Empirismus versus Rationalismus?

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Hans-Jürgen Engfer
Empirismus versus
Rationalismus?
Kritik eines phi losophiegeschichtlichen
Schemas
Ferdinand Schöningh
Paderborn - München - Wien • Zürich
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Engfer, Hans-Jürgen:
Empirismus versus Rationalismus?: Kritik eines philosophiegeschichtlichen
Schemas / Hans-Jürgen Engfer. — Paderborn; München; Wien; Zürich:
Schöningh, 1996
ISBN 3-506-72241-7
Einbandgestaltung: Anna Braungart. Regensburg
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem
und alterungsbeständigem Papiere ISO 9706
1996 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige
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Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 3-506-72241-7
1. Einleitung
1. Die übliche Verwendung der Begriffe
Die Gegenüberstellung von Empirismus und Rationalismus ist eine der am
besten etablierten und am hiiufigsten angewandten Ordnungskategorien zur
Klassifikation philosophischer Positionen, Strömungen oder Schulen. Sie
wird erstens als eine systematische Unterscheidung zur Bezeichnung von
einander entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Standpunkten verwendet, sie dient zweitens als historischer Epochenbegriff zur Benennung der
zwei Strömungen, die die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts so sehr
beherrschten, daß sie ihr den Namen „Empirismus-Rationalismus" gaben.
Und drittens werden die Begriffe — oft in Zusammensetzungen wie „Logischer Empirismus" oder „Kritischer Rationalismus" vor allem im 19. und
20. Jahrhundert als Programmbegriffe zur Kennzeichnung der Position verwendet, die bestimmte Schulen oder Richtungen selbst einnehmen und systematisch entwickeln möchten.
(a) Die systematische Unterscheidung dient zur Charakterisierung von erkenntnistheoretischen Positionen aus beliebigen Abschnitten der Philosophiegeschichte: In diesem Sinne hat man Platon einen Rationalisten genannt,
der im Theaitetos eine empiristische Erkenntnistheorie kritisiert, oder in Aristoteles den Vater und in Epikur den ersten konsequenten Vertreter des Empirismus gesehen und mithilfe dieses Entweder-Oder von Empirismus und
Rationalismus dann die verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen im
weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte charakterisiert. Bei dieser Verwendung der Begriffe, bei der zumeist die Adjektive „empiristisch" und „rationalistisch" und nicht die Substantive „Empirismus" oder „Rationalismus"
gebraucht werden, ist es üblich, „empiristisch" diejenigen Positionen zu
nennen, für die alle unsere Erkenntnis aus der Erfahrung stammt, und „rationalistisch" diejenigen, die im Gegensatz dazu die These vertreten, sichere
Erkenntnis beruhe nicht auf Erfahrung, sondern auf vernünftiger Einsicht.
Diese Bestimmungen sind hinreichend unscharf, uni sehr unterschiedliche
Positionen aus den verschiedensten Abschnitten der Philosophiegeschichte
darunter subsumieren zu können, sie sind allerdings auch unscharf genug,
um der weiteren Explikation und näheren Bestimmung zugänglich und bedürftig zu sein. Denn so gut wie jeder Terminus in diesen Formeln ist für die
unterschiedlichsten Auslegungen offen.
Das betrifft bereits erstens den Begriff der Erkenntnis. Orientiert man sich
dabei an einem weitgefaßten Begriff, wie er beispielsweise von Kant verwendet wird, für den nicht erst Urteile, sondern schon Begriffe unter die Er-
I. Einleitung
kenntnisse zählen, dann kann man innerhalb der Sphäre der Erkenntnis drei
Ebenen, die des Begriffs, der Aussage und des Schlusses, unterscheiden und
auf jeder dieser drei Ebenen sowohl für empiristische als auch für rationalistische Positionen eine grundlegende These formulieren. Man erhält dadurch
so etwas wie die systematische Skizze eines „idealen" Empiristen bzw. Rationalisten, an der sich die Verwendung der Begriffe in den philosophischen
Darstellungen auch entweder explizit oder implizit orientiert. Eine empiristische Position wäre — folgt man diesem Dreierschema — dann durch die drei
Thesen charakterisiert,
1. daß allen Begriffen, die diesen Namen wirklich verdienen und nicht bloß leere Worte
sind, die Erfahrung zugrunde liegt,
2. daß die Geltung der Aussagen, die nicht aus anderen Aussagen ableitbar sind, auf Erfahrung beruht, und
3. daß alle anderen Aussagen. die nicht unmittelbar auf der Erfahrung beruhen, aus Aussagen ableitbar sein müssen, die dies tun.
