Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie Manuel Snchez Rodrguez 1 Historischer Hintergrund Ein Studium ìber die Bedeutung des Begriffs ,Witz‘ in der Kantischen Philosophie stçßt gleich zu Anfang auf die Frage, ob dieser in der kritizistischen Vermçgenstheorie ìberhaupt eine Rolle spielt. Die Erkenntnisvermçgen werden in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr als psychologische Fhigkeiten behandelt, sondern prinzipiell als Bedingungen der Mçglichkeit unserer Erkenntnis. Obwohl Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Witz, Verstand oder Urteilskraft offenbar psychologische Fhigkeiten des Gemìts sind, die sich jeweils bestimmten empirischen oder psychologischen Regeln unterwerfen, erfordert die Kritik zugleich, die Bedingungen derselben zu isolieren, die unabhngig von der Erfahrung sind und a priori die Erkenntnis der Gegenstnde ermçglichen. Eine solche transzendentale Analyse des Witzes scheint in der ersten Kritik nicht stattzufinden. Darìber hinaus erscheint dieser Begriff eher selten in den Schriften Kants, mit der Ausnahme der Vorlesungen ìber Anthropologie, die dem Witz sogar eine eigene Sektion widmen. Kant folgte der psychologia empirica der Metaphysica Baumgartens als Leitfaden fìr seine akademische Lehrttigkeit ìber Anthropologie,1 so dass die Vorlesungsnachschriften von diesem Werk in Struktur und Inhalt deutlich beeinflusst sind. Diese Abhngigkeit bestimmt aber nicht ganz die spezifische Bedeutung des Begriffs ,Witz‘ in solchen Materialien. Denn Kant stellte im Wintersemester 1772/1773 seine Auslegung des Begriffs in expliziter Auseinandersetzung mit der baumgartschen Theorie2 dar: „Unser Auctor hat dem Witz die Scharf1 2 Vgl. V-Anth/Mensch, AA 25: 859. Baumgarten definiert den Witz [ingenium] als das Vermçgen, öhnlichkeiten unter den Sachen wahrzunehmen, und stellt ihm die Scharfsinnigkeit [acumen] anstatt der Urteilskraft gegenìber; vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica. Halle 1739. Nachdruck nach der 4. Auflage von 1757. In: AA 15: 05 – 54 und AA Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 488 Manuel Snchez Rodrguez sinnigkeit entgegengesetzt und erklrt jenen, durch ein Vermçgen das Aehnliche, diesen aber durch ein Vermçgen den Unterschied der Sachen zu erkennen. Es ist aber beßer, daß man dem Witz die Urtheilskraft entgegenseze […]. [Z]ur Urtheilskraft gehçret auch das Vermçgen die Zusammenstimmung der Verhltnisse einzusehen […]. Der Witz ist das Vermçgen zu vergleichen, die Urtheilskraft das Vermçgen zu verknìpfen oder zu trennen“. Im Unterschied zu dem Witz und der Urteilskraft, ist die Scharfsinnigkeit nicht ein besonderes Vermçgen des Gemìts, sondern ein bestimmter Grad der Schrfe, die man sowohl im Witz wie auch in der Urteilskraft eventuell erreichen kann.3 Whrend Baumgarten die Scharfsinnigkeit nur als Unterscheidungsvermçgen bezeichnet, kann die Urteilskraft in der Anthropologie Kants auch die mçgliche bereinstimmung oder Verknìpfung unter den von dem Witz vorgelegten Verhltnissen und Vergleichen einsehen,4 denn „[]hnliche Dinge sind noch nicht verknìpft“.5 2 Der Witz in der Kritik der reinen Vernunft Die Bedeutung dieser Korrektur gegenìber Baumgarten muss in jedem Fall relativiert werden, weil sie tatschlich in die Kritik der reinen Vernunft nicht aufgenommen wurde, wo Kant sogar noch die von ihm selbst kritisierten Punkte der Baumgart’schen Vermçgenstheorie darstellt. In seiner Erçrterung des logischen Prinzips