Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants Philosophie

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Witz und reflektierende Urteilskraft in Kants
Philosophie
Manuel S‚nchez Rodr†guez
1 Historischer Hintergrund
Ein Studium ìber die Bedeutung des Begriffs ,Witz‘ in der Kantischen
Philosophie stçßt gleich zu Anfang auf die Frage, ob dieser in der kritizistischen Vermçgenstheorie ìberhaupt eine Rolle spielt. Die Erkenntnisvermçgen werden in der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr als
psychologische F•higkeiten behandelt, sondern prinzipiell als Bedingungen der Mçglichkeit unserer Erkenntnis. Obwohl Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Witz, Verstand oder Urteilskraft offenbar psychologische F•higkeiten des Gemìts sind, die sich jeweils bestimmten empirischen oder
psychologischen Regeln unterwerfen, erfordert die Kritik zugleich, die
Bedingungen derselben zu isolieren, die unabh•ngig von der Erfahrung
sind und a priori die Erkenntnis der Gegenst•nde ermçglichen. Eine solche
transzendentale Analyse des Witzes scheint in der ersten Kritik nicht
stattzufinden.
Darìber hinaus erscheint dieser Begriff eher selten in den Schriften
Kants, mit der Ausnahme der Vorlesungen ìber Anthropologie, die dem Witz
sogar eine eigene Sektion widmen. Kant folgte der psychologia empirica der
Metaphysica Baumgartens als Leitfaden fìr seine akademische Lehrt•tigkeit
ìber Anthropologie,1 so dass die Vorlesungsnachschriften von diesem Werk
in Struktur und Inhalt deutlich beeinflusst sind. Diese Abh•ngigkeit bestimmt aber nicht ganz die spezifische Bedeutung des Begriffs ,Witz‘ in
solchen Materialien. Denn Kant stellte im Wintersemester 1772/1773
seine Auslegung des Begriffs in expliziter Auseinandersetzung mit der
baumgartschen Theorie2 dar: „Unser Auctor hat dem Witz die Scharf1
2
Vgl. V-Anth/Mensch, AA 25: 859.
Baumgarten definiert den Witz [ingenium] als das Vermçgen, öhnlichkeiten unter
den Sachen wahrzunehmen, und stellt ihm die Scharfsinnigkeit [acumen] anstatt
der Urteilskraft gegenìber; vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica.
Halle 1739. Nachdruck nach der 4. Auflage von 1757. In: AA 15: 05 – 54 und AA
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sinnigkeit entgegengesetzt und erkl•rt jenen, durch ein Vermçgen das
Aehnliche, diesen aber durch ein Vermçgen den Unterschied der Sachen zu
erkennen. Es ist aber beßer, daß man dem Witz die Urtheilskraft entgegenseze […]. [Z]ur Urtheilskraft gehçret auch das Vermçgen die Zusammenstimmung der Verh•ltnisse einzusehen […]. Der Witz ist das
Vermçgen zu vergleichen, die Urtheilskraft das Vermçgen zu verknìpfen
oder zu trennen“. Im Unterschied zu dem Witz und der Urteilskraft, ist die
Scharfsinnigkeit nicht ein besonderes Vermçgen des Gemìts, sondern ein
bestimmter Grad der Sch•rfe, die man sowohl im Witz wie auch in der
Urteilskraft eventuell erreichen kann.3 W•hrend Baumgarten die Scharfsinnigkeit nur als Unterscheidungsvermçgen bezeichnet, kann die Urteilskraft in der Anthropologie Kants auch die mçgliche ›bereinstimmung
oder Verknìpfung unter den von dem Witz vorgelegten Verh•ltnissen und
Vergleichen einsehen,4 denn „[•]hnliche Dinge sind noch nicht verknìpft“.5
2 Der Witz in der Kritik der reinen Vernunft
Die Bedeutung dieser Korrektur gegenìber Baumgarten muss in jedem Fall
relativiert werden, weil sie tats•chlich in die Kritik der reinen Vernunft nicht
aufgenommen wurde, wo Kant sogar noch die von ihm selbst kritisierten
Punkte der Baumgart’schen Vermçgenstheorie darstellt. In seiner Erçrterung des logischen Prinzips der Gattungen und Arten stellt er n•mlich dem
Witz Scharfsinnigkeit bzw. Unterscheidungsvermçgen gegenìber, welche
die „Mannigfaltigkeit und Verschiedenheiten der Dinge, unerachtet ihrer
›bereinstimmung unter derselben Gattung“ erkennen kann.6 W•hrend
der Leichtsinn des Witzes die öhnlichkeiten der Dinge unter einer Gattung
durch das Vergleichen „denken l•ßt“,7 bestimmt die Scharfsinnigkeit den
Inhalt in derselben Gattung „in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten“.8 Auf diese Weise ermçglicht das Zusammenwirken von Witz und
3
4
5
6
7
8
17: 05 – 226: §§ 572 – 575; AA 15: 22 f. Siehe dazu Hinske, Norbert: „Kant und
Alexander Gottlieb Baumgarten. Ein leider unerledigtes Thema der Anthropologie
Kants“. In: Aufkl•rung 14, 2002, 261 – 274: bes. 271.
