SGA Ein Überblick zu Kleinwuchs infolge einer vorgeburtlichen Wachstumsverzögerung Wir danken dem Autor Dr. med. Andreas Krebs Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Bereich Endokrinologie/Diabetes/Stoffwechsel SGA 3 Inhaltsverzeichnis SGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Beschreibung und Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 • Beurteilung und Vergleichbarkeit der körperlichen Entwicklung bei Geburt. . . . . . . . . . . 6 • Definition SGA, IUGR, AGA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 • Silver-Russel-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Erkennung und Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 • Diagnose SGA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 • SGA-Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Vorbeugung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 • Rauchen, Alkohol, Drogen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 • Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Entwicklung nach der Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 • Aufholwachstum und Zielgröße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 • Frühgeborene SGA-Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4 SGA Inhaltsverzeichnis Gesundheitliche Risiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Endokrinologische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Neurologische, psychosoziale und intellektuelle Veränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . • Stoffwechselveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Andere Organveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 24 24 25 25 Behandlung und Langzeitbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Voraussetzungen für eine Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Wachstumshormon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • Behandlung mit Wachstumshormon bei Kleinwuchs infolge SGA. . . . . . . . . . . . . . . . . • Unerwünschte Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 27 31 32 33 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Verwendete Abkürzungen und Fremdwörter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5 SGA Beschreibung und Häufigkeit Beurteilung und Vergleichbarkeit der körperlichen Entwicklung bei Geburt Zur Beurteilung des körperlichen Entwicklungszustandes eines neugeborenen Kindes bei Geburt werden Körpergewicht und -länge sowie der Kopfumfang gemessen und auf die Schwangerschaftsdauer sowie das Geschlecht des Neugeborenen bezogen. Diese Messdaten können als Perzentilen (Prozentangaben) berechnet werden und ermög­ lichen dann den Vergleich mit den Normalwerten für männliche und weibliche deutsche Neugeborene. Sie zeigen, ob ein Kind vom Normal- oder Durchschnittsbereich der gesunden Bevölkerung abweicht. Diese Normalwerte stehen als Perzentilenkurven (s. Abbildung 1) für Mädchen und Jungen im Alter von 0 bis 18 Jahren in Form von Diagrammen zur Verfügung. Der Bereich von der 3. bis zur 97. Perzentile wird als Normalbereich bezeichnet. Entspricht beispielsweise die Körperhöhe eines Kindes der 3. Perzentile im Diagramm, sind nur 3 % der gleich­ altrigen Mädchen oder Jungen kleiner. Liegt die Körperhöhe des Kindes auf der 50. Perzentile des 6 Diagramms, sind 50 % der gleichaltrigen Kinder