der Gattungen und Arten stellt er nmlich dem Witz Scharfsinnigkeit bzw. Unterscheidungsvermçgen gegenìber, welche die „Mannigfaltigkeit und Verschiedenheiten der Dinge, unerachtet ihrer bereinstimmung unter derselben Gattung“ erkennen kann.6 Whrend der Leichtsinn des Witzes die öhnlichkeiten der Dinge unter einer Gattung durch das Vergleichen „denken lßt“,7 bestimmt die Scharfsinnigkeit den Inhalt in derselben Gattung „in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten“.8 Auf diese Weise ermçglicht das Zusammenwirken von Witz und 3 4 5 6 7 8 17: 05 – 226: §§ 572 – 575; AA 15: 22 f. Siehe dazu Hinske, Norbert: „Kant und Alexander Gottlieb Baumgarten. Ein leider unerledigtes Thema der Anthropologie Kants“. In: Aufklrung 14, 2002, 261 – 274: bes. 271. Vgl. V-Anth/Collins, AA 25: 132 f.; V-Anth/Parow, AA 25: 341; V-Anth/Fried, AA 25: 516; V-Anth/Busolt, AA 25: 1459. Vgl. auch V-Anth/Mron, AA 25: 1262 f. V-Anth/Parow, AA 25: 341. KrV, A 654/B 682. KrV, A 653/B 681. KrV, A 654/B 682. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie 489 Scharfsinnigkeit die Etablierung der besonderen Erkenntnis in einem mçglichen System der Erfahrung. Obwohl die Erklrung beider Vermçgen und deren Zusammenhang eng mit der Baumgart’schen Psychologie verbunden ist, erklrt Kant das Prinzip der Gattungen und Arten nicht bloß als eine „Schulregel“ oder ein „logisches Prinzip“,9 sondern vielmehr als eine transzendentale Bedingung der Erkenntnis, ohne deren Voraussetzung „keine Erfahrung mçglich wre“.10 Insofern der empirische Verstand sich der Ttigkeit des Witzes bedient, um die Allgemeinheit der Gattungen aus dem Vergleichen und der Verbindung besonderer und einzelner Erscheinungen zu entdecken, ermçglicht das zweite Vermçgen die Fortfìhrung einer empirischen Untersuchung der Natur nach der Orientierung der spekulativen Vernunft. In dieser Hinsicht stimmt die Ttigkeit des Witzes mit dem rationalen ,Interesse‘ ìberein, aus dem Besonderen der Erfahrung ein Allgemeines zum Gebrauch des Verstandes herauszufinden. Dieser Grundsatz (der Scharfsinnigkeit, oder des Unterscheidungsvermçgens) schrnkt den Leichtsinn des ersteren (des Witzes) sehr ein, und die Vernunft zeigt hier ein doppeltes einander widerstreitendes Interesse, einerseits das Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten, weil der Verstand im ersteren Falle zwar viel unter seinen Begriffen, im zweiten aber desto mehr in denselben denkt.11 In der Kritik der reinen Vernunft finden wir zwar keine transzendentale Analyse des Witzes als ein spezifisches Vermçgen, so dass kein Licht auf seine Natur und Funktion im kritischen System der Erkenntnis geworfen werden kann. Deutlich wird jedoch, dass Kant ihm eine Funktion bei der Theorie des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft zuschreibt, insofern die Vertretung der transzendentalen Bedeutung des Prinzips der Gattungen und Arten in der Darlegung solcher Theorie stattfindet. In dem apodiktischen Gebrauch der Vernunft, so Kant, ist das Allgemeine dem Verstand schon gegeben, so dass das Besondere durch die Urteilskraft ihm notwendig subsumiert und somit bestimmt wird. Ist aber nur das Besondere gegeben, wofìr noch eine allgemeine Regel entdeckt werden muss, die zuerst nur problematisch und vorlufig angenommen werden soll, dann kann sich die Vernunft nur hypothetisch verhalten, um den Erkenntnis- 9 KrV, A 652/B 680. 10 KrV, A 654/B 682. 11 KrV, A 654/B 682 f. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 490 Manuel Snchez Rodrguez prozess nach Ideen zu leiten, die eine systematische und normative Orientierung der Erkenntnis ermçglichen.12 Diese Teilung zwischen beiden Aspekten der Vernunft erinnert uns offensichtlich an die Unterscheidung zwischen der bestimmenden Ttigkeit und der reflektierenden Ttigkeit der Urteilskraft, die Kant in der Kritik der Urteilskraft darlegt.13 Trotzdem erklrt die Transzendentale Dialektik noch nicht, wie die normative Orientierung der Vernunft, die in dem Erkenntnisprozess vorausgesetzt werden soll, zugleich als ein Prinzip der Urteilskraft gedacht werden kann. Ein solches Prinzip wre in der kritischen Philosophie die Pointe oder ratio essendi der reflektierenden Urteilskraft, wie die Kritik des Geschmacks die ratio cognoscendi dieses Prinzips ist, weil ausschließlich daraus die Urteilskraft als ein spezifisches und eigentìmliches Erkenntnisvermçgen innerhalb des kritischen Systems der Vernunft von Kant angesehen wird.14 Der Witz ist in dieser Hinsicht noch nicht die reflektierende Urteilskraft, obwohl wir die berlegungen Kants ìber dieses Vermçgen als einen wichtigen Przedenzfall in der Entwicklungsgeschichte der Theorie der reflektierenden Urteilskraft einrumen mìssen, der sowohl ihren historischen Hintergrund in der baumgartschen Ansicht wie auch ihren systematischen Zusammenhang mit dem kantischen Begriff des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft anzeigt. 3 Der Witz in den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie Die Materialien der Nachlassreflexionen und der Vorlesungsnachschriften zeigen die Beziehung zwischen der psychologischen Auslegung des Witzes und der oben skizzierten Thematik der Transzendentalen Dialektik. Der Witz gehçrt zur Ttigkeit der produktiven Einbildungskraft oder dem Dichtungsvermçgen15 und dient zur willkìrlichen Erfindung neuer 12 Vgl. KrV, A 646 f./B 674 f. 13 Vgl. KU, AA 05: 179. 14 Vgl. EEKU, AA 20: 244, 225. Der Einfluss des Begriffs ,Witz‘ auf die philosophische Bedeutung der Theorie der reflektierenden Urteilskraft wird also zu stark betont, wenn man behauptet: „Der ,Witz‘ der reflektierenden Urteilskraft ist der Witz“ [vgl. Gabriel, Gottfried: „Der „Witz“ der reflektierenden Urteilskraft“. In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beitrge zur Entstehung des Neuen. Hrsg. von F. Rodi. Weilerswist 2003, 197 – 210: 197. 15 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 524; V-Anth/Pillau, AA 25: 754; R 329, ca. 1776 – 1778 (?), Refl, AA 15: 130; V-Anth/Mensch, AA 25: 981. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie 491 Beziehungen und öhnlichkeiten unter den sinnlichen Vorstellungen. Whrend die Einbildungskraft neue Vorstellungen nach ihrer Form hervorbringen kann, bringt der Witz neue Beziehungen zwischen einzelnen Vorstellungen durch die Erfindung von Einfllen, Analogien oder Beispielen hervor.16 Nun kann die Ttigkeit des Witzes aber nur unter der kritischen Aufsicht der Urteilskraft nìtzlich fìr die Erkenntnis sein: „Er ist ein positives Erkenntnißvermçgen, eine weitere Ausdehnung unserer Erkenntnisse. Urtheilskraft ist ein negatives Vermçgen, eine Einschrnkung unserer Begriffe, indem wir zeigen, daß ein Begriff nicht auf so viel Dinge geht, als man glaubt“.17 Der Witz fçrdert ein freies Spiel 18 der Vorstellungen, die aus diesem Grund willkìrlich und vorlufig verbunden werden kçnnen. Auf diese Weise erhlt der Verstand einen umfangreichen Stoff fìr die