Vgl. V-Anth/Collins, AA 25: 132 f.; V-Anth/Parow, AA 25: 341; V-Anth/Fried,
AA 25: 516; V-Anth/Busolt, AA 25: 1459.
Vgl. auch V-Anth/Mron, AA 25: 1262 f.
V-Anth/Parow, AA 25: 341.
KrV, A 654/B 682.
KrV, A 653/B 681.
KrV, A 654/B 682.
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Scharfsinnigkeit die Etablierung der besonderen Erkenntnis in einem
mçglichen System der Erfahrung.
Obwohl die Erkl•rung beider Vermçgen und deren Zusammenhang
eng mit der Baumgart’schen Psychologie verbunden ist, erkl•rt Kant das
Prinzip der Gattungen und Arten nicht bloß als eine „Schulregel“ oder ein
„logisches Prinzip“,9 sondern vielmehr als eine transzendentale Bedingung
der Erkenntnis, ohne deren Voraussetzung „keine Erfahrung mçglich
w•re“.10 Insofern der empirische Verstand sich der T•tigkeit des Witzes
bedient, um die Allgemeinheit der Gattungen aus dem Vergleichen und der
Verbindung besonderer und einzelner Erscheinungen zu entdecken, ermçglicht das zweite Vermçgen die Fortfìhrung einer empirischen Untersuchung der Natur nach der Orientierung der spekulativen Vernunft. In
dieser Hinsicht stimmt die T•tigkeit des Witzes mit dem rationalen ,Interesse‘ ìberein, aus dem Besonderen der Erfahrung ein Allgemeines zum
Gebrauch des Verstandes herauszufinden.
Dieser Grundsatz (der Scharfsinnigkeit, oder des Unterscheidungsvermçgens)
schr•nkt den Leichtsinn des ersteren (des Witzes) sehr ein, und die Vernunft
zeigt hier ein doppeltes einander widerstreitendes Interesse, einerseits das
Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des Inhalts (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannigfaltigkeit
der Arten, weil der Verstand im ersteren Falle zwar viel unter seinen Begriffen,
im zweiten aber desto mehr in denselben denkt.11
In der Kritik der reinen Vernunft finden wir zwar keine transzendentale
Analyse des Witzes als ein spezifisches Vermçgen, so dass kein Licht auf
seine Natur und Funktion im kritischen System der Erkenntnis geworfen
werden kann. Deutlich wird jedoch, dass Kant ihm eine Funktion bei der
Theorie des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft zuschreibt, insofern die
Vertretung der transzendentalen Bedeutung des Prinzips der Gattungen
und Arten in der Darlegung solcher Theorie stattfindet. In dem apodiktischen Gebrauch der Vernunft, so Kant, ist das Allgemeine dem Verstand
schon gegeben, so dass das Besondere durch die Urteilskraft ihm notwendig subsumiert und somit bestimmt wird. Ist aber nur das Besondere
