5.1,
»Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen«)
– Morbus Paget: monostotische oder polyostotische
Manifestation (Gehörknöchelchen und Labyrinth)
▬ Otosyphilis
▬ Osteoradionekrose des Os temporale
Diagnostik
▬ Unauffällige Anamnese ohne rezidivierende Otitiden
▬ Ohrmikroskopie: in der Regel reizlose, weite, zerumenfreie Gehörgänge
▬ Eventuell Schwartze29-Zeichen: vereinzelt ohrmikroskopisch zu erkennende Hyperämie des Promontoriums und der ovalen Nische (Ausdruck eines floriden
otospongiösen Prozesses)
▬ Stimmgabeltests: Weber-, Rinne- und ggf. Gellé-Versuch
▬ Tonschwellenaudiometrie:
– reine Schallleitungsschwerhörigkeit (30 %)
– oftmals nachweisbare Carhart-Senke (wahrscheinlich mittelohrbedingte Innenohrsenke bei 1500–
2000 Hz)
– kombinierte Schwerhörigkeit (70 %)
– bei der selten diagnostizierten Kapselotosklerose
reine Innenohrschwerhörigkeit
▬ Sprachaudiometrie
▬ Spitzgipfliges, aber verkleinertes Tympanogramm
und ausgefallene Stapediusreflexe auf der erkrankten
Seite
▬ Bildgebung (»High-resolution«-Computertomographie) nur bei Verdacht auf Kapselotosklerose oder
Mittelohrfehlbildung; ggf. Röntgenaufnahme nach
Schüller: gute Pneumatisation
▬ Präoperativ kalorische Gleichgewichtsprüfung, v. a
bei Schwindelbeschwerden
Differenzialdiagnostik
▬ Kleine Mittelohrfehlbildung (angeborene Stapesfixation, Fehlbildung der Gehörknöchelchen)
▬ Hammerkopffixation/Hammerbandverkalkung
▬ Tympanosklerose (postentzündliche Kettenfixation)
▬ Aseptische oder postentzündliche Knochennekrose,
z. B. vom langen Ambossfortsatz
29
Hermann Schwartze (1837–1910), HNO-Arzt, Halle
Therapie
▬ Ziele:
– medikamentöse Stabilisierung der Innenohrleistung bei schnellem Leistungsabfall des Innenohrs
(konservative Therapie der Grunderkrankung nicht
bekannt)
– Verbesserung der Schallübertragung vom Amboss
zum Innenohr durch Korrektur bzw. Umgehung
der Stapesfixation
▬ Maßnahmen:
– medikamentös: Natriumfluorid (1-mal 40 mg/Tag
oder 3-mal 25 mg/Tag) über 2 Jahre (Cave: Schwangerschaft) mit 500 mg Kalzium/Tag und 400 IE Vitamin D/Tag
– ggf. bei rasch progredienter Innenohrschwerhörigkeit Therapieversuch mit Glukokortikoiden
– Operation: konventionelle oder laserassistierte
Stapedotomie oder Stapedektomie
– Hörgerät: bei fehlender Operationsbereitschaft,
letztem hörenden Ohr oder ausgeprägter/überwiegender Innenohrschwerhörigkeit/zu schlechtem
Sprachverständnis
> Wichtig
Bei einem letzten hörenden Ohr mit otosklerotisch
bedingter Schallleitungsschwerhörigkeit (Taubheit der
Gegenseite) ist eine operative Korrektur in der Regel kontraindiziert (ggf. durch einen erfahrenen Operateur auf
ausdrücklichen Wunsch des Patienten nach entsprechender Aufklärung).
Verlauf und Prognose
▬ Vor allem bei Kapselotosklerose progrediente Innenohrschwerhörigkeit bis zur Ertaubung möglich, gelegentlich auch bei Otosklerose mit Stapesfixation
▬ Durch Operation Hörverbesserung bis zur Aufhebung der Schallleitungskomponente in etwa 95 % der
Fälle (konventionell oder mittels Laser)
Literatur
Arnold W, Häusler R (Hrsg.) (2007) Otosclerosis and stapes surgery.
Advances in oto-rhino-laryngology. Karger, Basel
Arnold W, Niedermeyer HP, Altermatt HJ, Neubert WJ (1996) Zur Pathogenese der Otosklerose. »State of the Art«. HNO 44: 121–129
de Souza C, Glasscock ME (2004) Otosclerosis and stapedectomy. Diagnosis, management and complications. Thieme, Stuttgart New York
Hildmann H, Sudhoff H (Hrsg.) (2006) Middle ear surgery. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo
Schuknecht HF (1993) Pathology of the ear, 2nd edn. Lea and Febiger,
Philadelphia
Siddiq MA (2006) Otosclerosis: a review of aetiology, management
and outcomes. Br J Hosp Med 67: 470, 472–476
Vartiainen E, Vartiainen T (1997) Effect of drinking water fluoridation
on the prevalence of otosclerosis. J Laryngol Otol. 111: 20–22
3
245
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
⊡ Tab. 3.10. Pathohistologische WHO-Klassifikation der Tumoren des Ohres
Tumoren
Kodierung
Tumoren des äußeren Ohres
Gutartige Tumoren der Zeruminaldrüsen
Adenom
8420/0
chondroides Syringom
8940/0
Syringocystadenoma papilliferum
8406/0
Zylindrom
8200/0
Bösartige Tumoren der Zeruminaldrüsen
3.5.6 Tumoren des Mittelohrs
P.R. Issing
Übersicht und Einteilung
Einteilung
▬ Benigne, maligne
▬ Nach dem histologischen Ursprung: epithelial,
Weichgewebetumoren, Knochen- und Knorpeltumoren, maligne Lymphome, Pseudotumoren und andere
(⊡ Tab. 3.10)
Lokalisation und Ausbreitung
▬ Primäre Mittelohrtumoren entstehen in Paukenhöhle,
Mastoid und Tuba Eustachii
▬ Ausbreitung in präformierten Hohlräumen: gutartige und v. a. bösartige Tumoren können knochendestruierend die Umgebung zerstören → Symptome
(Schwerhörigkeit, Fazialisparese, Schwindel, Ausfall
der kaudalen Hirnnerven, Otorrhö, »Duraschmerz«)
Diagnostik
Adenokarzinome
8420/3
adenoid-zystisches Karzinom
8200/3
mukoepidermoides Karzinom
8430/3
Plattenepithelkarzinom
8070/3
Embryonales Rhabdomyosarkom
8900/3
Osteom und Exostose
9180/0
Angiolymphoide Hyperplasie mit Eosinophilie (Morbus Kimura)
9125/0
Tumoren des Mittelohrs
Adenom des Mittelohrs
8140/0
Papilläre Tumoren
aggressiver papillärer Tumor
8260/1
Schneider-Papillom
8121/0
invertiertes Papillom
8121/1
Plattenepithelkarzinom
8070/3
Meningeom
9530/0
▬ Inspektion, Ohrmikroskopie, ggf. Endoskopie
▬ Ton- und Sprachaudiometrie, Impedanzmessung,
Vestibularisdiagnostik
▬ Bildgebung: Computer-, Magnetresonanztomographie, digitale Subtraktionsangiographie, ggf. Chemoembolisation
▬ Gegebenenfalls Biopsie (Verdacht auf Malignom;
Cave: gefäßreiche Tumoren)
Tumoren des inneren Ohres
Differenzialdiagnostische Überlegungen
Chronische lymphatische Leukämie vom
B-Zell-Typ/lymphozytisches Lymphom
9823/3 bzw.
9670/3
Langerhans-Zell-Histiozytose
9751/1
▬ Intaktes Trommelfell: weißliche Verfärbung hinter
dem Trommelfell (genuines Cholesteatom), rötliche
Verfärbung (Paragangliom, Schwartze-Zeichen bei
Otosklerose; # Kap. 3.5.5), Pulsation und rötliche Ver-
Vestibularisschwannom
9560/0
Lipom des inneren Gehörgangs
8850/0
Hämangiom
9120/0
Tumor des endolymphatischen Sackes
8140/3
Hämatolymphoide Tumoren
Sekundäre Tumoren
246
Kapitel 3 · Ohr
▬
▬
3
▬
▬
färbung (fortgeschrittenes Paragangliom), bläuliche
Verfärbung (Cholesteringranulom, Hochstand des
Bulbus venae jugularis: v. a. untere Quadranten)
Pulsierender Tinnitus: Paragangliom
Hirnnervenausfälle: v. a. bösartige Tumoren, aber
auch gutartige
Schmerzen: Reizung des N. glossopharyngeus bei
Mittelohrkarzinom
Mastoiditis: Störung der Tubenbelüftung/Tubenverlegung
Therapeutische Aspekte
▬ Gutartige Tumoren: vollständige operative Entfernung, dabei Operationsrisiko und evtl. Funktionsausfälle (Hirnnerven, Hören) beachten; ggf. »Secondlook«-Operation
▬ Maligne Tumoren: chirurgische Therapie nur dann,
wenn vollständige Exstirpation des Tumors und der
Metastasen möglich ist (Ausnahme: adenoid-zystisches
Karzinom: meist wenig strahlensensibel); in speziellen
Fällen Palliativeingriff (z. B. auf Wunsch des Patienten)
▬ Exakte Diagnosestellung meist nur histologisch möglich
Differenzialdiagnostik
▬ Umfasst zunächst alle Erkrankungen, welche die genannten Symptome verursachen können: Otitis media chronica, Otosklerose etc.
Therapie
▬ Entfernung über endauralen oder retroaurikulären
Zugang, evtl. mit posteriorer Tympanotomie
▬ Rekonstruktion des Schallleitungsapparats
▬ Versuch der Fazialiserhaltung bei Neurinomen; wenn
dies nicht möglich ist, Nervenrekonstruktion mit
Interponat, z. B. durch N. auricularis magnus oder
N. suralis
Verlauf und Prognose
▬ Quoad vitam gut
▬ Rezidive v. a. bei Papillomem möglich
▬ Postoperativ bleibende Schallleitungsschwerhörigkeit
> Wichtig
Gutartige Tumoren
Einteilung
▬ Adenome, Papillome, Hämangiome, Myxom, Neurofibrom, Neurinom, Chondrom, Osteom, Meningeom,
Teratom und andere
Epidemiologie
▬ Insgesamt sehr selten; keine genauen Daten vorhanden
▬ Inzidenz wird auf 1/40.000 bis 1/200.000 geschätzt
Ätiopathogenese
▬ Meist unbekannt, bei Papillomen möglicherweise tubogen viral (humane Papillomaviren)
Klinisches Bild
▬ Unspezifisch, meist sich langsam entwickelnde
Schwerhörigkeit
▬ Eventuell Druckgefühl, selten Schmerzen
▬ Sich langsam entwickelnde Fazialisparese bei Fazialisneurinom wegweisend
▬ Selten Otorrhö
Diagnostik
▬ Otoskopie in vielen Fällen wegweisend: Nachweis eines vom Mittelohr aus vorgewölbten, intakten, sonst
reizlosen Trommelfells
▬ Bildgebende Diagnostik: Raumforderung im Mittelohr, in der Regel ohne Nachweis ossärer Destruktion
Bei Fazialisneurinom Gefahr der Fazialisparese
Paragangliom (nichtchromaffines Paragangliom,
Chemodektom, »Glomustumor«)
Definition
▬ Im Allgemeinen gutartiger Tumor, der von den Paraganglien ausgeht und eine den normalen Paraganglien ähnliche organoide Struktur aufweist
▬ Histologie: Anhäufung nichtchromaffiner Glomerula (Konvolut von Glomerulusstrukturen; nicht mit
Chromsalzen anfärbbar)
▬ Kann hormonell aktiv sein (Hydroxyvanillinmandelsäure im Urin)
▬ Sporadisches oder familiäres, dann häufiger multizentrisches Auftreten möglich
▬ Neigt zu ossären Destruktionen und infiltrativem
Wachstum
▬ Maligne Entartung mit Fernmetastasen in etwa 3 %
der Fälle beschrieben
▬ Allgemeine Bezeichnung: Glomus-temporale-Tumoren
Einteilung
▬ Je nach Lokalisation Differenzierung in:
– Glomus-tympanicum-Tumoren (Mittelohr, mediale
Paukenhöhlenwand)
– Glomus-jugulare-Tumoren (Bulbus venae jugularis,
Paukenhöhlenboden)
– Glomus-vagale-Tumoren (N. vagus): # Kap. 10.3.4
(»Gutartige Tumoren« → »Paragangliome«)
247
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
– Glomus-caroticum-Tumor: # Kap. 10.3.4 (»Gutartige Tumoren« → »Paragangliome«)
– laryngeale Paragangliome: # Kap. 8.4.5 (»Gutartige
Tumoren«)
⊡ Tab. 3.11. Klassifikation nach Fisch
Typ
Befund
A
Entspricht Glomus-tympanicum-Tumor, auf Paukenhöhle beschränkt
▬ Absolut gesehen selten, aber häufigster Mittelohrtumor
▬ Frauen doppelt so häufig betroffen wie Männer
▬ Etwa 10-mal häufiger bei Hochlandbewohnern in
den Anden (niedriger Sauerstoffpartialdruck?) als bei
Bewohnern der gleichen Region, die auf Meeresspiegelhöhe leben
B
Wie Typ A, aber Arrosion des Hypotympanons,
knöcherne Schale des Bulbus venae jugularis jedoch intakt
C1
Glomus-jugulare-Tumor mit Arrosion der Bulbusschale sowie des Foramen caroticum ohne Infiltration der A. carotis interna
C2
Wie Typ C1, aber Infiltration der A. carotis interna in
ihrem vertikalen Verlauf
Ätiologie
C3
Wie Typ C2, aber infiltriert auch horizontalen Abschnitt der A. carotis interna ohne Foramen lacerum
C4
Wie Typ C3, aber infiltriert Foramen lacerum und
kann Sinus cavernosus erreichen
D
Glomus-jugulare-Tumor mit intrakranieller Ausdehnung, Differenzierung in:
 De: extradurale Ausdehnung
 Di: intradurale Ausdehnung
 zusätzliche Differenzierung nach der Größe:
 1: <2 cm (Di 1/De 1)
 2: >2 cm (Di 2/De 2))
 3: multilokulär (Di 3)
Epidemiologie
▬ Bei familiärer Häufung chromosomale Aberration
▬ Autosomal-dominante Vererbung
▬ Phänotypische Expression hängt vom Geschlecht des
betroffenen Elternteils ab:
– Kinder von männlichen Genträgern entwickeln zu
50 % einen Tumor
– Kinder von weiblichen Trägern werden zu 50 %
Genträger, kein Auftreten von Tumoren
Pathogenese
▬ Neubildung aus den nichtchromaffinen Zellen der
extraadrenalen Paraganglien
präoperative Embolisation und evtl. Ballonokklusionstest der A. carotis interna möglich
– evtl. Somatostatinrezeptorszintigraphie
Klinisches Bild
▬ Typisches pulssynchronenes Ohrgeräusch, Hörminderung, evtl. blutige Otorrhö
▬ Selten Gesichtslähmung, Heiserkeit und Dysphagie
mit Aspiration
▬ Meist Kompensation des langsamen Ausfalls des
N. glossopharyngeus und des N. vagus
Diagnostik
▬ Rötlich-bläuliche, pulsierende Vorwölbung des Trommelfells (oft hinterer unterer Quadrant)
▬ Tympanometrie: pulssynchrone Impedanzänderung
▬ Audiometrie: Schallleitungsschwerhörigkeit
▬ Status der Hirnnerven VII, IX, X, XI und XII
▬ Bildgebende Diagnostik obligat:
– »High-resolution«-Computertomographie
zum
Nachweis einer Knochenarrosion speziell der
Schale über Bulbus venae jugularis und Canalis
caroticus (Fisch-Klassifikation; ⊡ Tab. 3.11)
– Magnetresonanztomographie zum Ausschluss einer
möglichen Infiltration von Dura und Gehirn
– beiderseitige digitale Subtraktionsangiographie zur
Evaluation der Gefäßversorgung und der venösen
Drainage (multifokales Vorkommen), außerdem
Differenzialdiagnostik
▬ Paukenerguss (Cave: bei Parazentese massive Blutung
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
möglich)
Mittelohrhämangiom
Arteriovenöse Malformation
Hochstehender Bulbus venae jugularis
Aberrierend verlaufende A. carotis interna
Aneurysma der A. carotis interna
Meningeom
Hämangioperizytom
Mittelohrkarzinom
Metastasen, z. B. von Hypernephrom, Schilddrüsenoder Mammakarzinom
Therapie
▬ Ziel: Entfernung des Tumors unter Erhalt der Lebensqualität des Patienten
▬ Maßnahmen:
– bei jüngeren Patienten komplette mikrochirurgische Entfernung
3
248
3
Kapitel 3 · Ohr
– bei Typen A und B wie bei Tympanoplastik, ab
Typ C meist über einen infratemporalen Zugang
nach Fisch
– Strahlentherapie (stereotaktische Radiochirurgie,
z. B. mittels Gamma-Knife) bei alten Patienten oder
nichtresektablen Tumoren (Erzielung eines Wachstumsstillstands)
– bei Expression von Somatostatinrezeptoren Octreotid
Prognose
▬ Quoad vitam meist gut, allerdings bestehen nicht
selten postoperative Funktionseinschränkungen der
Hirnnerven (Hirnnerven VII, IX, X und XII) mit
dominierenden Problemen der Schluckfunktion (Aspiration)
▬ Bei inkompletter Entfernung unweigerliche Rezidivierung → Strahlentherapie zweckmäßig
Sonstige gutartige Tumoren
Papillome
▬ Extrem selten
▬ Entstehen primär im Mittelohr, gelangen aber auch
über die Tube dorthin
▬ Histologie: papillomatöse Proliferationen (ähnlich wie
invertiertes Papillom der Nasennebenhöhlen)
▬ Differenzialdiagnosen: Adenom, Paragangliom
▬ Therapie: vollständige Entfernung (dann gute Prognose)
Hämangiome
▬ Sehr selten (Einzelberichte)
▬ Lokalisation: Trommelfell, Paukenhöhle, Mastoid
▬ Symptome: variabel (symptomlos, Schmerzen, Ohrsekretion, Hirnnervenausfälle)
Adenome
▬ Entstehen aus Mittelohrschleimhaut der Pauke (hinter dem intakten Trommelfell), des Mastoids und der
Tube (epitheliale Drüsenzellen, dystopes Speicheldrüsengewebe, Anlagen für Zeruminaldrüsen)
▬ Ähneln Paragangliom (wichtigste Differenzialdiagnose), bluten jedoch bei Berührung nur wenig (trotzdem Vorsicht bei Probeexzision, da Paragangliom
vorliegen kann); weisen eine fibröse Kapsel auf
▬ Leitsymptom: Schwerhörigkeit
▬ Therapie: funktionserhaltene komplette mikrochirurgische Tumorentfernung (ansonsten Rezidive)
Pleomorphe Adenome
▬ Extreme Rarität
▬ Gegebenenfalls Hirnnervenausfälle
▬ Diagnosestellung operativ/histologisch
▬ Therapie: vollständige Entfernung (ggf. mit Gefäßund Nervenrekonstruktion)
Maligne Tumoren
▬ Meist Plattenepithelkarzinome, seltener Adeno- oder
adenoid-zystische Karzinome
▬ Karzinoid als Rarität; nichtepitheliale maligne Tumoren sind ebenfalls sehr selten
Plattenepithelkarzinom
Histologie
▬ Hoch- bis wenig differenziertes Plattenepithelkarzinom
Epidemiologie
▬ Selten: 1/1 Mio. Einwohner
▬ Verhältnis zwischen Männern und Frauen von 1 : 1,2
▬ Auftreten meist zwischen 40 und 70 Jahren
Ätiologie und Pathogenese
▬ Meist unbekannt
▬ Manchmal auf dem Boden eines chronischen Reizes
bei Otitis media chronica entstehend
▬ Radiogene Ätiologie bei Leuchtzifferblattmalern
Klinisches Bild
▬ Sanguinolente Otorrhö, Hörminderung, Schwindel,
Schmerzen
▬ Hirnnervenausfälle (Hirnnerven VII, VIII, IX und X)
! Cave
Da das Mittelohrkarzinom sehr selten ist, wird differenzialdiagnostisch oft nicht sofort daran gedacht.
Eine therapieresistente, chronische, blutig-seröse Ohrsekretion mit Schmerzen ist karzinomverdächtig.
Diagnostik
▬ Biopsie zur Artdiagnostik des Tumors
! Cave
Gefahr der falsch-negativen Biopsie, da otoskopisch
oft entzündliches Granulationsgewebe biopsiert wird,
das der Tumor vor sich herschiebt
▬ Bildgebung:
– kontrastmittelaufnehmende Raumforderung mit
lokaler Invasion und ossärer Destruktion
– Magnetresonanztomographie wichtig (Dura- und
Hirninfiltration)
– präoperativ digitale Subtraktionsangiographie (A.
carotis interna), auch um bei Notwendigkeit der
249
3.5 · Erkrankungen des Mittelohrs
Resektion des Bulbus venae jugularis die Suffizienz
der kontrateralen venösen Drainage zu klären
– Sonographie der Halsorgane zum Ausschluss von
Halslymphknotenmetastasen
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
Otitis externa maligna
Otitis media chronica
Cholesteatom
Andere Tumoren des Mittel- und äußeren Ohres
Langerhans-Zell-Histiozytose (Histiozytosis X):
– gutartige Raumforderung, deren tumoröse Genese
nicht gesichert ist
– klonale Proliferation der antigenpräsentierenden
dentritischen Zellen des T-Zell-Systems
– Diagnostik: Probeexzision und Histologie
Therapie
▬ Ziel: Entfernung des Tumors unter Erhalt der Lebensqualität des (meist alten) Patienten
▬ Maßnahmen:
– radikale Operation im Sinne einer Petrosektomie
oder subtotalen Petrosektomie mit Resektion des
N. facialis und selten der A. carotis interna
– Strahlentherapie: postoperativ oder alleinig bei
nichtresektablen Tumoren
– Chemotherapie: bislang nur als Palliativmaßnahme
Adenoid-zystisches Karzinom
▬ In der Regel vom äußeren Gehörgang ausgehend →
Übergreifen auf Mittelohr und Felsenbein
▬ Typische kribriforme Struktur (durch mikrozystische
Hohlräume mit Bindegewebemuzin), auch tubuläre,
bandartige oder basaloide Anordnung der Tumorzellen
▬ Im Mittelohr selten
▬ Selten lymphogene, in der Regel jedoch hämatogene
(zum Teil späte) Metastasierung (Lunge, Niere, Kleinhirn); u. a. auch deshalb ungünstige Prognose
▬ Frühzeitig Schmerzen und Fazialisparese; Schwindel
und Innenohrschwerhörigkeit bei Einbruch in das
Innenohr
▬ Diagnostik: Computer-, Magnetresonanztomographie
▬ Exzision mit größtmöglichem Sicherheitsabstand
(ggf. Schnellschnitt)
▬ Geringe Strahlensensibilität (ggf. Neutronen: Verlangsamung des Tumorwachstums, Schmerzlinderung,
ggf. postoperativ)
Karzinoid
▬ Wegen des fortgeschrittenen Stadiums bei Diagnosestellung meist schlecht (5-Jahres-Überlebensrate:
15–50 %)
▬ Prätherapeutische Hirnnervenausfälle prognostisch
besonders ungünstig
▬ Seltener Tumor
▬ Kann eine biphasische Differenzierung mit epitheloiden und neuroendokrinen Anteilen aufweisen
▬ Wichtigste Differenzialdiagnosen: Adenom, Adenokarzinom
▬ Histologie (immunhistochemisch und elektronenmikroskopisch): Nachweis der neuroendokrinen Spezifizierung der Tumorzellen, Nachweis von Intermediärfilamenten
▬ Lokalisation und Ausbreitung entsprechen dem Adenokarzinom
▬ Vollständige Resektion; Nachbestrahlung nicht sinnvoll
▬ Keine Metastasierung
Sonstige epitheliale maligne Tumoren
Literatur
Adenokarzinom – Papilläres (Zystadeno-)Karzinom
Abrams J, Hüttenbrink KB (1992) Die Implantationsmetastase eines
Adenokarzinoms der Nebenhöhlen im Mittelohr. Laryngorhinootologie 71: 86–90
Barnes L, Eveson JW, Reichart P, Sidransky D (Hrsg.) (2005) World Health Organization classification of tumours. Pathology and genetics of head and neck tumours. IARC Press, Lyon
Fisch U, Mattox D (1988) Microsurgery of the skull base. Thieme, Stuttgart New York
Issing PR, Hemmanouil I, Stöver T et al. (1999) Adenoid cystic carcinoma of the skull base. Skull Base Surg 9: 271–275
Issing PR, Kempf HG, Schönermark M, Lenarz T (1995) Das Felsenbeinkarzinom – Aktuelle diagnostische und therapeutische Aspekte.