Und umgekehrt wäre eine rationalistische Position dadurch charakterisiert,
1. daß sie — oft unter dem Titel der angeborenen Idee — die Existenz erfahrungsunabhängiger Begriffe wie die der Zahl, der Substanz oder der Kraft annimmt,
2. daß sie die Gültigkeit erfahrungsunabhängiger Aussagen behauptet, die — häufig unter dem Titel angeborener Prinzipien oder Vernunftwahrheiten — allein auf vernünftiger
Einsicht beruhen, und
3. daß sie davon ausgeht, daß man — gestützt auf solche Prinzipien — weitere Aussagen
erschließen könne, die — wie diese — unabhängig von aller Erfahrung gelten.
Diese Skizze des idealen Empiristen oder Rationalisten macht erstens deutlich, daß sich hinter der Charakterisierung philosophischer Positionen als
empiristisch oder als rationalistisch sehr unterschiedliche Tatbestände verbergen können: Der eine Autor mag Empirist genannt werden, weil er auf
der Ebene des Begriffs empiristisch argumentiert, ohne dies auf der des Urteils zu tun, der andere, weil er dies zwar auf der Ebene des Urteils tut, obwohl er auf der dritten Ebene der Induktion mißtraut usw. In diesem Sinne
vermag die Unterscheidung der drei Ebenen zu einer genaueren Bestimmung
der jeweils vorliegenden historischen Position zu führen; sie nacht deutlich,
daß bei der historischen Einzelanalyse jeweils geklärt werden muß, auf welcher Ebene der Empirist Empirist ist und in welchen Bereichen der Rationalist Rationalist.
Zweitens macht die Skizze deutlich, daß beide Positionen sich sogar in
idealtypischer Vereinfachung nicht im Sinne eines scharfen Entweder-Oder
gegenüberstehen: Wo der Empirist behauptet, daß alle unsere Begriffe und
Urteile auf der Erfahrung beruhen, da steht dem auf rationalistischer Seite
nicht etwa die ebenso allgemein auftretende Behauptung gegenüber, alle unsere Begriffe und Urteile stammten aus der Vernunft. Sondern der Rationalist
kann durchaus akzeptieren, daß viele und vielleicht sogar die meisten unserer Begriffe und Urteile auf irgendeine Weise von der Erfahrung abhängen,
wenn nur daneben andere Begriffe und Aussagen als erfahrungsunabhängig
und „rational" zugelassen bleiben. Auf dieser Ebene stehen sich empiristisehe und rationalistische Positionen nicht als einander ausschließende Ge-
1. Die übliche Verwendung der Begriffe
gensätze gegenüber, sondern überlappen einander in einem wichtigen Feld,
auch wenn sie die Dignität der in ihm erreichbaren Erkenntnis vielleicht unterschiedlich bewerten. Dem Inhalt nach reduziert sich der Unterschied zwischen den beiden Positionen also schon zufolge der Skizze darauf, daß die
eine neben empirischen Begriffen und Urteilen solche zuläßt, die ihre Quelle
allein in der Ratio haben, und die andere dies nicht tut. — Und umgekehrt
gilt, daß auch der Empirist — da er ja nicht nur unmittelbare Erfahrungsurteile, sondern auch mittelbare Urteile zuläßt, die aus diesen ableitbar sein sollen — einen positiven Begriff der Ratio als des Vermögens zu schließen festhält: der Unterschied reduziert sich hier darauf, daß der Empirist in der
Vernunft nur ein solches Vermögen des formalen Schließens sieht und seine
Leistungsfähigkeit vielleicht auch noch skeptischer beurteilt, während der
Rationalist sie darüber hinaus als eigenständige Quelle angeborener Ideen
und erster Prinzipien ansieht'.