gegeben, wofìr noch eine allgemeine Regel entdeckt werden muss, die
zuerst nur problematisch und vorl•ufig angenommen werden soll, dann
kann sich die Vernunft nur hypothetisch verhalten, um den Erkenntnis-
9 KrV, A 652/B 680.
10 KrV, A 654/B 682.
11 KrV, A 654/B 682 f.
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prozess nach Ideen zu leiten, die eine systematische und normative Orientierung der Erkenntnis ermçglichen.12
Diese Teilung zwischen beiden Aspekten der Vernunft erinnert uns
offensichtlich an die Unterscheidung zwischen der bestimmenden T•tigkeit und der reflektierenden T•tigkeit der Urteilskraft, die Kant in der
Kritik der Urteilskraft darlegt.13 Trotzdem erkl•rt die Transzendentale
Dialektik noch nicht, wie die normative Orientierung der Vernunft, die in
dem Erkenntnisprozess vorausgesetzt werden soll, zugleich als ein Prinzip
der Urteilskraft gedacht werden kann. Ein solches Prinzip w•re in der
kritischen Philosophie die Pointe oder ratio essendi der reflektierenden
Urteilskraft, wie die Kritik des Geschmacks die ratio cognoscendi dieses
Prinzips ist, weil ausschließlich daraus die Urteilskraft als ein spezifisches
und eigentìmliches Erkenntnisvermçgen innerhalb des kritischen Systems
der Vernunft von Kant angesehen wird.14
Der Witz ist in dieser Hinsicht noch nicht die reflektierende Urteilskraft, obwohl wir die ›berlegungen Kants ìber dieses Vermçgen als einen
wichtigen Pr•zedenzfall in der Entwicklungsgeschichte der Theorie der
reflektierenden Urteilskraft einr•umen mìssen, der sowohl ihren historischen Hintergrund in der baumgartschen Ansicht wie auch ihren systematischen Zusammenhang mit dem kantischen Begriff des hypothetischen
Gebrauchs der Vernunft anzeigt.
3 Der Witz in den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie
Die Materialien der Nachlassreflexionen und der Vorlesungsnachschriften
zeigen die Beziehung zwischen der psychologischen Auslegung des Witzes
und der oben skizzierten Thematik der Transzendentalen Dialektik.
Der Witz gehçrt zur T•tigkeit der produktiven Einbildungskraft oder
dem Dichtungsvermçgen15 und dient zur willkìrlichen Erfindung neuer
12 Vgl. KrV, A 646 f./B 674 f.
13 Vgl. KU, AA 05: 179.
14 Vgl. EEKU, AA 20: 244, 225. Der Einfluss des Begriffs ,Witz‘ auf die philosophische Bedeutung der Theorie der reflektierenden Urteilskraft wird also zu stark
betont, wenn man behauptet: „Der ,Witz‘ der reflektierenden Urteilskraft ist der
Witz“ [vgl. Gabriel, Gottfried: „Der „Witz“ der reflektierenden Urteilskraft“. In:
Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beitr•ge zur Entstehung des Neuen.
Hrsg. von F. Rodi. Weilerswist 2003, 197 – 210: 197.
15 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 524; V-Anth/Pillau, AA 25: 754; R 329, ca. 1776 –
1778 (?), Refl, AA 15: 130; V-Anth/Mensch, AA 25: 981.
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Beziehungen und öhnlichkeiten unter den sinnlichen Vorstellungen.