Laryngorhinootologie 74: 666–672
Saldana MJ, Salem LE, Travezan R (1973) High altitude hypoxia and
chemodectomas. Hum Pathol 4: 251–263
Seifert G (1999) HNO-Pathologie. Nase und Nasennebenhöhlen, Rachen und Tonsillen, Ohr, Larynx, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
Prognose
▬ Adenomatöse Grundstruktur mit zystischen Hohlräumen (Auskleidung mit papillären Anteilen); am
Ohr sehr selten
▬ Tumor entsteht primär in Mittelohr und Os temporale, kann aber auch vom Gehörgang in das Mittelohr
einbrechen; ggf. Implantationsmetastase (Nasennebenhöhle → Tube → Mittelohr)
▬ Langsames, örtlich destruierendes Wachstum; nicht
metastasierend
▬ Frauen und Männer gleich häufig betroffen
▬ Anfangs Schallleitungsschwerhörigkeit (intaktes Trommelfell), oft jahrelange, schmerzlose Otorrhö und Bildung von atypischem »Granulationsgewebe«, später
Innenohrschwerhörigkeit
3
250
Kapitel 3 · Ohr
3.6
Erkrankungen des Innenohrs
und des Labyrinths einschließlich
Laterobasis
3.6.1 Anomalien und Fehlbildungen
3
S. Mattheis, R. Siegert
Übersicht
▬ Auftreten von Dysplasien und Aplasien des Innenohrs:
– isoliert
– in Kombination mit anderen Fehlbildungen
▬ Einteilung nach:
– Schädigungsort
– Schädigungsart
Kochlea und Vestibularorgan
Einteilung
▬ Verschiedene Klassifikationen der Innenohrfehlbildungen, ausgehend vom Ort der Fehlbildung und
vom Zeitpunkt des Entwicklungsarrests (beispielhaft
seien 3 Klassifikationen dargestellt)
▬ Klassische Dysplasietypen des Innenohrs:
– Dysplasie Typ Michel: Aplasie des gesamten Innenohrs (Kochlea, Vestibularorgan), Aplasie des N. vestibulocochlearis
– Dysplasie Typ Mondini: reduzierte Anzahl an
Schneckenwindungen (eine oder 1,5 Windungen),
verkürzte Basilarmembran, reduzierte Anzahl an
Haarzellen
– Dysplasie Typ Scheibe: Fehlbildung der häutigen
Labyrinthanlage bei normaler Ausbildung der knöchernen Labyrinthkapsel
– Dysplasie Typ Alexander: partielle Schädigung des
häutigen Labyrinths; häufigste progrediente hereditäre Schwerhörigkeit
– »common sac«: rudimentäre Ausbildung des Innenohrs im Sinne einer erweiterten Anlage des
Vestibulums
– Fehlbildungen des Vestibularorgans
– Fehlbildungen des endolymphatischen und perilymphatischen Gangsystems (»large vestibular aqueduct
syndrome«, »large cochlear aqueduct syndrome«)
– Aplasie und Stenose des inneren Gehörgangs
▬ Klassifikation der Innenohrfehlbildungen nach Marangos:
– Kategorie A (inkomplette embryonale Entwicklung):
– komplette Aplasie des Innenohrs (Michel-Deformität)
– »common cavity« (Otozyste)
– Aplasie/Hypoplasie der Kochlea
– Aplasie/Hypoplasie des posterioren Labyrinths
– Hypoplasie des gesamten Labyrinths
– Mondini-Dysplasie
– Kategorie B (Abweichung von der normalen embryonalen Entwicklung):
– erweiterter Aquaeductus vestibuli
– enger innerer Gehörgang
– lange Crista transversa
– Meatus acusticus internus tripartus
– inkomplette kochleomeatale Separation
– Kategorie C (isolierte hereditäre Fehlbildungen –
X-chromosomale Schwerhörigkeit)
– Kategorie D: Fehlbildungen bei Syndromen, z. B.:
– Pendred-Syndrom: # Kap. 2.1.4
– Alport-Syndrom: # Kap. 2.1.4
– Waardenburg-Syndrom: # Kap. 2.1.4
– Usher-Syndrom: # Kap. 2.1.4
– Klippel-Feil-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien
des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«)
– Franceschetti-Syndrom: # Kap. 3.4.1 (»Dysplasien
des äußeren Ohres im Rahmen von Fehlbildungssyndromen«)
– CHARGE-Assoziation (Hall-Hittner-Syndrom):
# Kap. 3.4.1 (»Dysplasien des äußeren Ohres im
Rahmen von Fehlbildungssyndromen«)
– Norrie-Syndrom: fortschreitende kochleäre
Schwerhörigkeit bis zur Taubheit; Auge ebenfalls betroffen (Blindheit durch beidseitige pseudogliomatöse Hyperplasie der Retina, Katarakt,
Hornhauttrübung, Bulbusatrophie), außerdem
Intelligenzdefekte und Verhaltensstörungen
– Wildervanck-Syndrom: # Kap. 3.5.1 (»Mittelohrfehlbildungen bei Syndromen«)
– Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom: # Kap. 2.1.4
▬ Klassifikation der Innenohrfehlbildungen nach Sennaroglu:
– kochleäre Malformationen:
– Michel-Deformität
– Kochleaaplasie
– »common cavity«
– Kochleahypoplasie
– inkomplette Separation, Typen I und II
– vestibuläre Malformationen:
– Vestibulumaplasie
– Vestibulumhypoplasie
– Vestibulumdilatation
– Malformationen der Bogengänge, des inneren Gehörgangs, des Aquaeductus vestibuli, des Aquaeductus cochleae
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Epidemiologie
▬ Anteil der Patienten mit Innenohrfehlbildung bei
angeborener Taubheit bzw. Innenohrschwerhörigkeit
schwankt zwischen 2 % und 35 %
▬ »High-resolution«-Computertomographie und Magnetresonanztomographie des Felsenbeins erhöhen die
Nachweisrate einer Innenohrfehlbildung
Ätiologie und Pathogenese
▬ Infektiöse Ursachen (z. B. Rötelnembryopathie), genetische Faktoren, Medikamente (z. B. Thalidomid)
▬ Entwicklungsarrest der kochleovestibulären Strukturen zwischen der 3. und 7. Woche
▬ Druckschwankungen des Liquorsystems auf das Innenohr bei »large vestibular aqueduct syndrome«
bzw. »cochlear aqueduct syndrome«
▬ Aufgrund der zeitlich versetzten embryonalen Entwicklung der betroffenen Strukturen in der Regel
kein Auftreten von kombinierten Innenohr- und Mittelohrfehlbildungen
Klinisches Bild
▬ Taubheit oder Innenohrschwerhörigkeit
▬ Bei Kombination mit Fehlbildungen des äußeren Ohres Ohrmuscheldysplasie und Gehörgangsatresie mit
Taubheit oder kombinierter Schwerhörigkeit (dann
meist an Taubheit grenzend)
▬ Fazialisparese bei Aplasie des N. facialis (z. B. bei
Fehlbildung des inneren Gehörgangs)
▬ Rezidivierende Meningitis (Fehlbildungen des endolymphatischen oder perilymphatischen Gangsystems)
Diagnostik
▬ Inspektion der Ohrmuschel und des äußeren Gehörgangs
▬ Bei Ohrmuscheldysplasien muss eine Schwerhörigkeit
sicher ausgeschlossen werden
▬ Audiometrie mit subjektiven und objektiven Verfahren (otoakustische Emissionen, Hirnstammaudiometrie, Knochenleitungshirnstammaudiometrie)
▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins, Magnetresonanztomographie des Schädels
(Kombination aus Computer- und Magnetresonanztomographie zur Aufdeckung von Innenohrfehlbildungen am aussagekräftigsten)
▬ Genetische Diagnostik, v. a. zum Nachweis einer Xchromosomalen Schwerhörigkeit
Therapie
▬ Ziele:
– audiologische Rehabilitation bei isolierten Innenohrfehlbildungen
251
– ästhetische Rehabilitation bei Patienten mit Innenohrfehlbildungen und Fehlbildungen des äußeren
Ohres
▬ Maßnahme: Überprüfung der Indikation zur Anwendung eines Kochleaimplantats (dieses ist nicht mehr
kontraindiziert; Ausnahmen: Michel-Malformation,
Kochleaaplasie – bei vielen anderen Innenohrfehlbildungen kann durch Modifikation der Elektroden eine
erfolgreiche Versorgung erreicht werden)
Otobasis
▬ Arterielle Fehlbildungen:
– persistierende A. stapedia:
– entspringt aus A. carotis interna (Relikt der
A. hyoidea) → Mittelohr (Promontorium →
zwischen Stapesschenkeln → Fazialiskanal) →
Ggl. geniculi → A. meningea media
– entspringt alternativ aus A. pharyngea → mit Jakob-Nerv über Promontorium → Fallopio-Kanal
– atypischer Verlauf der A. carotis interna:
– mit kleinerem Kaliber kann A. carotis interna vor
Bulbus venae jugularis das Mittelohr erreichen
→ Promontorium → unterhalb des Stapes →
horizontaler Karotiskanal
– gleichzeitiges Auftreten mit einer persistierenden
A. stapedia möglich
– atypischer Verlauf im Sinne eines Aneurysmas,
welches durch das Mittelohr zieht
▬ Malformationen der V. jugularis:
– Bulbushochstand:
– kann bis in das Mittelohr reichen → Schallleitungsschwerhörigkeit, bläuliche Verfärbung hinter dem Trommelfell
– bei forcierter Inspiration Reduktion des venösen Drucks und damit Reduktion der bläulichen
Raumforderung hinter dem Trommelfell (differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber
Glomustumor oder arterieller Malformation →
Sicherung der Diagnose durch Magnetresonanzangiographie)
– einseitige Aplasie des Bulbus venae jugularis (etwa
5 % der Bevölkerung) mit kontralateraler Hyperplasie
– Variationen der Siphonbildung (direkter Übergang
des Sinus sigmoideus in V. jugularis)
▬ Dehiszenzen des Tegmen tympani:
– Lokalisationen:
– anterior und lateral an der petrosquamösen Sutur
(Tegmen tympani)
– Sinus-Dura-Winkel
– Felsenbeinspitze
3
252
Kapitel 3 · Ohr
– Ausbildung von Meningozelen, Meningitis und Liquorrhö (Oto-, aber auch Rhinoliquorrhö), v. a. bei
Lokalisation im Sinus-Dura-Winkel oder an der
Felsenbeinspitze
▬ Anomalien des N. facialis: # Kap. 4.3.1
3
Literatur
Bartel-Friedrich S, Wulke C (2007) Klassifikation und Diagnostik von
Fehlbildungen. Laryngorhinootologie 86 (Suppl 1): 77–95
Marangos N (2002) Dysplasien des Innenohres und inneren Gehörganges. HNO 50: 866–880
Sennaroglu L, Saatci I (2002) A new classification for cochleovestibular
malformations. Laryngoscope 112: 2230–2241
Weerda H (2004) Chirurgie der Ohrmuschel. Verletzungen, Defekte,
Anomalien. Thieme, Stuttgart New York
Witkowski R, Prokop O, Ullrich E, Thiel G (2003) Lexikon der Syndrome
und Fehlbildungen. Ursachen, Genetik und Risiken, 7. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
3.6.2 Traumatische und toxische Schäden
C. Klingmann, P.K. Plinkert
Traumatische Schäden
Felsenbeinfrakturen
Definition
▬ Laterobasale Fraktur der Schädelbasis im Bereich der
Pars petrosa des Os temporale bzw. Schädelbasisfrakturen, die das Felsenbein einbeziehen
Einteilung
▬ Längsfrakturen (60–70 %), Querfrakturen (10–20 %)
– Einteilung in »Quer«- und »Längsfraktur« stammt
aus der Zeit der 2-dimensionalen Bildgebung
▬ Komplexfrakturen (20–30 %)
▬ Isolierte Mastoidfrakturen (selten)
▬ Bilaterale Frakturen (2 %)
▬ »Atypische« Frakturen (>1 %)
Epidemiologie
▬ Häufigkeit der Felsenbeinfrakturen: etwa 6–8 % der
stumpfen Schädel-Hirn-Traumata
▬ Männer sind häufiger betroffen
Pathogenese
▬ Längsfrakturen: Krafteinwirkung auf die Temporal-
region des Schädels (seitliche Gewalteinwirkung)
– Fraktur zieht bei gut pneumatisiertem Mastoid entlang der Felsenbeinpyramide von der Squama ossis
temporalis zum Gehörgangsdach (hinterer Anteil)
→ Tegmen tympani → Ggl. geniculi → um den Labyrinthblock → entlang der vorderen Pyramidenfläche → Endung vor Foramen lacerum (mittlere
Schädelgrube)
– können zum Teil auch Sinus cavernosus durchsetzen → Foramen lacerum der Gegenseite
– Beteiligung von Mittelohr/Mastoid, Tegmen tympani, Trommelfellebene, Tube
– Labyrinth bleibt intakt
– in der Regel Trommelfellruptur mit Blutung aus
dem Gehörgang und evtl. Liquorrhö
▬ Querfrakturen: Krafteinwirkung auf den frontalen
oder okzipitalen Schädelbereich (häufiger bei gehemmter Pneumatisation); durchsetzt die Felsenbeinpyramide senkrecht zu ihrer Achse verläuft durch:
– innerer Gehörgang (innere Querfraktur): Spaltung
der Pars petrosa im Fundus des inneren Gehörgangs
mit Frakturverlauf in die mittlere Schädelgrube
– Innenohr (äußere Querfraktur): Spaltung von Pars
petrosa und Labyrinthblock (Trennung des vestibulären und kochleären Anteils des Labyrinths)
– Hämatotympanon und Ausfall des Labyrinths
(Gleichgewichtsstörungen, Taubheit) möglich
▬ Felsenbeinkomplexfrakturen: gemischter Frakturverlauf mit längs und quer zur Achse der Felsenbeinpyrmide ziehenden Frakturlinien (reine Längs- oder
Querfrakturen sind selten)
▬ Isolierte Mastoidfrakturen: bei direkter Gewalteinwirkung auf die Ohrregion; Frakturverlauf durch das
Mastoid und häufig den Sinus sigmoideus; das Mastoid kann regelrecht abgesprengt werden
Klinisches Bild
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Blutung aus dem äußeren Gehörgang
Hörminderung bis zur Ertaubung
Vertigo und ggf. vegetative Begleitsymptome
Fazialislähmung
Kopfschmerzen
Otoliquorrhö bzw. Oto-Rhino-Liquorrhö (# Kap. 3.6.5)
Ätiologie
▬ Verkehrs- und Sportunfälle, Stürze und stumpfe
Schlagverletzungen
▬ Überwiegend Berstungsfrakturen, weniger Biegungsfrakturen (# Kap. 5.5.3, »Rhinobasisfrakturen«):
Schussverletzungen, transtympanale Stichverletzungen, Imressionsfrakturen der Kiefergelenkpfanne
Diagnostik
▬ Anamnese: Unfallmechanismus, ggf. Fremdanamnese
▬ Inspektion der Mastoidregion: Schwellung/Hämatom?
(Zerreißung des Sinus sigmoideus: Battle-Zeichen)
▬ Mikroskopische Otoskopie: Stufenbildung der Gehörgangshinterwand (bei Längsfraktur in unterschiedli-
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
cher Ausdehnung erkennbar), Trommelfellperforation
(bei Längsfrakturen; meist im 4. Quadranten; Ränder
sind nicht wie bei isolierter Verletzung eingeschlagen)
oder Hämatotympanon (bei Quer- und Komplexfrakturen) bzw. Liquortympanon (pulsierender Erguss)
Weber-/Rinne-Versuch: Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit
Frenzel-Brille: Suche nach Spontannystagmen, ggf.
thermische Prüfung (Cave: Trommelfellperforation),
ggf. Reizung mit Luft
Fazialisdiagnostik:
– Fazialissofortparese: 4–20 %
– Fazialisspätparese: 8–16 %
– bei Längsfrakturen: 24–83 %
– bei Querfrakturen: 11–62 %
– bei Komplexfrakturen: 6–40 %
Orientierende Riechprüfung
Computertomographie des Felsenbeins: Frakturbeurteilung, Ausschluss eventueller intrakranieller Komplikationen (Blutungen, Pneumenzephalon, Hirnparenchymhernien)
Gegebenenfalls Magnetresonanztomographie
Bei Oto- oder Oto-Rhino-Liquorrhö: Liquordiagnostik (β2-Transferrin, β-Trace Protein; # Kap. 1.8.2)
Neurochirurgische/neurologische Mitbeurteilung, da
bei >90 % der Patienten eine Commotio cerebri besteht
Differenzialdiagnostik
▬ Commotio labyrinthi bei fehlendem Frakturnachweis
▬ Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel bei Verletzung des Otolithenapparats (Anamnese)
Therapie
▬ Ziele:
– Wundbehandlung und Wiederherstellung der gestörten Funktionalität
– Vermeidung intrakranieller Komplikationen und
Spätkomplikationen
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– Gehörgangsreinigung: nur außen und nicht in
Trommelfellnähe (erneute Blutung, Infektion)
– steriles Abdecken des Ohres (Cave: keine Tamponade)
– Schnäuzverbot
– ggf. abschwellende Nasentropfen
– abwartende Haltung und Abwarten der Verbesserung des Allgemeinzustands (zerebrale Mitbeteiligung)
– Liquorrhö: Antibiotikaprophylaxe umstritten
(# Kap. 3.6.5)
253
! Cave
Bei frischen Verletzungen des Ohres mit Blutungen
oder Liquorrhö sind alle Manipulationen in Trommelfellnähe in Form von Saugen, Kürretagen, Parazentese,
Tamponaden oder Tropfen zu unterlassen.
– Innenohrstörungen: hochdosierte Kortisontherapie; keine rheologische Maßnahmen (Blutungsrisiko/Ausschluss zerebraler Blutungen)
– Ausfall oder Störung des Gleichgewichtsorgans:
symptomatische Therapie mit Antivertigenosa;
ggf. Kortisontherapie, Schwindeltraining
– Fazialisparese: bei Spätparese hochdosierte Kortisontherapie
– operativ:
– Soforttherapie bei hämodynamisch wirksamer Blutung oder massiver Makroliquorrhö
(# Kap. 21.5.1, »Trommelfell und Mittelohr« →
»Spezielle Probleme und Therapieverfahren« →
»Verletzungen«)
– bei Sofortparesen des N. facialis (# Kap. 21.5.2),
bei Spätparesen in Abhängigkeit vom klinischen
Verlauf und vom elektrodiagnostischen Befund
– ggf. operative Sanierung bei Fraktur bei Zustand
nach Radikalhöhlenoperation/Zertrümmerung
des Höhlendachs; bei vorhandenen pathogenen
Keimen Gefahr der intrakraniellen Infektion
– im Intervall: persistierende Trommelfellperforation, Cholestatombildung, Paukenerguss (Obliteration der Tuba auditiva) Meningozelen → Tympanoplastik, T-Tube-Einlage, Meningoenzephalozelenanhebung/Stabilisierung mit Mesh etc.
Verlauf und Prognose
▬ Allgemein:
– Fazialisparese: # Kap. 4.3.2
– Otoliquorrhö: sistiert in der Regel spontan
▬ Längsfrakturen: günstigere Prognose:
– Trommelfellperforation: verschließt sich normalerweise spontan
– sensorineuraler, meist Hochtonhörverlust: persistiert in der Regel
– Schallleitungsschwerhörigkeit: bei Hämatotympanon rückläufig → keine weiteren therapeutischen
Maßnahmen; persistierende Schallleitungsstörungen sollten nach 6 Monaten therapiert werden
(Tympanotomie)
– gelegentlich Pneumenzephalon bei Luftdurchtritt
durch Duralücke mit Luftansammlung im Endokranium (ggf. durch Überdruck, jedoch auch bei
perforiertem Trommelfell)
– Spätmeningitiden: Seltenheit
3
254
3
Kapitel 3 · Ohr
– in 4 % der Fälle sekundäres (traumatisches) Cholesteatom
▬ Felsenbeinquerfrakturen: schlechtere Prognose:
– regelhaftes Auftreten von irreversiblen Schäden des
Hör- und Gleichgewichtssinns
– persistierende Ertaubungen und Vestibularisausfall
(keine Seltenheit)
– Spätmeningitiden treten selten auf, sind jedoch aufgrund der bindegewebigen Ausheilung des Labyrinths zeitlebens möglich
– Frakturen der Labyrinthkapsel heilen nie knöchern
aus (enchondraler Labyrinthknochen kann keinen
Kallus bilden)
▬ Komplexfrakturen: Kombination der Komplikationen von Längs- und Querfrakturen
▬ Isolierte Mastoidfrakturen:
– gute Prognose, selten behandlungsbedürftig
– Fazialisparesen möglich (ggf. operative Intervention)
▬ Komplikationen:
– Sub-/Epiduralblutung, Hirnparenchymverletzung,
Meningitis
– hämodynamisch wirksame Blutungen aus einem
Sinus, z. B. Sinus sigmoideus, Sinus petrosus superior, aus der A. carotis interna oder aus einer
Meningealarterie
– arteriovenöse Fistel
Perforierende und umschriebene Verletzungen
Definition
▬ Verletzung des Felsenbeins und des Labyrinths durch
direktes Eintreten eines Fremdkörpers durch umschriebene Gewalteinwirkung (reine Biegungsfrakturen)
Klinisches Bild, Diagnostik und Therapie
▬ Anamnese
▬ Gegebenenfalls eingespießter Gegenstand
▬ Klinisches Bild, Diagnostik und Therapie wie bei stumpfen Traumata der Schädelbasis (s. unten, »Commotio/
Contusio labyrinthi«; Ausnahme: Entfernung eines
Fremdkörpers); Vorgehen je nach Befund/Verletzung
▬ Impression der Gehörgangsvorderwand:
– eingeengter Gehörgang, zerfetzte Gehörgangswand,
Koagel
– Tastbefund und Otoskopie zeigen Mitbewegung
der Gehörgangsvorderwand bei Kaubewegung
– Reposition und straffe Einlage einer Tamponade/
Einlage eines Platzhalters
Commotio/Contusio labyrinthi
Definition, Ätiologie und Pathogenese
▬ Mechanische Erschütterung des Felsenbeins und/
oder des Labyrithblocks ohne radiologischen oder
klinischen Nachweis einer Fraktur
▬ Kochleäre/vestibuläre Störung nach stumpfem Schädeltrauma der lateralen Schädelbasis
▬ Transmission einer Druckwelle → Felsenbein wird
in Schwingung versetzt (wie bei Fraktur Auftreten
kurzzeitiger Verformungen des Knochens, die aber
Integrität nicht überschreiten → keine Fraktur des
Felsenbeins) → mechanische Schwingung führt zu
einer Knochenleitungsdruckwelle → Schädigung des
Corti-Organs und der Bogengänge nebst Otolithenorgan → Degeneration der Haar- und Stützzellen,
ggf. Blutung und Mikrofissuren
▬ Im Bereich des Corti-Organs ist v. a. die Basalwindung betroffen
Klinisches Bild
Ätiologie
▬ In Friedenzeiten sind direkte perforierende Verletzungen des Innenohrs und des Felsenbeins selten
▬ Messerstiche, Fallen auf spitze Gegenstände (Schere,
Stricknadel), Arbeitsunfälle, selten Schussverletzungen
▬ Zusätzliches Auftreten von Biegungsfrakturen des
Felsenbeins
Pathogenese
▬ Spitze Gegenstände: Verletzungen von Innenohr,
Felsenbein, Gehirn oder innerem Gehörgang (über
Gehörgang, Trommelfell und transtympanal) oder
Durchtrennung der Kalotte (über Mastoid/transtemporal)
▬ Sturz oder Schlag auf Kinn: Kieferköpfchen wird in
Gelenkpfanne getrieben → Impression der knöchernen Gehörgangswand → Gehörgangsstenose
▬ Schallempfindungsschwerhörigkeit, meist im Hochtonbereich; meist beide Ohren betroffen (okzipitale Einwirkung), bei parietalem Trauma v. a. einseitige Störung
▬ Tinnitus, Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen,
Kopfschmerzen
Diagnostik
▬ Anamnese: Unfallhergang (forensische und gutachterliche Aspekte; ggf. Fremdanamnese bei retrograder
Amnesie)
▬ Ohrmikroskopie: unauffälliger Gehörgangs-/Trommelfellbefund (Ausschluss: Trommelfellruptur, Hämatotympanon)
▬ Stimmgabelversuche
▬ Tonaudiometrie: relativ breite Hochtonmulde um
4 kHz, ggf. Hochtonabfall oder pantonale Innenohrschwerhörigkeit; zusätzlich Schallleitungskompo-
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
▬
▬
▬
▬
▬
nente: Verdacht auf Luxation der Gehörknöchelchen
(z. B. Amboss)
Tinnitusanalyse
Spontannystagmus
Thermische Prüfung: Unter- oder Unerregbarkeit der
geschädigten Seite
Riechprüfung (Ausschluss einer Schädigung der Fila
olfactoria)
»High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins/Magnetresonanztomographie: Ausschluss von
Frakturen und intrakraniellen Komplikationen
Differenzialdiagnostik
▬ Felsenbeinfraktur, Perilymphfistel, Labyrinthitis
▬ Zentrale Hörstörungen (bei zusätzlicher Commotio
oder Contusio cerebri)
▬ Hörsturz: in der Regel einseitig (Anamnese)
▬ Neuropathia vestibularis und andere vestibuläre
Krankheitsbilder
Therapie
▬ Rheologische Therapie, hochdosierte Steroidbehandlung
▬ Antivertiginöse Therapie, Bettruhe
255
– explosives Trauma: Perilymphe strömt bzw. fließt
aus dem Innenohr; z. B. Tubenblockade → forciertes Valsalva-Manöver → Anstieg des zerebrospinalen Drucks → Aquaductus cochleae und innerer
Gehörgang → Perilymphe → Fensterruptur
– eine Ruptur des runden oder ovalen Fensters tritt
bei einem Innenohrbarotrauma selten auf; meist ist
die Schädigung Folge der Druckwelle
Klinisches Bild
▬ Plötzlich auftretende Innenohrschwerhörigkeit mit
Tinnitus und/oder vestibulären Symptomen (Drehschwindel, Übelkeit und Erbrechen)
Diagnostik
▬ Anamnese: insuffizienter Druckausgleich in der Kompressionsphase
▬ Otoskopisch Zeichen einer Mittelohrschädigung
▬ Tonaudiometrie: Innenohr- oder kombinierte Schwerhörigkeit, auch Taubheit
▬ Nystagmusprüfung, Videookulographie
▬ Computertomographie des Felsenbeins: evtl. Nachweis
von Luft in Kochlea, Vestibulum und Bogengängen
Differenzialdiagnostik
Verlauf und Prognose
▬ Ungewiss, bei frühzeitigem Therapiebeginn zum Teil
gut
▬ Schwerhörigkeit kann nach Trauma aber auch Progredienz zeigen, v. a. bei rezidivierenden Traumen,
z. B. bei Kampfsportlern
▬ Vestibuläre Symptomatik: in der Regel gute Prognose
(v. a. aufgrund der zentralen Kompensationsmechanismen)
▬ Komplikationen: Gehörknöchelchenluxation, progrediente Schwerhörigkeit, Ertaubung, Subduralblutung
Barotrauma
▬ Dekompressionskrankheit bei Tauchern (CaissonKrankheit):
– schnelles Auftauchen aus großen Tiefen (in der Regel >10 m) mit Freisetzung von Stickstoffbläschen
→ Embolie in Gehirn und Innenohr
– Therapie: bei Verdacht auf Embolie oder bei neurologischen Ausfällen sofortige Rekompression des
Patienten in einer Überdruckkammer
– Prophylaxe: Auftauchen aus großen Tiefen nur
langsam und mit regelmäßige Pausen
▬ Knall- oder Explosionstrauma: Anamnese, klinischer
Befund
Definition
Therapie
▬ Akute, ein- oder beidseitige Verletzung im Bereich
des Innenohrs als Folge einer Druckdifferenz zwischen dem Innenohr und dem auf den Körper einwirkenden Umgebungsdruck
▬ Tritt seltener auf als das Barotrauma des Mittelohrs
▬ Tympanotomie und Abdeckung des runden und ovalen Fensters bei Verdacht auf Perilymphfistel
▬ Begleitende antiphlogistisch-rheologische Therapie
Verlauf und Prognose
▬ Nur in etwa 20 % der Fälle Restitutio ad integrum
Ätiologie und Pathogenese
▬ Meist indirekte Folge eines Mittelohrbarotraumas
(# Kap. 3.5.2)
▬ Ruptur des runden oder ovalen Fensters:
– implosives Trauma: Luft strömt in das Innenohr;
z. B. durch Tubenverschluss bedingter Mittelohrüberdruck → Fensterruptur
Ototoxische Schäden
Definition
▬ Schädigung der Innenohrfunktion durch körperfremde Stoffe mit den Symptomen Tinnitus, Hörverlust und/oder Schwindel
3
256
Kapitel 3 · Ohr
Einteilung
▬ Nach der Art der Herkunft:
3
– exogene Toxine: nichtsteroidale Antirheumatika,
Antibiotika, Zytostatika, Schleifendiuretika, Antimalariamittel, Schwermetalle, aromatische Kohlenwasserstoffe
– endogene Toxine: Virus- und Bakterientoxine bei
Infektionskrankheiten, toxische Stoffwechselmetabolite (Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz,
Schilddrüsenfunktionsstörungen)
▬ Nach dem Angriffspunkt:
– ototoxische Schäden im eigentlichen Sinne
– ototoxische Schäden im weiteren Sinne (neurotoxisch: zentrale Veränderungen)
Epidemiologie
> Wichtig
Intoxikation mit Azetylsalizylsäure: häufigste medikamentenbedingte Schädigung der Innenohrfunktion
▬ Innenohrschädigungen durch Antibiotika sind heute
seltener geworden und werden v. a. durch Aminoglykosidantibiotika verursacht, die sowohl systemisch als
auch lokal appliziert schädigend wirken
▬ Schädigungen durch Zytostatika sind seltener geworden (Verwendung angepasster Applikationsprotokolle)
Ätiologie und Pathogenese
▬ Schädigungsmechanismen sind sehr heterogen
▬ Allgemeines Prinzip der Hörschädigung durch ototoxische Medikamente und Chemikalien: oxidativer
Stress mit Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies
und Störung des Gleichgewichts zwischen Sauerstoffradikalen und zelleigenen Antioxidanzien mit
nachfolgender Lipidperoxidation sowie Reaktion mit
Proteinen und DNA → Einleitung des programmierten Zelltods (Apoptose)
▬ Nichtsteroidale Antirheumatika: bei Dosierungen
von 2–5 g Azetylsalizylsäure Wattegefühl im Ohr und
Tinnitus → meist Auftreten einer sensorineuralen
Hörstörung, die v. a. die hohen Frequenzen betrifft;
vestibuläre Symptome sind selten
▬ Antibiotika:
– im Vordergrund stehen die Aminoglykosidantibiotika (Pathogenese der Hörschädigung am besten
untersucht)
– Transport durch einen aktiven Prozess in die
Haarzelle → Akkumulation in Endo- und Perilymphe → irreversible Bindung an Zellproteine
→ Freisetzung von Schwermetallionen → Ami-
noglykosid-Schwermetall-Komplexe → Bildung
von reaktiven Sauerstoffradikalen
– »Gedächtnis« des Innenohrs für die toxische
Wirkung der Aminoglykoside, d. h. es besteht
eine lebenslange toxische Gesamtdosis, die nicht
überschritten werden darf, aber interindividuell
unterschiedlich sein kann (z. B. bei Gesamtgentamicindosis von <50 mg/kg KG Risiko für irreversible ototoxische Schäden von <2 %)
– kochleär: Beginn mit Schädigung der basalen
Haarsinneszellen mit Ausbreitung nach apikal,
später Schäden in der Stria vascularis
– vestibulär: Schädigung der Typ-I-Haarsinneszellen und der vestibulären dunklen Zellen
– prognostische Faktoren: Dosierung, Applikationsart (ein- bis 2-mal tägliche Applikation besser
als 3-mal tägliche Gabe), länger zurückliegende
Behandlung (»Gedächtnis«), Nierenfunktion,
bereits vorbestehende Hörschäden, familiäre
Empfindlichkeit, Alter, Summation bei Lärm
(vorbestehender Lärmschaden → Wirkung einer
Lärmexpositon wird verstärkt), Kombination mit
anderen ototoxischen Medikamenten, Anämie,
Mangelernährung, mitochondriale Mutationen
(z. B. A1555G)
– embryotoxische Schäden des Gehörs
– v. a. kochleotoxische Antibiotika: u. a. Amikacin,
Kanamycin, Neomycin, Vancomycin, Erythromycin, Teicoplanin
– v. a. vestibulotoxische Antibiotika: u. a. Gentamicin,
Streptomycin, Tetrazykline, Polymyxin
– in der Regel Schädigung beider Ohren, asymmetrische Hörstörungen möglich (z. B. Streptomycin,
Kanamycin, Gentamicin)
▬ Zytostatika: v. a. Cisplatin: inhibiert die ATPase des
Innenohrs und der Nieren → Tinnitus und Hochtonschwerhörigkeit; das modernere Carboplatin weist
eine geringere Ototoxizität auf
▬ Schleifendiuretika:
– führen in 90 % der Fälle zu reversiblen Innenohrschädigungen
– Furosemid: hat Etacrynsäure weitgehend abgelöst,
wesentlich weniger ototoxisch
! Cave
Bei i. v. Bolusapplikation von 1 g Furosemid kann es
innerhalb weniger Minuten zur irreversiblen beidseitigen Ertaubung kommen (Applikation hoher Dosen
nur über Perfusor).
▬ Antimalariamittel: v. a. Chinin weist eine hohe Ototoxizität auf und führt zu Tinnitus sowie anfangs
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
▬
▬
▬
▬
reversibler, später irreversibler sensorineuraler Innenohrschwerhörigkeit und Schwindel; Mefloquin: v. a.
vestibuläre Symptome
Schwermetalle: bei beruflicher Exposition mit Blei,
Mangan, Quecksilber und Cadmium können irreversible Hör- und Gleichgewichtsstörungen auftreten
Aromatische Kohlenwasserstoffe: Benzol, Styrol, Tetrachlorwasserstoffe und andere führen bei akuten
Vergiftungen zu reversiblen, bei chronischer Exposition zu irreversiblen Innenohrschädigungen
Sonstige Medikamente: β-Blocker, orale Kontrazeptiva, Lokalanästhetika, trizyklische Antidepressiva,
Antiepileptika
Endogene Toxine: infektiös-toxisch (bakteriell, viral;
z. B. »Grippeotitis«), Nierenfunktionsstörungen (z. B.
