1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen Fallbeispiel Die 30-jährige Frau E. stellte eines Morgens beim Blick in den Spiegel fest, dass sie ein „schiefes“ Gesicht hat. Das rechte Augenlid ließ sich nicht ganz heben (Ptosis). Vor einem halben Jahr hatte sie den Zahnarzt aufgesucht, weil sie Probleme hatte, zähes Fleisch zu kauen, doch wurde kein Befund erhoben. Unabhängig davon registrierte die junge Frau, die den Haushalt und zwei kleine Kinder versorgt, dass sich ihre Freunde von ihr zurückziehen. Eine Bekannte, die sie daraufhin ansprach, meinte, dass sie einfach wenig Interesse an anderen zeige und gefühlskalt reagiere. Damit wies sie auf die reduzierte Mimik der 30-Jährigen hin. In den letzten Wochen kam hinzu, dass ihr das Treppensteigen schwer fiel und ihr Mann einmal sagte, sie solle doch nicht immer so schlurfend gehen. Seit einiger Zeit bemerkte Frau E. zudem, dass längeres Fernsehen sie anstrengte und sie manchmal die Dinge doppelt sah. Ein Termin beim Augenarzt war schon vereinbart, als nun erste Lähmungserscheinungen im Bereich der Mimik auftraten. Frau E. wurde bei Verdacht auf eine systemische Muskelerkrankung in eine neurologische Klinik aufgenommen. Störungen des Bewegungsablaufs sind meist nicht allein durch ihr Erscheinungsbild einem eindeutigen Krankheitsbild zuzuordnen. In jedem Fall muss eingehend geklärt werden, wann erstmals Auffälligkeiten aufgetreten sind und wie sich diese genau geäußert haben. Das Muster der sich rasch verschlechternden Muskelausfälle bei Frau E. im Bereich der mimischen und der Kaumuskulatur, der Augenmuskeln und der Beine ließ bald an eine Myasthenia gravis denken. Denn v. a. junge Frauen um die 30 sind von dieser Autoimmunkrankheit betroffen. Bei der Untersuchung fand sich eine im Vergleich zur Muskulatur von Armen, Schultern und Rumpf deutliche Hypotrophie der Muskeln der Oberschenkel. Die Elektromyografie ergab eine pathologisch beschleunigte Ermüdung der Muskeln. Zu den weiteren bildgebenden Verfahren, die eingesetzt wurden, gehörten die zerebrale Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns. Dabei galt es v. a., einen Schlaganfall, zerebrale Blutungen und eine Multiple Sklerose auszuschließen. Durch Laboruntersuchungen auf Entzündungszeichen und zum Nachweis von Antikörpern bei Immunreaktionen ließ sich die Diagnose Myasthenia gravis rasch sichern. Im Blut konnten die auslösenden Antikörper dieser ursächlich ungeklärten Auto­ immunkrankheit nachgewiesen werden. Die Antikörper richten sich gegen die Rezeptoren (für Azetylcholin) an der motorischen Endplatte, jener Synapse, die 13 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Beobachtung und Untersuchung 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen den Impuls der zentralnervösen motorischen Erregung auf den Muskel überträgt. An dieser Autoimmunreaktion ist der Thymus beteiligt, wobei die auslösenden Faktoren nicht geklärt sind. Infektionen, aber auch chronischer Schlafmangel können eine Rolle spielen. Im Fall der Patientin konnten keine eindeutigen Entstehungsfaktoren nachgewiesen werden. Hintergründe und weitere Diagnostik Bewegungsstörungen können sich an allen Muskeln isoliert zeigen, betreffen aber meist zusammengehörende Muskelgruppen. Ursachen können zentralnervöse Störungen, aber auch Erkrankungen der Gelenke, der Muskeln oder der peripheren Nerven sein. Besteht eine Bewegungs- oder Gangstörung, sollten zunächst grundlegende anamnestische Fragen geklärt werden (s. Algorithmus S. 17). Zentralnervöse Ursachen Degenerative Erkrankungen des ZNS gehen immer mit einer veränderten, eingeschränkten Beweglichkeit und oft mit