Drittens ist darauf hinzuweisen, daß die Liste dieser für den idealen Empiristen oder Rationalisten grundlegenden Thesen zugleich eine Liste ebenso
grundlegender Probleme darstellt, aus denen sich die Fragen entwickeln lassen, die bei der Einzeluntersuchung der historisch vorliegenden Positionen
den Weg zu den zentralen Schwierigkeiten und dadurch zugleich den Weg
zu einer differenzierten Beurteilung der jeweiligen Position weisen. Orientiert man sich wieder am Dreierschema von Begriff, Urteil und Schluß, dann
ist auf der Ebene des Begriffs an beide Parteien die Frage nach der Rolle der
Sprache zu richten: Stellt sie uns — so wäre der Empirist zu fragen — mit ihrer
Begrifflichkeit nicht diejenigen Schemata zur Verfügung, mit deren Hilfe wir
Erfahrungen allererst identifizieren und ordnen 2 ? Und liefert sie — so die Frage an den Rationalisten — uns nicht diejenigen Begriffe und Ideen, die angeblich aus der Vernunft stammen? Für den Empiristen ergibt sich auf dieser
Ebene noch die besondere Schwierigkeit, wie er das Vorliegen von Begriffen
für Nichtbeobachtbares und Nichtwahrnehmbares wie Substanz, Kraft, Gott
mit seiner Generalthese vereinbaren kann. — Auf der Ebene des Urteils wäre
der Empirist nach der Stichhaltigkeit und Trennschärfe seiner Unterscheidung zwischen unmittelbaren Erfahrungsurteilen und den mittelbar daraus
gefolgerten und darüber hinaus nach dem Ausweis der Urteile zu fragen, die
zwischen beiden vermitteln: hierher gehört auch die Quinesche Frage nach
der Begründung des Unterschiedes zwischen analytischen und synthetischen
Urteilen;. Und der Rationalist wäre auf dieser Ebene zu fragen, worauf sich
der Gültigkeitsanspruch der von ihm behaupteten ersten Prinzipien eigentlich
stützt und ob sich hinter seiner Berufung auf ihre unmittelbare Evidenz nicht
einfach ein willkürlicher Abbruch des Begründungsverfahrens verbirgt-. —
Vgl. dazu Specht, Rainer: Zur Vernunft des Rationalismus. In: Rationalität. Philosophische
Beiträge, hrsg. v. H. Schnädelhach. - Frankfurt/M. 1984, 70 - 93.
' Vgl. Kamhartel, Friedrich: Er/àlu - iuig und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des
Empirisnnus und Formuli.stnus. - Frankfurt/M. 1968, 21, 27 f.
Quine, Williard Van Orman: Two Dogmas o,'Empiricism. (195h. nachgedr. in ders.: From
a Logical Point of View. - New York 2 1961, 20-46.
Vgl. Albert. Hans: Traktat über kritische Veritanft. - Tübingen 2 1969, 13.
14
1. Einleitung
Und auf der dritten Ebene des Ableitens von Urteilen aus Urteilen schließlich stellt sich für den Empiristen das Problem der Induktion und also die
schwierige Frage, wie sich der Übergang von Einzel- zu Allgemeinaussagen
eigentlich rechtfertigen läßt; dagegen hat der Rationalist hier mit der
Schwierigkeit zu kämpfen, daß sich durch logisches Deduzieren kein neuer
Gehalt gewinnen läßt: Expliziert die conclusio eines Schlusses nur diejenige
Information, die implizit schon in den Prämissen steckt, — wie kann man
dann hoffen, durch Deduktion zu neuen Erkenntnissen fortzuschreiten?
Viertens aber ist festzuhalten, daß selbst dann, wenn ein Empirist oder ein
Rationalist sich alle drei Thesen uneingeschränkt zu eigen machte, immer
noch zu klären bleibt, was im einzelnen diejenigen Begriffe bedeuten, auf
die er sich jeweils beruft: Erfahrung und Vernunft. Denn diese beiden Begriffe haben das Schicksal und vielleicht das Unglück, von den verschiedenen Autoren sehr verschieden gefaßt zu werden oder — wie insbesondere der
Erfahrungsbegriff — oft gar nicht näher bestimmt 5 und dann mehrdeutig verwendet zu werden 6 . Daher erfordert die genaue Bestimmung einer Position
selbst dann, wenn alle drei Thesen vertreten werden, die Klärung dessen,
was der Autor jeweils unter Erfahrung und was er unter Vernunft versteht
und wie er das Verhältnis beider zueinander - bewertet.
