Dicke Hoden

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Dicke Hoden
Die Kinderkrankheit Mumps ist wieder auf dem
Vormarsch. Inzwischen fallen ihr jedoch vor
allem junge Erwachsene zum Opfer – auch geimpfte.
it einer kleinen Schwellung unter
seinem rechten Ohr fing es an.
Zunächst dachte Christoph Wagner**, Schweißer aus Regensburg, er habe
einen Abszess. Nein, keinen Abszess, befand der Hausarzt und war ansonsten ratlos. Der HNO-Spezialist diagnostizierte
eine Ohrspeicheldrüsenentzündung; eine
Ursache dafür nannte er nicht.
Doch die Beule schwoll an, weiter und
weiter, und dann wurde auch die linke
Seite dick. Wagners Mund wurde trocken,
der Speichelfluss versiegte, außer Suppe
konnte er nichts mehr essen.
Er ging wieder zum HNO-Arzt. Und
diesmal stellte der Arzt eine Diagnose,
die der 22-Jährige nicht für möglich gehalten hätte: Mumps. „Ich dachte, das sei
ein schlechter Witz“, sagt Wagner.
Nach einer Woche ging es ihm wieder
besser. Doch dann schoss seine Körpertemperatur in die Höhe. Über 40 Grad.
Sein rechter Hoden schwoll an und wurde
hart. „Ich fühlte mich so schlecht, dass
ich nicht mehr aufstehen konnte“, erinnert sich Wagner. Dann ging es schnell:
Rettungswagen, Krankenhaus.
Die Diagnose: Mumps-Orchitis, eine
Hodenentzündung. Bis zu 30 Prozent der
jugendlichen und erwachsenen männlichen Mumps-Patienten erkranken daran.
Sechs Tage musste Wagner in der Klinik
bleiben. Sein Hoden wurde gekühlt und
auf einem Schaumstoffbänkchen hochgelagert. Wegen der Ansteckungsgefahr durfte Wagner sein Zimmer nicht verlassen.
Besucher mussten Kittel und Maske tragen.
Viel ist diskutiert worden über die
Rückkehr der Masern. Mumps hingegen
(im Volksmund: Ziegenpeter), einst wegen gefährlicher Komplikationen gefürchtet, ist offenbar in Vergessenheit geraten.
Dabei ist die von einem Paramyxovirus
verursachte Entzündung der Ohrspeicheldrüse keinesfalls ausgerottet.
Ein typisches Symptom sind die
„Mumps-Backen“. Die Krankheit kann
auf andere Organe wie Hoden, Bauchspeicheldrüse, Innenohr oder Gehirn
übergreifen. In seltenen Fällen hinterlässt
sie bleibende Schäden.
Seit Ende März dieses Jahres gilt in
Deutschland die Meldepflicht für Mumps.
Noch haben die Bundesländer nicht alle
Zahlen beisammen, aber schon jetzt ist
klar: Der Ziegenpeter ist wieder da.
Im bevölkerungsreichsten Bundesland
Nordrhein-Westfalen etwa hatten bis
Mitte September 31 Kreise und Städte
ihre ersten Mumps-Daten übermittelt. Sie
zählten 94 Fälle. „Die wahre Zahl liegt
sicherlich noch deutlich höher“, sagt
Ulrich van Treeck, zuständig für Infektionsmeldungen in der Fachgruppe Infektiologie und Hygiene am Landeszentrum
Gesundheit.
Das bedeutet: Mumps grassiert im gleichen Ausmaß wie Masern.
Eine aktuelle wissenschaftliche Auswertung von Krankenkassen-Abrechnungsdaten ergibt ein noch dramatische-
* Elektronenmikroskop-Aufnahme.
** Name von der Redaktion geändert.
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GETTY IMAGES (L.); ZICK, JOCHEN / ACTION PRESS (R.)
M
res Bild. Zwischen 2007 und 2011 hat es
in Deutschland sogar rund 32 000 MumpsFälle gegeben. Häufig, befürchten die
Wissenschaftler, würden die Ärzte die
Fälle gar nicht melden.
Auch die Schwere der Krankheitsverläufe erschreckt die Gesundheitsexperten. Jörg Bätzing-Feigenbaum vom
Landesamt für Gesundheit und Soziales
in Berlin wertete Mitte September die
neuen Mumps-Meldungen aus: Von den
32 Patienten mussten gleich 7 ins Krankenhaus.
Ähnlich wie Masern und Keuchhusten
ist Mumps offenbar aus dem Status der
Kinderkrankheit herausgewachsen. Daher gilt Christoph Wagner mit 22 Jahren
inzwischen als typischer Patient. „Das
Durchschnittsalter der gemeldeten Kranken in Nordrhein-Westfalen ist 26 Jahre“,
sagt Ulrich van Treeck. Der älteste
Mumps-Patient in seiner Statistik sei mit
72 sogar bereits im Rentenalter.
Auch die Untersuchung der Krankenkassen-Abrechnungsdaten zeigte: Bei den
20- bis 29-Jährigen stieg die Erkrankungsrate um 37 Prozent an.
Im Juni brach in Münster Mumps an
einer Montessorischule aus – und auch
da waren keineswegs nur die Kleinen betroffen. „Die 14 Erkrankten waren zwi-
Mumps-Virus*: Heute lauert die Gefahr in Universitäten und Sportvereinen
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schen 6 und 14 Jahre alt“, berichtet der
zuständige Schularzt Axel Iseke.
Das Fatale dabei: Gerade für Jungen
ab der Pubertät wird die Krankheit zu
einem besonderen Risiko, weil eine
Hodenentzündung dauerhaft steril machen kann. „Die Gefahr steigt, wenn die
Hoden anfangen zu wachsen“, sagt Iseke.