Urämie), Hypothyreose, Neugeborenenikterus (Hyperbilirubinämie), Diabetes mellitus (durch Mikroangiopathie), Immunkrankheiten
Klinisches Bild
▬ Abhängig von der ototoxischen Substanz:
– Wattegefühl/Druckgefühl im Ohr
– Hörverlust, Ertaubung
– Tinnitus
– Übelkeit und Erbrechen
– Schwindel, Ataxie, Gangunsicherheit: Schwankbzw. ungerichteter Schwindel (Ausfall beider Labyrinthe → Dandy-Syndrom); wird z. B. aufgrund
von Bettlägrigkeit zunächst nicht bemerkt
Diagnostik
▬ Anamnese: Medikamentenanamnese, Tumorgrunderkrankung, Niereninsuffizienz, vorbestehender Hörschaden, berufliche Lärmexposition oder Lärmexposition in der Freizeit
▬ Ohrmikroskopie: in der Regel unauffällig
▬ Weber-/Rinne-Versuch: Schallempfindungsschwerhörigkeit
▬ Frenzel-Brille: Spontan-, Blickrichtungs-, Provokationsnystagmen
▬ Thermische Prüfung (Videookulographie)
▬ Otoakustische Emissionen: Nachweis der Haarzellschädigung (Monitoring während Zytostatikatherapie
und ototoxischer Antibiotikatherapie)
▬ Tonaudiometrie:
– Aminoglykoside, Schleifendiuretika: Beginn mit
symmetrischem Hochtonhörverlust
– Salizylate: meist beidseitig, unterschiedliches Ausmaß
– Lokalanästhetika: meist einseitige, leichte Schwerhörigkeit
257
– hohe, einmalige Dosis eines Schleifendiuretikums:
Ertaubung
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
Hörsturz
Morbus Menière
Zentrale Intoxikationen
Vestibuläre Erkrankungen
Therapie
▬ Abhängig von der Grunderkrankung: Absetzen der
ototoxischen Medikation
▬ Reversible Innenohrstörungen müssen nach Absetzen
der Noxe nicht weiter behandelt werden
▬ Behandlung der Grunderkrankung (bei akuter Niereninsuffizienz z. B. Hämodialyse)
▬ Ausreichende Hämodilution
▬ Systemische Kortisontherapie erwägen; soll z. B. bei
Intoxikationen mit Chinin therapeutisch wirksam sein
▬ Antivertiginöse Therapie, Schwindeltraining
▬ Paukendrainage bei Otitis media acuta/Paukenerguss
Prophylaxe
▬ Richtige Indikationstellung bei Gabe potenziell ototoxischer Medikamente
▬ Dosierung der potenziell ototoxischen Substanzen
nach Körpergewicht
▬ Kontrolle und Überwachung der Nierenfunktion sowie des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts
▬ Patienteninformation über Frühsymptome (Druckgefühl, Tinnitus)
▬ Otoakustische Emissionen, Audiometrie und Vestibularismonitoring
▬ Vermeidung ototoxischer Kombinationsbehandlungen
▬ Besondere Vorsicht bei Risikopatienten: Nierenfunktionsstörung, Anämie, Diabetes mellitus, Neugeborene, Schock, Otitis media, Labyrinthitis, positive Familienanamnese für Innenohrfunktionsstörungen
▬ Ausreichende Vorhydratation des Patienten bei Zytostatika- und Antibiotikatherapie
▬ Tierexperimentell und im Humanversuch erweisen
sich eine antioxidative Therapie sowie eine Behandlung mit Radikalfängern (z. B. Ascorbinsäure), Azetylsalizylsäure und metallbindenden Agenzien (z. B.
Deferoxamin) zur Reduktion ototoxischer Nebenwirkungen von Aminoglykosidantibiotika und Platinzytostatika als wirksam
▬ Gegebenenfalls Testung auf mitochondriale Mutationen (z. B. A1555G)
3
258
Kapitel 3 · Ohr
> Wichtig
Bei Vorliegen einer Trommelfellperforation sollten nur
Antibiotika ohne oder mit nur geringem ototoxischen
Potenzial appliziert werden (z. B. Ciprofloxacin).
3
Verlauf und Prognose
▬ Abhängig von der ototoxischen Substanz, der Dosis
und anderen Faktoren (z. B. Nierenfunktion)
▬ Hörverlust durch Aminoglykoside: kann nach Beendigung der Therapie fortschreiten oder erst bis zu
14 Tage zeitversetzt auftreten
▬ Salizylsäure: Hörstörungen bilden sich in der Regel
nach Absetzen innerhalb von 24–72 h zurück
▬ Vestibuläre Symptome: Prognose normalerweise
gut; bei beiderseitigem Labyrinthausfall jedoch
keine zentrale Kompensationsmöglichkeit (DandyPhänomen)
Akustisches Trauma
Definition
▬ Physikalische (akustische und mechanische) Schädigung der Kochlea durch Schalldruckeinwirkung von
außen
Einteilung
▬
▬
▬
▬
▬
Akustischer Unfall
Knalltrauma
Explosionstrauma
Akutes Lärmtrauma
Chronische Lärmschwerhörigkeit (# Kap. 2.4.4)
Ätiologie und Pathogenese
▬ Akustischer Unfall:
– im deutschsprachigen Raum gebräuchliche Bezeichnung für eine Hörschädigung
– Voraussetzungen für das Auftreten:
– Einwirkung von Lärm mittlerer Intensität um
100 dB (A)
– halswirbelsäulenbedingte Minderdurchblutung
der A. labyrinthi der betroffenen Seite (Arbeiten
über Kopf mit z. B. Presslufthammer → Torquierung der Halswirbelsäule)
– vorbestehende Erkrankungen des Gefäßsystems
und des kraniozervikalen Übergangs disponieren
zur passageren Minderdurchblutung der Aa. vertebrales, die eine Minderperfusion der Aa. labyrinthi
zur Folge haben → Vulnerabilität der Kochlea gegenüber Lärmeinwirkungen
– meist liegt eine plötzlich einsetzende, einseitige Innenohrschwerhörigkeit vor, in der Regel ohne vestibuläre Symptome, gelegentlich mit Taubheit
▬ Knalltrauma:
– Schallimpulse einer Dauer von <2 ms und einer
Intensität von >150 dB (A) führen zu einer akustischen Schädigung der Kochlea im Bereich der
apikalen Endung der Basilarwindung (4 kHz)
– metabolische Belastung der Haarzellen, die zu reversiblen und irreversiblen Schädigungen führen
kann
– mechanische Zerstörung der Kochleastrukturen
liegt nicht vor
– vestibuläres System nicht betroffen
– meist liegt eine einseitige Schädigung der dem
Schall zugewandten Seite vor
– Vorkommen bei Polizei, Militär, Jagdwirtschaft,
Schießsport, Umgang mit Spielzeugpistolen
▬ Explosionstrauma:
– Schalleinwirkungen einer Dauer von >2 ms und
einer Intensität von >150 dB bewirken eine Druckwelle (Reifen- und Sprengstoffindustrie, Kraftfahrzeuggewerbe, chemische und Gasindustrie, Airbag)
– akustische Innenohrschädigung
– mechanische Verletzungen des Trommelfells und
der Kochlea mit frühzeitigem Einriss des Trommelfells (z. B. aufgrund vorbestehender atrophischer
Bereiche); bei protektiver Wirkung (nicht die gesamte Energie wird auf das Innenohr übertragen)
ggf. Luxation/Fraktur der Ossikel
– Rupturen der Rundfenstermembran und des ovalen
Fensters
– meist beide Ohren betroffen (einseitige Schädigung
nur dann, wenn sich Explosionsquelle dicht am
Ohr befindet)
– kann Teil eines Polytraumas sein bzw. Auftreten
anderer Verletzungen möglich
– das Vestibularorgan ist regelmäßig mitbetroffen
▬ Akutes Lärmtrauma:
– Lärmeinwirkungen, die deutlich länger einwirken
als bei Knall- und Exposionstrauma, jedoch ähnliche Schallintensitäten aufweisen (≥100 dB; Disko-,
Konzertbesuch, Kinderspielzeug, Tiefflugereignisse,
Feuerwerkskörper)
– zunächst kommt es aufgrund metabolischer Störungen (»Schallstress«) zu einer reversiblen Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold
shift«)
– bei längerer oder häufiger Belastung tritt ein irreversibler Haarzellschaden auf (metabolische
Dekompensation: exzessiv erhöhter Sauerstoffverbrauch → Ischämie der Kochlea → Bildung freier
Radikale → Verbrauch zellulärer Antioxidanzien
→ Zelltod); betrifft zunächst den Frequenzbereich
um 4 kHz (C5-Senke)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
– zunächst Schädigung der äußeren und danach der
inneren Haarzellen
– direkte mikromechanische Verletzungen spielen
eine untergeordnete Rolle
– Beteiligung des vestibulären Systems ist eine Seltenheit, sollte jedoch differenzialdiagnostisch abgeklärt werden (z. B. Contusio labyrinthi, Explosionstrauma, Ruptur eines Mittelohrfensters/Perilymphfistel)
– meist beide Ohren betroffen
▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit:
– Tägliche Lärmbelastung von >85 dB (A) für mehrere Stunden (Arbeitsschicht von 6–8 h) über Monate und Jahre
– Am häufigsten Lärm am Arbeitsplatz (Maschinenlärm im weitesten Sinne), aber auch Benutzung von
Walkmen, MP3-Playern und Musikinstrumenten
(Blechblasinstrumente, Schlagzeug) sowie Motorradsport und Heimhandwerk
– Wie beim akuten Lärmtrauma tritt zunächst eine
reversible Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold shift«) auf (wenn die Lärmpausen
ausreichend lang sind); dauert die Lärmexposition
länger an als die Erholungsfähigkeit der Haarzellen, kommt es zu einem chronischen Lärmschaden
(»permanent threshold shift«)
– metabolische Störungen, die anfangs die äußeren
Haarzellen betreffen; später Untergang der inneren
Haarzellen, der afferenten Dendriten und der Ganglienzellen
– betroffen ist zunächst der Hochtonbereich (C5Senke) mit symmetrischem Befall beider Ohren; später dehnt sich der Hörschaden in den Hochtonbreich
aus und nach Jahren auch auf den Sprachbereich
– Ausmaß und Progredienz abhängig von:
– Belastungsparameter (Schalldruckpegel, Pegelanstieg, Expositionszeit, Frequenz)
– Dauer der Erholungsphase
– individuelle Lärmempfindlichkeit (genetisch vorgeschädigtes Innenohr, vorangegangener Hörsturz, vorausgegangene Behandlung mit ototoxischen Medikamenten)
– keine vestibuläre Beteiligung
Klinisches Bild
▬ Tinnitus: bei akuten Traumata in der Regel immer,
bei chronischer Lärmschwerhörigkeit in 60–70 % der
Fälle
▬ Hörminderung (progrediente Schwerhörigkeit bei
chronischer Lärmschwerhörigkeit)
▬ Taubheit: einseitig bei akustischem Unfall, Asymmetrie bei Knalltrauma
259
▬ Verständigungsschwierigkeiten in lauter Umgebung
(»recruitment«), v. a. bei chronischer Lärmschwerhörigkeit
▬ Wattegefühl im Ohr, Taubheitsgefühl
▬ Otalgie: bei Lärm- und Explosionstrauma
▬ Gehörgangsblutung: bei Explosionstrauma mit Trommelfellverletzung
▬ Vestibuläre Beschwerden: nur bei Explosionstrauma
Diagnostik
▬ Differenzierte Anamnese des Traumamechanismus
(auch aus forensischen und gutachterlichen Gründen
wichtig; ggf. Fremdanamnese bei Explosionstrauma);
Berufs- und Freizeitanamnese, ggf. Erfragung der beruflichen Lärmbelastung bei Arbeitgeber oder Berufsgenossenschaft
▬ Ohrmikroskopie: Trommelfellperforation (bei Explosionstraumata), Hämatotympanon
▬ Stimmgabeltests (Weber, Rinne)
▬ Tonaudiometrie (ein- oder beidseitiger sensorineuraler Schaden, kombinierte Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit bei Explosionstrauma);
Lärmschwerhörigkeit: bilaterale C5-Senke bei 4 kHz,
die bei andauernder Lärmexposition breiter wird; positives »recruitment«
▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit: Sprachaudiometrie, Stapediusreflexmessung, otoakustische Emissionen, Hirnstammaudiometrie (Ausschluss einer retrokochleären Störung; Cave: Lärmbelastung), CERA
(»cortical evoked response audiometry«)
▬ Tinnitusanalyse
▬ Frenzel-Brille: Suche nach Spontannystagmen
▬ Thermische Gleichgewichtsprüfung (Videookulographie; bei Trommelfellruptur Reizung mit Luft)
Differenzialdiagnostik
▬ Nichtlärmbedingte Schwerhörigkeiten/Innenohrstörungen
Therapie
▬ Akute Traumata:
– konservativ (Datenlage im Sinne randomisierter, kontrollierter klinischer Studien insgesamt
schlecht):
– hochdosierte Kortisontherapie, z. B. initial 500 mg
Prednisolon (z. B. Decortin H), anschließend ausschleichendes Schema
– rheologische orale Therapie mit Pentoxifyllin
– Hämodilution, z. B. mit Hydroxyethylstärke 6 %
– hyperbare Sauerstofftherapie bei mangelndem
Ansprechen der medikamentösen Behandlung
3
260
3
Kapitel 3 · Ohr
– operativ:
– Trommelfellschienung bei Trommelfellperforation (Explosionstrauma)
– später ggf. Tympanoplastik/Rekonstruktion der
Gehörknöchelchen
– Tympanotomie bei Verdacht auf Perilymphfistel/
Ruptur eines oder beider Innenohrfenster (Explosions- oder Knalltrauma)
▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit:
– Hörgeräteversorgung
– medikamentöse Therapie zwecklos
– Prophylaxe wichtig (Gehörschutz, Lärmpausen)
Prophylaxe
▬ Gegen Knall- und Explosionstraumata kann man sich
aufgrund der Unvorhersehbarkeit des Ereignisses nur
schwer schützen
▬ Akustische Traumen können durch Schallschutzmaßnahmen und Vermeidung ungünstiger Körperpositionen, z. B. Bohrarbeiten über Kopf in geschlossenen
Räumen, verhindert werden
▬ Akute Lärmtraumata lassen sich durch Lärmschutzmaßnahmen vermeiden
▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit kommt heute wesentlich seltener vor:
– konsequente Lärmschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz (Gehörschutzkappen/-helm)
– regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen
– Lärmpausen, ggf. Lärmkarenz (Unfallverhütungsvorschrift »Lärm«)
> Wichtig
Expositionsprophylaxe – d. h. Lärm reduzieren, Abstand
halten und Gehörschutz tragen – sowie Aufklärung
(junge Erwachsene, Jugendliche, Kinder) sind die wichtigsten Prinzipien zur Verhinderung von Gehörschäden
durch Lärm.
Verlauf und Prognose
▬ Akustischer Unfall: Prognose mäßig/ungünstig, da
häufig eine Hochtonschwerhörigkeit persistiert
▬ Knalltrauma:
– bei so früh wie möglich begonnener Therapie zu
>50 % Rückbildung der Ohrgeräusche und der
Hochtonsenke innerhalb von Tagen und Wochen
– eine über das Trauma hinausreichende Verschlechterung des Hörvermögens ist selten
– ggf. persistierender Tinnitus
▬ Explosionstrauma:
– insgesamt schlechte Prognose für Innenohrkomponente
– komplette Ausheilung kommt selten vor
– gelegentlich nach Jahren weiter progrediente Hörverschlechterungen
– ggf. persistierender Tinnitus, ggf. Ertaubung
▬ Akutes Lärmtrauma: häufig wird nur eine reversible
Störung der Haarzellfunktion (»temporary threshold
shift«) beobachtet, die sich innerhalb von 24 h erholt;
Prognose ist deshalb in einem Teil der Fälle sehr
günstig
▬ Chronische Lärmschwerhörigkeit:
– Verbesserung des Hörvermögens wird nicht beobachtet, allerdings kommt es nach Beendigung der
Lärmeinwirkung zu keiner Progredienz
– ggf. persistierender und psychisch beeinträchtigender Tinnitus
> Wichtig
Bei einer trotz Beendigung der Lärmexposition fortschreitenden Innenohrschwerhörigkeit müssen differenzialdiagnostisch andere Innenohrerkrankungen in Betracht
gezogen werden.
Literatur
Boenninghaus HG (1959) Ungewöhnliche Form der Hörstörung nach
Lärmeinwirkung und Fehlbelastung der Halswirbelsäule. Z Laryngol Rhinol Otol 38: 585–592
Boenninghaus H-G (1979) Ohrverletzungen. In: Berendes J, Link R,
Zöllner F (Hrsg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik.
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647–666
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
3.6.3 Entzündliche Erkrankungen
K. Schwager
Labyrinthitis
Allgemeine Gesichtspunkte
Definition
▬ Seröse oder eitrige Entzündung in den Flüssigkeitsräumen der Hörschnecke und/oder des Gleichgewichtsorgans
Einteilung
▬ Akut: meist toxisch, bakteriell-eitrig oder viral
▬ Chronisch: Borreliose, Lues, immunogen
Ätiopathogenese
▬ Viral, z. B. im Rahmen eines Infekts der oberen Luftwege → seröse Labyrinthitis
▬ Bakteriell: nach Otitis media acuta oder Mastoiditis
oder bei chronischer Otitis media
▬ Pilze (selten)
▬ Postoperative Komplikationen: v. a. nach Mittelohreingriff oder Stapesoperation
▬ Otogen/tympanogen: Fenster (rundes, ovales), Labyrinthfistel, Fehlbildung, Frakturspalt nach Felsenbeinfraktur
– viral: »Respiratory-syncytial«-, Influenza-, Parainfluenza-, Picorna-, Adeno-, Koronavirus
– bakteriell: Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Streptokokken
▬ Meningogen: Meatus acusticus internus, Aquaeductus
cochleae (viral im Kindesalter, bakteriell in jedem
Lebensalter)
– viral: Mumps-, Masern-, Parainfluenzavirus
– bakteriell: Meningokokken, Pneumokokken, Haemophilus influenzae, Mycobacterium tuberculosis
▬ Hämatogen
– bakteriell: Borreliose, Lues (Stadien II und III), Tuberkulose
– mykotisch: Rhizopus, Absidia (Schimmelpilze)
Klinisches Bild
▬ Eitrige Labyrinthitis: akuter, stürmischer Verlauf
▬ Seröse Labyrinthitis: langsamer, teils progredienter,
teils wechselnder Verlauf
▬ Drehschwindel, Übelkeit, Erbrechen
▬ Ausgeprägte Hypakusis, Tinnitus
▬ Nystagmus: Reiznystagmus (zur erkrankten Seite, in
der Anfangsphase)/Ausfallnystagmus (zur Gegenseite)
▬ Symptome der Grundkrankheit (z. B. Meningitis)
261
Diagnostik
▬ Anamnese: vorangegangene Infekte, Trauma, rezidivierende Otitiden
▬ Inspektion: Effloreszenzen an der Ohrmuschel, Otorrhö
▬ Palpation: Mastoidklopfschmerz, schmerzhafter Gehörgangseingang
▬ Ohrmikroskopie: Paukenerguss, pulsierendes Trommelfell, eitrige Otitis media, Cholesteatom, Fraktur (Stufe?)
▬ Hörprüfungen: kombinierte oder reine Innenohrschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes bis
Taubheit
▬ Frenzel-Brille: Reiz-/Ausfallnystagmus; Prüfung Fistelsymptom
▬ »High-resolution«-Computertomographie des Felsenbeins, Magnetresonanztomographie: indirekte Darstellung der Entzündungsreaktion der Innohrstrukturen
mittels Magnetresonanztomographie (»constructive
interference in steady state sequence«), Ausschluss
einer intrakraniellen Fortleitung
▬ Abstrich vom Ohr
▬ Liquordiagnostik: Zellzahl-, Eiweiß- und Zuckererhöhung
▬ Erregeranzüchtung (Spirochäten, Pilze)
▬ Antikörper gegen neurotrope Viren
▬ Serologie: Röteln-, Influenza-, Paramyxo-, Adenoviren, Lues
Differenzialdiagnostik
▬ Zoster oticus, Neurolues
▬ Andere, nichtentzündliche Ursachen für Vertigo oder
Innenohrschwerhörigkeit: v. a. akute vestibuläre Neuropathie, Hörsturz, Barotrauma, Mittelohrverletzungen
Therapie
▬ Ziele:
– Erhaltung der kochleären Leistung
– Förderung der zentralen Kompensation
▬ Maßnahmen:
– konservativ:
– parenterale Gabe liquorgängiger Antibiotika, z. B.
Ceftriaxon, Cefotaxim
– Antivertiginosa bei Nausea und Emesis
– ausreichende Flüssigkeitszufuhr (Elektrolyte i. v.)
– Glukokortikoide zur Verhinderung einer Ertaubung
– operativ:
– Parazentese, Paukendrainage
– Sanierung entzündeter Strukturen: Mastoidektomie, Radikalhöhlenoperation bis zur Labyrinthektomie bei intrakraniellen Komplikationen und/
oder Osteomyelitis
3
262
Kapitel 3 · Ohr
> Wichtig
Bei Ertaubung nach Labyrinthitis, v. a. im Rahmen einer
Meningitis, erfolgt wegen der Gefahr der Verknöcherung/
Obliteration der Schnecke (»white cochlea«) der frühzeitige Einsatz eines Kochleaimplantats.
3
▬ Normalerweise kein Zusammenhang mit Mumpsenzephalitis
▬ Häufigste Ursache der einseitigen hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit oder Taubheit in der Kindheit
Klinisches Bild
Verlauf und Prognose
▬ Schlechte Prognose bezüglich Hörvermögen (z. B.
Röteln, Zytomegalievirus- oder Mumpsinfektion)
▬ Vertigo: aufgrund der zentralen Kompensation relativ
gute Prognose
▬ Komplikationen: Meningitis, Enzephalitis, Epiduralempyem, intrakranielle Abszessbildung, Pyramidenspitzeneiterung, Ertaubung
Virale Labyrinthitis
▬ Geringfügiger, fluktuierender bis kompletter Hörverlust
▬ Vestibuläre Beschwerden (werden bei Kindern oft
übersehen)
▬ Mumpsertaubung korreliert nicht mit Schwere des
Krankheitsbilds
Therapie
▬ Im Anfangsstadium β-Interferon
Einteilung
Prävention
▬ Konnatale virale Labyrinthitis: Röteln, Zytomegalie
▬ Postnatale Infektionen: v. a. Mumps, Masern, Zoster
oticus, Aids
▬ Impfung
Labyrinthitis durch Röteln
▬ Infektion der Mutter im I. Trimenon (v. a. während der
sensitiven Phase der Kochleaentwicklung in der 8. und
9. Schwangerschaftswoche) → beidseitiger Hörverlust
(kochleosakkuläre Hemmungsfehlbildungen vom Typ
Scheibe mit Degeneration des Corti-Organs); außerdem möglich: Blindheit und geistige Retardierung
▬ Inzidenz der Hörschäden: etwa 5 % aller Innenohrschwerhörigkeiten; bei nichtgeimpfter Mutter: ungefähr 50 %
▬ Prävention durch Impfung
▬ Audiologische Frühdiagnostik
Labyrinthitis durch Zytomegalieviren
▬ Durch kongenitale Infektion mit dem Zytomegalievirus ausgelöste Destruktion und Degeneration des
gesamten membranösen Labyrinths
▬ Eulenartige Einschlüsse in Reissner-Membran und
Stria vascularis
▬ Bei peri- und postnataler Infektionen deutlich harmloserer Verlauf
▬ Etwa 5 % der kongenital infizierten Kinder weisen
Symptome auf, außerdem 10–15 % neurologische Defizite inklusive progrediente Hörstörungen
Mumpslabyrinthitis
Definition
▬ Im Verlauf einer Mumpserkrankung (organotropes
Virus) auftretende, in der Regel einseitige Labyrinthitis mit rascher Ertaubung
▬ Meist Einbeziehung des ipsilateralen Vestibularorgans
Masernlabyrinthitis
▬ Gewöhnlich beidseitige Infektion des membranösen
Labyrinths durch Masernviren
▬ Im Kindesalter in der Regel hochgradige oder komplette Funktionseinschränkung des kochleovestibulären Organs; heutzutage selten
▬ Masernviren (wie auch Mumpsviren): organotrope
Viren mit besonderer Affinität zum Innenohr
▬ Degeneration des Corti-Organs mit Verlust der Spiralganglienzellen und des vestibulären Organs
Zoster oticus
▬ Infektion mit neurotropem Varizella-Zoster-Virus
(Reaktivierung: # Kap. 2.2.3, »Infektionen durch Herpesviren«)
▬ Kombinierte Läsion des VII. und VIII. Hirnnervs
▬ Innenohrschwerhörigkeit unterschiedlichen Ausmaßes, ggf. Ertaubung (retrokochleär bedingt)
▬ Virostatische Therapie (Aciclovir i. v.), Kortison
Seröse und toxische Labyrinthitis
▬ Funktionsstörung des Labyrinths durch otogene oder
meningogene Bakterientoxine im Verlauf einer ansonsten limitierten bakteriellen Infektion
▬ Sonderform: nach Tympanoplastik (v. a. bei Stapesfixation durch Tympanosklerose) → Übertritt von Toxinen durch die arrodierte Stapesfußplatte, z. B. nach
Mobilisation des Stapes (Effodation)
Bakterielle Labyrinthitis
Häufigkeit
▬ Seit Einführung der Antibiotika selten, noch als postoperative Komplikation nach Mittelohreingriffen
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Übertragungswege und klinisches Bild
▬ Otogen/tympanogen:
– bei akuter bakterieller Entzündung durch das
runde und/oder ovale Fenster (erhöhte Permeabilität durch Toxine), Labyrinthfistel, Fehlbildung oder
Frakturspalt nach Felsenbeinfraktur (sekundäre Infektion)
– Einteilung:
– akute toxische (seröse) Labyrinthitis
– akute eitrige Labyrinthitis
– chronische Labyrinthitis
– ossifizierende (sklerosierende) Labyrinthitis
– Sonderform: zirkumskripte Labyrinthitis, z. B.
bei Fisteln des horizontalen Bogengangs
– häufigste Erreger: Pneumokokken, Haemophilis
influenzae, β-hämolysierende Streptokokken der
Gruppe A, selten Escherichia coli oder Streptococcus pneumoniae
– klinisches Bild: schweres Krankheitsgefühl, hohes
Fieber, Zellzahlerhöhung im Liquor
– akut: massivster Drehschwindel und Hörverlust;
tägliche audiometrische Verlaufskontrollen indiziert
– chronisch: gradueller oder plötzlicher Hörverlust, rezidivierende Schwindelanfälle mit Übelkeit
▬ Meningogen:
– Meatus acusticus internus, Aquaeductus cochleae
→ häutiges Labyrinth
– Meningo- und Pneumokokken-, Haemophilus influenzae Typ b (v. a. bei Kindern)
– klinisches Bild:
– allgemeine Meningitissymptomatik, Schwindel,
Erbrechen
– nach Ausheilung der Meningitis kann ein einoder beidseitiger, oft fluktuierender Hörverlust
bzw. eine ein- oder beidseitige komplette Ertaubung resultieren; Hörverlust wird bei Kindern oft
übersehen
> Wichtig
Nach einer Meningitis sollte immer eine audiologische
Untersuchung erfolgen.
▬ Hämatogen: Infektion des membranösen Labyrinths
durch Borrelien, Treponema pallidum (Otosyphilis; kongenital oder erworben) oder Mycobacterium
tuberculosis oder durch eine generalisierte Mykose
Therapie
▬ Fokussanierung (alle entzündlich veränderte Knochenstrukturen des Felsenbeins): Parazentese/Pau-
▬
▬
▬
▬
▬
263
kendrainage, erweiterte Antrotomie, Mastoidektomie,
Cholesteatomsanierung, Labyrinthektomie (in Abhängigkeit vom Befund)
Sofortige, hochdosierte Antibiotikatherapie (z. B. Cephalosporine der 3. Generation, ggf. Chloramphenicol), ggf. intratympanal; erregerspezifische Therapie
(Tuberkulose, Mykose)
Kortikosteroide, Antivertiginosa
Bei postoperativer Komplikation nach Mittelohr-/
Stapesoperation frühzeitige Revisionsoperation, Entnahme der Prothese/Abdichten beider Fenster
Borreliose: Antibiotika in Abhängigkeit vom Stadium
(z. B. Cefotaxim in den Stadien II und III)
Lues: Penicillin- und Kortisongabe über Monate bis
Jahre
Verlauf und Prognose
▬ Bei rechtzeitiger adäquater Therapie quoad vitam
gut, jedoch oft bleibende kochleovestibuläre Störungen
▬ Komplikation: ossifizierende Labyrinthitis (Neubildung von Bindegewebe und Knochen im häutigen
Labyrinth) → »white cochlea« (Maximalform mit
Verknöcherung des häutigen Labyrinths)
Immunkrankheiten des Innenohrs
Definition und Systematik
▬ Eigentliche (primäre) Immunkrankheiten des Innenohrs
▬ Systemische, nichtorganspezifische Autoimmunerkrankungen
▬ # Kap. 3.6.4, »Hörstörungen« → »Immunassoziierte
Schwerhörigkeit«
Ätiologie
▬ Erkrankungen des Innenohrs mit Degeneration der
Sinneszellen aufgrund einer Immunreaktion
▬ Immunkrankheiten als Ursache werden für alle Innenohrerkrankungen (Hörsturz, Morbus Menière)
immer wieder postuliert, klare Entitäten sind bis
heute jedoch nur in Ausnahmefällen definiert
Laborparameter
▬ Typisches immunologisches Expressionsmuster selten
nachweisbar:
– verminderte T-Suppressorzell-Aktivität
– gesteigerte Lymphozytenproliferation
– Autoantikörper (antinukleäre Antikörper – ANA)
nachweisbar
– erhöhte Konzentration des interferonstimulierten
Gens (ISG)
3
264
Kapitel 3 · Ohr
Literatur
3
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das Risiko einer Innenohrschädigung bei Effodation. Laryngorhinootologie 79: 758–761
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Laryngorhinootologie 74: 408–412
Ruckenstein MJ (2004) Autoimmune inner ear disease. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 12: 426–430
3.6.4 Neurootologische
Erkrankungen
Hörstörungen
S. Plontke
Übersicht und Einleitung
▬ Laut WHO leiden weltweit etwa 250 Mio. Menschen
unter mittel- bis hochgradiger Schwerhörigkeit; Hörstörungen im Erwachsenenalter stehen auf Platz 15
der häufigsten Ursachen des »global burden of disease« und auf Platz 2 der häufigsten Ursachen für
»years lived with a disability«; in der BRD leiden
ungefähr 14 Mio. Menschen und damit fast 20 % der
Bevölkerung an Hörproblemen
▬ Bei der Mehrzahl der Betroffenen: Schwerhörigkeit
durch eine Funktionsstörung des Innenohrs
▬ Sensorineurale Schwerhörigkeit gehört zu den häufigsten chronischen Erkrankungen und ist durch eine
erhöhte Hörschwelle gekennzeichnet, i. A. begleitet
von:
– eingeschränkter Dynamikbereich
– Verschlechterung des Sprachverstehens, v. a. vor
Hintergrundlärm
– häufig Ohrgeräusche (Tinnitus)
▬ Symptome führen zu Kommunikationsstörungen mit
Sprachentwicklungsverzögerung (bei Kindern) und
nicht selten zu sozialem Rückzug, Isolation, Einsamkeit sowie evtl. Schlafstörungen und Depressionen
▬ Innenohrschwerhörigkeit durch irreversible Schädigung oder Verlust von Haarsinneszellen oder von
anderen physiologisch wichtigen Gewebestrukturen
im Innenohr hervorgerufen:
– Lärmexposition im Arbeits- und zunehmend auch
im Freizeitbereich
– ohne erkennbare Ursache im Rahmen eines sog.