Dieselbe Unklarheit findet sich schließlich auch hei den Begriffen, mit deren Hilfe in den entsprechenden Thesen das Verhältnis beschrieben wird, das
zwischen den Begriffen „Erkenntnis" und „Erfahrung" oder „Vernunft" jeweils herrschen soll: Was es heißt, daß Begriffe aus der Erfahrung oder der
Vernunft „stammen" oder daß Aussagen von der Erfahrung oder Vernunft
„abhängen", sich auf sie „stützen", durch sie „bestätigt" oder sich an ihr „bewährt" haben, auch was es heißt, daß Aussagen aus anderen Aussagen „ermittelt", „abgeleitet" oder „erschlossen" werden, kann bei verschiedenen
Autoren und in unterschiedlichen Kontexten durchaus Verschiedenes meinen
und bedarf in jedem Einzelfall der genauen Bestimmung.
(b) Zum anderen werden die Begriffe Empirismus und Rationalismus —
und zwar jetzt zumeist die Substantive und nicht bloß die Adjektive — zur
Kennzeichnung philosophischer Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts
verwendet. Wer heute ein Buch unter dem Titel „Empirismus" herausgiht,
sammelt darin Abhandlungen über oder von Bacon, Hobbes, Locke, BerkeVgl. etwa Feyerabend, Paul K.: Probleme des Empirismus. Schriften zur Theorie der
Erklärrnng, der Quantentheorie und der Wissenschaftsgeschichte (= Ders.: Ausgewählte
Schriften Bd. 2). — Braunschweig u.a. 1981, 161 ff.: Für den „klassischen Empirismus"
oder die „Aufklärung des 16. und 17. Jahrhunderts" überhaupt „ist kennzeichnend, daß sie
sich ständig auf neue und unverfälschte Grundlagen der Erkenntnis" wie die „Erfahrung"
„beruft, gleichzeitig aber verhindert, daß diese identifiziert und als Grundlagen verwendet
werden"; vgl. ders.: How to Be a Good Empiricist — A Plea for Tolerance in Matters
Epi.stemological. In: Philosophy of Science. The Delaware Seminar, vol. 2, ed. by B.
Baumrin. — New York u.a. 1963, 3 — 39; und ders.: Bemerkungen zur Geschichte und
Svstenuutik des Empirismus. In: Grundfragen der Wissenschaften und ihre Wurzeln in der
Metaphysik, hrsg. v. P. Weingartner. — Salzburg u.a. 1967. 136 — 180.
Vgl. schon Göring, Carl: Ueber den Begriff der Erfahrung. In : Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 1 (1877) 384-418. 525 — 539; 2 (1878) 106 — 114.
1. Die übliche Verwendung der Begriffe
ley und Hume 7 ; und wer ein Buch unter den lapidaren Titel „Rationalismus"
stellt, sammelt darin Abhandlungen über oder von Descartes, Malebranche,
Spinoza, Leibniz, Wolff — und dies selbst dann, wenn er sich in der Einleitung überaus ironisch von der Unterscheidung zwischen Empirismus und
Rationalismus distanziert und der beibehaltenen Unterscheidung zum Trotz
auch Texte von Hobbes und Locke aufnimmt 8 : Die zunächst systematisch
auftretende Unterscheidung zwischen Empirismus und Rationalismus dient
in der Philosophiegeschichtsschreibung zur Bezeichnung zweier historischer
Strömungen in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts und hat darin
den Rang einer — merkwürdig zweigeteilten — Epochenklassifikation gewonnen, die so gut etabliert ist, daß man sich ihr selbst dann nicht entziehen
kann, wenn man es offenbar will.