Bei bis zu einem Viertel der Orchitis-Patienten machen viele Spermien schlapp.
Meistens ist allerdings, wie bei Christoph Wagner, nur ein Hoden betroffen –
das rettet die Manneskraft: Selbst wenn
es dort zu dauerhaften Schäden komme,
sei „die Zeugungsfähigkeit durch den
anderen Hoden gesichert“, erklärt Wolfgang Otto vom Caritas-Krankenhaus
St. Josef in Regensburg, der Wagner in
der hier angesiedelten Uni-Urologie behandelt.
Auch den Frauen droht Gefahr. Bei ihnen kommt es in etwa 5 Prozent der Fälle
zu einer Eierstock- und in etwa 30 Prozent zu einer Brustentzündung.
Früher, als Mumps-Viren noch hauptsächlich kleine Kinder attackierten, waren gerade Waldorf- und Montessorischulen oft Seuchenherde – der Nachwuchs
fanatischer Impfgegner gab das Virus per
Tröpfchen- und Schmierinfektion weiter.
Aber Ausbrüche wie der in Münster sind
eher selten geworden. Heute lauert die
Mumps-Gefahr in Universitäten, Fachhochschulen, Sportvereinen.
So hatte sich vor zwei Jahren ein amerikanischer Student wohl bei einer Reise
nach Westeuropa angesteckt – das Virus
im Leib, kehrte der 21-Jährige zurück an
die University of California. Am Ende
waren 27 Kommilitonen erkrankt. Die
meisten von ihnen hatten sich nach Einschätzung der amerikanischen Seuchenkontrollbehörde in Studentenwohnheimen oder beim Sport angesteckt.
Auch in den Niederlanden gab es mehrere Mumps-Ausbrüche an Hochschulen,
die unter anderem mit einer Uni-Party
in Verbindung gebracht wurden. Und
wahrscheinlich war es ebenfalls ein Student, der Ende 2010 die Krankheit in das
westschottische Städtchen Oban trug.
Zwei große Feiern zur Weihnachtszeit boten dem Virus perfekte Bedingungen; fast
120 Menschen in der Region erkrankten
an Mumps.
Für den Urologen Wolfgang Otto war
Christoph Wagner im Sommer 2010 der
erste Patient, den er je wegen einer
Mumps-Orchitis behandelte. „Da habe
ich vorher eher schon mal jemanden mit
einer Syphilis gesehen“, sagt er. Doch
Wagner war nur der Anfang.
Kleinkind nach Impfung: „Wir vermuten jetzt, dass der Schutz mit der Zeit nachlässt“
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Es folgte ein ganzes Defilee neuer
Mumps-Patienten. Auch zwei Profis des
Fußball-Drittligisten SSV Jahn Regensburg hat es im August 2010 erwischt. Beinahe wäre ein wichtiges Spiel wegen der
Ansteckungsgefahr abgesagt worden.
Zum Schluss erkrankte der Trainer.
Am Ende zählte man in ganz Bayern
fast 300 Mumps-Opfer. Die meisten waren zwischen 16 und 24 Jahre alt.
Warum macht das Virus heute, so wie
der Masern-Erreger, bevorzugt junge Erwachsene krank? Ein Grund: Inzwischen
werden rund 93 Prozent der Schulanfänger in Deutschland – wie von der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert
Koch-Instituts empfohlen – zweifach gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft.
Bei älteren Jahrgängen hingegen sind die
Durchimpfungsraten weitaus schlechter.
Viele ungeimpfte Sprösslinge von Impfgegnern etwa sind inzwischen erwachsen
geworden. Und auch Leute wie Christoph Wagner sind anfällig – er ist nur
einmal gegen Mumps geimpft worden;
vor 1991 entsprach das der Empfehlung
der Stiko.
Das Vertrackte an den neuen Ausbrüchen im Sportler- und Universitätsmilieu: Mumps streckt jetzt auch junge
Erwachsene nieder, die als Kinder ganz
brav und vorschriftsmäßig zweimal geimpft worden sind. In Bayern war das so,
in Kalifornien auch, und in den Niederlanden waren sogar 94 Prozent der Erkrankten als Kind zweimal immunisiert
worden.
„Wir vermuten jetzt, dass der Impfschutz mit der Zeit nachlässt“, sagt Anette Siedler vom Robert Koch-Institut. Und
da es zwischenzeitlich nur noch so wenige Mumps-Erkrankungen gab, konnte
sich das Immunsystem auch selten mit
dem Erreger auseinandersetzen und die
Immunität so auf natürlichem Wege wieder stärken.
Die mögliche Lösung: eine dritte Impfung für ältere Jugendliche und junge Erwachsene. Nicht unbedingt als Standard,
aber im Notfall und lokal – dort, wo
Mumps wieder aufflackert. In den USA
hat man das bereits gemacht. Doch in dieser Frage hat sich die Stiko bisher nicht
festlegen wollen.
Genau das wünscht sich jedoch Schularzt Axel Iseke aus Münster. „Wenn es zum
Beispiel einen Mumps-Fall in der neunten
Klasse gäbe“, sagt er, „wäre es das Beste,
dort sofort eine Wiederauffrischungsimpfung empfehlen zu können.“
Christoph Wagner konnte den Vorteil
einer weiteren Impfung in der eigenen
Familie beobachten. Er hat zwei Brüder,
der eine steckte sich bei ihm an, der andere nicht. „Derjenige, der gesund blieb,
war bei der Bundeswehr“, sagt Wagner.
„Und dort ist er noch einmal gegen alles
geimpft worden, auch gegen Mumps.“
VERONIKA HACKENBROCH
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