der Entwicklung einer Demenz einher. Ein typisches Beispiel hierfür ist Morbus Alzheimer. Bewegungsstörungen entstehen auch immer dann, wenn das Zusammenspiel von Gleichgewicht und optischen Informationen an die Sinneszentren und das Kleinhirn gestört ist, oder bei Erkrankungen der Rückenmarksbahnen. Tremor, Hypo- oder Akinese und Rigor (Tab. 1) weisen auf einen Morbus Parkinson hin. Häufig werden Schmerzen in den Extremitäten als Frühsymptom beobachtet, die auf degenerative Veränderungen der Wirbelsäule zurückgeführt werden. Das charakteristische Vollbild der Erkrankung entwickelt sich zunächst langsam. Eine unruhige Mimik mit blitzartig einschießenden Hyperkinesien entwickelt sich häufig zur Chorea Huntington. Die insgesamt verlangsamten Bewegungen mit Sprachstörungen und allgemeiner Unruhe können eine Demenz vortäuschen. Beim Tourette-Syndrom treten tic-artige Zuckungen im Gesicht auf, die oft mit unkontrollierten, zwanghaften zotigen Äußerungen verbunden sind. Immer sind auch psychogene Gangstörungen auszuschließen. Häufig sind degenerative Veränderungen der Gelenke Ursache von Bewegungsstörungen, die unter Belastung zunehmend mit Schmerzen einhergehen und bei Ruhe oder nachts – im Gegensatz zur entzündlichen Arthritis – abklingen. Bei klinisch erkennbaren Arthrosen lässt sich bei Bewegung des Gelenks ein Knirschen und Reiben des zerstörten Knorpels fühlen. Fortschreitende Arthrosen führen zur Gelenkfehlstellung (Arthrosis deformans). Verbreitete Arthrosen sind die des Hüftgelenks (Coxarthrose) und die des Kniegelenks (Gonarthrose). Als auslösende Faktoren kommen mehrere Krankheiten in Betracht: • Immunkrankheiten, z. B. rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis), ­Arthritis bei Kollagenosen (beispielsweise Psoriasis-Arthritis), 14 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Skelett- oder Gelenkerkrankungen 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen • Stoffwechselstörungen, z. B. Gicht, Diabetes mellitus, • Vitaminmangel, z. B. Mangel an Vitamin C (subperiostale Blutungen), Osteomalazie bei Mangel an aktivem „Hormon Vitamin D“ (Störung der Aktivierung von Vitamin D bei chronischer Niereninsuffizienz), • hormonelle Erkrankungen, Hyperparathyreoidismus, Hypothyreose oder Cushing-Syndrom (Überfunktion der Nebennierenrinde oder über längere Zeit hoch dosierte Kortisontherapie), • Durchblutungsstörungen mit aseptischen Knochennekrosen. Bewegungsstörungen Ataxie Störung der Bewegungskoordination durch Erkrankungen des Rückenmarks oder des Kleinhirns (Cerebellum) Akinese und Hypokinese Gestörter Ablauf natürlicher, harmonischer Bewegungen. Der Patient muss immer wieder zu gewollten Bewegungen ansetzen, wobei diese verlangsamt ablaufen und erst verzögert beginnen. Charakteristisch für Morbus Parkinson Chorea Griechisch für „Tanz“; umschreibt verschiedene unwillkürliche Bewegungen, die der Patient nicht unterdrücken kann. Typisches Beispiel: Chorea Huntington (Veitstanz) Dystonie Unwillkürliche, länger anhaltende Muskelkrämpfe Faszikulationen Unkontrollierte, plötzliche Muskelkontraktionen, v. a. bei Erkrankungen der motorischen Vorderhornzellen (bei spinaler Muskelatrophie) Lähmung (Parese): Funktionsausfall eines Muskels mit sehr unterschiedlicher Ursache. Der vollständige Funktionsausfall wird auch als Paralyse oder Plegie bezeichnet (Abb. 1). zentrale Lähmung Erhöhte Eigen- und abgeschwächte Fremdreflexe, Auftreten einer Hemiparese oder Spastik von Muskelgruppen und/oder pathologischer Reflexe wie Babinski-Zeichen periphere Lähmung Abgeschwächte Reflexe, herabgesetzter Muskeltonus, typisches radikuläres Verteilungsmuster, häufige