Diese Subsumption der philosophischen Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts unter die Alternative von Rationalismus und Empirismus gewinnt
ihre Überzeugungskraft auch daraus, daß man in beiden Strömungen unterschiedliche Vorbilder für die Philosophie ausmachen zu können glaubt: Der
Rationalist orientiert sich am Vorbild der Mathematik und macht sich ihre
Klarheit, Sicherheit und die präzise Ordnung ihrer deduktiven Ableitungen
zum Vorbild`', der Empirist orientiert sich an den Naturwissenschaften und
will wie diese von einzelnen Beobachtungen und Experimenten ausgehend
induktiv zu allgemeinen Aussagen gelangen. Diese Zuordnung wirkt
zunächst auch überzeugend: Auf rationalistischer Seite erklärt Descartes die
Mathematik zum Vorbild aller wahren Wissenschaft, argumentiert Spinoza
in seiner Ethik „more geometrico", orientiert Leibniz seine „scientia generalis" an den Ableitungen der Mathematik und behauptet Wolff die Identität
von mathematischer und philosophischer Methode. Und auf der anderen Seite beginnt der Empirismus mit Bacons Insistieren auf der Beobachtung, dem
Experiment und der wahren Induktion, und er endet mit Locke und Hume,
die gleichermaßen beanspruchen, in ihrer Philosophie die empirische Methode der Naturwissenschaften zur Grundlage ihrer Erkenntnistheorie gemacht
zu haben.
Zusätzliche Attraktivität gewinnt diese Zuordnung, weil den systematischen Unterscheidungen so etwas wie eine geographische Mengenverteilung
korrespondiert, die Gelegenheit zur Beschwörung nationaler Eigentümlichkeiten bietet'°. Denn der Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts ist in den
Philosophiegeschichten, nicht nur in den deutschen, sondern auch in den anVgl. Gawlick, Günter (Hrsg.): Empirismus. (= Geschichte der Philosophie in Text und
Darstellung, hrsg. v. R. Bubner, Bd. 4). — Stuttgart 1980, 1 1.
Specht, Rainer (Hrsg.): Rationalismus (= Geschichte der Philosophie in Text und
Darstellung, hrsg. v. R. Buhner, Bd. 5). — Stuttgart 1979, 14 — 18.
Vgl. z.B. Reichenbach, Hans: Rationalismus und Empirismus: Eine Untersuchung der
Wurzeln philosophischen Irrtums. In: ders.: Der Aufstieg der wissenschaftlichen
Philosophie. (= Gesammelte Werke in 9 Bänden, hrsg. v. A. Kanulab u. M. Reichenbach.
Bd. 1).— Braunschweig 1977, 451 —465,452 ff.
10 Vgl. noch Copleston. Frederick: Contemporarv Philosophy. Studies of Logical Positivism
und Existentiulism. — London 1956, 6 ff. 35.
8
16
1. Einleitung
gelsächsischen, zuerst und vor allem englischer oder britischer Empirismus;
die Berufung auf das Vorbild der Naturwissenschaften und die Orientierung
am Programm der Royal Society wird als der Charakterzug verstanden,
durch den sich die angelsächsische Philosophie von Bacon und Hobbes über
Locke Lind Berkeley bis hin zu Hume auszeichnet. Und umgekehrt erscheint
der Rationalismus in den Philosophiegeschichten entweder als ein kontinentaleuropäisches Phänomen'', das im 17. und 18. Jahrhundert — dem kulturellen Gefälle folgend — von Frankreich ausgehend über die Niederlande langsam nach Deutschland wandert, oder sogar als eine spezifisch französische
Erscheinung, was der deutschen Philosophie die schöne Rolle des Vermittlers zwischen beiden sichert 12 .
Eine genauere Betrachtung der Geschichte fördert dann allerdings schnell
das Grobschlächtige und Unzutreffende beider Zuordnungen zu Tage. Denn
was die Orientierung der Philosophie an der Mathematik angeht, so steht der
vorgebliche Empir - ist Hobbes den Rationalisten mit Sicherheit nicht nach,
und auch für Locke und Hume fungiert die Klarheit und Deutlichkeit der
Mathematik als Vorbild allen sicheren Wissens". Und umgekehrt arbeiten
Descartes und Leibniz nicht nur selbst im Felde der empirischen Naturwissenschaften, sondern reflektieren ausdrücklich deren Methodologie und
wären von daher auch inhaltlich in der Lage, die Frage zu stellen, welches
Recht die dem Schema zugrunde liegende Konfrontation von Naturwissenschaft und Mathematik hat, nachdem doch spätestens seit Galilei das Projekt
einer mathematischen Naturwissenschaft existiert.