Erkenntnis, was die Findung neuer Begriffe und Regeln in der Untersuchung der Natur erleichtert.19 Aber die Einflle des Witzes kçnnen jederzeit in den Irrtum verfallen, insofern er auf die Unterschiede der Vorstellungen unter einander nicht achtet und seine Einbildungen noch nicht nach Einsichten und schon bestimmten Erkenntnissen begrenzt. Eine solche Einsicht wird von der Urteilskraft gegeben, die sowohl die Richtigkeit dieser Einflle prìfen wie auch die Unterschiede in den daraus entworfenen allgemeinen Begriffen bemerken soll. Whrend der Witz dem Verstand eine allgemeine Regel anbietet, muss die Urteilskraft noch „subsumieren, ob etwas unter einen allgemeinen Begriff gehçre oder nicht“.20 Die Urteilskraft ist also ein bestimmendes Vermçgen, das die Mehrdeutigkeit der Einbildungen des Witzes begrenzt, um den erkenntnistheoretischen Gebrauch dieses Materials zu gewhrzuleisten: „Durch das Urtheilen verhìten wir Irrthìmer. Die Urtheilskraft geht aufs Rectificiren (Berichtigen, Lutern)“.21 Sie ist also eine „Art Disciplin fìr den Witz“,22 wodurch man nachprìft, ob seine 16 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 516 f.; V-Anth/Mensch, AA 25: 959; V-Anth/Mron, AA 25: 1263. 17 V-Anth/Mensch, AA 25: 959. Siehe auch V-Anth/Mron, AA 25: 1263; V-Anth/ Busolt, AA 25: 1459. 18 Vgl. V-Anth/Pillau, AA 25: 754; V-Anth/Mensch, AA 25: 969, 1063; V-Anth/ Mron, AA 25: 1266 – 68; V-Anth/Busolt, AA 25: 1459. Die Bezeichnung der Ttigkeit des Witzes als Spiel finden wir schon in der Metaphysica Baumgartens, op. cit., § 576, AA 15: 23. 19 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 517; V-Anth/Pillau, AA 25: 754 s.; V-Anth/Mensch, AA 25: 959; V-Anth/Mron, AA 25: 1263 – 65, V-Anth/Busolt, AA 25: 1459 f. 20 V-Anth/Pillau, AA 25: 754. 21 V-Anth/Mensch, AA 25: 959. 22 V-Anth/Pillau, AA 25: 755. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 492 Manuel Snchez Rodrguez Einbildungen und entworfenen Begriffe auf die Gegenstnde in concreto anwendbar sind, so dass sie bestimmte Verstandesbegriffe werden kçnnen. Obwohl die Darlegungen ìber den Witz und die Urteilskraft in den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie offenbar einen psychologischen Charakter haben, macht die Zusammenarbeit beider Vermçgen das subjektive Erkenntnisverfahren aus, das die empirische Untersuchung der Gattungen und Arten in der Erkenntnis ermçglicht. Der Witz sucht aus verschiedenen verglichnen Vorstellungen einen Begriff zu machen, und durch die Urtheilskraft unterscheiden wir die Arten, die unter der Gattung enthalten sind. Unsere Erkenntniß wacht mehr durch den Witz, indem wir sie dadurch allgemein machen kçnnen. Ein solcher Begriff ist von großem Umfange, und ich kann ihn auf viele Gegenstnde anwenden. Wir machen aus ihm Gattungen, die die Aehnlichkeiten vieler Dinge enthalten.23 Die Funktion von Witz und Urteilskraft zur Bildung der empirischen Erkenntnis nach Gattungen und Arten spiegelt in den Vorlesungsnachschriften die Beschreibung der Funktion von Witz und Scharfsinnigkeit im Anhang der Transzendentalen Dialektik, wo Kant das logische Prinzip der Gattungen und Arten als eine transzendentale Idee erklrt, die in der empirischen Untersuchung der Natur nach dem spekulativen Interesse der theoretischen Vernunft vorausgesetzt werden muss. Diese transzendentale Dimension des Erkenntnisprozesses wird dennoch in den Vorlesungen nicht thematisiert, obwohl Kant deutlich die Unterordnung der sinnlichen Erfindung unter der