Faszikulationen, Muskelatrophie innerhalb weniger Wochen Myoklonie Rasch einsetzende, unwillkürliche Muskelzuckungen, ausgelöst durch bestimmte Bewegungen oder äußere Reize, z. B. auch die natürlichen Zuckungen vor dem Einschlafen Rigor Erhöhter Dehnungswiderstand bei hohem Muskeltonus, der bei passiver Dehnung rhythmisch unterbrochen wird (Zahnrad­ phänomen). Neben Tremor und Hypokinese gilt der Rigor als Leitmerkmal des Morbus Parkinson Spastik Erhöhter Muskeltonus mit eingeschränkter Beweglichkeit bei zentraler Lähmung, z. B. nach Schlaganfall. Betroffen sind v. a. Muskelgruppen, die besonders gegen die Schwerkraft wirken müssen. Tremor Unwillkürliches Zittern, das in Ruhe oder bei zielgerichteten Bewegungen (Intentionstremor) auftritt. 15 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Tab. 1: 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen Zu den Erkrankungen und Bewegungsstörungen der Wirbelsäule gehört der Morbus Bechterew, für den bei jüngeren Frauen die Entzündungsreaktion der Iliosakralfugen charakteristisch ist. Eine fixierte seitliche Verbiegung der Wirbelsäule wird als Skoliose bezeichnet, Ursachen können Muskelerkrankungen, Lähmungen, Frakturen oder Entzündungen der Wirbelkörper, ein Bandscheibenvorfall oder unbekannte Faktoren sein. Abb. 1: Lähmungen (aus Lindner 2006, S. 911). a) Monoparese rechter Arm, b) Hemiparese links, c) Paraparese beider Beine, d) Tetraparese mit Lähmung der vier Extremitäten. Im klinischen Sprachgebrauch wird der Begriff Parese oft mit Plegie gleichgesetzt. Bei einer Schwäche der Muskeln des Hüftgürtels tritt ein typischer „Watschelgang“ (Trendelenburg’scher Gang) auf, der dadurch entsteht, dass bei jedem Schritt das Becken rotiert werden muss. Bei einer Polymyalgia rheumatica, einer systemischen Entzündung, besteht eine schmerzhafte Steifigkeit v. a. im Schultergürtel und in den Oberarmen. Betroffen sind vorrangig ältere Patienten. Muskelschmerzen und eine eingeschränkte Beweglichkeit liegen auch bei einer ­Fibromyalgie vor. Faszikulationen treten bei Vorderhornprozessen auf. Sie sind häufig bei genetisch bedingten spinalen Muskelatrophien in verschiedenen ­Lebensphasen zu beobachten und mit Gangstörungen und Paresen verbunden. Die Myasthenia gravis ist beim vorliegenden Fallbeispiel beschrieben. Erkrankungen der Nerven Eine Polyneuropathie findet sich häufig bei Diabetes mellitus, infolge von Alkoholabusus und bei chronischer Niereninsuffizienz. Bei Niereninsuffizienz treten 16 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Erkrankungen der Muskeln 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen Leitmerkmal Bewegungsstörung zentrale Fragen ... •Seit wann liegen die Beschwerden vor? •Wie haben sich die Störungen entwickelt? •Liegen andere Krankheitshinweise vor? •Weist der Patient eine auffällige Körper­ haltung auf? •Sind die Muskeln hypotrophisch? •Sind die Reaktionen und Reflexe normal? •Ist der Patient häufig gestürzt? •Gibt es Hinweise auf Durchblutungsstörun­ gen, Stoffwechselerkrankungen oder andere Begleiterkrankungen? •Nimmt der Patient sedierende Medikamente ein? ... ergeben den Verdacht auf ... Erkrankungen der Muskeln Erkrankungen der Nerven •„Watschelgang“ bei Schwäche der Muskeln des Hüftgürtels •Polymyalgia rheumatica •Fibromyalgie •Spinale Muskelatrophie •Myasthenia gravis •Polyneuropathie (z. B. bei Diabetes mellitus, Alkohol­ abusus, Urämie) •Nervenwurzelkompressionen bei Diskusprolaps •Friedreich-Ataxie •Amyotrophe Lateralsklerose •Restless Legs •Demenz (z. B. Morbus Alzheimer) •zerebellare Ataxie •Gleichgewichtsstörungen •Multiple Sklerose •Morbus Parkinson •Chorea Huntington •Schlaganfall •Tourette-Syndrom •psychogene Ursachen Erkrankungen von Skelett oder Gelenken •degenerative Veränderungen der Gelenke (Arthrose) •Immunerkrankungen •Stoffwechselstörungen •Vitaminmangel •Erkrankungen von Schild­ drüse, Nebenschilddrüse oder Nebennierenrinde •Durchblutungsstörungen •Morbus Bechterew •Skoliose •Beinlängendifferenz •Bandscheibenvorfall •Fußfehlformen © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart zentralvenöse Ursachen Algorithmus 1: Diagnostisches Vorgehen bei einer Bewegungsstörung 17 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen oft „restless legs“ auf. Die Muskulatur kann hierbei vielseitig betroffen sein. Durch Schädigung des Plexus lumbalis oder des N. ischiadicus können beispielsweise die Fußhebermuskeln geschwächt sein, was zum Bild des „Steppergangs“ führt, bei dem der Patient Fuß und Bein höher als üblich anheben muss. Degenerative Veränderungen der dorsalen Stränge des Rückenmarks und der Hinterwurzeln der Spinalnerven lösen bei der Friedreich-Ataxie eine Gangataxie aus, die mit Störungen der Reflexe einhergeht. Die Betroffenen berichten von häufigen Stürzen bereits in der Kindheit. Früh ist schon ein positives Romberg-Zeichen zu beobachten. Das Zeichen ist positiv, wenn ein Patient, der mit eng geschlossenen Füßen und geschlossenen Augen steht, starke Schwankungen spürt und zu stürzen droht. Dann liegt eine spinale Ataxie vor. Eine zerebellare Ataxie ist von der optischen Kontrolle unabhängig, das Romberg-Zeichen ist negativ. Degenerative Erkrankungen der motorischen Neurone verursachen die amyotrophe Lateralsklerose. Maßnahmen und Beratung Ist bei Myasthenia gravis ein vergrößerter Thymus nachweisbar, wird das Organ, das beim Erwachsenen nur noch rudimentär vorhanden ist, operativ entfernt. Danach bilden sich die Symptome bei Dreiviertel der Patienten zurück. Alterna- Bewegungsstörungen können je nach Ursache und Auswirkungen zu verschiedenen pflegerelevanten Problemen und Bedürfnissen der Betroffenen führen. An erster Stelle sind jene Pflegediagnosen zu erwähnen, die sich unmittelbar auf die beeinträchtigte Beweglichkeit beziehen. Die Klassifi­ kation der NANDA enthält in der Klasse 2 „Aktivität/Bewegung“ der Domäne „Aktivität/Ruhe“ neun anerkannte Pflegediagnosen. Diese reichen von der Diagnose „Risiko eines Inaktivitätssyndroms“ über „beeinträchtigte Gehfähigkeit“ und „beeinträchtigte Transferfähigkeit“ bis hin zur Diagnose „bewegungsarmer Lebensstil“. Da Bewegungsstörungen oft unmittelbar Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens, etwa im Bereich Körperpflege und Kleiden, zur Folge haben, können Pflegediagnosen aus der Klasse 5 („Selbstfürsorge“) derselben Domäne ebenfalls relevant sein. Weiterhin können Einschränkungen der Mobilität und Aktivität mit Pflegediagnosen wie „Fatigue“, „reduzierte Belastbarkeit gegenüber Aktivität“ (oder ein entsprechendes Risiko) oder „Risiko eines Sturzes“ verbunden sein. Anzumerken ist, dass nach wie vor Forschungsbedarf hinsichtlich der ­Validierung einzelner Pflegediagnosen besteht. Eine der bisher wenigen Studien, in denen Pflegediagnosen im Bereich der eingeschränkten Beweglichkeit untersucht wurden, stammt von Hur et al. aus dem Jahr 2005. In dieser koreanischen Studie wurden Merkmale identifiziert, die für die ­Unterscheidung zwischen „eingeschränkter körperlicher Aktivität“ und „Aktivitätsintoleranz“ geeignet sind. 18 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Relevante Pflegediagnosen bei Bewegungsstörungen 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen tiv muss langfristig eine immunsuppressive Therapie durchgeführt werden. Bei