SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„In neuer Vertrautheit“
Wie Jazz zitiert und zitiert wird (3)
Von Julia Neupert
Sendung:
Mittwoch, 14. Oktober 2015 9.05 – 10.00 Uhr
(Wiederholung vom 19.01.2011)
Redaktion: Ulla Zierau
Bitte beachten Sie:
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1 AT
Nostalgie, Traditionsbewusstsein, Bequemlichkeit, Respekt,
Prahlerei? Warum klingen die so gestrig? Ist die Vergangenheit nicht
zu Recht Vergangenheit? Warum sie wieder herbei zitieren? Fragen,
die man sich im Jazz stellen lassen muss, wenn man zum Beispiel
anfängt, ein halbes Jahrhundert nach Charlie Parker wieder so zu
spielen: {00:20}
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Musik 1
3 AT
T: Be Bop
K: Dizzy Gillespie
I: Sebastian Gramss Underkarl
CD: Jazzessence
Tob 99102, LC 5370
{01:07}
Es sind wieder „Underkarl“, die diese Stunde eröffnen – mit einem
Titel, den sie schlicht „Be Bop“ nennen. Obwohl es wahrscheinlich
auch ohne Kennzeichnung gelungen wäre, diese Nummer als
stilistisches Zitat zu enttarnen. Das sportliche Tempo, das virtuose
Thema, die druckvolle Energie, die Besetzung: alles typische
Elemente des Bebop aus den 1940er und 1950er Jahren. Nun war
das keine historische Originalaufnahme, sondern ein Zitat. Und
„Underkarl“ machen das deutlich, indem sie ihren Bebop zu einem
Konzentrat eindampfen, das quasi nur noch aus Klischees besteht.
Eher eine musikalische Parodie also und sicher nicht so ernst
gemeint wie dieses Stück. Etwa zur selben Zeit entstanden. Es heißt
auch „Bebop“: {00:47}
2
Musik 2
4 AT
T: Bebop
K: Wynton Marsalis
I: Wynton Marsalis & Ensemble
CD: Jump Start / Jazz – Two Ballads
Sony BMG 62998, LC 12735
{03:14}
Zweimal Bebop, zweimal Zitat und doch ein Riesenunterschied: Die
eben gehörte Wynton-Marsalis-Version meint es ernst: Ironische
Facetten fehlen in seinem Spiel völlig. Es ist tatsächlich eine StilInterpretation nach Art der Historischen Aufführungspraxis. So soll es
sein! Meint der Trompeter als Wortführer einer Gruppe, die man die
„Neokonservativen“ des Jazz nennt. Weil sie unter anderem dafür
eintritt, die verschiedenen traditionellen Stilrichtungen dieser Musik
als ein kulturelles Erbe zu konservieren, das man ordentlich pflegen
muss. Neo-Bebop, Neo-Hard Bop, Neo-Cool, Neo-Swing, Neo-NewOrleans: Wie sinnvoll das höchstens aus didaktischen Gründen, nicht
aber für den Jazz als eine sich immer erneuernde Kunstform ist,
kann man dann sehr schnell hören. Und legt sich vielleicht doch
lieber die Originale auf den Plattenspieler.
Musik 3
5 AT
T: Mohawk
K: Charlie Parker
I: Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, Curly Russell,
Buddy Rich
CD: Bird And Diz
Verve 314 521 436-2, LC 0383
{03:47}
Drei Heroen des Bebop zum einzigen Mal zusammen im Studio:
Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Thelonious Monk von dem Album
„Bird And Diz“, 1950 aufgenommen in New York. Mit dabei
außerdem noch Curly Russell am Bass und Buddy Rich am
Schlagzeug. Es waren die Jahre des großen Aufbruchs im Jazz. Seit
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der Swingära hatte sich viel getan – die Szene war unübersichtlicher
geworden. Vieles existiert jetzt nebeneinander, Gruppen formieren
sich ständig neu und morgen schon klingen die Aufnahmen von
gestern altmodisch. Bebop, Hardbop, Cool Jazz, Westcoast, Swing –
Jazz war damals nicht mehr so einfach zu definieren, als die eine
improvisierte amerikanische Musik. Jazz hatte viele Facetten
bekommen, sprach viele Dialekte und wer den von Louis Armstrong
mochte, musste noch lange nicht den von Charlie Parker lieben.