W•hrend die Einbildungskraft neue Vorstellungen nach ihrer Form hervorbringen kann, bringt der Witz neue Beziehungen zwischen einzelnen
Vorstellungen durch die Erfindung von Einf•llen, Analogien oder Beispielen hervor.16
Nun kann die T•tigkeit des Witzes aber nur unter der kritischen
Aufsicht der Urteilskraft nìtzlich fìr die Erkenntnis sein: „Er ist ein positives Erkenntnißvermçgen, eine weitere Ausdehnung unserer Erkenntnisse. Urtheilskraft ist ein negatives Vermçgen, eine Einschr•nkung unserer
Begriffe, indem wir zeigen, daß ein Begriff nicht auf so viel Dinge geht, als
man glaubt“.17 Der Witz fçrdert ein freies Spiel 18 der Vorstellungen, die aus
diesem Grund willkìrlich und vorl•ufig verbunden werden kçnnen. Auf
diese Weise erh•lt der Verstand einen umfangreichen Stoff fìr die Erkenntnis, was die Findung neuer Begriffe und Regeln in der Untersuchung
der Natur erleichtert.19 Aber die Einf•lle des Witzes kçnnen jederzeit in den
Irrtum verfallen, insofern er auf die Unterschiede der Vorstellungen unter
einander nicht achtet und seine Einbildungen noch nicht nach Einsichten
und schon bestimmten Erkenntnissen begrenzt. Eine solche Einsicht wird
von der Urteilskraft gegeben, die sowohl die Richtigkeit dieser Einf•lle
prìfen wie auch die Unterschiede in den daraus entworfenen allgemeinen
Begriffen bemerken soll. W•hrend der Witz dem Verstand eine allgemeine
Regel anbietet, muss die Urteilskraft noch „subsumieren, ob etwas unter
einen allgemeinen Begriff gehçre oder nicht“.20 Die Urteilskraft ist also ein
bestimmendes Vermçgen, das die Mehrdeutigkeit der Einbildungen des
Witzes begrenzt, um den erkenntnistheoretischen Gebrauch dieses Materials zu gew•hrzuleisten: „Durch das Urtheilen verhìten wir Irrthìmer.
Die Urtheilskraft geht aufs Rectificiren (Berichtigen, L•utern)“.21 Sie ist
also eine „Art Disciplin fìr den Witz“,22 wodurch man nachprìft, ob seine
16 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 516 f.; V-Anth/Mensch, AA 25: 959; V-Anth/Mron,
AA 25: 1263.
17 V-Anth/Mensch, AA 25: 959. Siehe auch V-Anth/Mron, AA 25: 1263; V-Anth/
Busolt, AA 25: 1459.
18 Vgl. V-Anth/Pillau, AA 25: 754; V-Anth/Mensch, AA 25: 969, 1063; V-Anth/
Mron, AA 25: 1266 – 68; V-Anth/Busolt, AA 25: 1459. Die Bezeichnung der
T•tigkeit des Witzes als Spiel finden wir schon in der Metaphysica Baumgartens, op.
cit., § 576, AA 15: 23.
19 Vgl. V-Anth/Fried, AA 25: 517; V-Anth/Pillau, AA 25: 754 s.; V-Anth/Mensch,
AA 25: 959; V-Anth/Mron, AA 25: 1263 – 65, V-Anth/Busolt, AA 25: 1459 f.
20 V-Anth/Pillau, AA 25: 754.
21 V-Anth/Mensch, AA 25: 959.
22 V-Anth/Pillau, AA 25: 755.
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Einbildungen und entworfenen Begriffe auf die Gegenst•nde in concreto
anwendbar sind, so dass sie bestimmte Verstandesbegriffe werden kçnnen.
Obwohl die Darlegungen ìber den Witz und die Urteilskraft in den
Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie offenbar einen psychologischen
Charakter haben, macht die Zusammenarbeit beider Vermçgen das subjektive Erkenntnisverfahren aus, das die empirische Untersuchung der
Gattungen und Arten in der Erkenntnis ermçglicht.