therapieresistentem Verlauf kann eine Plasmapharese hilfreich sein. Wenngleich die Erkrankung heute noch als unheilbar gilt, so hat sich die Prognose doch deutlich gebessert. Die meisten Patienten weisen eine normale Lebensdauer auf, sind aber vermindert belastbar. Bei ausgedehntem Befall der Muskeln droht eine myasthenische Krise, die zu einer lebensbedrohlichen respiratorischen Insuffi­ zienz führen kann. Für die Patienten sind Selbsthilfegruppen sehr wichtig (www. myastheniagravis.de, www.dgm.org). Glossar Bewegungsstörungen Arthrose: Hierbei handelt es sich um eine degenerative Veränderung eines Gelenks durch verminderte Widerstandskraft des Gelenkknorpels. Fehlbelastungen, Fehlstellungen, Entzündungen oder Durchblutungsstörungen sowie endogene (z. B. Alterungsprozesse) und erbliche Faktoren begünstigen diese Entwicklung. Anhaltende Fehlbelastungen können zur entzündlichen Zerstörung von Knochen und Gelenkgewebe führen (Arthritis) mit der Folge einer Fehlstellung (Arthrosis deformans). Chorea: Mit dem griechischen Wort für Tanz werden nicht zu unterdrückende Bewegungen bei hypotoner Muskulatur beschrieben. Die Zuckungen können sich wiederholen und unter emotionaler Belastung zu einem regelrechten Bewegungssturm steigern. Ursachen sind Schädigungen des (à 25) extrapyramidalen Systems. Bei der autosomal dominant vererbten Chorea Huntington treten erste Symptome um 40 Jahre auf: Neben den muskulären Störungen fällt der rasch fortschreitende geistige Verfall der Patienten auf. Die heute seltene Chorea minor ist die Folge einer Streptokokkeninfektion. Lähmung: Funktionsverlust eines Muskels durch zentrale Schädigungen, wie (à 23) Schädelhirntrauma oder Schlaganfall (mit spastischer Lähmung durch Defekt am ersten Motoneuron), periphere Läsionen der Spinalnerven (mit schlaffer Lähmung) oder im Rahmen eines psychogenen Prozesses. Unter einer Parese wird eine motorische Schwäche, die auch unvollständig sein kann, verstanden. Dagegen bezeichnet eine Plegie stets eine vollständige Lähmung eines oder mehrerer Muskeln. Multiple Sklerose: Die Encephalomyelitis disseminata ist eine schubförmige oder chronisch verlaufende Erkrankung des ZNS durch Verlust des Myelins in den Markscheiden mit typischen Frühsysmptomen: Doppelbildsehen, Blickrichtungsnystagmus, Schielen durch Augenmuskellähmung, abgeschwächtem Kornealreflex, Sprach- und Schluckstörung, Heiserkeit und Intentionstremor. Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr auf. Ist das Rückenmark beteiligt, kommt es zum Bild der zentralen Lähmung bis zum kompletten Querschnittssyndrom. Myasthenia gravis: Bei dieser überwiegend Frauen befallenden Autoimmunerkrankung tritt eine Schädigung der motorischen Endplatten durch Antikörper gegen die 19 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Morbus Parkinson: Durch einen degenerativen Prozess der Substantia nigra im Hirnstamm, bei dem es zu einem Mangel des Neurotransmitters Dopamin kommt, bildet sich die klassische Symptomatik mit (à 25) Tremor als Plussymptom (positives Symptom) und (à 25) Akinese bzw. Hypokinese und Rigor als Minussymptome (negative Symptome) heraus; oft sind Schmerzen in den Extremitäten die Vorboten der ätiologisch unklaren Erkrankung. Die neuromuskulären Zeichen werden von vegetativen Merkmalen begleitet: erhöhter Speichelfluss, Schwitzen und vermehrte Talgsekretion, die zum Bild des Salbengesichts führt; die verlangsamten Reaktionen des Patienten lösen bei ihrem Umfeld das Vorurteil einer dementen Entwicklung aus. 1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen Rezeptoren für Azetylcholin auf. Erste Symptome zeigen sich als Muskelschwäche