Und was die Frage des Nationalcharakters angeht, so müßte man — legte
man dieselben Kriterien zugrunde — zu den Empiristen nicht nur die Engländer und Schotten zählen, sondern doch wohl auch den eben zitierten Italiener
und den Franzosen Gassendi, und dann hinzufügen, daß die ganze französische Aufklärung von Voltaire und Condillac über Diderot und d'Alembert,
la Mettrie, Helvetius und Holbach bis hin zu Condorcet durch empiristische
Ansätze bestimmt ist und daß auch die deutsche Popularphilosophie — entweder schon seit Thomasius oder doch zumindest seit der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts — mit ihrer Konzentration auf das Thema der „Erfahrungsseelenlehre" empiristisch argumentiert. Und auf der anderen Seite bedarf es
nur eines Blicks auf die Geschichte, um daran zu erinnern, daß — wenn in
diesen Zeiten überhaupt irgendwo rationalistisch argumentiert wird — es ganz
sicher in England geschieht, nämlich bei Ralph Cudworth und Henry More
und den anderen Autoren des englischen Platonismus.
Vgl. Collins, James: The Continental Rationalists: Descartes, Spino;a, Leibei;.. —
Milwaukee 1967.
Vgl. Vaihinger, Hans: Coinmentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. — Stuttgart
1881 ff., 1 58: „Diese vermittelnde Tendenz liegt der deutschen Philosophie überhaupt im
Blute. Man hat gesagt, Deutschlands Philos. sei eine Vermittlung zwischen englischem
Empirismus und französischem Rationalismus". Die Bclichigkeit solcher Argumente zeigt
das Fischer-Zitat eine Seite später: „Die ganze Kritik der r. V. ist eine Vermittlung zwischen englischem E►nhirismus und deutschen Rationalisn► us".
Vgl. unten die entsprechenden Kapitel.
1. Die übliche Verwendung der Begriffe
(c) Darüber hinaus werden die Begriffe Empirismus und Rationalismus
dann vor allem im 19. und 20. Jahrhundert als Programmbegriffe zur Kennzeichnung einer Position verwendet, die man selbst einnehmen möchte: Man
übernimmt die Begriffe aus den Philosophiegeschichten und benutzt sie dazu, die eigene Position zu charakterisieren und sie zugleich durch die Berufung auf eine offenbar geschätzte Tradition zu empfehlen. Der Aufstieg und
die Entwicklung der empirischen Naturwissenschaften führt zunächst vor allen Dingen in Frankreich und England, dann aber auch in Deutschland zur
Ausbildung einer an deren Ergebnissen orientierten Philosophie und Erkenntnistheorie. Diese Entwicklung steht in der französischen Philosophie
des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff des „Positivismus", mit welchem Namen Comte das dritte, wissenschaftliche System der Philosophie bezeichnet,
das sie — nach dem Durchschreiten ihres theologischen und metaphysischen
Stadiums — erreicht, wenn sie sich auf die Ermittlung von Tatsachen und deren gesetzmäßige Verbindung beschränkt 14 . In der englischen Philosophie
entwickelt Mill seine Methodologie der empirischen Wissenschaften, in der
er — gestützt auf die Tradition des britischen Empirismus — stärker als Comte
der empirischen Psychologie eine grundlegende erkenntnistheoretische Bedeutung zubilligt's; eine ähnliche Tendenz verfolgt in Deutschland Fr. E. Beneke, der Kants Theorie der Erfahrung neu in einer empirischen Psychologie fundieren will 16 . In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickeln
dann R. Avenarius" und E. Mach' 8 ihre empirisch fundierte Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie, die unter dem Namen des „Empiriokritizismus" oder
„Empiriomonismus" diskutiert' 9 und von Lenin wegen ihrer Opposition zur
Widerspiegelungstheorie des dialektischen Materialismus heftig attackiert
wird 20 ; in den Vereinigten Staaten versteht sich der Pragmatismus von William James und Charles S. Peirce als „radikaler Empirismus " 21 . Und in den
zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts stellt dann der Wiener
Kreis sein Programm unter dem Namen des „logischen Positivismus" oder
„logischen Empirismus". Dabei verweist der betonte Zusatz des Adjektivs
Comte, Auguste: Discours sur 1'esprit positif (1844); Rede über den Geist des Posivismus.
Übers., eingel. u. hrsg. v. 1. Fetscher. — Hamburg 1956, 27 f.