Der Witz sucht aus verschiedenen verglichnen Vorstellungen einen Begriff zu
machen, und durch die Urtheilskraft unterscheiden wir die Arten, die unter
der Gattung enthalten sind. Unsere Erkenntniß wacht mehr durch den Witz,
indem wir sie dadurch allgemein machen kçnnen. Ein solcher Begriff ist von
großem Umfange, und ich kann ihn auf viele Gegenst•nde anwenden. Wir
machen aus ihm Gattungen, die die Aehnlichkeiten vieler Dinge enthalten.23
Die Funktion von Witz und Urteilskraft zur Bildung der empirischen
Erkenntnis nach Gattungen und Arten spiegelt in den Vorlesungsnachschriften die Beschreibung der Funktion von Witz und Scharfsinnigkeit im
Anhang der Transzendentalen Dialektik, wo Kant das logische Prinzip der
Gattungen und Arten als eine transzendentale Idee erkl•rt, die in der
empirischen Untersuchung der Natur nach dem spekulativen Interesse der
theoretischen Vernunft vorausgesetzt werden muss. Diese transzendentale
Dimension des Erkenntnisprozesses wird dennoch in den Vorlesungen
nicht thematisiert, obwohl Kant deutlich die Unterordnung der sinnlichen
Erfindung unter der Orientierung der Vernunftideen erkl•rt:
Dieses Dichtungsvermçgen ist die Grundlage aller Erfindungen, wir bringen
immer auf gut Glìck neue Vorstellungen hervor; darnach muß sie der Verstand prìfen, und so umbilden, daß sie mit den Ideen der Vernunft zusammenh•ngen.24
Nun ist das Dichtungsvermçgen, als Vermçgen der Erfindung, die
Grundlage des Witzes. Und das Erfinden ist zugleich das Feld der vorl•ufigen Urteile, deren regulative und heuristische Bedeutung im Erkenntnisprozess der Theorie des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft
nahe steht. Ein vorl•ufiges Urteil ist ein problematisches Urteil, das der
Untersuchung vorhergeht, um ihr den Weg durch Maximen heuristisch
anzuweisen, sie zu dirigieren.25 Denn das Erkenntnisverfahren ist nicht nur
23 V-Anth/Mensch, AA 25: 959 f. Siehe auch V-Anth/Busolt, AA 25: 1459; V-Anth/
Mron, AA 25: 1266 f.; R 469, 1776 – 1778, Refl, AA 15: 194.
24 V-Anth/Mensch, AA 25: 981.
25 Vgl. Reisinger, Klaus: „Urteil, vorl•ufiges“. In: Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter, et alii. Darmstadt 2001, XI 473 – 79: 473.
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aus den Kategorien des Verstandes mçglich; „[e]s wird deswegen ein Netz
von Annahmen entworfen […], das ermçglichen soll, dass dieses Reflektieren nicht zu einem blinden ,Herumtappen‘ […] wird“.26 Wie Kant in
den Enzyklop•dievorlesungen vertritt, gibt es vorl•ufige Urteile, die aus den
Gesetzen der Vernunft selbst herrìhren, denn sie sind eigentlich keine
Urteile, sondern vielmehr heuristische Maximen zu urteilen, d. h. reflexive
und regulative Prinzipien des Urteilsverfahrens, wodurch keine Gegenst•nde bestimmt werden.27 Unter den Maximen der Reflexion zur Untersuchung der Natur steht das Prinzip, die vorl•ufigen Urteile nicht fìr
bestimmte Urteile zu halten. Diese Urteile sollen also nur als vor-l•ufig
erkannt werden.28 Eine solche Anforderung wird auch in die Erkl•rung des
erkenntnistheoretischen Wertes des Witzes aufgegriffen, insofern seine
entworfenen Begriffe vom Verstand nur provisorisch angenommen werden, bis dass die Urteilskraft ihre Richtigkeit und ihren spezifischen Unterschied bestimmt hat. Das Subjekt muss also ìber die vorl•ufigen Urteile
des Witzes nachdenken oder reflektieren, um sie mit der Urteilskraft
verbinden und als bestimmte Erkenntnis zulassen zu kçnnen.
Vorl•ufiges Urtheil ist ein Grund ìber Dinge zu urtheilen, der aber unzureichend ist. Aber ein bestimmtes Urtheil zu f•llen, gehçrt fìr die Urtheils
Kraft. Der Witz streift herum, wo er was findet, und dient also zur Erfindung,
deswegen verleitet er auch zu Jrrthìmern, denn wenn er die unzureichende
Grìnde zu Urtheilen fìr bestimmte h•lt, so verleitet er zum Jrrthum, welches
denn geschiehet, wenn man nicht Lust hat, ìber den Witz und deßen vorl•ufige Urtheile nachzudencken, und sie mit der UrtheilsKraft zu verbinden.
Die UrtheilsKraft aber dient zum bestimmten Urtheil, und deswegen h•lt sie
auch von Jrrthìmern ab.29
Die Diskussion Kants ìber den Witz in den Vorlesungsnachschriften steht
also im Zusammenhang mit der Problematik, die in der Theorie der reflektierenden Urteilskraft dargestellt wird. Einerseits erkl•rt er den Witz als
das Vermçgen, allgemeine Gattungen aus den einzelnen Vorstellungen der
Sinnlichkeit zu entwerfen, wodurch der empirische Erkenntnisprozess
nach einer systematischen Idee der Natur allm•hlich fortfahren kann.