Hörsturzes
– gehörschädigende Medikamente (ototoxische Antibiotika und Zytostatika) und andere ototoxische
Substanzen
– bakterielle oder Virusinfektionen, v. a. im Kindesalter (Mumps, Masern, Röteln, Diphtherie, Scharlach)
– genetisch bedingt
▬ Exposition gegenüber Berufs- und Freizeitlärm: häufigste Ursache einer erworbenen Innenohrschwerhörigkeit
▬ Zusätzlich zur Funktionsstörung des Innenohrs kommen retrokochleäre Funktionsstörungen vor (bilden
gemeinsam die sensorineurale oder Schallempfindungsschwerhörigkeit)
Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit: »Hörsturz« und akute Taubheit30
Definition
▬ Ohne erkennbare Ursache plötzlich auftretende, in
der Regel einseitige Schallempfindungsschwerhörigkeit kochleärer Genese unterschiedlichen Schweregrads bis hin zur Ertaubung; Schwindel und/oder
Ohrgeräusche zusätzlich möglich31; neurologische
und ophthalmologische Begleitsymptome liegen
nicht vor
▬ Symptom wird über den Ausschluss bekannter Ursachen zur Diagnose
Epidemiologie
▬ Inzidenz: 5–20 Neuerkrankungen/100.000 Einwohner/Jahr (Schätzungen der Kostenträger in Deutschland: bis zu 290/100.000 Einwohner/Jahr)
▬ Häufigkeitsmaximum um 50.–60. Lebensjahr, sehr
selten im Kindes- und Jugendalter
▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen
▬ Rechtes und linkes Ohr annähernd gleich häufig betroffen (etwa 44 % rechts, ungefähr 53 % links)
Ätiopathogenese
▬ Per definitionem hat der Hörsturz keine erkennbare
Ursache (idiopathisch); folgende Hypothesen zur Pathogenese werden diskutiert:
– Störungen der Durchblutung (Gefäßdysregulationen, z. B. durch Vasospasmus und/oder Endothelschwellungen und Dysfunktionen und/oder rheologische Störungen)
30
31
Teile dieses Kapitels zitiert aus: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004)
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
– Störungen der Ionenkanäle der Haarzellen mit zellulärer Dysfunktion
– synaptische Störungen infolge Neurotransmitterdysfunktion (Insuffizienz oder Toxizität)
– efferente Fehlsteuerungen
– Störungen der Ionenkanäle der Zellen der Stria vascularis mit nachfolgenden Elektrolytstörungen in
der Endolymphe, u. U. mit Hydrops
– entzündliche Veränderungen (z. B. endolymphatische Sakkitis)
– Autoimmunprozesse32
– Taubheit und an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit; wahrscheinliche Pathogenese: (thrombotischer/embolischer/spastischer) Verschluss der
A. cochlearis communis oder der A. spiralis modioli mit hypoxischer strialer Insuffizienz
– Sonstige: Tonschwellenverläufe, die sich weder in
die bereits genannten Gruppen einordnen noch bestimmten Innenohrschwerhörigkeitstypen zuordnen lassen; im weiteren Sinne auch stark fluktuierende Hörschwellen und Hörsturz mit Progredienz
der Schwerhörigkeit unter Therapie, z. B. infolge
Liquordruckänderung und/oder immunpathologischer Mechanismen
Prädisponierende Faktoren bzw.
Begleiterkrankungen
▬
▬
▬
▬
Herz-Kreislauf-Erkrankungen (25 %)
Endokrine bzw. Stoffwechselerkrankungen (7 %)
Chronische Entzündungen (5 %)
Halswirbelsäulenerkrankungen (4 %)
Einteilung
▬ Beispielsweise hinsichtlich Frequenzbereich und
Schweregrad (laut Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und
Hals-Chirurgie):
– Hochtonhörverlust (Hochtoninnenohrschwerhörigkeit); wahrscheinliche Pathogenese: Insuffizienz
der äußeren (Innenohrschwerhörigkeit bis zu einem Hörverlust von etwa 50 dB) und/oder inneren Haarzellen (Innenohrschwerhörigkeit ab einem
Hörverlust von ungefähr 60 dB)
– Tieftonhörverlust (Tieftoninnenohrschwerhörigkeit); wahrscheinliche Pathogenese: endolymphatischer Hydrops oder lokale Durchblutungsstörung
mit hypoxischer Gewebeschädigung und Störung
der Elektrolythomöostase
– pankochleärer Hörverlust; wahrscheinliche Pathogenese: Funktionsbeeinträchtigung der Stria vascularis und/oder der zuführenden Gefäße im Sinne
einer Durchblutungsstörung mit Gewebehypoxie;
da alle Frequenzen betroffen sind, werden bereits
geringe Hörverluste subjektiv als schwerwiegend
empfunden
– Mittelfrequenzhörverlust (»wannenförmige Senkenbildung«, Mitteltoninnenohrschwerhörigkeit);
wahrscheinliche Pathogenese: lokale Durchblutungsstörungen mit hypoxischen Schäden des Corti-Organs, Gendefekte
32
s. auch Einteilung laut Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie für mögliche pathogenetische Mechanismen
265
Klinisches Bild
▬ In der Regel einseitiges Auftreten, nur ausnahmsweise
synchron beidseitig (→ systemische Ursache wahrscheinlich)
▬ Primäre Symptome (in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit):
– akute subjektive Hörminderung bis vollständiger
Hörverlust
– Tinnitus
– Druckgefühl im Ohr
– Schwindel
– Hyper-/Dys-/Diplakusis
– pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale
Dysästhesie)
▬ Sekundäre Symptome (Beispiele):
– Angst
– inadäquate Krankheitsbewältigung
– weitere psychosomatische Beeinträchtigungen
Diagnostik33
▬ Notwendig:
– Anamnese
– Ohrmikroskopie
– Hörprüfung (Stimmgabel, Tonaudiometrie)
– Tympanometrie
– Vestibularisprüfung, Elektronystagmographie, Videookulographie
– transitorisch evozierte otoakustische Emissionen/
Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen
oder 2 Recruitment-Tests
– Hirnstammaudiometrie (Cave: Lärmbelastung)
– Vestibularisprüfung
– Blutdruckmessung
– Labordiagnostik: kleines Blutbild, Hämoglobinkonzentration, Hämatokrit
33
adaptiert nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie DGHNO (2004)
3
266
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ In bestimmten Fällen indiziert:
– erweiterte audiologische Diagnostik:
– Sprachaudiometrie: Grad der Einschränkung der
Kommunikationsfähigkeit (Prüfung des Sprachverstehens – v. a. vor Hintergrundlärm – relevanter als Tonaudiometrie)
– Stapediusreflexmessung (Cave: Lärmbelastung!)
zur Topodiagnostik, insbesondere wenn keine
otoakustischen Emissionen gemessen werden
– Elektrokochleographie (Cave: Lärmbelastung):
kochleärer Schaden, Ausschluss eines Hydrops
– »cortical evoked response audiometry« (Cave:
Lärmbelastung): Ausschluss einer »psychogenen
Taubheit«
– Labordiagnostik:
– Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, Konzentration des C-reaktiven Proteins, Differenzialblutbild, Kreatinin- und Fibrinogenspiegel, Lipiddifferenzierung (z. B. »low density lipoproteins«, Cholesterin) bei Verdacht auf metabolische
Störung oder Niereninsuffizienz, antinukleäre
und Antiphospholipidantikörper
– Serologie: Borrelien, Lues, Herpesvirus Typ 1,
Varizella-Zoster-Virus, HIV bei Verdacht auf
entzündliche Genese
– bildgebende Diagnostik:
– Magnetresonanztomographie (Cave: Lärmbelastung!): Ausschluss einer (vorangegangenen)
Labyrinthitis oder einer intrakraniellen Ursache
(zerebral oder Kleinhirnbrückenwinkeltumor,
v. a. Vestibularisschwannom)
– »High-resolution«-Computertomographie von
Schädel und Felsenbein, Computertomographie
der Halswirbelsäule
– Dopplersonographie: Halsgefäße und Aa. vertebrales
– sonstige Diagnostik:
– Glyzeroltest: Ausschluss eines endolymphatischen Hydrops
– funktionelle Untersuchung der Halswirbelsäule
bei Verdacht auf halswirbelsäulenbedingte Ursachen (inklusive Röntgenuntersuchung)
– Tympanoskopie: Ausschluss einer Perilymphfistel
– interdisziplinäre Untersuchungen: z. B. Neurologie, Innere Medizin, Orthopädie, Humangenetik
! Cave
Bei akuten Hörstörungen inklusive akutem Tinnitus
sollten überschwellige Hörtests (Hirnstamm- und
Sprachaudiometrie, Recruitment-Tests, Stapediusreflexmessung, Elektrokochleographie, »cortical evoked
response audiometry«) wegen der Gefahr einer Lärmbelastung in einem zeitlichen Abstand von mindestens
einer Woche durchgeführt werden, wenn die Pegel
einen Wert von etwa 70 dB SPL bei Reintönen oder von
80 dB SPL bei Impulsen überschreiten. Gleiches gilt
für die Magnetresonanztomographie – es sei denn, es
sprechen dringende medizinische Erwägungen dagegen. Die Erstellung des Tonschwellenaudiogramms ist
hiervon ausgenommen.34
Differenzialdiagnostik
▬ »Hörsturz« (Ausschlussdiagnose)
▬ Differenzialdiagnostische Erwägungen
– symptomatisch: v. a. Zeruminalpfropf
– akustische Innenohrschäden
– bakterielle Labyrinthitis: z. B. bei Mittelohrentzündung, Lues, Borreliose
– virale Infektion (z. B. Herpes zoster, Mumps, Adenovirus- oder HIV-Infektion)
– Enzephalitis disseminata (Multiple Sklerose)
– autoimmunassoziierter akuter Hörverlust
– toxische Einflüsse: z. B. Arzneimittel, Drogen, Gewerbegifte
– Vestibularisschwannom und andere Tumoren,
Hirnstamm- und Felsenbeingeschwülste, intrazerebrale Metastasen
– dialysepflichtige Niereninsuffizienz
– innere und äußere Perilymphfistel
– Barotrauma
– Funktionsstörungen der Halswirbelsäule: z. B. Trauma, Fehlstellung
– Liquorverlustsyndrom (z. B. nach Liquorpunktion)
– Meningitis
– hereditäre (genetische) Innenohrschwerhörigkeit,
Innenohrfehlbildung
– genetisch bedingte Syndrome: z. B. Usher- oder
Pendred-Syndrom
– hämatologische Erkrankungen: z. B. Polyglobulie,
Leukämie, Exsikkose, Sichelzellenanämie
– Herz-Kreislauf-Erkrankungen: z. B. (relative) Hypotonie, Operation am offenen Herzen
– dissoziative (psychogene) Hörstörungen
– andere, seltene Ursachen: z. B. von-Hippel-LindauSyndrom (selten; genetische Erkrankung aus dem
Formenkreis der sog. Phakomatosen mit multiplen
Angiomen, zum Teil maligne, in Retina, Zentralnervensystem, Nieren und anderen Organen)
34
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie DGHNO (1998), AWMF-LeitlinienRegister 017/059
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Therapie
Allgemeine Prinzipien der Hörsturztherapie
(# Kap. 13.4)
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Glukokortikoide
Rheologische Therapie
Ionotrope Therapie
Reduktion des Endolymphvolumens
Antioxidanzien
Thrombozytenaggregationshemmung
Fibrinogenspiegelsenkung durch Apherese
Hyperbare Oxygenierung
Tympanoskopie zum Verschluss einer Perilymphfistel
▬ Evidenzniveau der Datenlage zur Therapie insgesamt
niedrig (international nur sehr wenige kontrollierte,
randomisierte Studien mit hohem Evidenzniveau35;
# Kap. 13.4)
▬ Kein Notfall, vielmehr Eilfall (Therapie sollte in den
ersten Tagen nach dem Ereignis einsetzen; # Kap. 24.3.1,
»Schwerhörigkeit«)
▬ Therapie orientiert sich an vermuteter Pathophysiologie/Hypothesen
Verlauf und Prognose
▬ Spontanremissionsrate nicht gut bekannt, wird jedoch v. a. bei jungen Patienten und geringgradigen
Hörverlusten als hoch eingeschätzt (Vollremission in
bis zu 68 % der Fälle)
▬ Günstigste Prognose (auch bezüglich Schwindel und
Tinnitus) bei isolierter Schwerhörigkeit im Tieftonoder Mittelfrequenzbereich und leichtgradigen Hörverlusten
▬ Ungünstige Prognose:
– mit zunehmendem Hörverlust
– bei primär an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit
oder Taubheit
– bei zusätzlichen objektivierbaren Gleichgewichtsstörungen
▬ Rezidivhäufigkeit: etwa 30 %, v. a. bei Hörstürzen im
Tief- und Mittelfrequenzbereich
Sonderformen des Hörsturzes:
beiderseitiger Hörsturz und konsekutiver
Hörsturz des kontralateralen Ohres
Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie
▬ Siehe oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«
267
▬ Ausführliche Anamnese und interdisziplinäre Abklärung (ophthalmologisch, neurologisch, internistisch),
v. a. für Feststellung möglicher systemischer Ursachen
Angeborene, perinatal und postnatal erworbene
sensorineurale Schwerhörigkeit
▬ Hereditär:
– syndromal
– nichtsyndromal: häufige Mutation z. B. im »Gapjunction«-β2-Gen, welches das Zellverbindungsprotein Connexin 26 kodiert → Störung des K+Transports in der Kochlea (# Kap. 2.1.4)
▬ Pränatal erworben:
– Toxoplasmose, Zytomegalie: jeweils zentralnervöse
Symptome und beidseitige, variabel ausgeprägte
sensorineurale Schwerhörigkeit
– Rötelnembryopathie: komplexe Schädigung des
Fötus mit Herzfehlern, Mikrozephalie, psychomotorischer Retardierung, Amaurose sowie Entwicklungsstörung des Mittel- und Innenohrs mit meist
beidseitiger Taubheit und Vestibularisausfall
– konnatale Lues: progrediente Degeneration des Innenohrs, variable sensorineurale Schwerhörigkeit,
vestibuläre Funktionsstörung (# Kap. 2.2.3, »Syphilis«)
– medikamentös/Noxen: Thalidomid, Alkohol, Nikotin
▬ Perinatal erworben:
– Hyperbilirubinämie mit Kernikterus: Bilirubinablagerung in Hörbahn und auch Kochlea möglich, mittel- bis hochgradige sensorineurale Schwerhörigkeit
– Asphyxie: hypoxische Schädigung von Kochlea
und Hörbahn, nichtprogrediente sensorineurale
Schwerhörigkeit unterschiedlicher Ausprägung
– Frühgeburt (Geburtsgewicht von <1500 g): nichtprogrediente sensorineurale Schwerhörigkeit unterschiedlicher Ausprägung
▬ Postnatal erworben: Meningitis, Enzephalitis, Labyrinthitis, ototoxische Medikamente, Felsenbeinfraktur
Altersassoziierte Schwerhörigkeit (»Presbyakusis«,
»Altersschwerhörigkeit«)
Definition
▬ Multifaktoriell bedingte, bei den meisten Menschen
auftretende, etwa im 5. Lebensjahrzehnt beginnende,
symmetrische, langsam progrediente sensorineurale
Schwerhörigkeit
! Cave
35
Übersicht in: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-NasenOhren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (2004); Plontke (2005)
Nicht jede Schwerhörigkeit im Alter ist eine »Presbyakusis«.
3
268
Kapitel 3 · Ohr
Einteilung
▬ Peripherer Typ: sensorischer (Verlust von Haar-
3
zellen), neuraler (Degeneration von Nervenzellen),
metabolischer/strialer (Degeneration der Stria vascularis) und möglicher Innenohrschallleitungstyp
(Degeneration des Lig. spirale, Versteifung der Basilarmembran)
▬ Zentraler Typ: Verminderung oder Verlust der Neurotransmission
Epidemiologie
▬ Weltweit 400 Mio. Menschen betroffen
▬ 35 % der Bevölkerung über 70 Jahren in Industriestaaten leidet unter einer Hörverschlechterung (z. B.
Großbritannien: 92 % der über 60-Jährigen weisen
einen Hörverlust von >25 dB auf)
▬ Nach Schätzungen im Jahre 2050 weltweit 900 Mio.
Menschen betroffen
Ätiologie
▬ »Physiologische Degeneration«
▬ Genetische Disposition
▬ Summe aller endogenen und exogenen schädigenden
Einflüsse (ototoxische Medikamente und Chemikalien, Lärmexposition, Rauchen, Infektionen, internistische und neurologische Erkrankungen)
Pathogenese
▬ Degeneration peripherer und zentraler Anteile des
Hörsystems (Sinnes- und Stützzellen in Innenohr und
Stria vascularis, Ggl. spirale, Kerne der auf- und absteigenden Hörbahn)
▬ Zusätzliche Problematik durch (mögliche) begleitende Affektion von Kognition und Aufmerksamkeit
Differenzialdiagnostik
▬ »Presbyakusis« ist eine Ausschlussdiagnose
Die unterschiedlichen Anteile, die zum diagnostizierten Hörverlust beitragen, sind zu evaluieren bzw.
andere Ursachen sind auszuschließen
Therapie
▬ Rechtzeitige beidseitige Hörgeräteversorung (hilft
häufig auch gegen Tinnitus), ggf. Hörgeräte auf Probe,
die bei subjektiv oder objektiv unzureichendem Erfolg zurückgegeben werden können
▬ Bei hochgradiger Schwerhörigkeit auch Lippenablesetraining
▬ Nutzung verfügbarer Hilfsmittel: Telefonverstärker,
optische Rufanlagen (Türklingel)
▬ Aktive Integration, ggf. psychotherapeutische Intervention
▬ Medikamentös: bisher keine in Studien gesicherte
medikamentöse Therapie; Behandlungsversuche mit
Rheologika, Tebonin und Antioxidanzien möglich,
ggf. Versuch bei akutem Schub oder rascher Progredienz
Verlauf und Prognose
▬ Fortschreitend (differenzialdiagnostische Abgrenzung
gegenüber Lärmschwerhörigkeit: schreitet nicht fort)
▬ Individuell sehr unterschiedliche Verläufe
▬ Komplikationen: erhebliche Einschränkung der
Kommunikation, psychosoziale Isolation, Depressionen
Progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit
Langsam progrediente sensorineurale
Schwerhörigkeit
Differenzialdiagnostik
Klinisches Bild
▬ Allmählich progrediente, symmetrische, hochtonbetonte sensorineurale Schwerhörigkeit
▬ Vor allem Probleme beim Sprachverstehen bei Störgeräuschen (Cocktailparty-Effekt) und beim »recruitment« (eingeschränkter Dynamikbereich, Unbehaglichkeit in geräuschvoller Umgebung)
▬ Tinnitus!
Diagnostik
▬ Ausführliche Anamnese inklusive Familien-, Berufsund Freizeitanamnese
▬ Ton- und Sprachaudiometrie (ggf. auch im Störgeräusch): symmetrische, meist ab etwa 1 kHz schräg
abfallende oder auch pankochleäre Tongehörschwelle
(Schwerhörigkeit jenseits der Norm ISO 1999), Diskriminationsverlust, Recruitment-Tests meist positiv
▬ Lärmschwerhörigkeit
▬ Atersassoziierte Schwerhörigkeit (»Presbyakusis«;
s. oben)
▬ Hereditäre (genetisch bedingte) Schwerhörigkeit:
angeboren oder Beginn zu unterschiedlichen Zeitpunkten, syndromal oder nichtsyndromal (# Kap.
2.1.4)
▬ Retrokochleäre Neubildungen
▬ Endokrine Erkrankungen: Hypothyreoidismus, Diabetes mellitus
▬ Metabolische Erkrankungen: chronische Niereninsuffizienz, Hyperlipoproteinämie
▬ Mukopolysaccharidose
▬ Morbus Paget
▬ Chronische Otitis media (kombinierte Schwerhörigkeit)
▬ Otosklerose (kombinierte Schwerhörigkeit)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Rasch progrediente sensorineurale Schwerhörigkeit
Diagnostik
▬ Ausführliche systemübergreifende Anamnese
▬ Interdisziplinäre Diagnostik entsprechend der Verdachtsmomente
▬
Differenzialdiagnostik
▬
▬ Immunassoziierte Innenohrschwerhörigkeit (primäre
und sekundäre Autoimmunerkrankung des Innenohrs)
▬ Meningeosis carcinomatosa
▬ Vaskulitis (sekundär infektionsbedingt)
▬ Neuroborreliose
▬ Ototoxizität
Therapie
▬ Entsprechend der Ursache
Immunassoziierte Schwerhörigkeit
Allgemeine Aspekte
▬
▬
269
exposition fähig ist (Voraussetzung: intakter Saccus
endolymphaticus; dort immunkompetente Zellen)
Bei steriler Labyrinthitis im Tiermodell z. B. Haarsinneszellverluste, Fibrose und Osteoneogenese
Mögliche Rolle eines Antikörpers, welcher an ein
68 kD großes bovines Innenohrantigen bindet
Tiermodelle systemischer Autoimmunerkrankungen
(systemischer Lupus erythematodes): Hörschwellenverschlechterung, Degeneration der Stria vascularis,
Antikörperablagerung in den Kapillaren der Stria
Felsenbeinstudien an Patienten mit Cogan-Syndrom,
Polyarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose oder
Lupus erythematodes: Hinweise auf 2 verschiedene
pathogenetische Mechanismen:
– Fibrose und Osteoneogenese als Endstadien einer
Entzündung
– Ischämie und zelluläre Atrophie ohne Entzündung
(am ehesten durch unspezifische Vaskulitis)
Einteilung
Klinisches Bild
▬ Primäre Autoimmunerkrankung des Innenohrs
▬ Sekundäre (systemische, nichtorganspezifische) Autoimmunerkrankung des Innenohrs, z. B. CoganSyndrom, systemischer Lupus erythematodes, Wegener-Granulomatose; Sklerodermie, Dermatomyositis,
chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Colitis
ulcerosa, Morbus Crohn)
▬ Rasch progrediente (über Wochen oder Monate),
bilaterale (initial auch unilaterale), sensorineurale
Schwerhörigkeit
▬ Fluktuationen des Hörvermögens möglich, tendenziell progrediente Verschlechterung der Hörschwelle
▬ Bei 50 % der Patienten auch Schwindel, bei 20 %
Drehschwindelattacken wie bei Morbus Menière
Definition und Epidemiologie (primäre »autoimmune inner ear disease«, AIED)
Diagnostik
▬ Nach McCabe (1979): rasch progrediente (über Wochen oder Monate), bilaterale, sensorineurale Schwerhörigkeit, die sich therapeutisch mit Immunsuppressiva beeinflussen lässt
▬ Selten
▬ Wegen des Fehlens eines eindeutigen diagnostischen
Tests nicht genau zu bestimmen
▬ Frauen zwischen dem 17. und 42. Lebensjahr häufiger
betroffen als Männer
▬ In 20 % der Fälle in den Folgejahren Auftreten einer
systemischen Autoimmunerkrankung
Ätiologie
▬ Autoimmunprozesse (als Ätiologie bisher nicht schlüssig bewiesen)
Pathogenese
▬ Wichtige Zielstrukturen: Saccus endolymphaticus,
Stria vascularis; bisher kein exakt analoges Tiermodell vorhanden; wichtig jedoch, dass Innenohr nicht
vom Immunsystem abgeschottet ist, sondern zur
Immunantwort auf lokale und systemische Antigen-
▬ Anamnese (Zeitverlauf) mit Berücksichtigung von
Augensymptomen/-erkrankungen und Zeichen von
Nephritis, Arthritis, Sinusitis, Atemwegserkrankungen oder entzündlichen Darmkrankheiten
▬ Audiologische Diagnostik (s. oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«),
monatliche tonaudiometrische Verlaufskontrollen
▬ Serologische Diagnostik:
– serologische Tests zur Diagnostik einer primären
»autoimmune inner ear disease« existieren bisher
nicht (Vorhandensein von Anti-Hitzeschockprotein-70-Antikörpern kann die Erkrankung nicht
eindeutig bestätigen, und ihr Fehlen kann sie nicht
ausschließen)
> Wichtig
Die Diagnosestellung einer primären Autoimmunerkrankung des Innenohrs erfolgt klinisch.