Aber gerade diese stilistische Vielfalt ist es auch, die Jazz bis heute
zu so einer lebendigen und offenen Musik macht. In der jede neue
Generation auch wieder Spannendes im Alten findet. {01:05}
Musik 4
6 AT
T: Rusty Bagpipe Boogie
K: Hayden Chisholm
I: Nils Wogram & Root 70
CD: Listen To Your Woman
nwog records 001, LC 12366
{06:30}
Nils Wolgram’s Root 70 mit einem mikrotonalen „Rusty Bagpipe
Boogie“ von ihrem aktuellen Blues-Album „Listen To Your Woman“.
Sie hören vor allem gerne sehr genau in die Jazzgeschichte herein:
Nils Wogram, Hayden Chisholm, Jochen Rückert und Matt Pennan.
Hier einmal ziemlich weit zurück in die scheppernde Boogie-WoogieWelt der frühen Barrelhouse-Pianisten. Es ist die Nummer zwei einer
Konzept-Alben-Reihe, die das Quartett in Vintage-Manier aufnimmt.
Mit alten Röhrenmikrophonen und etlichen musikalischen Stilzitaten.
Ohne den leisesten Schimmer von Sentimentalität allerdings, das
kann man schon bei diesem Boogie hören: zu trocken das
Schlagzeug, zu nüchtern die Riffs und zu abgeklärt überhaupt die
4
Spielhaltung. „Neo-Cool“ nennt man diesen typischen Root 70-Sound
mittlerweile auch, weil er in seiner unaufgeregten Leichtigkeit nicht
nur ein bisschen an Paul Desmond & Co. erinnert: {01:00}
Musik 5
7 AT
T: Three To Get Ready
K: Dave Brubeck
I: Dave Brubeck Quintet
CD: Time Out
Columbia CK 65122, LC 0162
{05:20}
„Three To Get Ready“ – das Dave Brubeck Quintet von ihrem
legendären Album „Time Out“. Vor allem durch den Titel „Take Five“
sind die Mitglieder dieser Band zu wahren Stilikonen geworden.
Stilikonen, denen man auf der ganzen Welt nacheiferte. Überhaupt
war es bis in die sechziger Jahre hinein üblich, den Jazz möglichst
originalgetreu nachzuspielen, der über den Rundfunk, durch
Plattenaufnahmen oder Konzerttourneen aus seinem Ursprungsland
kam. So ist in diesem Zusammenhang immer wieder von „Europas
Imitationsphase“ zu lesen. Von Musikern, die ihren ganzen Ehrgeiz
daran setzten, genau so eine Musik zu machen, wie ihre Vorbilder
aus New Orleans, New York, Chicago oder Kalifornien. Stil-Kopien
gehörten damals also zum Handwerk, Originalität bewies man eher
auf der Mikro-Ebene – im Erfinden von Themen, in der
improvisatorischen Virtuosität oder – exzentrischem Auftreten.