Andererseits setzt diese Funktion die Maximen der Reflexion voraus, die
26 La Rocca, Claudio: „Vorl•ufige Urteile und Urteilskraft. Zur heuristischen Logik
des Erkenntnisprozesses“. In: Kant und die Berliner Aufkl•rung, Akten des IX.
Internationalen Kant-Kongresses. Hrsg. von V. Gerhardt et alii. Berlin und New York
2001, II, 351 – 361.
27 Ibid., 354.
28 Ibid., 356.
29 V-Anth/Fried, AA 25: 516; siehe auch V-Anth/Mensch, AA 25: 968.
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dem Subjekt vorschreiben, in der empirischen Untersuchung ìber seine
eigenen eingebildeten ,Erkenntnisse‘ als provisorische nachzudenken, bis
sie von der Urteilskraft eingesehen und bestimmt werden. Dieser thematische Zusammenhang zeigt sich in der Definition des Witzes, die nach der
Kritik der Urteilskraft parallel zur Definition der reflektierenden Urteilskraft formuliert wird: „So wie das Vermçgen zum Allgemeinen (der Regel)
das Besondere auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern
das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium).“30
Die Begriffe ,reflektierende Urteilskraft‘ und ,bestimmende Urteilskraft‘ entsprechen in der dritten Kritik den Begriffen ,Witz‘ und ,Urteilskraft‘ in der Anthropologie. Insofern aber der zitierte Text in das Jahr
1798 datiert wird, erlaubt uns diese Beobachtung noch nicht, diesen
Zusammenhang im Kontext der historischen Entstehung der Theorie der
reflektierenden Urteilskraft zu best•tigen.
4 Witz und reflektierende Urteilskraft
Das Problem der reflektierenden Urteilskraft wird in der dritten Kritik als
die Frage dargestellt, wie man einen allgemeinen Begriff des Verstandes
finden kann, der eine besondere Vorstellung der Einbildungskraft bestimmt. Es geht hier prinzipiell um die Mçglichkeit einer subjektiven
›bereinstimmung zwischen zwei spezifisch verschiedenen Erkenntnisvermçgen, d. h. Einbildungskraft und Verstand. In dieser Hinsicht ist
zun•chst festzustellen, dass der Witz in den Vorlesungsnachschriften als die
Gemìtsf•higkeit charakterisiert wird, die als Mittelglied zwischen beiden
Vermçgen gilt, insofern er die Bildung eines Allgemeinen ermçglicht,
welches von dem Verstande mit Hilfe der kritischen Arbeit der Urteilskraft
zur Erkenntnis gebraucht werden kann.
Die Einbildungskraft enth•lt in sich das Magasin des Erkenntniß von allem
was wir wahrgenommen, gedacht und vorgenommen haben. Der Zweck
worauf sich dieses alles bezieht, ist der Verstand. Es sind zwey Vermçgen, die
Materialien welche in der Einbildungskraft liegen zu gebrauchen, und sie zum
Dienste des Verstandes anzuwenden; Witz und Urtheilskraft.31
In der dritten Kritik vertritt Kant die These, in der Beziehung zwischen den
Erkenntnisvermçgen zur Beurteilung der Natur mìsse ein transzendentales
30 Anth, AA 07: 201.
31 V-Anth/Pillau, AA 25: 754. Vgl. R 477, 1776 – 1779, Refl, AA 15: 197; V-Anth/
Mron, AA 25: 1268.
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und subjektives Prinzip a priori vorausgesetzt werden, das die Urteilskraft
sich selbst zur Reflexion ìber die Gegenst•nde gibt. Diese Grundlegung der
reflektierenden Urteilskraft als ein spezifisches Erkenntnisvermçgen im
System der Vernunft wird dennoch nur mittels einer kritischen Analyse
und Deduktion der Urteile dargestellt, in denen das Problem der subjektiven Reflexion exemplarisch auftritt: die •sthetischen Urteile.