– Ausschluss einer sekundären Autoimmunerkrankung des Innenohrs: Rheumafaktor, antinukleäre
Antikörper, Anti-DNA-, Anti-SSA/B- und Antiphospholipidantikörper, C3- und C4-Komplementfaktoren, zirkulierende Immunkomplexe
3
270
Kapitel 3 · Ohr
▬ Magnetresonanztomographie
▬ Ansprechen auf (ex juvantibus verabreichte) Immunsuppressiva
Differenzialdiagnostik
3
▬ Hörsturz (bei »autoimmune inner ear disease« bilaterale, progredient über Wochen und Monate verlaufende Schwerhörigkeit; kein Eilfall, therapeutisches
Fenster wesentlich größer)
▬ Morbus Menière
▬ Otosyphilis
▬ Multiple Sklerose
▬ Malignomerkrankungen mit Durabeteiligung (Metastasen, Lymphome)
Therapie
▬ Immunsuppressive Therapie mit Glukokortikoiden
oder anderen Immunsuppressiva (# Kap. 13.4)
▬ Hörgeräteversorgung, Kochleaimplantat (# Kap. 20.1)
Verlauf und Prognose
▬ Meist mehrmonatige Therapie mit Glukokortikoiden erforderlich (bis Stabilisierung der Hörschwelle);
Rückfälle möglich, auch glukokortikoidresistente
▬ Progression bis zur bilateralen Taubheit möglich
▬ Komplikationen durch chronische Glukokortikoideinnahme oder Therapie mit Zytostatika
Systemische nichtorganspezifische Autoimmunkrankheiten
Cogan-Syndrom
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ Verlauf: unbehandelt progrediente Hörstörung bis Ertaubung, beidseitiger Vestibularisausfall
▬ Diagnostik: Autoantikörper im Korneagewebe
Wegener-Granulomatose
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ Mittelohrentzündung in etwa 30 %, Innenohrbeteiligung in ungefähr 10 % der Fälle
Systemischer Lupus erythematodes
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ Schubweise Innenohrschwerhörigkeit
Rezidivierende Polychondritis
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ In etwa 40 % der Fälle Innenohrschwerhörigkeit
Morbus Behçet
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen« u. 6.4.3
▬ In ungefähr 40 % der Fälle Innenohrbeteiligung mit
sensorineuraler Schwerhörigkeit und rezidivierenden
Schwindelanfällen
Panarteriitis nodosa
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ Einzelbeobachtungen von Innenohrstörungen
Arteriitis temporalis
▬ # Kap. 2.3.4, »Autoimmunkrankheiten, Granulomatosen und Kollagenosen«
▬ Einzelfallberichte über Innenohrstörungen
Auditorische Synaptopathie/Neuropathie
Definition
▬ Sensorineurale Schwerhörigkeit, die das Sprachverstehen stark einschränkt, wobei das Tonschwellengehör interindividuell stark variiert
Einteilung
▬ Klinisch-audiologische Differenzierung der exakten
Lokalisation der Störung derzeit nicht möglich (übergreifender Begriff der auditorischen Synaptopathie/
Neuropathie)
▬ Auditorische Verarbeitungsstörung, die gegenüber
zentralen auditorischen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen abgegrenzt werden muss
Epidemiologie
▬ Prävalenz: bis zu 11 % der schwerhörigen Kinder
▬ Erwachsene: keine Angaben
Ätiopathogenese
▬ Auditorische Synaptopathie:
– Verlust oder Funktionsstörung der inneren Haarsinneszellen und ihrer Synapsen sowie Störung der
synaptischen Schallkodierung
– hereditär: autosomal-rezessive prälinguale Schwerhörigkeit (DFNB9; Otoferlin-Defekt: Mutation
Q829X des OTOF-Gens ist die dritthäufigste für
die prälinguale, hochgradige Schwerhörigkeit verantwortliche Mutation)
– erworben: Schalltrauma (vermutet), Carboplatinototoxizität
▬ Auditorische Neuropathie:
– Verlust oder Funktionsstörung der Spiralganglienneurone mit gestörter Initiierung bzw. Fortleitung des Aktionspotenzials
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
– hereditär: hereditäre motorische und sensorische
Neuropathien
– erworben: z. B. metabolische Neuropathien (diabetische Neuropathie, Hypothyreose)
▬ Mischformen: im Verlauf sekundärer Verlust von Spiralganglienneuronen bei synaptischem Defekt
Risikofaktoren
▬ Hyperbilirubinämie
▬ Anoxie/Hypoxie/protrahierte Beatmungspflicht
▬ Extreme Unreife (Geburt vor der 28. Schwangerschaftswoche)
▬ Demyelinisierende und axonale Neuropathien
▬ Genetische Faktoren (syndromale Erkrankungen)
Klinisch-audiologisches Erscheinungsbild
▬ Objektive Kriterien:
– pathologische/fehlende frühe akustisch evozierte
Potenziale bei Nachweis otoakustischer Emissionen
und/oder kochleärer Mikrophonpotenziale
– nicht oder mit stark erhöhter Schwelle nachweisbare Stapediusreflexe
– fehlende kontralaterale akustische Suppression der
otoakustischen Emissionen
▬ Subjektive Kriterien:
– Tonschwellenaudiometrie: unterschiedlich ausgeprägter Hörverlust (geringgradig bis Anakusis),
häufig fluktuierend
– im Vergleich zum Tonaudiogramm zu schlechtes
Sprachverständnis, insbesondere im Störgeräusch
– schlechte Performance bei psychophysischen Tests
der zeitlichen Hörverarbeitung
– nur geringer Nutzen einer Hörgeräteversorgung
Diagnostik
▬ 2-stufiges diagnostisches Vorgehen
Altersabhängige 2-Stufen-Diagnostik bei
Verdacht auf auditorische Synaptopathie/
Neuropathie. Nach Moser et al. (2006)
▬ Basisdiagnostik:
– Neugeborene:
– Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/
transitorisch evozierte otoakustische Emissionen
– Tympanometrie (1-kHz-Sondenton)
– Stapediusreflexe
– Klick-Schwellen-FAEP (frühe akustisch evozierte
Potenziale; Sog und Druck, Einsteckhörer)
– Reflexaudiometrie
▼ – Kinder unter 6 Jahren:
271
– Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/
transitorisch evozierte otoakustische Emissionen
– Tympanometrie
– Stapediusreflexe
– Klick-Schwellen-FAEP (Sog und Druck, Einsteckhörer)
– Verhaltensaudiometrie: Ablenkreaktionen/
Spielaudiometrie/Sprachaudiometrie, auch im
Störgeräusch
– Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene:
– Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/
transitorisch evozierte otoakustische Emissionen
– Tympanometrie
– Stapediusreflexe
– Klick-Schwellen-FAEP (Sog und Druck, Einsteckhörer)
– Reinton- und Sprachaudiometrie, auch im
Störgeräusch
▬ Bei Verdachtsdiagnose »auditorische Synaptopathie/Neuropathie«:
– weiterführende Diagnostik:
– Elektrokochleographie: Nachweis von Mikrophonpotenzialen bei Pegeln von <80 dB HL
als ausreichender Hinweis auf mechanoelektrische Transduktion in Haarsinneszellen
(subjektiver Promontorialtest vor Einsetzen
eines Kochleaimplantats, bei älteren Kindern/
Erwachsenen ggf. Hirnstammaudiometrie mit
elektrischer Stimulation)
– kontralaterale Suppression der Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen/transitorisch
evozierten otoakustischen Emissionen
– mittlere/späte akustisch evozierte Potenziale
– Beurteilung der Psychoakustik
– Prüfung der Vestibularisfunktion
– Untersuchung der Sprache (rezeptiv und produktiv)
– Bildgebung: Magnetresonanztomographie
von Schädel und Felsenbein (Nachweis neuronaler Strukturen, insbesondere des Hörnervs,
sowie morphologisch fassbarer Schäden entlang der Hörbahn)
– ggf. Überprüfung einer Hörgeräteversorgung
– ergänzende Diagnostik:
– »High-resolution«-Computertomographie des
Felsenbeins
– neurologische, ophthalmologische und
humangenetische Untersuchung
– Positronenemissionstomographie (wenn verfügbar)
3
272
Kapitel 3 · Ohr
> Wichtig
Es besteht der Verdacht auf eine auditorische Synaptopathie/Neuropathie, wenn frühe akustisch evozierte Potenziale trotz vorhandener otoakustischer Emissionen nicht
oder erst bei hohen Pegeln (80 dB HL) nachweisbar sind.
3
Differenzialdiagnostik
▬ Bei Frühgeborenen: Hörbahnreifungsverzögerung
(bis zum Alter von 12–18 Monaten Reifung der Hörbahn möglich → bei Verdachtsdiagnose Wiederholung der Messungen nach 2–3 und 5–6 Monaten)
Procedere und rehabilitative Versorgung
▬ Siehe nachfolgende Übersicht
Prozedere und rehabilitative Versorgung.
Nach Moser et al. (2006)
▬ Neugeborene:
– probatorische Hörgeräteversorgung bei erhöhter
subjektiver Hörschwelle
– Kontrolluntersuchung (FAEP, otoakustische Emissionen, subjektiv) nach 8–12 Wochen (ggf. mehrfach)
– engmaschige Kontrolle der Hörreaktionen und
der otoakustischen Emissionen
– pädagogische Frühförderung
▬ Kinder unter 6 Jahren:
– Hörgeräteversorgung, wenn subjektive Hörschwelle (Ablenkreaktion/Spielaudiometrie) besser ist als 80 dB HL
– engmaschige Kontrolle von Sprachentwicklung
und Sprachverständnis
– Kochleaimplantat, wenn subjektive Hörschelle
schlechter ist als 80 dB HL bzw. kein Fortschritt der
Sprachentwicklung unter Hörgeräten eintritt
– Hör- und Sprachtherapie
▬ Kinder ab 6 Jahren und Erwachsene:
– Kochleaimplantat, wenn beide Ohren betroffen
sind sowie bei ausbleibendem Erfolg der Hörgeräteversorgung
– Hör- und Sprachtherapie (zumindest für schulpflichtige Kinder)
Taubheit (Surditas)
Definition
▬ Beidseitiger vollständiger Verlust des Hörvermögens
Einteilung
▬ Prälinguale Taubheit: angeboren oder vor dem Zeitpunkt der Sprachbahnung (vor Abschluss des 2. Lebensjahrs) entstanden
▬ Peri- und postlinguale Taubheit: Ertaubung während
des Erlernens oder nach dem Erlernen der Sprache
(im Alter von 2–4 Jahren)
Ätiopathogenese
▬ Fehlbildungen: genetisch bedingte Taubheit ohne
(nichtsyndromal) oder mit weiteren genetisch bedingten Fehlbildungen/Erkrankungen (syndromal)
▬ Entzündungen (pränatal, perinatal, frühkindlich):
Otitis media mit Labyrinthitis, Meningitis, Zoster oticus, Cholesteatom
▬ Traumata: Geburtstrauma, Contusio labyrinthi, Felsenbeinfraktur, akutes akustisches und Explosionstrauma, ototoxische Chemikalien und Medikamente,
Barotrauma
▬ Tumoren und Metastasen
▬ Idiopathisch, »Hörsturz« (dann meist metachron)
Klinisches Bild
▬ Vollständiger Verlust des Sprachverständnisses bei
noch messbarer Tongehörschwelle oder
▬ Anakusis, d. h. nicht mehr messbare Tongehörschwelle, oder
▬ Taubheit in der Begutachtung: prozentualer Hörverlust von 100 %36
Diagnostik
▬ Siehe oben, »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«
> Wichtig
Bei akuter Taubheit immer objektive Audiometrie (z. B.
otoakustische Emissionen) zum Ausschluss dissoziativer
(»psychogener«) Hörstörungen durchführen
Differenzialdiagnostik
▬ Dissoziative Hörstörung (»psychogene Ertaubung«)
▬ Auditorische Neuropathie
Therapie
▬ Akut: abhängig von Ätiologie (# Kap. 13.4)
▬ Chronisch einseitig: CROS-Versorgung (»contralateral routing of sound«) mit konventionellen beidseitigen Hörgeräten (z. B. über Kabelverbindung am
Brillengestell oder Bluetooth), knochenverankertem
Hörgerät oder (aktuell diskutiert) einseitigem Kochleaimplantat
▬ Chronisch beidseitig: Kochleaimplantat, Lippenablesetraining
36
nach Röser (1980)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
273
Verlauf und Prognose
Knochenerkrankungen
▬ Bei akuter Taubheit von der Ätiologie abhängig
▬ Prognose i. A. schlechter als bei geringergradiger Hörminderung
▬ Otosklerose (# Kap. 3.5.5)
▬ Morbus Paget (Osteitis deformans): in 50 % der Fälle
Schallleitungs-, sensorineurale oder kombinierte
Schwerhörigkeit
Sonstige Erkrankungen37
Neurologische Erkrankungen
Strahlenschäden
Multiple Sklerose
▬ Bestrahlung des Felsenbeins mit Innenohr und N. vestibulocochlearis kann zur Schallempfindungsschwerhörigkeit führen
▬ Stereotaktische Bestrahlung von Vestibularisschwannomen → in etwa 50 % der Fälle hochgradiger Hörverlust
▬ In 4–10 % der Fälle Hörstörung
▬ Klinisches Bild: sensorineuraler Hörverlust mit unterschiedlicher Charakteristik (akut oder progredient,
einseitig oder beidseitig, symmetrisch oder asymmetrisch)
▬ Diagnostik: abnormale akustisch evozierte Potenziale, magnetresonanztomographisch evtl. Plaques in
Ncl. cochlearis und Colliulus inferior
Pseudotumor cerebri (idiopathische intrakranielle
Hypertension)
▬ Klinisches Bild: Kopfschmerz, Sehstörungen (progrediente Atrophie des N. opticus) auditorisch (objektiver)
pulsierender Tinnitus (verschwindet bei Kompression
der V. jugularis), sensorineurale Hörminderung (häufig
im Tieffrequenzbereich fluktuierend, ein- oder beidseitig), evtl. Schwindel und Druckgefühl im Ohr
▬ Diagnostik: Augenhintergrundspiegelung, Hirndruckmessung, Hirnstammaudiometrie, Elektrokochleographie
▬ Therapie (Neurologe, Augenarzt): Diuretika, ggf. Shunt-Anlage
Vaskuläre und hämatologische Erkrankungen
Ursachen und Differenzialdiagnostik
▬ Migräne
▬ Basilararterienverschluss (A. cerebelli inferior anterior; Symptomatik ähnlich dem Wallenberg-Syndrom,
außerdem akut einsetzender Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Tinnitus, Hörverlust)
▬ Rheologische Störungen (Makroglobulinämie Waldenström, Kryoglobulinämie, Sichelzellenanämie, Leukämien, kardiopulmonale Bypassoperation)
▬ Gefäßschlingen mit Kontakt zum N. vestibulocochlearis im Kleinhirnbrückenwinkel (Zusammenhang
nicht gesichert)
Therapie
▬ Behandlung der Grunderkrankung
Hörstörung bei Morbus Menière
▬ Ätiologie und Pathogenese des Morbus Menière sind
ungeklärt (s. unten, »Gleichgewichtsstörungen«)
▬ Enge Verbindung zum idiopathischen Endolymphhydrops (Felsenbeinstudien: Endolymphhydrops bei allen Patienten mit Morbus Menière; alle Präparate von
Patienten mit Hörverlust ebenfalls mit Hydrops, aber
in unterschiedlichen Frequenzbereichen sowie nicht
unbedingt fluktuierend und ohne weitere MenièreSymptome)
▬ Unterschiedliche ätiologische Faktoren können zum
Endolymphhydrops führen; ob dieser Ursache, Epiphänomen oder gemeinsame Endstrecke verschiedener Homöostasestörungen des Innenohrs ist, wird diskutiert
▬ Ätiologie des Hydrops: am ehesten lokale Störung der
Ionenhomöostase des Innenohrs, für welche verschiedene Entstehungsmöglichkeiten existieren (traumatisch, entzündlich, immunassoziiert etc.)
▬ Vereinfachte Hypothese, dass ein Endolymphhydrops durch eine »Überproduktion von Endolymphe«
(als Flüssigkeit), eine Blockade des »longitudinalen
Endolymphflusses« in den Ductus endolymphaticus
oder eine verminderte Resorption im Saccus endolymphaticus entsteht, kann in dieser Form nicht weiter
aufrechterhalten werden:
– physiologisch relevanter, kontinuierlicher Endolymphfluss von der Kochlea in den Saccus endolymphaticus bisher nicht nachgewiesen
– »Endolymphproduktion« im Sinne der Aufrechterhaltung einer einzigartigen Ionenzusammensetzung kann ohne eigentliche Produktion eines Flüssigkeitsvolumens durch effektive Transportprozesse
über lokale Ionenkanäle gewährleistet werden
Neubildungen
▬ Vestibularisschwannom (»Akustikusneurinom«; # Kap.
37
traumatisch/ototoxisch: # Kap. 3.6.2; entzündlich bedingte sensorineurale Schwerhörigkeit: # Kap. 3.6.3, »Labyrinthitis«; Fehlbildungen des Innenohrs: # Kap. 3.6.1
3.6.6)
▬ Paragangliome (Glomustumoren) des Mittelohrs und
der Schädelbasis (# Kap. 3.5.6)
3
274
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Meningeome, intrakranielle Metastasen, Meningiosis
carcinomatosa mit Affektion des N. vestibulocochlearis
▬ Tumor des Saccus endolymphaticus: niedriggradiges Adenokarzinom im Rahmen eines von-HippelLindau-Syndroms (neuroektodermales Fehlbildungssyndrom aus der Gruppe der Phakomatosen, gekennzeichnet durch multifokale Präsenz von Tumoren:
retinale Angiome, Hämangioblastome des Zentralnervensystems, Nierenzellkarzinome, Phäochromozytome, Zysten des Pankreas und der Niere; Inzidenz
1/30.000–50.000 Einwohner)
Sonderform: Hyperakusis
▬ Neurologische/psychiatrische Krankheitsbilder: z. B.
Epilepsie, Migräne, Autismus, Neurosen, Depressionen, Angstneurose, Persönlichkeitsstörung, Manie,
Schizophrenie, Schädel-Hirn-Trauma, posttraumatisches Stresssyndrom, Lyme-Erkrankung
▬ Krankheitsbilder mit genetischen Defekten: Williams-Syndrom (Konzentrationsprobleme, gestörte
motorische Kontrolle, Probleme bei der räumlichen
Orientierung;
5-Hydroxytryptamin-Dysfunktion),
Cogan-Syndrom, Tay-Sachs-Syndrom
▬ Sonstiges: Patienten mit akustischer Überforderung
(z. B. höheres Alter), emotionale Abwehr
Definition, Einteilung und klinisches Bild
Literatur
▬ Synonyme: »recruitment«, Phonophobie, Geräuschempfindlichkeit, Geräuschangst, akustische Nervosität, akustische Sensibilisierung, Dysakusis, Lärmschmerz, Gehörhyperästhesie
▬ Sammelbegriff für akustische Eindrücke, die von externen Schallquellen stammen und als zu laut oder
unangenehm wahrgenommen werden
▬ Nicht identisch mit quälend laut empfundenem, subjektivem Tinnitus (aber oft bei Patienten mit Tinnitus
vorkommend)
▬ Einteilung:
– allgemeine Hyperakusis (bei Normalhörigkeit):
subjektive Überempfindlichkeit für Geräusche normaler Lautstärke (ab 70–80 dB)
– Hyperakusis mit »recruitment«: tritt besonders
zu Beginn der Innenohrschädigung, bei mittleren
Schädigungsgraden und v. a. bei Schädigungen im
Tieftonbereich auf
– Hyperakusis als Phonophobie: subjektive Überempfindlichkeit für bestimmte Geräusche normaler
und auch geringer Intensität, die vom Patienten als
bedrohlich erlebt werden und Angstzustände mit
vegetativer Reaktion auslösen
Arts AH (2005) Sensorineural hearing loss: evaluation and managment
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Kopf- und Hals-Chirurgie (1998) Die Verwendung hoher Schallpegel in der audiometrischen Diagnostik und Kernspintomographie.
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Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde,
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McCabe BF (1979) Autoimmune sensorineural hearing loss. Ann Otol
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Moser T, Strenzke N, Meyer A et al. (2006) Diagnostik und Therapie der
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Plontke S (2005) Gestörtes Hören. Konservative Verfahren. Laryngorhinootologie 84 (Suppl 1): 1–43
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Rauch SD, Ruckenstein MJ (2005) Autoimmune inner ear disease. In:
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Sha SH, Qiu JH, Schacht J (2006) Aspirin to prevent gentamicin-induced hearing loss. N Engl J Med 354: 1856–1857
Epidemiologie
▬ Schwankende Angaben aufgrund unterschiedlicher
Definitionen und verschiedener Patientenkollektive;
etwa 2–15 % in entsprechenden Erhebungen
Tinnitus (Ohrgeräusche)
S. Plontke
Ätiologie
▬ Oft keine Ätiologie oder Grunderkrankung nachweisbar
▬ Medikamente und exogene Substanzen: z. B. Azetylsalizylsäure, Koffein, Chinin, CO2, Benzodiazepine
▬ Krankheitsbilder mit Störungen v. a. im Bereich des
Mittelohrs, der Kochlea und des N. vestibulocochlearis: z. B. Innenohrschwerhörigkeit, Morbus Menière,
vorangegangene Stapesoperation, Perilymphfistel
Definition
▬ Subjektive (nur vom Betroffenen wahrgenommen;
fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen
System) oder objektive Wahrnehmung (vom Betroffenen und vom Untersucher zu hören) eines Tones
oder Geräusches ohne akustische Stimulation von
außen (wird auch als »Unmöglichkeit, Stille wahrzunehmen« beschrieben)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
> Wichtig
Tinnitus ist ein Symptom unterschiedlicher Genese und
keine Diagnose.
Einteilung
▬ Objektiv vs. subjektiv:
– objektiver Tinnitus: Schallaussendungen körpereigener Schallquellen werden gehört (z. B. gefäßoder muskelbedingte Schallgeräusche)
– subjektiver Tinnitus: fehlerhafte Informationsbildung im auditorischen System ohne Einwirkung
eines akustischen Reizes
Epidemiologie
▬ Etwa 25 % der deutschen Bevölkerung (über 10 Jahre)
geben an, schon einmal Ohrgeräusche gehabt zu haben
▬ Prävalenz wird in internationalen Studien auf 3–36 %
geschätzt (je nachdem, wie die Fragebögen aufgestellt
sind)
▬ Vorkommen in jedem Lebensalter
▬ Zu 12–50 % tritt Tinnitus als Begleitsymptom von
Lärmschwerhörigkeit auf
▬ Häufigkeit in den vergangenen 20 Jahren drastisch
gestiegen
▬ Ort der Entstehung:
– äußeres Ohr
– Mittelohr
– Innenohr
– Hörnerv
– zentrales auditorisches System
▬ Zeitlicher Verlauf:
– akut: <3 Monate
– subakut: 3 Monate bis 1 Jahr
– chronisch: >1 Jahr
▬ Qualität: Pfeifen, Rauschen, Summen, Klingeln, Pulsieren, Sägen etc.
▬ Sekundärsymptomatik:
– kompensierter Tinnitus: Patient registriert das
Ohrgeräusch, kann jedoch so damit umgehen, dass
zusätzliche Symptome nicht auftreten; es besteht
kein oder nur geringer Leidensdruck, und die Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt
– dekompensierter Tinnitus: Ohrgeräusch hat massive Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche
und führt zur Entwicklung einer Sekundärsymptomatik (Angstzustände, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Depressionen); es besteht hoher
Leidensdruck, und die Lebensqualität ist wesentlich
beeinträchtigt
▬ Schweregrad38:
– 1: kompensiertes Ohrgeräusch, kein Leidensdruck
– 2: Tinnitus tritt hauptsächlich bei Stille in Erscheinung und wirkt bei Stress sowie psychisch-physischen Belastungen störend
– 3: Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten und beruflichen Bereich; es treten
Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich auf
– 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im
privaten Bereich
Ätiologie
38
39
nach Biesinger et al. (1998)
275
▬ Objektive Ohrgeräusche: Schallaussendungen körpereigener Schallquellen:
– Glomus-tympanicum-, Glomus-jugulare-Tumor
(pulsierendes Rauschen)
– tonisch-klonische Kontraktionen der velopalatinalen Muskulatur, des M. stapedius oder des M. tensor tympani
– Stenose der A. carotis oder der A. occipitalis (pulssynchrones Rauschen)
▬ Subjektive Ohrgeräusche: können als Begleitsymptom
nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten,
die an der Prozessierung akustischer Reize beteiligt
sind (Ohr bzw. auditorisches System); wichtige Ursachen: Lärm, Entzündungen, psychische Belastungssituationen, z. B. fehlende bzw. falsche Stressbewältigung
Pathogenese – Entstehungsmodelle des subjektiven
Tinnitus39
▬ Schallleitungstinnitus (z. B. Tubenventilationsstörungen, Otosklerose, Otitis media)
▬ Sensorineuraler Tinnitus (# Kap. 3.2.1, »Pathophysiologische Aspekte der Innenohrschwerhörigkeit«):
– Typ I: Motortinnitus (äußere Haarsinneszellen):
z. B. akustische Traumata, Lärmschwerhörigkeit
– Typ II: Transduktionstinnitus (innere Haarsinneszellen)
– Typ III: Transformationstinnitus (Synapse zur afferenten Hörnervenfaser): z. B. akustische Traumata
(Exzitotoxizität)
– Typ IV: extrasensorischer Tinnitus (z. B. Stria vascularis, Spiralligament, Tektorialmembran): altersassoziierte Schwerhörigkeit (?)
▬ Zentraler Tinnitus:
– primär zentraler Tinnitus (z. B. Erkrankungen des
Zentralnervensystems)
– sekundär zentraler (zentralisierter) Tinnitus
Zenner (1998)
3
276
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Sekundäre Tinnituszentralisierung durch neurophysiologische Mechanismen40:
– Ursache eines Tinnitus liegt in der Regel ursprünglich in der Kochlea
– zentralnervöse Verarbeitung des Tinnitusreizes führt
zu einer zentralen Reizantwort (»stimulus response«)
– häufige Antworten: Aufmerksamkeitslenkung zum
Tinnitus, Angstauslösung und/oder Muskelverspannungen
– bei schwer betroffenen ist die jeweilige Antwort
deutlich ausgeprägter als bei leicht betroffenen Patienten
– Ursache: neurophysiologische Verarbeitung des
Tinnitusreizes im Gehirn
– nach Jastreboff handelt es sich um einen konditionierten Reflex mit zeitlich engem Zusammentreffen von 2 Ereignissen (hier: Tinnitus und negative
emotionale Assoziation); Auslöschung durch einen
dem auslösenden Reiz ähnlichen Reiz → Tinnitus-Retraining-Therapie nach Jastreboff mit einem
Schallreiz (z. B. mittels Noiser appliziert)
– nach Zenner und Birbaumer handelt es sich um
eine kognitive Sensibilisierung:
– entsteht durch »spezifische Attribute« des Tinnitus, z. B. Angstauslösung, erlebte Hilflosigkeit
(Kontrollverlust), subjektiv erlebte potenzielle
Schädlichkeit, unvorhersehbarer Verlauf
– gekennzeichnet durch Herabsetzung der kognitiven Schwelle für die Auslösung der Reizantwort
→ Auslösung einer individuellen, pathologischen, unerwünschten, ausgeprägte Antwort
– Störung auf kognitiver Ebene → Therapie durch
kognitive Interventionen, z. B. kognitive Verhaltenstherapie
▬ beide Mechanismen schließen einander nicht aus,
sondern können gleichzeitig vorliegen
– depressive Verstimmung, Depressionen, Blockade
– psychosozialer Rückzug
– Störung der auditiven Wahrnehmung, Verzerrung,
Hyperakusis
– Schlafstörungen, Leistungsabfall, Arbeitsunfähigkeit bis zum Suizid
– Konzentrationsstörungen
Diagnostik41
▬ Anamnese:
– genaue Anamnese für Einteilung, gezielte Diagnostik und Therapie des Tinnitus wichtig
– hoher Zeitaufwand
– erfragt werden: Dauer, zusätzliche otologische
Symptome und Beschwerden wie Hörminderung
und/oder Schwindel, gleichzeitiges Auftreten
von Hörminderung und Tinnitus, Charakter des
Tinnitus (Pfeifen, Rauschen etc.; kontinuierlich,
unterbrochen), tageszeitlicher Verlauf (z. B. nur
morgens, beim Einschlafen), Maskierung durch
Umweltgeräusche, Lärmanamnese, Medikamenteneinnahme, Erkrankungen oder Beschwerden
auf neurologischem, endokrinologischem und
kardiovaskulärem Gebiet, neurochirurgische Operationen, Verstärkung und Abschwächung des
Tinnitus (z. B. durch körperliche Belastung, bestimmte Kopfhaltungen, Stress, psychische Einflüsse), Vorhandensein von Konzentrationsstörungen, Ein- und Durchschlafstörungen, Beeinflussung der Lebensqualität etc.
– für die Beurteilung der Beeinträchtigung und von
Ko-Morbiditäten sowie des Schweregrads sind das
strukturierte Tinnitus-Interview nach Goebel und
der Fragebogen nach Goebel und Hiller hilfreich
▬ Untersuchungen:
> Wichtig
Da Tinnitus ein Symptom verschiedener Erkrankungen sein kann, dienen die auf der Anamnese
basierenden Untersuchungen insbesondere der Diagnostik bzw. dem Ausschluss behandlungsbedürftiger
Erkrankungen.
Klinisches Bild
▬ Bei Ohrgeräuschen kann es sich um zeitweilig oder
kontinuierlich auftretende Schallempfindungen
gleichbleibender oder wechselnder Intensität und
unterschiedlicher Art handeln; sie können z. B. als
reine Sinustöne, schmalbandiges oder breitbandiges
Rauschen oder auch als komplexe Geräusche wie z. B.
»Surren«, »Brummen«, »Klingeln«, »Zirpen« oder
»Knacken« sowie als Mischung verschiedener akustischer Komponenten auftreten
▬ Ko-Morbiditäten (Auswahl):
– muskuläre Verspannungen (Halswirbelsäule, Bruxismus, Kaumuskulatur → Kiefergelenkverspannung)
– HNO-ärztliche Untersuchung inklusive Ohrmikroskopie, Nasopharyngoskopie und Prüfung der Tubendurchgängigkeit
– Auskultation der A. carotis sowie Abhören des Gehörgangs, v. a. bei pulssynchronem Ohrgeräusch
– Tonaudiometrie, otoakustische Emissionen, Unbehaglichkeitsschwelle
41
40
teilweise zitiert aus: Zenner (2008)
adaptiert nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für HalsNasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (1998)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
– Tympanometrie und Stapediusreflexe (ggf. inklusive Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen)
– Bestimmung der Tinnituslautheit, der Frequenzcharakteristik und der Maskierungskurven nach
Feldmann mit Schmalbandrauschen oder Sinustönen, Feststellung der Lautstärke-Lautheits-Diskrepanz
– Hirnstammaudiometrie: Ausschluss einer retrokochleären Störung
– Vestibularisprüfung (inklusive kalorischer Prüfung)
– Halswirbelsäulendiagnostik, v. a. in Hinblick auf
funktionelle Störungen
– orientierende Untersuchung des Gebisses und des
Kauapparats
– Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien (extra- und transkraniell) bei Hinweis auf objektive Ohrgeräusche oder Zeichen einer zerebralen
Durchblutungsstörung, v. a. beim Kopfdrehen
– »High-resolution«-Computertomographie der Felsenbeine zum Nachweis von ossären Destruktionen, entzündlichen Vorgängen und Fehlbildungen
– Magnetresonanztomographie des Schädels bei pathologischer oder nicht aussagekräftiger Hirnstammaudiometrie sowie bei Verdacht auf ein zentrales
auditorisches Geschehen oder eine neurologische
Erkrankung
– ggf. digitale Subtraktionsangiographie des zerebrovaskulären Systems bei pulssynchronem Tinnitus
– Labordiagnostik (bei entsprechendem Verdacht):
Infektionsserologie (Borreliose, HIV-Infektion,
Lues), Immunpathologie (Immunglobuline, Rheumafaktoren, gewebespezifische Antikörper), Liquordiagnostik (bei Hinweis auf entzündlichen
Prozess des Zentralnervensystems), Stoffwechsel
(Blutzuckerspiegel, Blutfettwerte, Leberenzymaktivitäten, Schilddrüsenhormonwerte, Blutbild)
– internistische Untersuchung bei Verdacht auf kardiovaskuläre, endokrinologische oder rheumatologische Erkrankungen
– neurologische Diagnostik
– psychologische Diagnostik bei psychischer KoMorbidität und hohem Belastungsgrad
! Cave
Bei akutem Tinnitus sollten überschwellige Hörtests
wegen der Gefahr einer Lärmbelastung in einem Zeitabstand von mindestens einer Woche durchgeführt
werden (inklusive Magnetresonanztomographie;
s. oben, »Hörstörungen« → »Akute, idiopathische sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit«).