Orientierung der Vernunftideen erklrt: Dieses Dichtungsvermçgen ist die Grundlage aller Erfindungen, wir bringen immer auf gut Glìck neue Vorstellungen hervor; darnach muß sie der Verstand prìfen, und so umbilden, daß sie mit den Ideen der Vernunft zusammenhngen.24 Nun ist das Dichtungsvermçgen, als Vermçgen der Erfindung, die Grundlage des Witzes. Und das Erfinden ist zugleich das Feld der vorlufigen Urteile, deren regulative und heuristische Bedeutung im Erkenntnisprozess der Theorie des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft nahe steht. Ein vorlufiges Urteil ist ein problematisches Urteil, das der Untersuchung vorhergeht, um ihr den Weg durch Maximen heuristisch anzuweisen, sie zu dirigieren.25 Denn das Erkenntnisverfahren ist nicht nur 23 V-Anth/Mensch, AA 25: 959 f. Siehe auch V-Anth/Busolt, AA 25: 1459; V-Anth/ Mron, AA 25: 1266 f.; R 469, 1776 – 1778, Refl, AA 15: 194. 24 V-Anth/Mensch, AA 25: 981. 25 Vgl. Reisinger, Klaus: „Urteil, vorlufiges“. In: Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter, et alii. Darmstadt 2001, XI 473 – 79: 473. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie 493 aus den Kategorien des Verstandes mçglich; „[e]s wird deswegen ein Netz von Annahmen entworfen […], das ermçglichen soll, dass dieses Reflektieren nicht zu einem blinden ,Herumtappen‘ […] wird“.26 Wie Kant in den Enzyklopdievorlesungen vertritt, gibt es vorlufige Urteile, die aus den Gesetzen der Vernunft selbst herrìhren, denn sie sind eigentlich keine Urteile, sondern vielmehr heuristische Maximen zu urteilen, d. h. reflexive und regulative Prinzipien des Urteilsverfahrens, wodurch keine Gegenstnde bestimmt werden.27 Unter den Maximen der Reflexion zur Untersuchung der Natur steht das Prinzip, die vorlufigen Urteile nicht fìr bestimmte Urteile zu halten. Diese Urteile sollen also nur als vor-lufig erkannt werden.28 Eine solche Anforderung wird auch in die Erklrung des erkenntnistheoretischen Wertes des Witzes aufgegriffen, insofern seine entworfenen Begriffe vom Verstand nur provisorisch angenommen werden, bis dass die Urteilskraft ihre Richtigkeit und ihren spezifischen Unterschied bestimmt hat. Das Subjekt muss also ìber die vorlufigen Urteile des Witzes nachdenken oder reflektieren, um sie mit der Urteilskraft verbinden und als bestimmte Erkenntnis zulassen zu kçnnen. Vorlufiges Urtheil ist ein Grund ìber Dinge zu urtheilen, der aber unzureichend ist. Aber ein bestimmtes Urtheil zu fllen, gehçrt fìr die Urtheils Kraft. Der Witz streift herum, wo er was findet, und dient also zur Erfindung, deswegen verleitet er auch zu Jrrthìmern, denn wenn er die unzureichende Grìnde zu Urtheilen fìr bestimmte hlt, so verleitet er zum Jrrthum, welches denn geschiehet, wenn man nicht Lust hat, ìber den Witz und deßen vorlufige Urtheile nachzudencken, und sie mit der UrtheilsKraft zu verbinden. Die UrtheilsKraft aber dient zum bestimmten Urtheil, und deswegen hlt sie auch von Jrrthìmern ab.29 Die Diskussion Kants ìber den Witz in den Vorlesungsnachschriften steht also im Zusammenhang mit der Problematik, die in der Theorie der reflektierenden Urteilskraft dargestellt wird. Einerseits erklrt er den Witz als das Vermçgen, allgemeine Gattungen aus den einzelnen Vorstellungen der Sinnlichkeit zu entwerfen, wodurch der empirische Erkenntnisprozess nach einer systematischen Idee der Natur allmhlich fortfahren kann. Andererseits setzt diese Funktion die Maximen der Reflexion voraus, die 26 La Rocca, Claudio: „Vorlufige Urteile und Urteilskraft. Zur heuristischen Logik des Erkenntnisprozesses“. In: Kant und die Berliner Aufklrung, Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Hrsg. von V. Gerhardt et alii. Berlin und New York 2001, II, 351 – 361. 