kleiner/größer, und bei einer Körperhöhe entsprechend der 97. Perzentile sind nur 3 % der Kinder größer. Eine Körperhöhe unterhalb der 3. Perzentile wird als Kleinwuchs und eine Körperhöhe oberhalb der 97. Perzentile als Hochwuchs bezeichnet. Wird die Körperhöhe eines Kindes regelmäßig gemessen und mit den Durchschnittswerten gleichaltriger Mädchen oder Jungen des Perzentilendiagramms verglichen, kann man die Wachstumsgeschwindigkeit ermitteln und problemlos erkennen, ob das Wachstum im Vergleich mit Gleichaltrigen normal, langsamer oder schneller erfolgt. Solche Perzentilendiagramme gibt es außer für die Körperhöhe u. a. auch für das Körpergewicht und den Kopfumfang. Neben der Verwendung von Perzentilen zur Beschreibung von Länge, Gewicht und Kopfumfang eines Kindes und zur Einordnung dieser Messwerte in normal, zu klein oder zu groß hat sich auch die Angabe von Zahlenwerten für die Standardabweichung (englisch: standard deviation score, SDS) bewährt. Besteht keine Abweichung von der Norm, SGA beträgt die Standardabweichung 0 (0 SDS) und entspricht damit der 50. Perzentile. Bei einer Abweichung von der Norm um 2 Standardabweichungen nach oben (2 SDS) entspricht dies in etwa der 97. Perzentile. Liegt ein Wert 2 Standardabweichun­ gen unterhalb des Normwertes (–2 SDS) entspricht dies ungefähr der 3. Perzentile (s. Abbildung 2). Mit den SDS-Werten können auch Größen- oder Gewichtswerte, die deutlich unter der 3. Perzentile liegen, eindeutig definiert werden. Verwendet man diese Zahlenwerte der Standardabweichung (SDS) zur Beurteilung, so liegt der Normalbereich für die Körperhöhe, das Körpergewicht oder den Kopfumfang zwischen –2 SDS und 2 SDS. Bezogen auf die Körperhöhe entspricht 1 SDS ca. 6 cm. Perzentilen sind Prozentlinien, die auf Basis von immer wiederkehrenden Messungen der körperlichen Maße erstellt werden. Danach ist die 50. Perzentile auch gleichbedeutend mit dem Normwert. Wenn ein Kind unter der 3. Perzentile z. B. für die Körperhöhe liegt, dann liegen nur noch 3 % aller Kinder dieser Altersklasse und dieses Geschlechtes darunter. Sollte ein Kind über der 97. Perzentile liegen, so befinden sich 97 % der Kinder gleichen Geschlechts und Alters unter diesem Wert. 7 Inhaltsverzeichnis SGA Abbildung 1: Perzentilenkurven für Mädchen (rot) und Jungen (blau) Ingeborg Brandt, Der Kinderarzt 11, 43–51 (1980) Ingeborg Brandt, Human Growth. A Comprehensive Treatside. 2. Ed. Vol. 1. Hrsg. F. Falkner und J.M. Tanner, Plenum Press. New York 1986 Ingeborg Brandt und Lothar Reinken, Klin. Pädiatr. 200, 451–456 (1988) Lothar Reinken et al., Klin. Pädiatr. 192, 25–33 (1980) Lothar Reinken und Gerta van Oost, Klin. Pädiatr. 204, 129–133 (1992) 8 SGA Abbildung 2: Normalverteilungskurve zum besseren Verständnis des Zusammenhangs von Standardabweichung (SD) und Perzentilen 3er 10er 94% 80% 50% 25er 50er 75er Perzentile 90er 97er X ± 1 SD = 68,27% X ± 2 SD = 95,45 % X ± 3 SD = 99,73 % X ± 4 SD = 99,9336 % +4 SD +3 SD +2 SD +1 SD –1 SD –2 SD –3 SD –4 SD Durchschnittswert (X) 9 Inhaltsverzeichnis SGA Definition SGA, IUGR und AGA 2009 wurden in Deutschland 651.000 Kinder ge­ boren. Rund 5 % aller Neugeborenen (32.550) sind zu leicht und/oder zu klein für ihre Schwangerschaftsdauer („Small for Gestational Age“, SGA) und liegen mit Geburtsgewicht und/oder Geburtslänge unterhalb der 