277
Differenzialdiagnostik
▬ Ohrgeräusche können als Begleitsymptom nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten, die an
der Prozessierung akustischer Reize beteiligt sind
▬ Differenzialdiagnostisch müssen auch Entzündungen,
Tumoren und vaskuläre Erkrankungen des Zentralnervensystems sowie kardiovaskuläre, endokrinologische und rheumatologische Erkrankungen in Erwägung gezogen werden
Therapie
> Wichtig
Unabhängig von Zeitverlauf und Schweregrad besteht
die Grundlage jeglicher Therapie von Ohrgeräuschen
in der ärztlichen Aufklärung und Beratung ( TinnitusCounselling).
▬ Ziele:
– akuter Tinnitus: vollständige Beseitigung oder zumindest Minderung der Lautstärke
– subakuter Tinnitus: Vermeidung einer Chronifizierung und einer langfristigen Dekompensation
– chronisch-dekompensierter Tinnitus: Überführung
in einen kompensierten Zustand
> Wichtig
Bei der Überführung des chronisch-dekompensierten
Tinnitus in einen kompensierten Zustand ist einem aktiven, kognitiv-behavioralen, strukturierten Habituationstraining gegenüber einer passiven, auf der Versorgung
mit Rauschgeneratoren (»klassische Tinnitus-RetrainingTherapie«) basierenden Therapie der Vorzug zu geben.
▬ Maßnahmen:
– objektiver Tinnitus: Beseitigung der körpereigenen
Schallquelle:
– Paragangliom: operative Therapie
– vaskuläre Dekompression im Kleinhirnbrückenwinkel (Abwägung von Risiko und Nutzen)
– Myoklonien des Weichgaumens (M. tensor tympani, M. stapedius) mit »klickenden« Ohrgeräuschen: Botulinustoxininjektionen oder Gabe
von Carbamazepin
– atemsynchrone, »blasende« Ohrgeräusche (durch
eine weite Tube): ggf. chirurgische Eingriffe an
der Tube
– subjektiver Tinnitus:
– Therapie einer Erkrankung des Gehörgangs oder
des Mittelohrs oder einer kochleären Hörstörung
(konservativ oder operativ)
– Behandlung retrokochleärer Störungen inklusive
neurologischer Erkrankungen (z. B. Pseudotumor
cerebri)
3
278
3
Kapitel 3 · Ohr
– Behandlung von Erkrankungen des Kauapparats
und/oder der Halswirbelsäule
– Therapie kardiovaskulärer (z. B. Bluthochdruck),
endokrinologischer (z. B. Hyperthyreose) und
rheumatologischer Erkrankungen (systemische,
nichtorganspezifische Autoimmunerkrankungen
mit sekundärer Autoimmunerkrankung des Innenohrs)
– Beseitigung des Tinnitus auch bei erfolgreicher
Therapie der zugrunde liegenden Erkrankung
nicht immer möglich
– Therapie des subjektiven Tinnitus ist von Zeitverlauf, Schweregrad und Ko-Morbiditäten abhängig
und folgt einem Stufenkonzept (⊡ Tab. 3.12)
die akustische Hintergrundaktivität erhöht und
durch eine Verminderung des Signal-Rausch-Abstands (Tinnitus vs. akustische Hintergrundaktivität) die subjektive Wahrnehmung des Tinnitus
reduziert werden; die apparative Versorgung mit
Rauschgeräten oder Tinnitusinstrumenten (Hörplus Rauschgerät) zeigte jedoch in mehreren
Studien keinen nachweisbaren Einfluss auf das
Therapieergebnis → Anwendung von Rauschgeneratoren wird zunehmend kritisch gesehen
– verhaltensmedizinische Therapie:
– die »klassische« Tinnitus-Retraining-Therapie ist
eine Geräuschtherapie in Kombination mit einer Beratung (»counselling«) auf Grundlage des
neurophysiologischen Tinnitusmodells nach Jastreboff und Hazell (1993); nach diesem Modell
ist ist der Tinnitus ein Produkt einer abnormen
Aktivitätssteigerung in der Hörbahn, die in höheren auditorischen Zentren als Geräusch oder
Ton wahrgenommen wird, wobei Emotions- und
aufmerksamkeitssteuernde zentralnervöse Strukturen eine wesentliche Rolle spielen; eine psychologische Betreuung wird von Jastreboff nicht
als Bestandteil der Tinnitus-Retraining-Therapie
angesehen; die Wirkung kann nach dem derzeitigen Wissensstand noch nicht als belegt gelten
– als Erweiterung und Modifikation der klassischen Tinnitus-Retraining-Therapie schlägt die
Arbeitsgruppe Retraining der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (ADANO) ein kombiniertes medizinisch-psychologisches Vorgehen vor; der Definition nach ist diese Therapie »... ein Konzept
zur ambulanten Therapie des dekompensierten
Tinnitus, welches auf der Basis umfassender Diagnostik durch HNO-Ärzte ausgehend von den
Modellvorstellungen von Jastreboff und Hazell
eine interdisziplinäre Therapie einleitet, die unter
fakultativer Zuhilfenahme psychologischer sowie akustisch-apparativer Behandlungsmaßnahmen den Patienten in enger Anbindung weiter
betreut. Das Konzept setzt die aktive Mitarbeit
des Patienten voraus«42; Elemente: Grundmodul
mit weiterführender HNO-ärztlicher und psychologischer Diagnostik, ausführlicher Beratung
(»counselling«) und Erarbeitung eines individuellen Tinnitusmodells; Folgemodul mit der »Entscheidung, Einleitung und ggf. Verordnung der
apparativ-akustischen Maßnahmen (Hörgeräte,
Rauschgeräte) durch den HNO-Arzt in enger
> Wichtig
Da Ohrgeräusche als Begleitsymptom nahezu aller Erkrankungen von Strukturen auftreten können, die an
der Prozessierung akustischer Reize beteiligt sind, richtet
sich die Therapie grundsätzlich nach der (vermuteten)
Ätiologie.
– pharmakologische Therapie:
– eine spezifische medikamentöse Therapie existiert nicht
– die Therapie erfolgt in Abhängigkeit von der
individuellen Situation (Therapiewunsch, Leidensdruck) und der Abwesenheit audiologischer
Begleiterscheinungen (Tinnitus nicht als Begleitsymptom eines Hörsturzes) sowie in Anlehnung
an die medikamentöse Therapie des Hörsturzes
(# Kap. 13.4)
– bei erst wenige Stunden lang andauerndem Tinnitus sollte aufgrund der wie auch beim Hörsturz
anzutreffenden Spontanheilungstendenz sowie
des Mangels an plazebokontrollierten klinischen
Studien auch eine abwartende Haltung (z. B. für
24–48 h) diskutiert werden, bevor man z. B. eine
Hochdosisglukokortikoidtherapie initiiert
– akustische Stimulation:
– Hörgeräte
> Wichtig
Bei entsprechender audiologischer Indikation ist eine
frühzeitige Hörgeräteanpassung sinnvoll. Sie wirkt sich
meist auch positiv auf Ohrgeräusche aus.
– Rauschgeneratoren (Noiser, Tinnitusmasker):
kommen im Rahmen der Tinnitus-RetrainingTherapie zur Anwendung und erzeugen ein
gleichmäßiges Rauschen mit einem breiten Frequenzspektrum; durch den Einsatz eines emotional möglichst indifferenten Rauschens soll
besonders bei niedriger Umgebungslautstärke
42
zitiert aus: von Wedel u. von Wedel (2000)
279
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
⊡ Tab. 3.12. Therapie des Tinnitus
»Counselling«
Pharmakologische
Therapie
Hörgeräteanpassung
Therapie von
Halswirbelsäule oder Kiefergelenk
Ambulante Tinnitus-RetrainingTherapiei durch
ein Team
Akut
+
+
–
(+)b
Je nach Schweregradc
Subakut
+
(+)d
(+)e
(+)b
Chronisch
+
(+)d
(+)e
(+)b
I: gut kompensiert, kaum
Leidensdruck (0–30)
+g
–
(+)e
(+)b
–
–
II: kompensiert, leicht
störend (31–46)
+g
–
(+)e
(+)b
(+)h
–
III: dekompensiert, quälend, evtl. psychische
Ko-Morbidität (47–59)
+
(+)d
(+)e
(+)b
+
(+)
IV: völlig dekompensiert,
extremer Leidensdruck,
meist psychische KoMorbidität (60–84)
+
(+)d
(+)e
(+)b
(+)
+
Klassifikation
Stationäre, komplexe,
psychosomatische
Therapie durch ein
Teama
Nach dem Zeitverlauf
Nach dem Schweregradf
a
Team: speziell geschult; Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Hörgeräteakustiker, Krangengymnasten
bei diagnostizierten Pathologien des Kauapparats und der Halswirbelsäule: therapeutische Interventionen
c auch bei akutem oder subakutem Tinnitus aufgrund des Schweregrads u. U. stationäre Therapie erforderlich
d pharmakologische Therapie bei dekompensiertem Tinnitus: umfasst ggf. eine anxiolytische und antidepressive Behandlung als Unterstützung
einer psychotherapeutischen Intervention
e bei entsprechender audiologischer Indikation frühzeitige Hörgeräteanpassung sinnvoll, die sich in den meisten Fällen auch positiv auf Ohrgeräusche auswirkt
f Schweregrad entsprechend des Scores im Fragebogen nach Goebel und Hiller (1994)
g Tinnitus-Counselling sollten alle Patienten – unabhängig von Zeitverlauf und Schweregrad des Tinnitus – erhalten, die wegen der Ohrgeräusche einen Arzt aufsuchen; beim völlig dekompensierten Tinnitus (IV) erfolgen Counselling und andere Interventionen im Rahmen der
komplexen pyschosomatischen Therapie
h bestimmte Elemente einer kognitiv-behavioralen psychologischen Therapie als Kurzintervention auch schon bei noch kompensiertem chronischen Tinnitus sinnvoll und als präventive Maßnahme zur Vermeidung einer Dekompensation zu betrachten
i deutsche Tinnitus-Retraining- oder Tinnitusdesensibilisierungstherapie
+ geeignet; (+) bedingt geeignet; – nicht geeignet
b
Zusammenarbeit mit einem Hörgeräteakustiker
und die weiterführenden, regelmäßigen Beratungen durch den HNO-Arzt und/oder den Psychotherapeuten inkl. der entsprechenden Verlaufsdiagnostik, i. d. R. über 18 Monate ...«
der Tinnitushyperaktivierung (Jastreboff ) auf perzeptiver
Ebene grundlegend zu unterscheidendes Modell der
zentralen Tinnitussensibilisierung. Im Mittelpunkt steht
eine kognitive Überempfindlichkeit (Sensitivierung) für
den Tinnitus43. Die Diagnose einer Tinnitussensitivierung
ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der geringen
Tinnituslautheit bei der audiologischen Tinnitusbestimmung und der starken subjektiven Tinnituslautheit bei
Messung mit einer Analogskala (Lautstärke-LautheitsDiskrepanz).
> Wichtig
Ziel der Behandlung des chronischen Tinnitus ist die
dauerhafte Gewöhnung an das Ohrgeräusch (Habituation). Grundlage der hohen Wertigkeit eines kognitiv-behavioralen Ansatzes der Tinnitus- (und auch Hyperakusis-)Therapie ist ein vom neurophysiologischen Modell
43
Zenner u. Zalaman (2004)
3
280
3
Kapitel 3 · Ohr
– Tinnitusdesensibilisierungstherapie: Kombination überwiegend verhaltensmedizinischer Behandlungsverfahren, die als Therapieergebnis die
Habituation über eine primär kognitive Desensibilisierung anstreben; aktive Lernprozesse, die
in besonderem Maße die Mitarbeit des Patienten
erfordern; Ziel: durch einen spezifischen Lernprozesses die Wahrnehmungsempfindlichkeitsschwelle für den Tinnitus zu regulieren, u. a. mit
Hilfe erlernter, konkurrierender Reize
> Wichtig
Wichtig sind die evidenzbasierte Strukturierung der Therapie (keine Beliebigkeit des Therapeuten) durch speziell
geschulte Therapeutenteams aus Ärzten, Psychologen,
Psychotherapeuten, Hörgeräteakustikern und Krankengymnasten sowie die standardisierte Erfassung von Therapieergebnissen zur Qualitätssicherung in geeigneten
Zentren bzw. Spezialeinrichtungen.
– zusätzliche wichtige Elemente verhaltensmedizinischer Behandlungsverfahren: Stress- und Depressionsbewältigung, Anxiolyse, Einschlafhilfen
(ggf. mit medikamentöser Unterstützung), Entspannungstechniken (progressive Muskelrelaxation, Biofeedback, autogenes Training, Yoga),
Selbsthilfegruppen (wichtige Funktion v. a. für
den Informationsaustausch zwischen den Betroffenen; z. B. Deutsche Tinnitus-Liga)
– Magnetstimulation (repetitive transkranielle Magnetstimulation): # Kap. 13.4.15
– elektrische Stimulation: # Kap. 13.4.15
Goebel G (1994) Verhaltensmedizinische Diagnostik des Tinnitus. Standardisiertes Tinnitus-Interview (STI). HNO aktuell 2: 281–288
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Gleichgewichtsstörungen
M. Reiß, G. Reiß
Verlauf und Prognose
▬ Mittelohrbedingter Tinnitus: gut
▬ Kochleäre oder retrokochleäre Ursache: ohne Intervention häufig unbefriedigend
▬ Akuter Tinnitus: in der Regel gute Ergebnisse, wobei
qualitativ hochwertige (randomiserte, placebokontrollierte) klinische Studien fehlen
▬ In den meisten Fällen kommt es bei adäquater Intervention (⊡ Tab. 3.12) zur Habituation
▬ Komplikationen:
– in der Regel psychische und sekundär auch physische Komplikationen (Ko-Morbiditäten; s. oben)
– übersehenes Vestibularisschwannom
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Toronto Seattle
Übersicht und Einteilung
▬ Grundsätzlich Unterscheidung zwischen:
– physiologischem Schwindel
– pathologischem Schwindel
▬ Weiterhin Differenzierung zwischen:
– vestibulärem Schwindel (vestibuläre Organe, Zentren und Bahnen)
– nichtvestibulärem Schwindel (internistisch, okulär,
somatoform)
▬ Verschiedene Einteilungsmöglichkeiten:
– nach der Lokalisation: peripher oder zentral
– nach der Dauer: Anfalls- oder Dauerschwindel
– nach der Qualität: Dreh- oder Schwankschwindel,
Benommenheit
– Bogengangs- oder Otolithenschwindel
▬ Klassifikation auch nach der Arbeitsebene des vestibulookulären Reflexes möglich (3 Ebenen): »pitch«,
»roll«, »yaw« (s. unten, »Zentrale Gleichgewichtserkrankungen«)
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel
(»benign paroxysmal positional vertigo«, BPPV)
Definition
▬ Synonyme: gutartiger anfallsweiser Lagerungsschwindel, Otolithenschwindel
▬ Kurz andauernde, heftige Drehschwindelattacken infolge einer Kanalolithiasis, die durch Herumdrehen
im Bett oder Kopfbewegungen ausgelöst werden
Einteilung
▬ Kanalolithiasis des hinteren Bogengangs (90 %)
▬ Kanalolithiasis des lateralen Bogengangs (10 %)
▬ Kanalolithiasis des vorderen Bogengangs (sehr selten)
Epidemiologie
▬ Häufigste Schwindelursache: 1/3 aller über 70-Jähri-
gen bereits einmal erkrankt
▬ Idiopathisch oder degenerativ: Männer doppelt so
häufig betroffen wie Frauen
▬ Symptomatisch: Männer und Frauen gleich häufig
betroffen
Ätiologie
▬ Ablösung anorganischer, spezifisch-schwerer Partikel
(Otokonien bzw. Otolithen) durch Trauma (symptomatisch) oder degenerativ-spontan, die in den Bogengang gelangen und flottierende Konglomerate bilden
▬ Oft im Intervall nach einer akuten peripheren Vestibulopathie, auch nach langer Bettruhe
Pathogenese
▬ Ursprünglich wurde eine Kupulolithiasis (Anheftung
der Otolithen an die Cupula) vermutet (Schuknecht)
▬ Aktuelles Modell: Kanalolithiasis mit frei beweglichen
Otolithen in den Bogengängen, welche verklumpen
und damit den Bogengang als Pfropf ausfüllen →
durch Bewegung des Konglomerats ampullofugale
oder -petale Bewegung mit Erregung oder Hemmung
der vestibulären Haarzellen
▬ Kupulolithiasis kommt ebenfalls vor, ist aber selten
Klinisches Bild
▬ Schwindelattacken häufig in der Nacht oder morgens
nach Umdrehen im Bett, auch beim Hinlegen und
Aufstehen mit Kopfbewegungen
▬ Ausgeprägter Drehschwindel mit an- und abschwellendem Charakter (Crescendo–Decrescendo)
281
▬ Nachweis eines Lagerungsnystagmus mittels Lagerungsmanöver (Dix-Hallpike): ist der hintere Bogengang betroffen, kommt es nach einer Latenz zu einem
zum unten liegenden Ohr gerichteten Nystagmus, der
sich nach dem Aufrichten wieder umkehrt und nach
wiederholter Provokation ermüdet
Differenzialdiagnostik
▬ Zentraler Lagenystagmus (selten)
▬ Vestibularisparoxysmie
▬ Beidseitiger Lagerungsnystagmus (nach Trauma)
Therapie
▬ Ziel: losgelöste Otokine durch physikalische Therapieverfahren (Lagerungsmanöver) aus dem Bogengang herausbefördern
▬ Maßnahmen:
– Lagerungsmanöver nach Epley, Semont (# Kap. 14.2.2)
– Lagerungsübung nach Brandt-Daroff
– bei BPPV des lateralen Bogengangs modifiziertes
Lagerungsmanöver
– sehr selten operative Okklusion des Bogengangs
erforderlich
! Cave
Bei der Behandlung des BPPV sind Antivertiginosa
bzw. Medikamente nicht indiziert.
Verlauf und Prognose
▬ Entsprechend der Bezeichnung gutartig, aber nicht in
jedem Fall
▬ Rezidive möglich (20 %)
▬ Klingt innerhalb von Wochen spontan ab, kann aber
auch über Jahre anhalten
▬ Unbehandelt persistiert der Schwindel bei etwa 30 %
der Patienten
▬ Spontane Besserung beruht auf der Fähigkeit der Endolymphe, das Konglomerat aufzulösen
Akute periphere Vestibulopathie
Definition
▬ Synonyme: akute einseitige Vestibularisstörung, Neuropathia vestibularis, Neuritis vestibularis, Neuronitis
vestibularis
▬ Akute einseitige Funktionsstörung eines Vestibularorgans mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, aber
ohne kochleäre Symptome
Einteilung
Diagnostik
▬ Genaue Anamnese: Schwindel beim Drehen auf eine
bestimmte Seite
▬ Kompletter Ausfall des Vestibularorgans
▬ Inkomplette Vestibularisstörung (mit Restfunktion;
häufiger als kompletter Ausfall)
3
282
Kapitel 3 · Ohr
Epidemiologie
Therapie
▬ Vor allem bei Jugendlichen und Erwachsenen
▬ Frauen häufiger betroffen als Männer
▬ Ziele:
– Beseitigung der vegetativen Symptome
– Wiederherstellung der labyrinthären Funktion und
Förderung der vestibulären Kompensation
▬ Maßnahmen:
– Gabe von Antivertiginosa (max. für 3 Tage, ansonsten Verzögerung der Kompensation)
– Verabreichung von Prednison und rheologische
Therapie, z. B. mit Pentoxifyllin (Effekt hierbei umstritten)
– vestibuläres bzw. physikalisches Training (sehr
wichtig)
Ätiologie
3
▬ 3 verschiedene Hypothesen:
– Infektion mit neurotropen Viren (Herpes-simplexVirus)
– Mikrozirkulationsstörung
– spontane Lösung der Cupula von der Ampullenwand
Pathogenese
▬ Meist thermische Untererregbarkeit des lateralen Bogengangs (Pars superior des N. vestibularis)
▬ Selten kompletter Ausfall des Gleichgewichtsorgans
Klinisches Bild
▬ Akute, ausgeprägte Schwindelsymptomatik, Lateropulsion zur erkrankten (ipsiversiven) Seite (später
durch Gegenregulation zur anderen)
▬ Horizontal schlagender (zum Teil rotatorischer)
Spontannystagmus (kontralateral)
▬ Oszillopsien (Scheinbewegungen der Umwelt)
▬ Übelkeit und Erbrechen
Diagnostik
▬ Anamnese wegweisend
▬ Nystagmusmuster, Kopfimpulstest, kalorische Prüfung des Labyrinths mit Unter- oder Nichterregung
des lateralen Bogengangs
▬ Ohne pathologischen Befund: Audiogramm, Tympanogramm, Stapediusreflexe, Hirnstammaudiometrie,
Magnetresonanztomographie
! Cave
Patienten mit noch unvollständiger Kompensation
sind darüber zu belehren, dass die aktive Teilnahme
am Straßenverkehr, Tätigkeiten an Abgründen, auf
Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten an rotierenden
Maschinen nicht erlaubt sind. Die Aufklärung ist zu
dokumentieren.
Verlauf und Prognose
▬ Insgesamt gut
▬ Schwindel hält über Tage bis Wochen an, klingt jedoch meist rasch ab
▬ Oft kommt es zu einer Wiederkehr der thermischen
Erregbarkeit; durch zentrale Kompensation auch bei
Nichterholung gutartiger Verlauf
▬ Bei jüngeren Menschen schnelle und vollständige
Restitution; je älter der Patient, desto langwieriger der
Verlauf
Morbus Menière
Definition
Differenzialdiagnostik
▬ Morbus Menière: lang andauernde Attacke
▬ Zoster oticus: Hörstörung, Fazialisparese, Otorrhö
▬ Begleitlabyrinthitis bei Mittelohrentzündung: Schmerzen und Hörminderung
▬ Cogan-Syndrom: interstitielle Keratitis
▬ Lyme-Borreliose: anamnestisch Zeckenstich oder
Erythema migrans
▬ Ischämie der A. labyrinthi: Hörverlust
▬ Hirnstamminfarkt: vaskuläre Anamnese, ältere Patienten
▬ Multiple Sklerose: »Pseudoneuritis« vestibularis (zentrale Okulomotoriuszeichen, »ocular tilt reaction«
– Symptomentrias: Augenrotation, Kopfneigung, Divergenzstellung der Augen)
▬ Vestibularisschwannom: in der Regel überwiegend
Hörstörung
▬ Meist einseitige Innenohrerkrankung unklarer Genese; bis zu 30 % beidseitig
▬ Pathomorphologisches Substrat: endolymphatischer
Hydrops (Volumenzunahme der Endolymphräume)
▬ Wird zu häufig diagnostiziert
Einteilung
▬ Bewiesene
Menière-Erkrankung: histologischer
Nachweis des Endolymphhydrops und entsprechende
Symptomatik
▬ Sichere Menière-Erkrankung: 2 oder mehr Schwindelattacken von mindestens 20-minütiger Dauer mit
nachgewiesener Hörminderung und Tinnitus, wobei
andere Ursachen ausgeschlossen wurden
▬ Wahrscheinliche Menière-Erkrankung: eine Schwindelattacke mit Hörminderung und Tinnitus, Ausschluss anderer Ursachen
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
▬ Mögliche Menière-Erkrankung: Schwindelattacke
ohne Hörverlust oder fluktuierende Hörstörung ohne
Schwindel, Ausschluss anderer Ursachen
▬ Sonderformen:
– Lermoyez-Syndrom: Hörverbesserung während des
Anfalls
– Tumarkin-Otolithenkrise (»drop attacks«): ohne
Prodromi kommt es zu plötzlichen, rezidivierenden
Stürzen
Epidemiologie
▬ Auftreten meist im 4.–6. Lebensjahrzehnt
▬ Prävalenz geographisch unterschiedlich: 17/100.000 in
Japan, 49/100.000 in Finnland, 150/100.000 in den USA
▬ Männer und Frauen gleich häufig betroffen, selten
Kinder
Ätiologie
▬ Chronisch-rezidivierende virale Entzündung (Herpes-simplex-Virus Typ 1)
▬ Immunerkrankung
▬ Traumatisch
▬ Hormonelle Dysregulation
▬ Familiäre Komponente
▬ Durchblutungsstörung (fraglich)
Pathogenese
▬ Lokale Störung der Ionenhomöostase → endolymphatischer Hydrops (s. oben, »Hörstörungen« →
»Hörstörung bei Morbus Menière«)
Klinisches Bild
▬ Minuten bis Stunden anhaltende Drehschwindelanfälle, die mit Übelkeit und Erbrechen einhergehen
▬ Anfallsdauer beträgt nicht Sekunden und auch nicht
Tage (etwa 20 min bis zu mehreren Stunden, max. 24 h)
▬ Tinnitus: oft tieffrequent, rauschend, bei 90 % der
Patienten
▬ Einseitige Schwerhörigkeit, oft auch Völlegefühl im
Ohr bzw. Druckgefühl
▬ Fluktuierendes Gehör (typisch: Hörverlust im Tiefund/oder Mittelfrequenzbereich)
Diagnostik
▬ Wegweisend:
– Anamnese mit Symptomentrias (Schwindelattacken, Hörminderung, Tinnitus)
– Ausschlussdiagnostik: Hirnstammaudiometrie, Magnetresonanztomographie (Kleinhirnbrückenwinkel: Ausschluss einer Raumforderung)
– Gleichgewichtsprüfung: im Anfall Ausfall- oder
Reiznystagmus; Wechsel während des Anfalls mög-
283
lich; thermisch meist Untererregbarkeit (kein charakteristischer Befund)
– Elektrokochleographie: endolymphatischer Hydrops
wahrscheinlich, wenn Verhältnis des Summationspotenzials zum Aktionspotenzial >0,3 beträgt (Nachweis einer Vergrößerung des Summationspotenzials)
– Glyzeroltest: nur bei etwa 30 % der Patienten positiv (Verkleinerung des Summationspotenzials)
> Wichtig
Bei der Diagnose »Morbus Menière« handelt es sich um
eine Ausschlussdiagnose.
Differenzialdiagnostik
▬ Akute periphere Vestibulopathie: Schwindel dauert
länger als 24 h an, keine kochleären Symptome
▬ Vertebrobasiläre Funktionsstörung: Hirnstammzeichen, Hirnnervenausfälle
▬ Migräneschwindel: Kopfschmerzen, andere Migräneanzeichen
▬ Vestibularisparoxysmie: Schwindel dauert Sekunden
bis Minuten an
▬ Perilymphfistel: Provokation durch Lagewechsel,
Pressen oder Tönen
Therapie
▬ Ziel: Reduktion von Anfallfrequenz und -stärke
▬ Maßnahmen:
– kausale Behandlung nicht bekannt; Stufenschema
in Abhängigkeit vom Krankheitsverlauf
– im Anfall symptomatische Therapie mit Antivertiginosa, Bettruhe und diätetischen Maßnahmen
(salzarme Kost, Kaffee- und Alkoholkarenz; Effekt
umstritten)
– »ätiologische« Gabe von Glukokortikoiden (z. B.
500–1000 mg Prednisolut/Tag i. v. über 3 Tage)
– Anfallsprophylaxe mit Betahistin (3-mal 8–16 mg
Betahistinhydrochlorid – Vasomotal; oder 3-mal
6–12 mg Betahistindimesilat, z. B. Aequamen); alternativ Gabe von Sulpirid, Arlevert oder eines
Diuretikums (Acetazolamid)
– Paukendrainage (bei Tubenbelüftungsstörungen)
– intratympanale Instillation von Gentamicin
– v. a. bei einseitig bereits eingeschränktem Hörvermögen
– über Paukenröhrchen, vor dem runden Fenster
liegenden Katheter oder Trommelfellpunktion
– titrierte Applikation (täglich bis wöchentlich)
bis zur angedeuteten Reaktion des Innenohrs
(Schwindel, Unsicherheit, Nystagmus)
– Vestibulotomie, Sakkotomie, Neurektomie der
Nn. vestibulares, Labyrinthektomie (# Kap. 21.5.1,
»Innenohr und Otobasis«)
3
284
Kapitel 3 · Ohr
– Hörgeräte: bei Schallempfindungsschwerhörigkeit
– Therapiemaßnahmen bei Tinnitus: s. oben, »Tinnitus«
3
Verlauf und Prognose
▬ Häufig schlecht
▬ Häufigkeit der Anfälle und Verlauf nicht vorhersehbar, aber oft rezidivierend
▬ Patienten im Intervall zunächst beschwerdefrei, entwickeln aber eine zunehmende Schwerhörigkeit und
einen permanenten Tinnitus
▬ Häufigkeit der Schwindelanfälle kann abnehmen
(»ausgebranntes« Labyrinth)
▬ Frühzeitig Entwicklung psychischer Folgen mit wechselseitiger Bedingtheit der organischen und seelischen
Faktoren
Bilaterale periphere Vestibulopathie
Definition
▬ Synonym: »bilateral vestibular loss«
▬ Beiderseitige Störung bzw. Ausfall des peripheren
Gleichgewichtsorgans
▬ Wird zu selten diagnostiziert
Epidemiologie
▬ Selten
▬ Kann in jedem Lebensalter auftreten
Ätiologie
▬ Autoimmunkrankheiten, ototoxische Substanzen, Meningitis, Tumoren, kongenitale Fehlbildungen sowie
zerebelläre Degenerationen
▬ In 20–30 % der Fälle bleibt die Ursache unbekannt
Pathogenese
▬ Bei schnellen Kopfbewegungen kann der vestibulookuläre Reflex das Objekt nicht mehr auf der Fovea
halten → unwillkürliche Bewegungen, die als Scheinbewegung und Unschärfe imponieren (Dandy-Phänomen)
▬ Bei langsamen Bewegungen des Kopfes kann das
Blickziel jedoch weitestgehend stabilisiert werden,
ohne dass es zu Scheinbewegungen kommt
Diagnostik
▬ Wegweisend:
– Kopfimpulstest beidseits pathologisch: Refixationssakkaden aufgrund einer beidseitigen Störung des
vestibulospinalen Reflexes
– vestibulospinale Tests: vermehrtes Schwanken
– Vestibularisprüfung: beiderseitiger Ausfall bzw.