unter Belastung und Doppelbildsehen, dann treten Ptosis (hängendes Oberlid), Sprech-, Kau- und Schluckstörungen und eine Erschlaffung der Mimik auf; die Muskelschwäche breitet sich über die Extremitäten, dann auf die Rumpfmuskulatur aus und kann im schlimmsten Fall zu einer respiratorischen Insuffizienz (myasthenische Krise) führen. Myoklonie: Dieser Begriff beschreibt schnelle, kurze und unwillkürliche rhythmische Zuckungen einzelner Muskeln, von Muskelgruppen oder des ganzen Körpers durch unterschiedliche Ursachen, z. B. bei Epilepsie, Intoxikationen, nach Enzephalitis u. a. Physiologisch treten Myoklonien beim Einschlafen oder Aufwachen auf, aber auch, wenn man erschrickt. Ein Aktionsmyoklonus wird durch willkürliche Bewegungen ausgelöst, ein Reflexmyoklonus dagegen durch äußere Reize Spastik: Erhöhter Muskeltonus bei eingeschränkter Beweglichkeit und gesteigerter Kontraktionsbereitschaft. Typisch tritt eine Spastik bei zentraler Lähmung, z. B. durch einen Schlaganfall, auf. Polymyalgia rheumatica: Die zu den Entzündungen zählende Form des Rheumatismus befällt multiple Organe und zeigt sich durch morgendliche Schmerzen beider Schultern, dann treten Schmerzen in Oberarmen, Nacken, Becken und Oberschenkeln auf. Die Gelenkkapseln und Sehnenansätze sind druckschmerzhaft. In Abhängigkeit der serologischen Entzündungszeichen und dem Schweregrade der Symptome wird mit (à 8) Glukokortikosteroiden und Immunsuppressiva behandelt. Rheumatoide Arthritis: Der akute Gelenkrheumatismus wird durch eine Immunkomplexreaktion mit Reaktion auf Streptokokkenantigene ausgelöst. Typisch sind die Morgensteifigkeit der Gelenke, ein symmetrisches Befallsmuster der Hand- und Fingergelenke, Zeichen der akuten Entzündung und der Nachweis des Rheumafaktors. Die Entzündungen führen unbehandelt zu einer Zerstörung der betroffenen Gelenke mit Fehlformierung der Hände (ulnare Luxationsstellung der Finger). © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Restless Legs: Hinter dem Syndrom der restless legs verbergen sich unterschiedliche Ursachen. Nach der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) werden sie den nicht näher bezeichneten (à 25) extrapyramidalen Bewegungsstörungen zugeordnet. Abends und nachts, v. a. im Zeitraum von 2–4 Stunden um Mitternacht, treten quälende Parästhesien und Schmerzen in Beinen und Füßen auf, die sich durch Bewegungen vorübergehend lindern lassen. Neben der idiopathischen (primären) Form der Erkrankung treten Restless Legs als sekundäre Form häufig bei (à 5) Niereninsuffizienz und hypochromer (à 4) Anämie auf. Die eigentlichen Ursachen für diese Störung sind ungeklärt. 20 2 Leitmerkmal Blässe Fallbeispiel Seit zwei Wochen fühlt sich Peter K., ein 32-jähriger Kraftfahrer, schlapp und ist kaum noch fähig, seine Aufträge im vorgegebenen Zeitraum zu erledigen. Immer wieder muss er zusätzliche Fahrpausen einlegen, weil ihn Kopfschmerzen, Ohrensausen und Schwindel plagen. Schon bei leichten Anstrengungen leidet er unter Luftnot und spürt seinen Herzschlag. An den unangenehmen Druck im Oberbauch hat er sich inzwischen gewöhnt. Wenn ihn die Bauchschmerzen zu sehr plagen, schluckt er eine Tablette Aspirin. Er weiß, dass er mit zwei Schachteln Zigaretten täglich zu viel raucht. Als ihn seine Lebensgefährtin außerdem auf seine auffallende Blässe anspricht, geht er zum Arzt. Beobachtung und Untersuchung Der Hausarzt weist Herrn K. mit dem Verdacht auf ein blutendes Magengeschwür umgehend zur stationären Behandlung ein. Bei der Aufnahme wird ein Hämoglobin-Wert (Hb-Wert) von 6,3 g/dl (normalerweise mind. 13 g/dl) bei einem MCH (mittlerer corpuskulärer