Seit der Kritik der reinen Vernunft verhindert die kritische Feststellung
von dem spezifischen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, die
Mçglichkeit einer ›bereinstimmung zwischen beiden Vermçgen positiv
und objektiv zu beweisen. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft darf
n•mlich nicht als eine Vorschrift genommen werden, welche z. B. die
objektive Richtigkeit unserer besonderen Urteilsakte sichern kçnnte, genauso wie es im Geschmacksurteil geschieht, wo eine bestimmte Regel
niemals die Vorstellung a priori anzeigen kann, die ein Gefìhl der Lust in
unserem Gemìt verursachen wird. Wenn nun das Subjekt aus Anlass der
Betrachtung einer Vorstellung die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefìhls
der Lust in sich selbst empfindet, dann mìssen wir a priori einr•umen, dass
der Grund dieses Gefìhls in dem subjektiven Prinzip der reflektierenden
Urteilskraft liegt, die von den Erkenntnisvermçgen zur Reflexion ìber die
Gegenst•nde vorausgesetzt und von der Kritik als eine notwendige Bedingung der Erkenntnis ìberhaupt definiert wird.32
Diese Argumentation ìber die Apriorit•t des Geschmacksurteils findet
sich schon in der Reflexion 98833, von ungef•hr 1784. Obwohl Kant hier
den Begriff ,reflektierende‘ Urteilskraft noch nicht anwendet, skizziert
dieser Text die Idee, dass die Analyse des Gefìhls der Lust die subjektive
Bedingung der Erkenntnis ìberhaupt anzeigt, die von den in der Beurteilung implizierten Erkenntnisvermçgen vorausgesetzt wird. In der Kritik
der Urteilskraft bezieht sich Kant ausschließlich auf die Einbildungskraft
und den Verstand, ohne den Witz als einen Teil des ersteren Vermçgens zu
explizieren. Nun wird aber der Witz in der Reflexion 988 noch unter den
Erkenntnisvermçgen angefìhrt, deren Aktivit•t in der Beurteilung einer
Vorstellung einen subjektiven Grund der Erkenntnis voraussetzt:
Die Erkentniskr•fte sind Witz und Einbildungskraft, so fern sie zum Verstande ìbereinstimmen. Urtheilskraft ist nur das Vermçgen, was [aus] beyder
32 Vgl. EEKU, AA 20: 230 – 32; KU, AA 05: 219 – 22, 286 – 291.
33 Vgl. R 988, 1783 – 1784, Refl, AA 15: 432 f. ›ber die Bedeutung der Reflexion
988 zur Entstehung der Deduktion des Geschmacks, siehe S‚nchez Rodr†guez,
Manuel: Sentimiento y reflexiûn en la filosof†a de Kant. Estudio histûrico sobre el
problema est¦tico. Hildesheim, Zìrich und New York 2010, 192 – 209.
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Zusammenstimmung (g in einem Falle) in concreto mçglich macht. Scharfsinn
ist das Vermçgen, [das] auch die kleine Einstimmung oder Wiederstreit beyder
zu bemerken, ist also Eigenschaft der Urtheilskraft.34
Obwohl die Reflexion 988 das Argument entwirft, das der Deduktion der
•sthetischen und somit der reflektierenden Urteilskraft in der dritten Kritik
zugrunde liegt, benutzt sie noch die Terminologie der baumgartschen
Psychologie, an die Kant in seiner intellektuellen Entwicklung geknìpft
hatte und mittels derer er ìber die Problematik der systematischen Bildung
der empirischen Erkenntnis im Rahmen seiner akademischen Lehre der
achtziger Jahre nachdachte.
Der Witz ist nicht die reflektierende Urteilskraft, die nur in der dritten
Kritik als ein Hauptvermçgen innerhalb des Systems der Vernunft einger•umt wird, insofern Kant ihre subjektive Gìltigkeit durch die kritische
Analyse des Geschmacks begrìndet. Nichtsdestoweniger bezeichnet die
Entwicklungsgeschichte des Begriffs ,Witz‘ den Problemkreis der reflektierenden Urteilskraft, sowie den historischen und systematischen Hintergrund dieser wichtigen Theorie der Kantischen Philosophie.
34 R 988, Refl, AA 15: 432.
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