Störung
– Hörprüfungen
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
Zerebelläre Störungen
Somatoformer Schwankschwindel
Orthostatische Hypotension
Sehstörungen
Arterielle Hypertonie
Therapie
▬ Symptomatisch, kausal oft nicht möglich
▬ Prävention steht an erster Stelle (z. B. Aminoglykosidantibiotika – strenge Indikation, Verlaufskontrollen)
▬ Antiphlogistisch-rheologische Therapie: z. B. Prednison und Pentoxifyllin
▬ Immunbehandlung, ggf. Azathioprin oder Cyclophosphamid
▬ Gleichgewichtstraining: Effekt aufgrund bilateraler
Schädigung begrenzt
▬ Verhaltensregeln: nicht im Dunkeln laufen, keine
ruckartigen Kopfbewegungen, Laufen mit weichem
Schuhwerk auf ebenen Flächen
Verlauf und Prognose
▬ Oft zu spät diagnostiziert, sodass Beschwerden zunehmen
▬ Partielle Erholung bei 50 % der Patienten
Weitere periphere Gleichgewichtserkrankungen
Perilymphfistel
Definition
▬ Synonym: Syndrom des dehiszenten Bogengangs
▬ Defekt oder pathologische Elastizität der Labyrinthkapsel, die aufgrund der druckabhängigen Verformbarkeit des Endolymphschlauchs oder eines Peribzw. Endolymphlecks zu Schwindel oder Hörverlust
führen kann
Klinisches Bild
▬ Oszillopsien mit Sehstörungen bei Kopfbewegungen
und beim Gehen
▬ Gangunsicherheit in der Dunkelheit und auf unebenem Gelände (da der Defekt durch das visuelle System nicht mehr ausgeglichen wird)
▬ Störungen des räumlichen Sehens
Leitsymptome
▬ Schwank- oder Drehschwindelattacken, Stand- und
Gangunsicherheit in Verbindung mit Hörverlusten
▬ Auslösung durch Druckänderungen (Anstrengung,
Pressen, Heben, Niesen, große Höhenunterschiede)
oder laute Geräusche
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Ätiologie
▬ Traumatisch, iatrogen oder spontan (z. B. anatomische Varianten mit größerer Fläche der Rundfenstermembran bei etwa 1,3 % der Bevölkerung)
Diagnostik
▬ Schwierig, da unspezifische Symptome bestehen
▬ Auslösen von Schwindel durch Lageprüfung, Valsalva-Manöver
Differenzialdiagnostik
▬ Vielgestaltig: BPPV, Labyrinthfistel, zentraler Lageschwindel, Morbus Menière, Vestibularisparoxsymie,
bilaterale Vestibulopathie, somatoformer Schwindel
285
▬ Untersuchungen weisen auf eine Beteiligung des Sakkulus bei periphervestibulären Erkrankungen hin
(akute periphere Vestibulopathie, Morbus Menière,
bilaterale Vestibulopathie)
▬ Läsionen des Utrikulus scheinen gegenüber denen
des Sakkulus eine klinisch größere Relevanz zu haben; Leitsymptom einer isolierten Erkrankung des
Utrikulus ist am ehesten ein Schwankschwindel
▬ Spezifische therapeutische Maßnahmen sind derzeit
außer z. B. Trampolinspringen nicht bekannt
Vestibularisparoxysmie
Definition
▬ Neurovaskuläres Kompressionssyndrom bzw. Gefäßschlingensyndrom
Therapie
▬ Viele Perilymphfisteln ohne Hörstörungen und Tinnitus heilen offenbar von selbst ab → konservative
Therapie
▬ Tympanotomie bei akutem hochgradigen Hörverlust
mit Lagerungsschwindel und Ertaubung
Sonderformen
▬ Innere Perilymphfistel: Dehiszenz im Bereich des
oberen Bogengangs
▬ Tullio-Phänomen:
– Auftreten von Schwindel durch laute Geräusche
(>90 dB)
– Ursachen: Bogengang und Fußplatte sind durch
eine Verwachsung (meist über den Sakkulus) mechanisch gekoppelt bzw. enger Kontakt zwischen
Utrikulus und ovalem Fenster (z. B. bei Morbus
Menière durch endolymphatischen Hydrops), Bogengangsfistel
– Therapie: Gehörschutz, Stapesplastik, Betahistin
(s. oben, »Morbus Menière«)
▬ Hennebert-Zeichen:
– positives pressorisches Fistelsymptom trotz intakten Trommelfells (umgekehrte Nystagmusrichtung)
– Ursache: Lockerung des Steigbügelringbands mit
verstärkter Fortleitung auf das Innenohr
Symptome und Epidemiologie
▬ Rezidivierende, heftige, kurz andauernde (Sekunden
bis wenige Minuten) Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit oder ohne Ohrsymptome (Hörminderung und Tinnitus)
▬ 2 Häufigkeitsgipfel: früherer oder späterer Beginn
(40.–60. Lebensjahr)
▬ Männer häufiger betroffen als Frauen
Ätiopathogenese
▬ Hirnstammnahe Gefäßkompression des N. vestibulocochlearis
Diagnostik
▬ Magnetresonanztomographie mit »constructive interference in steady state sequence«
Therapie
▬ Versuch mit Carbamazepin in niedriger Dosierung
(200–600 mg/Tag), kann auch diagnostisch hilfreich
sein
▬ Indikation zur operativen mikrovaskulären Dekompression ist mit Zurückhaltung zu stellen (mögliche
Gefahr eines Hirnstamminfarkts; Bestimmung der
betroffenen Seite außerdem relativ schwierig)
Otolithenfunktionsstörungen
Zentrale Gleichgewichtserkrankungen
▬ Bisher bekannte Störungen: BPPV, posttraumatischer
Schwindel, Tumarkin-Krise
▬ Klinische Testverfahren zur seitengetrennten, spezifischen Untersuchung von Sakkulus und Utrikulus sind
erst seit Kurzem verfügbar → neue Erkenntnisse über
Otolithenstörungen
▬ Störungen des Sakkulus oder Utrikulus können isoliert und auch kombiniert mit Erkrankungen der
Bogengänge auftreten
Ätiologie
▬ Schädigungen im Bereich der vestibulären Verbindungen von den Vestibulariskernen zu den okulomotorischen Kernen und Zentren im Mittelhirn und
zum Zerebellum
▬ Häufigste Ursache: Durchblutungsstörung im Hirnstamm
3
286
Kapitel 3 · Ohr
Einteilung
3
▬ Nach den 3 Hauptarbeitsebenen bzw. -richtungen der
vom vestibulookulären Reflex generierten Augenbewegungen:
– Tonusimbalance des vestibulookulären Reflexes in
der sagittalen (Pitch-)Ebene: vertikaler Nystagmus
(Downbeat- oder Upbeat-Nystagmus-Syndrom)
– Tonusimbalance in der frontalen (Roll-)Ebene: torsioneller (raddrehender) Nystagmus
– Tonusimbalance in der horizontalen (Yaw-)Ebene:
horizontaler Nystagmus
▬ Entsprechend der Gefäßversorgung nach dem Ort der
Schädigung: vestibulärer Kortex, Zerebellum, Vestibulozerebellum, Hirnstamm
▬ Nach der Symptomatik:
– kurze, Sekunden bis Minuten oder wenige Stunden
andauernde Dreh- oder Schwankschwindelanfälle
– Stunden bis wenige Tage andauernde Schwindelbeschwerden, meist verbunden mit weiteren Hirnstammsymptomen und Dauerschwankschwindel
über viele Tage bis Wochen
– zentral bedingter Dauerdrehschwindel (selten)
▬ Nach der Ätiologie:
– vaskuläre, tumoröse und entzündliche Ursachen
des zentralen Schwindels:
– vertebrobasiläre Insuffizienz
– Kleinhirninfarkt
– Wallenberg-Syndrom (dorsolaterales Oblongatasyndrom, Syndrom der hinteren Schädelgrube):
Syndrom mit Paresen kaudaler Hirnnerven; Ursache: Durchblutungsstörung der A. cerebelli inferior posterior und der A. vertebralis; betrifft v. a.
N. glossopharyngeus und N. vagus; Symptome:
akuter Schwindel, Schallempfindungsschwerhörigkeit, Fallneigung zur Herdseite, Affektion des
N. trigeminus mit ipsilateralen Sensibilitätsstörungen des Kopfes, kontralaterale Schmerz- und
Temperaturempfindungsstörung, Sympathikusläsion mit Horner-Syndrom, Schluck- und Phonationsstörungen (Rekurrens- und Glossopharyngeusparese), Sehstörungen, Zephalgien
– Migräneschwindel: rezidivierende Schwindelattacken, die Sekunden bis Wochen anhalten;
Basilarismigräne: Schwindelattacken mit anderen Hirnstammsymptomen; vestibuläre Migräne:
monosymptomatische Verlaufsform (kochleovestibuläre Attacken)
– Multiple Sklerose: Differenzialdiagnose zur akuten peripheren Vestibulopathie (s. oben)
– außerdem: z. B. Arnold-Chiari-Malformation, Friedreich-Ataxie, Morbus Parkinson
Sonstige Gleichgewichtsstörungen
Zervikogener Schwindel
▬ Die Frage, ob es einen zervikogenen (halsbedingten
bzw. zervikalen oder vertebragenen) Schwindel bzw.
ein Zervikalsyndrom gibt, wird nach wie vor kontrovers diskutiert
▬ Für die Existenz spricht die klinische Erfahrung
Symptome
▬ In der Regel uncharakteristisch
▬ Es werden sehr vielgestaltige Symptome angegeben:
Nackenkopfschmerzen, Verspannungen im Nacken,
evtl. Bewegungseinschränkung, Ohrdruck
Ätiologie
▬ Keine bewiesene Ursache; diskutiert werden: Schädel-Hirn-Trauma, Schleudertrauma, Degeneration,
Sportverletzung, Narkose, Überlastungen
Diagnostik
▬ Anamnese hat in Zusammenhang mit der Halswirbelsäule eine große Bedeutung, denn oft lässt sich
die Diagnose eines zervikogenen Schwindels allein
anhand der Anamnese stellen
Therapie
▬ Hauptdomäne der Manualmedizin
▬ Gelenkmobilisationen, Schmerzausschaltungen, Behandlung von Triggerpunkten
Pharmakogener und toxischer Schwindel
▬ Zahlreiche Medikamente und gewerbliche Stoffe, die
toxisch auf das Innenohr wirken können
▬ Schwindel, der durch Medikamente ausgelöst wird, ist
relativ häufig
▬ Auch viele Medikamente gegen Schwindel verursachen Schwindel
Symptome
▬ Schwindel
▬ Hörstörungen
▬ Tinnitus
Ätiologie
▬ Ototoxische Medikamente
▬ Medikamente, die zentrale Okulomotoriusstörungen
hervorrufen können (Antikonvulsiva)
▬ Herz-Kreislauf-Präparate
Diagnostik
▬ Sorgfältige Anamnese
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Therapie
▬ Umsetzen bzw. Dosisreduktion des Medikaments
▬ Im Fall ototoxischer Medikamente: Prophylaxe (strenge Indikation, Monitoring, Überprüfung der Nierenfunktion, keine Kombination mit anderen oto- oder
nephrotoxischen Medikamenten), Antioxidanzien
Somatoformer Schwindel
▬ Komplexes Schwindelsyndrom (»psychischer Schwindel«)
▬ Tritt zunächst scheinbar ohne psychopathologische
Symptomatik auf
▬ Die häufigsten zugrunde liegenden psychischen Störungsbilder sind Angst- und phobische, depressive
sowie dissoziative und somatoforme Störungen
▬ Patienten geben sehr variable Schwindelbeschwerden
an
▬ Therapie: Einleitung einer Psychotherapie
287
▬ Prävention durch Körperhaltung (Festhalten oder
Anlehnen sowie Hinsetzen) oder Sehen (nahe Gegenstände bzw. Kontraste fixieren, bei Absturzgefahr
nicht durch ein Fernglas sehen)
Literatur
Baloh RW, Halmagyi GM (1996) Disorders of the vestibular system.
Oxford University Press, Oxford New York
Brandt T (2003) Vertigo: its multisensory syndromes, 2nd edn. Springer, Berlin Heidelberg London New York Tokyo
Brandt T, Dietrich M, Strupp M (2004) Vertigo. Leitsymptom Schwindel.
Steinkopff, Darmstadt
Desmond AL (2004) Vestibular functions: Evaluation and treatment.
Thieme, Stuttgart New York
Michel O (1998) Morbus Menière und verwandte Gleichgewichtsstörungen. Thieme, Stuttgart New York
Reiß M, Reiß G (2006) Therapie von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. UNI-MED, Bremen London Boston
Stoll W (Hrsg.) (1994) Schwindel und schwindelbegleitende Symptome. Springer, Berlin Heidelberg Wien New York Tokyo
Physiologischer Schwindel
Kinetosen
▬ Symptomenkomplex, der durch verschiedene Beschleunigungsreize ausgelöst werden kann
▬ »Bewegungskrankheit«; jedoch physiologische Reaktion (»Warnsignal«)
▬ Sensorische Konflikte zwischen verschiedenen Systemen: visuell-vestibuläres System, Bogengänge, Otolithen
Erstsymptome
▬ Blässe, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall
oder Verstopfung
▬ Auch Tachykardie, Schweißausbrüche, Hypersalivation, Teilnahmslosigkeit und Apathie
Prophylaxe und Therapie
▬ Verhaltensweisen: Kopf nicht bewegen, liegen, Horizont fixieren
▬ Adaptation (Anpassung an einen Dauerreiz), z. B. bei
Seereisen nach 2–4 Tagen; Spezifität beachten: Seefahrer können z. B. beim Fliegen Kinetose bekommen
▬ Medikamentöse Therapie: Arlevert, Dimenhydrinat,
Cinnarizin, Scopoderm-Pflaster
Höhenschwindel
▬ »Distanzschwindel«, hervorgerufen durch »visuelle
Destabilisierung« der Aufrechthaltung
▬ An bestimmten, exponierten Standorten (an einem
Abgrund, auf Leitern, Hausdächern, Türmen oder
Klippen) kommt es zu einem visuell ausgelösten, verstärkten Schwanken und zu einem Unsicherheitsgefühl
Kindliche Hörstörungen – Pädaudiologie
P. Kummer
> Wichtig
Kindliche Hörstörungen können die Sprach- und damit
die Gesamtentwicklung beeinträchtigen.
▬ Sensible Phasen der zentralen Hörbahnreifung und
der Sprachentwicklung in den ersten Lebensmonaten
und -jahren erfordern eine flächendeckende, universelle Frühdiagnostik und -intervention
▬ Neugeborenenhörscreening: ermöglicht Frühdiagnostik und -therapie angeborener Schwerhörigkeiten
▬ Später hat neben der Hörtestung die Beurteilung der
Sprachentwicklung besondere Bedeutung; ihre Störung
ist als mögliches Spätsymptom einer Schwerhörigkeit
zu bewerten und erfordert den Ausschluss einer verursachenden, in der Regel permanenten Schwerhörigkeit
Ätiologie
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit:
– häufigste Form der kindlicher Schwerhörigkeit
– meist passager: Tubenventilationsstörung, Seromukotympanon, akute Otitis media; entwicklungsrelevant ab einer Dauer von >3 Monaten; bei chronischem/rezidivierendem Verlauf Gefahr der Entwicklung einer chronischen Otitis media
– selten permanent: Tympanosklerose, Fehlbildungen (kraniofaziale Fehlbildung oder Anomalie des
äußeren Ohres, Syndrom), Otosklerose
▬ Hereditäre sensorineurale Schwerhörigkeit:
– Häufigkeit: bis zu 50 % kongenitaler Schwerhörigkeiten
3
288
3
Kapitel 3 · Ohr
– meist nichtsyndromal (Verhältnis von 2 : 1); davon
70–80 % autosomal-rezessiv, 10–25 % autosomaldominant und 2–3 % X-chromosomal vererbt
– syndromal: häufiger z. B. Usher-, Pendred- und
Waardenburg-, seltener Alport-, Jervell-LangeNielsen- und Branchiootorenalsyndrom
▬ Pränatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit:
– Infektion: Zytomegalie, Toxoplasmose, Röteln, Syphilis
– auch Spätmanifestation
– Progredienz
▬ Perinatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit:
– Frühgeburtlichkeit, Geburtsgewicht von <1500 g,
peripartale Asphyxie
– Hyperbilirubinämie: periphere und zentrale Manifestation (Kernikterus)
▬ Postnatal erworbene sensorineurale Schwerhörigkeit:
– ototoxische Medikamente: Aminoglykoside, Schleifendiuretika, Chemotherapeutika (Cisplatin, 5Fluorouracil, Bleomycin)
– Meningitis, v. a. bakteriell: Auftreten innerhalb von
48 h, Erholung/Progredienz binnen 2 Wochen
– Lärmexposition in Freizeit und/oder Beruf
– Akustikusneurinom: fast immer bei Neurofibromatose
Neugeborenenhörscreening
▬ Universelles Screening aller Neugeborenen
▬ Risiko einer angeborenen Schwerhörigkeit ist nur bei
etwa 50 % der Betroffenen erkennbar
▬ Methodik: otoakustische Emissionen oder Hirnstammaudiometrie bei Risikokindern
▬ Systematisches Follow-up auffälliger Kinder und Behandlung (# Kap. 3.3.2, »Neugeborenenhörscreening«,
und »Therapie«)
Diagnostik
▬ Im Gegensatz zur Erwachsenenaudiometrie erheblich
zeit- und ressourcenaufwendiger
▬ Individueller Methodeneinsatz hängt vom Entwicklungsalter des Kindes und von der Erfahrung des
Untersuchers ab
▬ Bewertung allein eines Messverfahrens ist ungenügend
▬ Je jünger das Kind, desto notwendiger sind objektive
Verfahren, ggf. in Sedierung oder Narkose
▬ Subjektive Hörprüfmethoden können entwicklungsabhängig unterschiedlich weit überschwellige (Reaktions-)Schwellen ergeben; ihre Bewertung erfordert
die Kenntnis der individuellen Entstehungsumstände
und der Mitarbeit des Kindes (# Kap. 3.3.2, »Pädaudiologie«)
– subjektive Hörprüfverfahren:
– Reflexaudiometrie
– Verhaltensaudiometrie
– Spielaudiometrie
– Tonschwellenaudiometrie
– Reizdarbietung im freien Schallfeld mit Einsteck-,
Kopf- und Knochenleitungshörern
– Reize: Schmalbandrauschen, (Wobbel-)Töne, Geräusche zwischen 0,5 und 4 kHz, kindgerechte
Geräusche/Lieder
– Sprachaudiometrie: entwicklungsaltersabhängig,
z. B. Mainzer oder Göttinger Kindersprachtest,
Oldenburger Satztest
– objektive Hörprüfmethoden:
– (Multifrequenz-)Tympanometrie, Stapediusreflexaudiometrie
– transitorisch evozierte otoakustische Emissionen,
Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen
– Hirnstammaudiometrie mit Klicks und frequenzspezifischen Reizen (»notched noise«), ggf. Knochenleitungshörer
– humangenetische Diagnostik: v. a. bei Syndromverdacht
! Cave
Regelmäßige Kontrollen des Gehörs sind bei jedem
Kind notwendig, um einen späten Beginn oder eine
Progredienz einer Schwerhörigkeit rechtzeitig erfassen
zu können.
Auditorische Neuropathie (selten)
▬ Otoakustische Emissionen nachweisbar, fehlende
Antworten bei der Hirnstammaudiometrie
▬ Im Vergleich zur Tonschwellenaudiometrie teils
nur geringe Schwerhörigkeit, aber erhebliche
Einschränkung des Sprachverständnisses (s. oben,
»Hörstörungen« → »Auditorische Synaptopathie/
Neuropathie«)
Therapie
▬ Hörgeräteversorgung:
– schwierigere Voraussetzungen als beim Erwachsenen: Tonschwellenbestimmung mit Unsicherheit
behaftet, Sprachaudiometrie oft erschwert oder nur
eingeschränkt beurteilbar; frequenzspezifische, objektive Aussagen häufig nur durch objektive Verfahren wie »Notched-noise«-Hirnstammaudiometrie möglich
– beidohrige Versorgung mit Hinter-dem-Ohr-Geräten bei beidseitiger Schwerhörigkeit
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
– Knochenleitungshörgeräte bei Gehörgangsfehlbildung
– vergleichende Anpassung erprobter, in der Regel
volldigitaler Geräte; in Hinblick auf langjährige Anwendung wichtig: Verstärkungsreserven, Richtmikrophontechnik, Störgeräusch- und Rückkopplungsunterdrückung
– Einstellung und Überprüfung am Kuppler nach
»real ear to coupler difference« und In-situ-Messung, durch Bestimmung der Aufblähkurve und
der Unbehaglichkeitsschwelle, später Sprachaudiometrie
– fortlaufende Nachanpassung, regelmäßige Kontrollen des Gehörs
– drahtlose Übertragungs-(Frequenzmodulations-)
Anlage
▬ Kochleaimplantat:
– Indikation: mittlerer Hörverlust von >90 dB (0,5, 1
und 2 kHz nach National Institute of Health, 1995)
– ab 6. Lebensmonat möglich, auch beidseitig (# Kap.
20.1.3)
– wegen drohender Obliteration der Kochlea bei
durchgemachter Meningitis sofortige Versorgung
notwendig
▬ Hör-Sprach-Frühförderung:
– begleitend zur Hörsystemversorgung im 1. Lebenshalbjahr
– Hörerziehung, Sprachanbahnung
– Beratung, Anleitung und Information der Eltern
Literatur
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
(DGPP) (2005) Periphere Hörstörungen im Kindesalter. AWMFLeitlinien-Register Nr. 049/010; http://leitlinien.net
Niedzielski A, Humeniuk E, Blaziak P, Gwizda G (2006) Intellectual
efficiency of children with unilateral hearing loss. Int J Pediatr
Otorhinolaryngol 70: 1529–1532
Wendler J, Seidner W, Eysholdt W (Hrsg.) (2005) Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York
3.6.5 Otoliquorrhö
B. Schick
289
Ätiopathogenese
▬ Trauma: laterobasale Frakturen bei etwa 20 % aller
Schädelfrakturen
▬ Laterobasale Operationen, z. B. translabyrinthäre Resektion eines Vestibularisschwannoms
▬ Fehlbildungen: Otoliquorrhö bei kochleärer Dysplasie, Hirnhautöffnungen/Schädelbasisdefekten oder
bei dem Befund einer Meningozele/Meningoenzephalozele
– labyrinthäre Liquorfisteln häufig mit kochleärer
Dysplasie/Taubheit assoziiert (embryonale Fehlbildung in der 7. Schwangerschaftswoche: spontan,
hereditär, syndromaler Zusammenhang, z. B. Klippel-Feil-, Down-, di-George-Syndrom)
– perilabyrinthäre Liquorfisteln durch Dehiszenz
oder abnorme Erweiterung u. a. von Fazialiskanal, Hyrtl-Fissur, Canalis petromastoideus oder
Aquaeductus cochleae; Cave: Möglichkeit multipler
Fehlbildungen der Schädelbasis
– labyrinthferne Liquorfisteln, u. a. an der petrosquamösen Sutur, am Sinus-Dura-Winkel und an der
Felsenbeinspitze (embryologisch ist die Felsenbeinspitze Teil der vorderen Schädelbasis)
▬ Entzündung, z. B. Cholesteatom (sehr selten)
▬ Tumor: in der Regel als Folge einer Therapie (Radiatio, Operation)
▬ Fortschreitende Knochenresorptionen durch Pulsationen im Bereich der Foveolae granulares mit der
Folge von Dehiszenzentwicklungen
▬ Unbekannte Ursache (spontan; sehr selten)
Klinisches Bild
▬ Abtropfen von klarer Flüssigkeit aus dem Ohr oder
aus der Nase: Ablaufen des Liquors über die Tuba
auditiva – (Oto-)Rhinoliquorrhö
▬ Schallleitungsschwerhörigkeit: Liquoransammlung in
der Paukenhöhle
▬ Entzündliche Komplikationen (Meningitis, Hirnabszess) mit Nachweis von Erregern der oberen Luftwege (Pneumokokken, Haemophilus influenzae), bei
nicht erkannten Liquorfisteln auch rezidivierende
Meningitiden
Diagnostik
Definition
▬ Abfluss von Liquor cerebrospinalis an einem otobasalen Schädelbasisdefekt in die pneumatisierten Räume
des Felsenbeins
Epidemiologie
▬ Im Vergleich zur Rhinoliquorrhö selten
▬ Etwa 9 % aller Liquorrhöen
▬ Laborchemische Analyse der austretenden Flüssigkeit: β-Trace-Protein, β2-Transferrin, Albumin/
Präalbumin-Quotient (qualitativer Nachweis; # Kap.
1.8.2)
▬ Luftnachweis im Sinne eines Pneumenzephalons als
Zeichen einer Duraverletzung
▬ »High-resolution«-Computertomographie zur Darstellung von Knochendefekten
3
290
3
Kapitel 3 · Ohr
▬ Magnetresonanztomographie mit möglicher Darstellung der Liquorfistel, aber auch von Meningo-/Enzephalozelen
▬ Fluoreszeinprobe, computer- oder magnetresonanztomographische Zisternographie zur Darstellung der
Liquorfistel durch Liquormarkierung (Topodiagnostik; # Kap. 1.8.2)
Differenzialdiagnostik
▬ Erworbene Perilymphfistel
▬ Sekret von Mittelohr- und Mastoidschleimhaut
▬ Synovialflüssigkeit bei Kiefergelenkfraktur mit Impressionsfraktur der Gehörgangsvorderwand
Therapie
▬ Antibiotikaprophylaxe umstritten: resistente Keimselektion, kein sicherer Schutz vor Meningitis/Abszess
▬ Bei Trauma:
– bei Frakturspalten zunächst abwartende Haltung
möglich (steriler Ohrverband; Cave: keine Tamponade des Gehörgangs)
– operative Intervention bei persistierender Otoliquorrhö (über 5–7 Tage)
– bei größeren Defekten/breitem Frakturspalt (Literaturangaben unterschiedlich: >0,4–1 cm) operative Defektdeckung unabhängig vom möglichen
Sistieren einer Otoliquorrhö, z. B. durch eine dünne
Archnoideanarbe (kein ausreichender Schutz vor
aszendierender Entzündung)
– operative Intervention unabhängig von der Defektgröße bei gleichzeitig bestehender Entzündung
▬ Bei laterobasaler Operationen, u. a. translabyrinthäre
Resektion eines Vestibularisschwannoms: unterstützende Liquordrainage für 5–7 Tage mit dem Ziel eines
Fistelverschlusses durch die Wundheilungsprozesse
(Cave: Meningitisgefahr bei länger liegender Lumbaldrainage), bei persistierender Otoliquorrhö operative Revision
▬ Bei Fehlbildungen, Entzündungen und spontaner Liquorrhö: operative Therapie, zumeist mit Wahl eines
transmastoidalen oder transtemporalen Zugangs zum
suffizienten Hirnhautverschluss
▬ Bei Tumor: Therapie im Kontext der Gesamtbehandlung
Verlauf und Prognose
▬ Posttraumatische Otoliquorrhö sistiert häufig spontan
▬ Posttraumatische Meningitisgefahr nach laterobasalen Frakturen in 2–25 % der Fälle
▬ Inzidenz von Meningitiden bei labyrinthnahen Malformationen: 85 %
▬ Inzidenz von Meningitiden bei Malformationen im
Bereich des Tegmen tympani: 16 %
> Wichtig
Sistiert eine Otoliquorrhö bei Fehlbildungen oder spontaner Ätiologie bzw. im längeren Intervall nach einem
Trauma, ist ein nur dünner, insuffizienter Hirnhautverschluss zu beachten.