Hämoglobingehalt) von 24 pg (Picogramm) (normal mind. 26 pg) bestimmt. Als Ursache dieser hypochromen Anämie wird endoskopisch ein Magengeschwür mit frischer Blutung festgestellt (Stadium II nach der Forrest-Klassifikation). Diagnose: Anämie bei gastrointestinaler Blutung (Ulcus ventriculi). Die Farbe der Haut wird von der Durchblutung, dem Sauerstoffgehalt, der Menge des Hämoglobins und der Pigmentierung bestimmt. Die Konzentration an Melanin schwankt individuell stark, sodass die Blässe der Haut der Körperoberfläche allein keine sicheren Hinweise auf eine Störung ermöglichen. Als Leitmerkmal lässt eine auffallende Blässe in erster Linie an eine Anämie denken. V. a. die Inspektion der Schleimhäute unterstreicht diesen Verdacht. Ursachen für Blässe • Anämien incl. Eisenmangel, • Niereninsuffizienz, • Hypotonie bzw. orthostatische Dysregulation, • Malignome, 21 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Hintergründe und weitere Diagnostik 2 Leitmerkmal Blässe • • • • • • Herzinsuffizienz, Hypoglykämie, Volumenmangel, psychische Faktoren (Sympathikotonus bei Erschrecken oder Anspannung), Kältereiz, lokal: arterieller Verschluss oder Raynaud-Phänomen. Unter einer Anämie versteht man die Verminderung der Sauerstofftransport­ kapazität des Blutes. Die Ursachen hierfür können eine Abnahme der Erythrozytenzahl oder eine Abnahme der Konzentration des Hämoglobins sein. Alle Anämien weisen eine gemeinsame klinische Symptomatik auf: • Schwäche und Müdigkeit, • Kopfschmerzen, • Schwindel (bis zu Synkopen) und Ohrensausen, • orthostatische Dysregulation, • Dyspnoe, • Tachykardie (kann eine Angina pectoris auslösen), • Blässe von Haut und Schleimhäuten. Die Einteilung der Anämien erfolgt einerseits nach der Größe der Erythrozyten (MCV) und ihrem Hämoglobingehalt, andererseits nach ihren Ursachen. In der Einteilung der Anämien nach dem MCH der Erythrozyten werden hypochrome, hyperchrome und normochrome Anämien unterschieden (Tab. 2). Ein Eisenmangel liegt vor, wenn der Wert des verfügbaren Eisens im Körper zu niedrig ist. Der entscheidende Hinweis ergibt sich durch das niedrige Ferritin. Neben dieser Ursache müssen auch einige Medikamente für einen Eisenmangel verantwortlich gemacht werden. Hierzu zählt die chronische Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS). Charakteristisch für ausgeprägte Eisenmangelanämien sind Müdigkeit und Konzentrationsschwäche, Zungenbrennen, Mundwinkelrhagaden und Schluckbeschwerden. Bei einer hämolytischen Anämie ist die Lebenszeit der ­Erythrozyten herabgesetzt. Hämolyse bedeutet, dass in einer Zeitspanne mehr Erythrozyten abgebaut als neu gebildet werden. Die Ursachen hierfür können vielfältig sein, häufig besteht eine Immunhämolyse, wobei Wärme- oder Kälteantikörper nachgewiesen werden können. Auch Antikörper gegen Medikamente können eine Hämolyse auslösen. Eine mechanische Hämolyse besteht bei der Dialyse, Herzklappenfehlern und dem Zustand nach einer Implantation von mechanischen Herzklappen. Als Ursache einer infektiös-toxischen hämolytischen Anämie ist die Malaria zu nennen. Seltene Erkrankungen sind Membrandefekte der Erythrozyten, die sich durch eine paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie zeigen. Zu den angeborenen hämolytischen Anämien gehören genetisch bedingte Formveränderungen der Erythrozyten, Enzymdefekte und Erkrankungen des Hämoglobins selbst. Zu letzterer gehört die Sichelzellanämie und die Thalassämie. Das Leitsymptom Blässe der Anämie kann bei einer Hämolyse durch einen leichten Ikterus kaschiert sein. Manchmal leiden die Patienten auch unter Fieberschüben. 22 © 2009 W. Kohlhammer, Stuttgart Anämie