A System of Lugic Raciocinath , e and lndurtive ... (1843). (= Collected Works of John
Stuart Mill, Bd. Vll ). —Toronto 1979, 563.
16 Beneke, Friedrich Eduard: Kamt und die philosophische Aufgabe unserer Zeit ... — Berlin
u.a. 1832 (Nachdruck: Aetas Kantiana 31), 89 ff.; vgl. Köhnke, Klaus Christian:
Entstehung und Aufstieg des Ne,ikantianismus. Die deutsche Universitätsplrilosoplrie zwischen Idealismus und Positivismus. — Frankfurt/M. 1986.
" Vgl. schon den Prospekt zur Vierteljahrsschri/iJür wissenschaftliche Philosophie 1 (1877)
1; vgl. Avenarius, Richard: Kritik der reinen Erjahru,ig. 2 Bde. — Leipzig (1888) `1921 —
28.
18 Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum
Psychischen. — Jena (1886) z l)(8).
r9 HWhPh I1 475 f.
20 Lenin, Wladiniir 1.: Materialismus und Enrhiriukritizismus. Kritische Bemerkungen über
eine reaktionäre Philosophie (= ders.: Werke 14). — Berlin 1962.
21 Vgl. James, William: Essays an Radical Emlpiricisnr. — New York 1912. neu ediert im
Rahmen der Werkausgabe Canihridge/Mass. u.a. 1976.
14
15
18
I. Einleitung
..logisch" auf eine neue Wertschätzung der Logik und Mathematik als empirieunahhängiger, analytischer Disziplinen, der Begriff des „Positivismus"
wird eher in der frühen, radikaleren Entwicklungsphase des Wiener Kreises
verwendet, während man später zumeist zu dem als weiter empfundenen Begriff des „Empirismus" zurückkehrt 22 . Hinter der prononcierten Berufung
auf die Erfahrung steht hei allen diesen Autoren der Anspruch auf einen programmatischen Neuanfang des Philosophierens, in dem sich eine Kritik an
der herkömmlichen Metaphysik mit dem Bemühen um die Wissenschaftlichkeit der Philosophie verbindet. Zur Formulierung dieses Programms aber
beruft man sich — wie sich am deutlichsten in der Selbstbezeichnung als
„Neu-" oder „Neopositivismus" zeigt 23 — auf eine schon bewährte Tradition,
nämlich zum einen auf den klassischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts und hier insbesondere auf Hume, zum anderen auf den „älteren Positivismus" des 19. Jahrhunderts und versteht die eigenen Arbeiten als Fortführung eines dort schon gemachten Anfangs 24 . Der Begriff „Empirismus"
dient hier also nicht mehr bloß zur nachträglichen Einordnung schon vorliegender philosophischer Positionen, sondern wird in programmatischer Absicht zur Charakterisierung eines selbst verfolgten Forschungsprogramms
benutzt, dessen Intentionen durch die explizite Berufung auf eine bewährte
und hochgeschätzte Tradition verdeutlicht werden.
Und auf diesen Empirismus antwortet dann erneut ein Rationalismus, der
„kritische Rationalismus" von Popper, Bartley und Albert, wodurch — in einer Art Parallelaktion — nach dem Begriff des Empirismus nun auch der Begriff des Rationalismus vom philosophiehistorischen Klassifikationsbegriff
zum Programmbegriff erhoben wird, wobei Popper selbst seinen Rationalismus allerdings nicht dem Empirismus, sondern dem Irrationalismus entgegengesetzt wissen will 25 . Dieser kritische Rationalismus hat denn auch mit
dem klassischen nicht viel mehr als diesen Namen gemein, weil sein Programm, jede Aussage als Hypothese und jede Hypothese als falsifizierbar
anzusehen, geradezu das Gegenteil dessen darstellt, was man gemeinhin als
das Programm des klassischen Rationalismus ansieht. Das führt dazu, daß
sich jedenfalls die Autoren, die sich selbst als kritische Rationalisten verstehen, gezwungen sehen, die Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts unter
den neuen Titel des „Intellektualismus" zu stellen 26 . Der Sache nach erscheint der kritische Rationalismus allerdings eher als Konsequenz eines gescheiterten und daher modifizierten empiristischen Programms denn als
Vgl. Ayer, Alfred Jules: Language, Truth and Logic. — London 1956, 135 f. und den Art.