Daheim in Deutschland hat das zum Beispiel für die Pianistin Jutta
Hipp auch wunderbar funktioniert. Geschult am Cool-Jazz eines
Lennie Tristano brillierte sie in diesem Stil und spielte (als einzige
Frau übrigens) eine wichtige Rolle im Jazz des
Nachkriegsdeutschlands. Zu gut für eine rein nationale Karriere, fand
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der einflussreiche Produzent Leonard Feather und überredete sie, in
die USA umzusiedeln. Sie tat es. Und – hörte bald darauf mit dem
Klavierspielen auf. {01:25}
Musik 6
T: Introduction By Leonard Feather
CD: Jutta Hipp At The Hickory House
Blue Note TOCJ-9105
{00:10}
Musik 7
T: Take Me In Your Arms
K: Brian Holland, Lamont Dozier, Eddie Holland
I: Jutta Hipp, Peter Ind, Ed Thigpen
CD: Jutta Hipp At The Hickory House
Blue Note TOCJ-9105
{04:00}
8 AT
„Take Me In Your Arms“ – „Europe’s First Lady Of Jazz“, Jutta Hipp
live at the Hickory House. In New York musste die Leipziger Pianistin
bald erfahren, dass ihr Stil à la Lennie Tristano offensichtlich schon
nicht mehr modern genug war. Genügend Selbstbewusstsein für eine
eigenständige Weiterentwicklung, zu der sie wohl durchaus das
Potential gehabt hätte, konnte Hipp damals nicht aufbringen und
verschwand Ende der 1950er Jahre vollständig aus dem Geschäft.
In Europa begann man derweil in dieser Zeit langsam, sich von den
Stildiktaten des amerikanischen Jazz zu emanzipieren. Auch wenn
das den Musikern hüben wie drüben dann nicht selten als
Respektlosigkeit gegenüber der Tradition ausgelegt worden ist. Und
es immer wieder Gegenbewegungen gegeben hat. Das Dixieland
Revival sei hier genannt oder die streng nach Bop-Regeln
spielenden Neokonservativen.
Die Motivation, einen alten Stil wieder aufzugreifen, muss aber nicht
immer nur mit Bewunderung zu tun haben oder mit der Angst ums
6
Erbgut: Immer wiederkehrende Trends scheinen hier genauso eine
Rolle zu spielen wie in der Mode. Mal ist der Hard-Bop der 60er
Jahre angesagt, mal frischt man den Rockjazz wieder etwas auf, mal
kramt man in den alten Plattenkisten der 20er oder 30er Jahre. Der
Electro-Swing ist so ein Phänomen. Seit Anfang dieses Jahrtausends
parallel zur allgemeinen Swingtanz-Begeisterung entstanden, zitiert
er Django Reinhard, Ella Fitzgerald, Benny Goodman und andere im
Kontext elektronischer Club- und Balkanbeats. Und manövriert so mit
einem eigentlich sehr einfachen Rezept eine Nostalgie auf die
Tanzfläche, die erstaunlich erfolgreich ist.
Musik 8
9 AT
T: Memories
K: Klaus Waldeck
I: Waldeck
CD: Ballroom Stories
Dope Noir DONO 0023
{02:00}
Schlicht, aber wirkungsvoll – Electro-Swing von Bands wie Caravan
Palace, dunkelbunt oder, wie eben gehört, Waldeck bringen
Elemente des Swing wieder dahin, wo er früher schon mal war: in die
Charts und auf die Tanzfläche. Um das Zitieren von Jazz-Stilen geht
es heute in der Musikstunde. Und beim Swing können wir noch eine
Weile bleiben. Und bei den vielen jungen Männern, die da im
Moment alle in die Fußstapfen von einem passen sollen: {00:27}
Musik 9
T: You’re Getting To Be A Habit
K: H. Warren, A. Dubin
I: Frank Sinatra und Ensemble
CD: Songs For Swingin’ Lovers
Capitol Records CDP 7 46570 2
{02:20}
7
10 AT
Frank Sinatra, „You’re Getting To Be A Habit With Me“ – so ganz
unumstritten war er als Jazzsänger zwar nie, zu den
einflussreichsten Vertretern der Big-Band-Ära muss er aber dennoch
gezählt werden. Denn Sinatra hat einen Stil maßgeblich mitgeprägt,
der bis heute seine Nachahmer findet. Das sogenannte „Crooning“
hat gerade in letzter Zeit eine Renaissance erlebt, die sich sicher
nicht nur musikalisch erklären lässt. Männer, die mit wohlklingender
Stimme swingende Balladen singen, sind derart in Mode gekommen,
dass sie sich bei den Plattenfirmen inzwischen auf die Füße treten
müssen. Michael Bublé, Tom Gaebel, Roger Cicero, Harry Connick
... sie alle singen nicht nur, sondern zitieren mit elegantem Outfit,
Showauftritten und Gentleman-Attitüde auch einen Lifestyle, der
offensichtlich angelehnt sein soll an das Lebensgefühl der 20er und
30er Jahre. Es sind die guten alten Zeiten, die hier
heraufbeschworen werden, in denen Männer noch ordentlich
gekleidet waren und Manieren hatten. In denen Popmusik noch von
richtigen Bands gespielt und nicht am Computer aus Samples
generiert wurden, in denen die Nachbarn noch Spaß- und keine
Wutbürger waren. Wenn die Bläser einsetzen, wenn der Swingbesen
rührt, und der schöne Mann ans Mikrophon tritt: ist es fast wie früher.