Literatur
Bryson E, Draf W, Hofmann E, Bockmühl U (2005) Versorgung okkulter
Missbildungen der lateralen Schädelbasis. Laryngorhinootologie
84: 921–928
Gjuric M, Winter M (1998) Rhinoliquorrhö und Otoliquorrhö. HNO 46:
205–219
Sikand A, Longridge N (1991) CSF otorrhea complicating osteoradionecrosis of the temporal bone. J Otolaryngol 20: 209–211
Steidtmann K, Welge-Lüßen A, Probst R (1997) Antibiotikaprophylaxe
bei laterobasalen Frakturen HNO: 448–452
Walby AP (1988) Cerebrospinal otorrhoea – a temporal bone report. J
Laryngol Otol 102: 399–402
3.6.6 Tumoren des Innenohrs
und des Felsenbeins
H. Iro, F. Waldfahrer
Einteilung
▬ Tumoren der Otobasis bzw. des Felsenbeins: Dermoide, Tumoren des Knorpels, des Knochens und des
hämatopoetischen Systems
▬ Extra- oder intrakranielle Tumoren, die in die Otobasis einwachsen: Meningeome, Neurinome, Paragangliome
▬ Metastasen: s. unten, »Seltene Tumoren«
▬ Einteilung nach der Histologie (⊡ Tab. 3.10)
Oktavusneurinom/Vestibularisschwannom
Definition
▬ Benigne, langsam wachsende, solide oder zystische
Geschwulst der Schwann-Zellen des N. vestibularis
▬ »Synonym« Akustikusneurinom unrichtig (aber gebräuchlich), da Tumor von Nn. vestibulares (in der
Nähe des Ggl. Scarpae) ausgeht; Kleinhirnbrückenwinkeltumor
▬ Widersprüchliche Angaben, ob Tumor bevorzugt von
N. vestibularis inferior oder N. vestibularis superior
ausgeht
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Einteilung
▬ Nach Wigand und Haid:
– A: im Meatus acusticus internus (1–8 mm)
– B: in Kleinhirnbrückenwinkel vorwölbend, ohne
Flächenkontakt zum Stammhirn (9–25 mm)
– C: dem Hirnstamm flächig anliegend, bindegewebig adhäsiv (>25 mm)
▬ Nach Fisch und Wegmüller (nach Lokalisation und
Größe):
– I: intrameatal, ≤8 mm
– II: mittelgroße Tumoren bis zum Kleinhirnbrückenwinkel, ≤25 mm
– III: intrakraniell, >25 mm
▬ Nach der Histologie: Antoni A und B (s. »Histologie«)
Epidemiologie
▬ Häufigster Kleinhirnbrückenwinkeltumor (etwa 80 %;
8–10 % aller intrakraniellen Raumforderungen)
▬ Inzidenz: 0,78–1,15/100.000
▬ Je nach Quelle ausgeglichenes Geschlechterverhältnis
oder Gynäkotropie (2 : 1)
▬ Laut Sektionsstatistiken 0,8–2,7 % der Bevölkerung
betroffen
Histologie
▬ Neurinom, ausgehend von Schwann-Zellen
▬ Tumoren verdrängen andere Hirnnerven
▬ Nach Antoni Unterscheidung von 2 Typen:
– Antoni A: geordnete Zellzüge, Palisadenstellung der
Zellkerne
– Antoni B: sternartig angeordnete Kernformationen,
Kernpolymorphien, girlandenförmige Gefäßschlingen
Klinisches Bild
▬ Frühsymptome:
– plötzlicher oder rezidivierender Hörverlust (15–20 %;
1–2 % der Patienten mit plötzlichem Hörverlust haben ein Oktavusneurinom), progrediente Hörminderung (85 %), Tinnitus (50–60 %)
– Schwindel eher untypisch (<20 %), da Ausfall und
Kompensation parallel verlaufen
– Unsicherheit bei besonderer Beanspruchung des
Gleichgewichtsorgans (50–60 %)
▬ Spätsymptome (bei Tumordurchmesser von >2 cm):
– Trigeminusneuropathie, Fazialisparese, Fazialisparoxysmien bzw. Spasmus hemifacialis
– Symptome des gesteigerten Hirndrucks (>4 cm)
– Ataxie, Dysdiadochokinese, Dysphagie, Heiserkeit,
Abduzensparese (selten)
291
Diagnostik
▬ Audiometrie ermöglicht weder Nachweis noch Ausschluss:
– häufig hochtonbetonte Hörminderung, »recruitment« negativ
– unverhältnismäßig schlechtes Einsilberverständnis
– bei Hirnstammaudiometrie Asymmetrie und Latenzverlängerung (Wellen Jewett I–V: pathologisch
ab 5 ms): Treffsicherheit in >90 % der Fälle
▬ Tympanometrie: normal
▬ Stapediusreflexe: fehlen oder Reflex-Decay
▬ Vestibularisprüfung: einseitige Unter- oder Unerregbarkeit, meist mit Zeichen der Kompensation
▬ Goldstandard: Magnetresonanztomographie ohne
und mit Kontrastmittel (einzig sicheres Verfahren
zum Nachweis oder Ausschluss eines Vestibularisschwannoms; Treffsicherheit: bei 100 %):
– kleine Tumoren: ovaläre oder zylinderartige Form
– mittelgroße Tumoren: typische Glühbirnen- bzw.
Eistütenform; Fassung der Glühbirne bzw. Spitze
der Eiswaffel zeigt auf inneren Gehörgang
– Standard: T1-Wichtung ohne und mit Kontrastmittel (mit Kontrastmittel deutliches »enhancement«
in 100 % der Fälle)
– T2: Füllungsdefekt
– alternativ »constructive interference in steady state
sequence« (CISS; extrem T2-gewichtete Gradientenechosequenz)
▬ Computertomographie: kleine Tumoren wegen Aufhärtungsartefakten (Houndsfield-Balken) nicht nachweisbar
▬ Abschwächung des Konjunktivalreflexes und Hitselberger-Zeichen (Hypästhesie der hinteren oberen
Gehörgangswand als Zeichen einer Läsion der sensiblen Äste des N. facialis) gelten heute als Spätsymptome
▬ Fazialiselektromyographie zum Nachweis einer subklinischen Alteration
▬ Konsil: neurologische Mitbeurteilung
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
▬
Fazialisneurinom
Neurofibromatose Typ 2
Epidermoid des Kleinhirnbrückenwinkels
Paragangliom des Kleinhirnbrückenwinkels
Andere seltene, primäre oder metastatische Neubildungen im Kleinhirnbrückenwinkel
Multiple Sklerose
Subarachnoidalblutung
Hörsturz
Morbus Menière (anfallsweise)
3
292
Kapitel 3 · Ohr
Therapie
3
▬ Ziele:
– Verlaufskontrollen bei kleinen Tumoren oder Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand
– Entfernung oder zumindest Verkleinerung des Tumors
▬ Therapiemaßnahmen (magnetresonanztomographische Frühdiagnostik bewirkte Wandel des Behandlungsregimes):
– ausführliche Aufklärung über alle Therapieoptionen (»watchful waiting«, Radiotherapie, Operation)
– »watchful waiting«:
– ≥50 % der Tumoren zeigen innerhalb von 1–3 Jahren kein oder ein nur minimales Wachstum
– magnetresonanztomographische und audiometrische Kontrolle alle 6–12 Monate
– plötzlicher Hörverlust möglich
– Entscheidungskriterien: Alter, Ko-Morbidität,
Tumorvolumen, Tumorlokalisation und -ausdehnung, Neurofibromatose Typ 2, Hörvermögen
(auch kontralateral), Vestibularisfunktion
– Radiotherapie:
– stereotaktische Bestrahlung (Misnomer-»Radiochirurgie«), z. B. mittels Gamma-Knife: einmalige oder fraktionierte Bestrahlung (bei größerem
Tumorvolumen eher fraktioniert)
– Vorteile: ambulant durchführbar, keine akuten
Nebenwirkungen
– aktuelle Dosisempfehlung: 13 Gy; früher höhere
Dosierung wegen höherer Komplikationsrate (zu
27 % Trigeminusneuropathie, zu 21 % Fazialisparese und zu 49 % Hörverschlechterung) verlassen
– Nachteile: protrahierte Nebenwirkungen (Hörminderung, Gleichgewichtsstörungen, Fazialisparese, Trigeminusneuropathie), limitierte Langzeiterfahrungen (Progredienz, Rezidive, strahleninduzierte Malignome), maximaler therapierbarer
Durchmesser (30 mm)
! Cave
Hohe Komplikationsraten (Ertaubung und Fazialisparese)
bei Operation nach Radiotherapie
– Operation (mikrochirurgische Tumorexstirpation)
mit 3 Zugangsarten (mit zahlreichen Modifikationen; # Kap. 21.5.1, »Innenohr und Otobasis«):
– translabyrinthär (Fazialisparese vom HouseGrad I: 59 %; Liquorleck: 9 %; Kopfschmerzen:
3 %)
– transtemporal bzw. erweitert transtemporal
(»middle fossa approach«; Hörererhalt: 53 %; Fa-
zialisparese vom House-Grad I: 76 %; Liquorleck:
6 %; Kopfschmerzen: 8 %)
– subokzipital bzw. retrosigmoidal (typischer neurochirurgischer Zugang; Hörerhalt: 30 %; Fazialisparese vom House-Grad I: 83 %; Liquorleck:
11 %; Kopfschmerzen: 21 %)
> Wichtig
Operation immer mit hirnstammaudiometrischem und
Fazialismonitoring, sofern Nerven präoperativ intakt sind
Verlauf und Prognose
▬ Komplikationen: s. »Klinisches Bild« (Spätsymptome)
▬ Mittleres Wachstum: 1 mm3/Jahr
▬ Bei großen, chirurgisch unvollständig entfernten Tumoren Rezidivneigung mit erneutem Tumorwachstum
▬ Nonresponder nach stereotaktischer Bestrahlung:
Operation
Neurofibromatose Typ 2 (NF 2)
Definition und Epidemiologie
▬ Häufig bilaterale Neurofibrome der Nn. vestibulares,
daneben Meningeome, Ependymome und Gliome, zu
80–90 % auch spinale Tumoren
▬ Inzidenz: 1/35.000
▬ Prävalenz: 1/210.000
▬ 18 % der Patienten jünger als 15 Jahre
Einteilung
▬ 3 Subtypen:
– Wishart-Typ: bilaterale Vestibularisschwannome,
intrakranielle Tumoren im späten Teenager- bis
frühen Twen-Alter
– Gardner-Typ: bilaterale Vestibularisschwannome,
seltener andere intrakranielle Tumoren, spätere
Manifestation
– segmentale NF 2: somatisches Mosaik (etwa 25 %),
uni- oder bilaterale Vestibularisneurofibrome
Ätiopathogenese
▬ Vererbung: autosomal-dominant
▬ Mutation des NF2-Tumorsuppressorgens auf Chromosom 22 (NF 1 bzw. Morbus Recklinghausen: »Café-au-lait«-Flecken und Neurofibrome an der Haut,
gehäuft Tumoren des Zentralnervensystems verschiedener Lokalisationen; Defekt des Chromosoms 17)
▬ Neurofibrome, aufgebaut aus Schwann-Zellen und
Fibroblasten
▬ Tumoren spreizen bzw. infiltrieren andere Hirnnerven
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
Diagnostik
▬ Nach Manchester-Kriterien:
– A: bilaterale Vestibularisneurofibrome
– B: Verwandter 1. Grades mit NF 2 und einseitigem
Vestibularisneurofibrom oder Folgendem: Meningeom, Schwannom, Gliom, Neurofibrom, juvenile
posteriore subkapsuläre Linsentrübung
– C: einseitiges Vestibularisneurofibrom und 2 der
folgenden Erscheinungen: Schwannom, Gliom,
Neurofibrom, juvenile posteriore subkapsuläre Linsentrübung
– D: multiple Meningeome (≥2) und einseitiges Vestibularisneurofibrom oder 2 der folgenden Erscheinungen: Schwannom, Gliom, Neurofibrom, Katarakt
▬ ≤6 »Café-au-lait«-Flecken möglich (Hautmanifestationen wie bei NF 1 sind untypisch)
▬ Bei gesicherter Diagnose Verwandtenuntersuchung
(Ziel: frühe Operation mit Hörerhaltung)
Therapie
▬ Grundprinzipien: Frühoperation mit Hörerhalt >
Kochleaimplantat > Hirnstammimplantat; auf der anderen Seite »watchful waiting«
▬ Therapie von Tumordurchmesser und Hörvermögen
abhängig (⊡ Tab. 3.13)
▬ Operation immer mit hirnstammaudiometrischem
und Fazialismonitoring, sofern Nerven präoperativ
intakt waren
▬ Stereotaktische Radiotherapie:
– fraglich schlechteres Ansprechen als bei sporadischem Vestibularisschwannom
– aktuelle Dosierung: 10–15 Gy
– Kontrolle: etwa 80 %; Hörerhalt: ungefähr 40 %;
Fazialisparese: etwa 5 %
– früher höhere Dosis → zu hohe Rate an Hirnnervenparesen
– Indikationen:
– primär bei Kontraindikationen gegen Operation
oder Operationsverweigerung
– sekundär nach R1- bzw. R2-Resektion
▬ Experimentelle Ansätze: Antiangiogenese, Gentherapie
Meningeom
Definition
▬ In der Regel gutartiger, expansiv wachsender Tumor
der Hirnhäute
▬ Von Arachnoidalzellen ausgehend
▬ Häufig Zufallsbefund bei der Bildgebung
293
Einteilung
▬ Meningeom des Kleinhirnbrückenwinkels
▬ Extrakranielles, primäres oder primitives Felsenbeinmeningeom: Entstehung im Felsenbein
▬ Sekundäres Felsenbeinmeningeom: primär intrakranielle Entstehung
Epidemiologie
▬ Etwa 5–10 % aller Kleinhirnbrückenwinkeltumoren
▬ Gynäkotropie (2 : 1)
▬ Altersgipfel: 42 Jahre bei Frauen, 48–52 Jahre bei
Männern
▬ 8–18 % aller Meningeome sind im Kleinhirnbrückenwinkel lokalisiert
Ätiologie
▬ Entgegen früherer Annahme kein Kausalzusammenhang mit Schädel-Hirn-Trauma
▬ Risikofaktor: frühere Bestrahlung
▬ Auftreten im Rahmen einer NF 2, eines Werner- oder
eines Gorlin-Syndroms
▬ Pathohistologisch typische Psammonkörper (basophile, im Tumor verstreute, konzentrische, kugelförmige, meist verkalkte Formationen), nach WHO
3 Subtypen
Diagnostik
▬ Computertomographie: hyperdens oder isodens zum
Hirngewebe, homogenes Kontrastmittel-Enhancement, Kalzifikation (10–26 %), Hyperostose (25 %)
▬ Magnetresonanztomographie (Methode der Wahl):
– T1: hypo- bis isoindens zum Hirngewebe
– T2: uneinheitlich
– im Vergleich zum Vestibularisschwannom größer,
breitbasiger, exzentrisch, weniger Kontrastierung
mit Kontrastmittel
Differenzialdiagnostik
▬ Abgrenzung gegenüber Vestibularisschwannom: frühere Fazialisbeteiligung, Hörminderung hingegen
später, Tinnitus seltener, Trigeminusaffektion häufiger; Kalzifizierung, Hypertrophie des inneren Gehörgangs
Therapie
▬ Vollständige operative (mikrochirurgische) Entfernung
▬ Wahl des Zugangs in Abhängigkeit von Tumorausbreitung (expansiv oder seltener flächig wachsender
Typ mit Umscheidung der Gefäß- und Nervenstrukturen), Hörvermögen und Patientenfaktoren
3
294
Kapitel 3 · Ohr
⊡ Tab. 3.13. Therapie von Neurofibromen bei Neurofibromatose Typ 2 in Abhängigkeit von Tumordurchmesser und Hörvermögen
Rechtes Ohr
3
Linkes Ohr
Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm
Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser
von <2 cm
Gutes Hörvermögen,
Tumordurchmesser
von >2 cm
Schlechtes Hörvermögen,
Tumordurchmesser von
>2 cm
Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von <2 cm
 Größeren Tumor entfernen
(translabyrinthär), kleineren
Tumor beobachten
 Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation, möglichst
mit Erhalt des N. cochlearis;
falls möglich, Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat
 Größeren Tumor operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt des
N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten
Hirnstammimplantat
 Dann Gegenseite
operieren (translabyrinthär), möglichst mit
Erhalt des N. cochlearis
 Kleineren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit
Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat,
ansonsten Hirnstammimplantat
 Größeren Tumor
beobachten, ggf. Dekompression
 Größeren Tumor operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt des
N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten
Hirnstammimplantat
 Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt
des N. cochlearis
Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von
<2 cm
 Größeren Tumor entfernen
(translabyrinthär), kleineren
Tumor beobachten
 Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation, möglichst
mit Erhalt des N. cochlearis;
falls möglich, Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat
 Größeren Tumor operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt
des N. cochlearis; falls
möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten
Hirnstammimplantat
 Dann Gegenseite
operieren (translabyrinthär), möglichst mit
Erhalt des N. cochlearis
 Kleineren Tumor operieren (translabyrinthär), möglichst mit
Erhalt des N. cochlearis; falls möglich, später Kochleaimplantat,
ansonsten Hirnstammimplantat
 Größeren Tumor
beobachten, ggf. Dekompression
 Größeren Tumor operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt
des N. cochlearis; falls
möglich, später Kochleaimplantat, ansonsten
Hirnstammimplantat
 Dann Gegenseite operieren (translabyrinthär),
möglichst mit Erhalt
des N. cochlearis
Gutes Hörvermögen, Tumordurchmesser von >2 cm
 Kleineren Tumor entfernen
(transtemporal, subokzipital)
 Falls kein Hörverlust besteht, Operation der Gegenseite
 Bei Hörverlust Promontorialtest → positiver Test:
»watchful waiting« und
sobald Hörverlust auf der
Gegenseite auftritt, hier
translabyrinthäre Operation
und homolaterales Kochleaimplantat; negativer Test:
»watchful waiting«, kontralaterale translabyrinthäre
Operation mit Erhalt des
N. cochlearis, dann Kochleaimplantat (falls N. cochlearis nicht zu erhalten ist:
Hirnstammimplantat)
 Kleineren Tumor
operieren (translabyrinthär), möglichst mit
Erhalt des N. cochlearis;
falls möglich, später
Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat
 Größeren Tumor beobachten, ggf. Dekompression
 »Watchful waiting«
 Transtympanale
Operation (Ziel: Erhalt
des N. cochlearis für
Kochleaimplantat;
falls nicht möglich:
Hirnstammimplantat)
 Oder: Dekompression
mit oder ohne »debulking«
–
Schlechtes Hörvermögen, Tumordurchmesser von
>2 cm
 Größeren Tumor entfernen
(translabyrinthär), kleineren
Tumor beobachten
 Bei Hörverlust translabyrinthäre Operation,
möglichst mit Erhalt des
N. cochlearis; falls möglich,
Kochleaimplantat, ansonsten Hirnstammimplantat
–
–
–
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
295
Verlauf
Seltene Tumoren
▬ Wachstumsmuster: Infiltration von Dura, Sinus und
Knochen, Verdrängung von Hirngewebe, begleitend
Hyperostose (25 %)
▬ In 5 % der Fälle malignes Verhalten
▬ Epidermoid:
– eigenständige Erkrankung, die von einer Keimversprengung von Plattenepithel während der Embryonalzeit ausgeht
– kugelige Geschwülste (dünner Sack aus einer epithelialen Wand ohne Anhangsgebilde, enthält geschichtete Epithellamellen und bräunlich-grünliche
Massen)
– Lokalisation: Felsenbein, innerer Gehörgang, Kleinhirnbrückenwinkel
▬ Cholesteringranulom:
– selten durch angeborene, meist durch erworbene
Störungen der Felsenbeinpneumatisation
– besteht aus Granulationsgewebe mit zystischen
Hohlräumen
– Prädilektionsstelle: Pyramidenspitze; auch Auftreten im Kleinhirnbrückenwinkel
– Fazialisparese, Irritation des N. trigeminus oder des
N. abducens
– Therapie: Drainageoperation, ggf. translabyrinthär
oder transtemporal
▬ Hämangiom von Ggl. geniculi, Felsenbein oder Klein-
Intralabyrinthäre Schwannome
Definition
▬ Ausgehend von Schwann-Zellen des N. vestibularis
oder des N. cochlearis (seltener)
Klinisches Bild
▬ Häufig asymptomatisch, ansonsten je nach Tumorlokalisation Hörminderung (auch fluktuierend) oder
Schwindel (Menière-Symptomatik möglich)
Diagnostik
▬ Magnetresonanztomographie (gezielte Bildanalyse erforderlich)
Therapie
▬ Je nach Hörvermögen »watchful waiting«, ansonsten
translabyrinthärer bzw. transotischer Zugang (mit Erhalt des N. facialis)
Tumoren des Saccus endolymphaticus
Definition
▬ Heffner-Tumor: aggressive papilläre Tumoren, ausgehend vom Endothel des Saccus endolymphaticus
▬ Papilläre und zystische Komponente
▬ Typisch: Knocheninfiltration, langsames Wachstum
▬ Bislang keine Metastasierung beobachtet
Klinisches Bild und Diagnostik
▬ Sensorineuraler Hörverlust, seltener sichtbarer Tumor im Mittelohr, Tinnitus, Fazialisparese, Schwindel
▬ Typische »Fehldiagnosen«: Menière-Symptomenkomplex, Paragangliom
▬ Computer- und magnetresonanztomographische Diagnostik
Therapie
▬ R0-Resektion anstreben, ggf. otoneurochirurgische
Kooperation
▬ Rolle der adjuvanten Radiotherapie unklar; bei R1oder R2-Situation ist Radiotherapie indiziert
hirnbrückenwinkel:
– tumoröse Wucherung der Gefäße und/oder ihres
Bindegewebes
– Leitsymptom: pulsierender Tinnitus
– Therapie: operative Entfernung
▬ Eosinophiles Granulom:
– gutartige Raumforderung, deren tumoröse Genese
nicht gesichert ist
– gehört neben der Hand-Schüller-Christian- und
der Letterer-Siwe-Erkrankung zur Histozytosis X
(monostotischer Skelettbefall der Langerhans-ZellHistiozytose)
▬ Multiples Myelom: kann solitär oder multipel im
Kopf-Hals-Bereich auftreten
▬ Trigeminusschwannom: Ausbreitung in mittlere und
hintere Schädelgrube mit Atrophie der Pyramidenspitze
▬ Arachnoidalzyste:
– primär oder kongenital
– kann sich über inneren Gehörgang in den FallopioKanal sowie in Schnecke und Pauke ausbreiten
– hochgradige Schwerhörigkeit oder Taubheit, Auftreten unklarer Meningitiden, Fazialisparese
– Therapie: operative Resektion und Defektabdeckung
▬ Paragangliom: # Kap. 3.5.6
▬ Chordom:
– maligner Tumor aus Resten des embryonalen Notochords (embryonaler Vorläufer der Wirbelsäule
→ später Nucleus pulposus)
3
296
3
Kapitel 3 · Ohr
– tritt in der sphenookzipitalen Region und im Klivus
auf; kann von dort in das Felsenbein, die Sella und
den Kleinhirnbrückenwinkel hineinwachsen (Ausbreitung intra- oder extrakraniell)
– lymphogene und hämatogene Metastasierung
– Raumforderungen im Nasenrachen (Nasenatmungsbehinderung), Verlegung der Tuben (Paukenerguss), Schluckbeschwerden, Fazialisparese
– Therapie:
– totale Entfernung anstreben
– ermutigende Ergebnisse mit Imatinib
– spricht schlecht auf Bestrahlung an (ggf. Schwerionenbestrahlung)
– Prognose schlecht, Erkrankung endet in der Regel
letal
▬ Karzinommetastasen:
– hämatogene Metastasen
– meist solitär (Mastoid, Felsenbeinspitze, Foramen
jugulare, mittlere Schädelgrube) oder von einer
karzinomatösen Meningitis ausgehend
– Ursprungsorte: Mamma- und Nierenzellkarzinom,
Struma maligna, Prostata- und Bronchialkarzinom
Klinische Syndrome der Otobasis
▬ Bei Tumoren sowie z. B. bei entzündlichen Prozessen
oder Fehlbildungen
▬ Syndrom des Kleinhirnbrückenwinkels: s. oben, »Oktavusneurinom/Vestibularisschwannom«
▬ Syndrom des Foramen jugulare:
– IX., X. und XI. Hirnnerv: Schluckstörung, nasale
Regurgitation, vermehrte Speichelbildung, Husten,
Dysphonie, einseitige Schmeckstörung (hinterer
Anteil der Zunge), Sensibilitätsverlust des ipsilateralen Gaumens und des Kehlkopfs
– Parese des M. constrictor pharyngis mit Kulissenphänomen (N. glossopharyngeus), einseitige
Stimmlippenparese, Parese von M. sternocleidomastoideus und M. trapezius, ggf. ipsilaterale Parese der Zunge bei Beeinträchtigung des Canalis
nervi hypoglossi (bei ausgedehnten Prozessen)
– z. B. Paragangliome und Neurinome
▬ Syndrom des Hirnstamms (präpontines Syndrom):
– Infiltration der mittleren Schädelbasis mit Druck
auf den Hirnstamm, v. a. auf II., IV. und VIII. Hirnnerv, auch beidseits
– am häufigsten beim Chordom des Klivus, aber auch
bei Sarkomen oder Karzinomen des Epipharynx
▬ Syndrom des Klivus:
– Kompression des III. Hirnnervs gegen den Klivus
– Mydriasis, Lidptosis, umschriebenes Hirnödem,
subdurales Hämatom
▬ Syndrom der Felsenbeinspitze (Gradenigo-Syndrom):
N. trigeminus und N. abducens betroffen (# Kap. 3.5.4,
»Otogene entzündliche und intrakranielle Komplikationen« → »Petrositis«)
▬ Syndrom der petrosphenoidalen Kreuzung:
– bei Tumoren, die sich durch das Foramen lacerum
nach intrakraniell ausbreiten
– Hirnnerven II–VI betroffen
– v. a. Gesichtsneuralgien
Literatur
Engenhart-Cabillic R, Groß MW, Henzel M, Zabel A, Milker-Zabel S, Rades D (2006) Zentrales Nervensystem und Sinnesorgane. In: Wannenmacher M, Debus J, Wenz F (Hrsg.) Strahlentherapie. Springer,
Berlin Heidelberg New York Tokyo, S. 321–372
Fisch U, Wegmüller A (1974) Early diagnosis of acoustic neuromas. ORL
J Otorhinolaryngol Relat Spec 36: 129–140
Greenberg MS (ed) (2006) Handbook of neurosurgery, 6th edn.
Thieme, Stuttgart New York
Harsha WJ, Backous DD (2005) Counseling patients on surgical options
for treating acoustic neuroma. Otolaryngol Clin North Am 38:
643–652
Jackler RK, Driscoll CLW (eds) (2000) Tumors of the ear and temporal
bone. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia
Neff BA, Welling DB (2005) Current concepts in the evaluation and
treatment of neurofibromatosis type II. Otolaryngol Clin North
Am 38: 671–684
Wigand ME, Rettinger G, Haid T, Berg M (1985) Die Ausräumung von
Oktavusneurinomen des Kleinhirnbrückenwinkels mit transtemporalem Zugang über die mittlere Schädelgrube. HNO 33: 11–16
3.6.7 Auditive Verarbeitungs- und
Wahrnehmungsstörungen
P. Kummer
Definition
▬ Störung zentraler Prozesse des Hörens, welche die
Analyse, Differenzierung und Identifikation von
Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditiv-sprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion und der dichotischen
Verarbeitung ermöglichen
▬ Unauffälliges Tonschwellenaudiogramm
Epidemiologie
▬ Häufigkeit: bei Kindern 2–3 %, bei älteren Erwachsenen 10–20 %
▬ Männer doppelt so häufig betroffen wie Frauen
Ätiologie
▬ Meist unklar
▬ Diskutiert werden: genetische Disposition, Hirnläsionen (kongenital, vaskulär, entzündlich, tumorös),
rezidivierende Otitis media
3.6 · Erkrankungen des Innenohrs und des Labyrinths einschließlich Laterobasis
297
Klinisches Bild
Verlauf und Prognose
▬ Störungen der Schalllokalisation, der Spracherkennung im Störschall, der Unterscheidung, Identifizierung, Synthese oder Analyse von Sprachlauten, des
Verständnisses verbaler Instruktionen und der auditiven Merkfähigkeit
▬ Eingeschränkte Schulleistungen, v. a. Lese-Rechtschreib-Störungen
▬ Häufig ko-morbide Verhaltens- und/oder Lernstörungen
▬ Analog peripherer Hörstörungen: Beeinträchtigung
der Sprachentwicklung, des Schriftspracheerwerbs,
der Schulleistungen, der psychosozialen Kompetenz
und der kognitiv-sprachlichen Entwicklung
Diagnostik
▬ Ausschluss einer peripheren Schwerhörigkeit
▬ Nachweis gestörter zentraler Prozesse des Hörens mit
subjektiven Verfahren für:
– nichtsprachliche Signale: Richtungshörprüfung, Pegel-, Frequenz- und Zeitauflösung, Hörfeld
– sprachliche Signale: Sprachaudiometrie mit oder
ohne Störschall, dichotische Hörtests, Tests mit
zeitkomprimierter Sprache
– phonologische Bewusstheit: Lautdiskrimination
und -identifikation, Lauteverbinden
– Hörmerkspanne
▬ Objektive Verfahren zur Untersuchung der peripheren Hörfunktion: otoakustische Emissionen
▬ Objektive Verfahren zur Untersuchung der zentralen
Verarbeitung und Wahrnehmung:
– Impedanzaudiometrie
– auditorisch evozierte Potenziale früher (Hirnstammaudiometrie), mittlerer (»middle latency response
audiometry«) und später Latenz (»cortical evoked
response audiometry«, »mismatch negativity« –
negatives Differenzpotenzial im Latenzbereich der
späten Potenziale)
▬ Interdisziplinäre Differenzialdiagnostik: Phoniatrie
und Pädaudiologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie
Differenzialdiagnostik
▬
▬
▬
▬
Sprachentwicklungsstörung
Lernstörung
Intelligenzminderung
Aufmerksamkeitsstörung (bei Nachweis symptomatische auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen)
Therapie
▬ Defizitspezifische übende Verfahren
▬ Kompensatorische metalinguistische, metakognitive
Verfahren
▬ Verbesserung der Signalqualität: Raumakustik und Sitzplatz im Klassenzimmer, in Einzelfällen Frequenzmodulationsanlage (drahtlose Signalübertragungsanlage)
Literatur
Lehnhardt E, Laszig R (Hrsg.) (2001) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl.
Thieme, Stuttgart New York
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP) (2005) Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS). AWMF-Leitlinien-Register Nr. 049/012; http://
leitlinien.net
Wendler J, Seidner W, Eysholdt W (Hrsg.) (2005) Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York
Wohlleben B, Rosenfeld J, Gross M (2007) Auditive Verarbeitungs- und
Wahrnehmungsstörungen (AVWS): Erste Normwerte zur standardisierten Diagnostik bei Schulkindern. HNO 55: 403–410
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