Empirismus, logischer in HWbPh II 478.
Vgl. HWbPh VII 1120 — 1123.
24 Vgl. z.B. Ayer: Langvage, Tratte and Logic ... 54 ff.
25 Popper, Karl Raimund: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde. — Bern 1958, lt
282.
26 Ebd. 275: für Popper umfaßt der Begriff des Rationalismus „den ,Empirismus' und auch
den ,Intellektualisnius" ; er grenzt seine eigene Position als „wahren" und „kritischen"
Rationalismus gegen den „falschen" und „unkritischen" ab (282). Vgl. ders.: Conjecture.s
and Refictations. The Growth of Scientific Knowledge. — London 1963, 4 u. 26; vgl. Albert:
Traktat über kritische Vernunft ... 21 u. 24 f.
22
23
2. Hinweise auf die Geschichte ihrer Verwendung
19
Fortsetzung des klassischen Rationalismus; deshalb hat man denn auch vorgeschlagen, den Namen „kritischer Rationalismus" durch den des „rationalen Kritizismus" zu ersetzen'-', was allerdings mit dem neuen Nachteil verbunden wäre, eine nicht vorliegende Nähe zum Kantischen Kritizismus zu
suggerieren, weshalb es in diesem Falle — wenn es denn schon ein —ismus
sein soll — vielleicht am besten bei der Bezeichnung „Fallihilismus" bliebe.
2. Hinweise auf die Geschichte ihrer Verwendung
In den bisher thematisierten Verwendungen der Begriffe Empirismus und
Rationalismus werden die Begriffe Empirismus und Rationalismus entweder
wertneutral zur Kennzeichnung historisch vorliegender Positionen oder — im
Falle der programmatischen Selbstbenennung — offenbar in der Hoffnung
benutzt, durch ihre Verwendung die eigene Position als Fortführung eines
bewährten Ansatzes empfehlen zu können. In dieser Verwendung ist der
Kontext vergessen, in dem beide Begriffe Eingang in die Philosophiegeschichte fanden. Denn die Verwendung beider Begriffe geht nicht etwa auf
die Empiristen und Rationalisten des 17. und 18. Jahrhunderts zurück: Sie
haben die Begriffe Empirismus und Rationalismus weder für sich selbst in
Anspruch genommen noch auf die Gegenseite angewandt. Natürlich ist bei
ihnen ständig von Empirie und Ratio die Rede, aber das ist nicht einseitig
verteilt, auch der Empirist beruft sich auf die Ratio, und auch der Rationalist
redet von der Erfahrung. Sondern der Begriff des „Empirismus" und parallel
dazu auch der des Rationalismus wird — so schreibt das Historische Wörterbuch der Philosophie — „als philosophische Richtungsbezeichnung ... durch
Kant gebräuchlich " 28 . Nicht die Empiristen und Rationalisten des 17. und 18.
Jahrhunderts selbst haben sich Empiristen oder Rationalisten genannt, sondern Kant hat sie so genannt. Und er hat damit — und hier ist das Historische
Wörterbuch der Philosophie zu ergänzen — eine Einteilung aufgenommen,
die eine lange Geschichte hat. Denn diese Einteilung findet sich, uni gleich
eine markante Vorläuferschaft zu nennen, in ähnlicher Weise bei Francis Bacon und wird dort dazu benutzt, um innerhalb der für Bacon wirksamen Wissenschaftstradition zwei einander entgegengesetzte Tendenzen zu kennzeichnen, bei denen es zwar nicht um den Ursprung unserer Vorstellungen.
Begriffe oder Urteile, aber um unterschiedliche Forschungsstrategien geht,
deren Einseitigkeit und Beschränktheit den Fortschritt der Wissenschaft bisher verhindert haben: Die Empiriker — so schreibt Bacon im Neuen Organon
— sammeln wie die Ameisen unsystematisch irgendwelche Beobachtungen
auf, suchen daraus unmittelbare Nutzanwendungen zu gewinnen und verlauAlbert, Hans: Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen
Rationalismus. — Hamburg 1972, 19: vgl: Irak, Hans: Philosophische Logikhexründung
und rationaler Kritizismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 24 (1970)
183— 205.
An. Empirismus in HWhPh 11 478.
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