{01:21}
Musik 10
T: Lookin’ good
K: D. Frishberg
I: Jamie Cullum
CD: Jamie Cullum & Frank Sinatra. The Kings Of Swing
SCCD 1132, LC 13429
{03:10}
8
11 AT
Jamie Cullum von einer zwei-Mann-CD, die die Plattenfirma etwas
großspurig unter dem Titel verkauft: „Jamie Cullum and Frank
Sinatra. The Kings Of Swing.“ Duke Ellington, Count Basie oder
Woody Herman dürften darüber nur müde lächeln und es empfiehlt
sich, zum Vergleich mal wieder in deren Alben rein zu hören.
Außerdem findet die in musikalischer Hinsicht doch recht
abgespeckte Wiederkehr des Swing momentan eher auf Popbühnen
statt, eingefleischten Jazzfans wird sie da sicher weniger begegnen.
Eine andere Renaissance dagegen dürfte an ihnen nicht vorbei
gegangen sein: Der Jazzrock ist auch wieder aufgetaucht. Verzerrte
E-Gitarren, Synthesizer, Effektgeräte, druckvolles Schlagzeugspiel:
Sowohl im Mainstreambereich als auch in der Avantgarde ist der
raue Ton en vogue. Junge Bands wie Johnny La Marama, Led Bib
oder das Lucien-Dubuis-Trio zitieren ihn verstärkt und damit wohl
auch ein bisschen ihre eigene musikalische Sozialisation. Klima
Kalima aus Berlin, mit Rücksicht auf die Tatsache, dass vielleicht
einige von Ihnen noch am Frühstückstisch sitzen, spielen sie eine
Jazzrock-Ballade: TomorrowA {01:05}
Musik 11
T: TomorrowA
K: Kalle Kalima
I: Klima Kalima
CD: Loru
enja 9198, LC 18386
{05:00}
9
12 AT
Jazzrock aus dem Jahr 2010. Klima Kalima waren das mit
stilistischer Reminiszenz an die 1970er Jahre.
Die Lust am Spaß mit dem Zitat, die sich in der jetzigen Jazzszene
immer mehr verbreitet, könnte übrigens (aber das ist eine sehr
vorsichtige These) auch damit zusammenhängen, dass Jazz heute
von vielen Musikern an Hochschulen gelernt wird. Auf dem
akademischen Stundenplan dort: viel theoretische und praktische
Beschäftigung mit Jazzgeschichte, mit historischen Spieltechniken,
mit epochalen Aufnahmen. Die eigene Stimme zu finden, bleibt zwar
oberstes Studienziel – sich dafür aber in der Jazzgeschichte zu
bedienen, ist ja durchaus legitim. Wenn es denn nicht nach dem
Prinzip „Copy and paste“ passiert. Am Ende dieser Stunde noch ein
Mann, dem solche Verfahren völlig fremd sind, obwohl er hörbar
sowohl Swing, als auch Bebop und Free Jazz in den Fingern hat.
Vijay Iyer von seinem Solo-Album: Patterns. / Fleurette Africaine.
Musik 12
T: Fleurette Africaine
K: Vijay Iyer
I: Vijay Iyer
CD: Solo
ACT 9503-2, LC 07644
{08:35}
10
Zugehörige Unterlagen
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