27 Ibid., 354. 28 Ibid., 356. 29 V-Anth/Fried, AA 25: 516; siehe auch V-Anth/Mensch, AA 25: 968. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 494 Manuel Snchez Rodrguez dem Subjekt vorschreiben, in der empirischen Untersuchung ìber seine eigenen eingebildeten ,Erkenntnisse‘ als provisorische nachzudenken, bis sie von der Urteilskraft eingesehen und bestimmt werden. Dieser thematische Zusammenhang zeigt sich in der Definition des Witzes, die nach der Kritik der Urteilskraft parallel zur Definition der reflektierenden Urteilskraft formuliert wird: „So wie das Vermçgen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium).“30 Die Begriffe ,reflektierende Urteilskraft‘ und ,bestimmende Urteilskraft‘ entsprechen in der dritten Kritik den Begriffen ,Witz‘ und ,Urteilskraft‘ in der Anthropologie. Insofern aber der zitierte Text in das Jahr 1798 datiert wird, erlaubt uns diese Beobachtung noch nicht, diesen Zusammenhang im Kontext der historischen Entstehung der Theorie der reflektierenden Urteilskraft zu besttigen. 4 Witz und reflektierende Urteilskraft Das Problem der reflektierenden Urteilskraft wird in der dritten Kritik als die Frage dargestellt, wie man einen allgemeinen Begriff des Verstandes finden kann, der eine besondere Vorstellung der Einbildungskraft bestimmt. Es geht hier prinzipiell um die Mçglichkeit einer subjektiven bereinstimmung zwischen zwei spezifisch verschiedenen Erkenntnisvermçgen, d. h. Einbildungskraft und Verstand. In dieser Hinsicht ist zunchst festzustellen, dass der Witz in den Vorlesungsnachschriften als die Gemìtsfhigkeit charakterisiert wird, die als Mittelglied zwischen beiden Vermçgen gilt, insofern er die Bildung eines Allgemeinen ermçglicht, welches von dem Verstande mit Hilfe der kritischen Arbeit der Urteilskraft zur Erkenntnis gebraucht werden kann. Die Einbildungskraft enthlt in sich das Magasin des Erkenntniß von allem was wir wahrgenommen, gedacht und vorgenommen haben. Der Zweck worauf sich dieses alles bezieht, ist der Verstand. Es sind zwey Vermçgen, die Materialien welche in der Einbildungskraft liegen zu gebrauchen, und sie zum Dienste des Verstandes anzuwenden; Witz und Urtheilskraft.31 In der dritten Kritik vertritt Kant die These, in der Beziehung zwischen den Erkenntnisvermçgen zur Beurteilung der Natur mìsse ein transzendentales 30 Anth, AA 07: 201. 31 V-Anth/Pillau, AA 25: 754. Vgl. R 477, 1776 – 1779, Refl, AA 15: 197; V-Anth/ Mron, AA 25: 1268. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie 495 und subjektives Prinzip a priori vorausgesetzt werden, das die Urteilskraft sich selbst zur Reflexion ìber die Gegenstnde gibt. Diese Grundlegung der reflektierenden Urteilskraft als ein spezifisches Erkenntnisvermçgen im System der Vernunft wird dennoch nur mittels einer kritischen Analyse und Deduktion der Urteile dargestellt, in denen das Problem der subjektiven Reflexion exemplarisch auftritt: die sthetischen Urteile. Seit der Kritik der reinen Vernunft verhindert die kritische Feststellung von dem spezifischen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, die Mçglichkeit einer bereinstimmung zwischen beiden Vermçgen positiv und objektiv zu beweisen. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft darf nmlich nicht als eine Vorschrift genommen werden, welche z. B. die objektive Richtigkeit unserer besonderen Urteilsakte sichern kçnnte, genauso wie es im Geschmacksurteil geschieht, wo eine bestimmte Regel niemals die Vorstellung a priori anzeigen kann, die ein Gefìhl der Lust in unserem Gemìt verursachen wird. Wenn nun das Subjekt aus Anlass der Betrachtung einer Vorstellung die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefìhls der Lust in sich selbst empfindet, dann mìssen wir a priori einrumen, dass der Grund dieses Gefìhls in dem subjektiven Prinzip der reflektierenden Urteilskraft liegt, die von den Erkenntnisvermçgen zur Reflexion ìber die Gegenstnde vorausgesetzt und von der Kritik als eine notwendige Bedingung der Erkenntnis ìberhaupt definiert wird.32 Diese Argumentation ìber die Aprioritt des Geschmacksurteils findet sich schon in der Reflexion 98833, von ungefhr 1784. Obwohl Kant hier den Begriff ,reflektierende‘ Urteilskraft noch nicht anwendet, skizziert dieser Text die Idee, dass die Analyse des Gefìhls der Lust die subjektive Bedingung der Erkenntnis ìberhaupt anzeigt, die von den in der Beurteilung implizierten Erkenntnisvermçgen vorausgesetzt wird. In der Kritik der Urteilskraft bezieht sich Kant ausschließlich auf die Einbildungskraft und den Verstand, ohne den Witz als einen Teil des ersteren Vermçgens zu explizieren. Nun wird aber der Witz in der Reflexion 988 noch unter den Erkenntnisvermçgen angefìhrt, deren Aktivitt in der Beurteilung einer Vorstellung einen subjektiven Grund der Erkenntnis voraussetzt: Die Erkentniskrfte sind Witz und Einbildungskraft, so fern sie zum Verstande ìbereinstimmen. Urtheilskraft ist nur das Vermçgen, was [aus] beyder 32 Vgl. EEKU, AA 20: 230 – 32; KU, AA 05: 219 – 22, 286 – 291. 33 Vgl. R 988, 1783 – 1784, Refl, AA 15: 432 f. ber die Bedeutung der Reflexion 988 zur Entstehung der Deduktion des Geschmacks, siehe Snchez Rodrguez, Manuel: Sentimiento y reflexiûn en la filosofa de Kant. Estudio histûrico sobre el problema est¦tico. Hildesheim, Zìrich und New York 2010, 192 – 209. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20 496 Manuel Snchez Rodrguez Zusammenstimmung (g in einem Falle) in concreto mçglich macht. Scharfsinn ist das Vermçgen, [das] auch die kleine Einstimmung oder Wiederstreit beyder zu bemerken, ist also Eigenschaft der Urtheilskraft.34 Obwohl die Reflexion 988 das Argument entwirft, das der Deduktion der sthetischen und somit der reflektierenden Urteilskraft in der dritten Kritik zugrunde liegt, benutzt sie noch die Terminologie der baumgartschen Psychologie, an die Kant in seiner intellektuellen Entwicklung geknìpft hatte und mittels derer er ìber die Problematik der systematischen Bildung der empirischen Erkenntnis im Rahmen seiner akademischen Lehre der achtziger Jahre nachdachte. Der Witz ist nicht die reflektierende Urteilskraft, die nur in der dritten Kritik als ein Hauptvermçgen innerhalb des Systems der Vernunft eingerumt wird, insofern Kant ihre subjektive Gìltigkeit durch die kritische Analyse des Geschmacks begrìndet. Nichtsdestoweniger bezeichnet die Entwicklungsgeschichte des Begriffs ,Witz‘ den Problemkreis der reflektierenden Urteilskraft, sowie den historischen und systematischen Hintergrund dieser wichtigen Theorie der Kantischen Philosophie. 34 R 988, Refl, AA 15: 432. Bereitgestellt von | De Gruyter / TCS Angemeldet | 212.87.45.97 Heruntergeladen am | 13.11.13 09:20