3. Perzentile. SGA-Neugeborene werden danach in solche mit vermindertem Geburtsgewicht, mit verminderter Geburtslänge oder mit gleichzeitig vermindertem Geburtsgewicht und -länge unterteilt, d. h. jeweils unter der 3. Perzentile bezogen auf die Schwangerschaftsdauer und unter Berücksichtigung des Geschlechts (s. Tabelle 1a + 1b). Es ist üblich, in diesem Zusammenhang auch von symmetrischen (sowohl verzögert in der Geburtslängen- und Geburtsgewichtsentwicklung) oder asymmetrischen (verzögert in der Entwicklung von nur einem der körperlichen Maße) SGA-Kindern 10 zu sprechen. Die Unterteilung in diese Formen ist von praktischer Bedeutung hinsichtlich des An­ sprechens auf eine Wachstumshormonbehandlung (s. Seite 26). Bei allen Formen ist auch der Kopfumfang entsprechend der vorliegenden Entwicklungsverzögerung verkleinert. SGA Sowohl Neugeborene mit einer zeitgerechten Schwangerschaftsdauer von 38 bis 42 Wochen als auch Frühgeborene mit einer verkürzten Schwangerschaftsdauer von weniger als 37 Wochen können als SGA geboren werden und haben dann unter­schiedliche Grenzwerte bezüglich Länge und Gewicht. Die meisten dieser Kinder holen jedoch ihren Wachstumsrückstand in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Geburt auf. Konnte mittels Ultraschalluntersuchungen die Wachstumsverzögerung und deren Ursache schon während der Schwangerschaft nachgewiesen werden, spricht man von „Intrauterine Growth Retardation (IUGR)“. Neugeborene mit entsprechend ihrer Schwangerschaftsdauer normalem Geburtsgewicht und normaler Geburtslänge werden dagegen als AGA-Kinder („Appropriate for Gestational Age“) bezeichnet. 11 SGA Tabelle 1a: Datentabellen zur raschen Diagnose bei Verdacht auf Kleinwuchs infolge SGA für Mädchen SGA-Datengrundlage Mädchen Geburtsgewicht1 (g) Geburtslänge1 (cm) Aktuelle Körperlänge/-höhe2 (cm) Wachstumsgeschwindigkeit2,3 (cm/Jahr) voll. SSW 3. Perzentile 3. Perzentile Alter Mittelwert SD – 2,5 SDS Alter 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 390 440 500 540 590 650 714 802 920 1030 1180 1410 1650 1930 2170 2400 2570 2700 2790 2800 2600 27,0 27,7 28,5 29,5 30,5 31,6 33,0 34,3 35,7 37,2 38,6 40,2 41,8 43,5 44,9 46,1 47,1 47,9 48,4 48,5 48,5 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 74,8 2,0 87,8 3,3 96,8 3,6 104,5 4,1 111,1 4,3 117,9 4,6 124,7 4,6 130,7 4,8 135,9 5,1 141,6 5,5 147,1 6,1 153,5 6,8 159,0 6,6 161,7 5,7 165,7 5,2 166,0 5,1 166,8 5,0 167,0 5,1 69,8 79,6 87,8 94,3 100,4 106,4 113,2 118,7 123,2 127,9 131,9 136,5 142,5 147,5 178,7 153,3 154,3 154,3 0 –1 1– 2 2– 3 3– 4 4 – 5 5 – 6 6 –7 7– 8 8 – 9 9 –10 10 –11 11–12 12–13 13 –14 14 –15 15 –16 16 –17 17–18 Mittelwert SD 24,0 2,50 11,9 1,57 9,3 1,02 7,7 0,88 6,9 0,71 6,4 0,76 6,0 0,59 5,7 0,71 5,6 0,88 5,6 1,12 6,0 1,48 6,4 1,61 6,0 1,63 4,2 1,24 2,8 0,90 1,7 0,59 1,1 1,08 0,3 0,31 1. Voigt et al., „Analyse des Geburtsgutes des Jahrgangs 1992 der Bundesrepublik Deutschland. Teil 1: Neue Perzentilwerte für die Körpermasse von Neugeborenen.“ Geburtsh. und Frauenheilk. (1996), 56:550 –558 und „Kurzmitteilung zu den Perzentilkurven für die Körpermaße der Neugeborenen“, Geburtsh. und Frauenheilk. 2002;62:274–276. 2. Reinken L. et al., „Longitudinale Körperentwicklung gesunder Kinder von 0 bis 18 Jahren – Körperlänge/-höhe, Körpergewicht und Wachstumsgeschwindigkeit“, Klin. Pädiatr. 1992;204:129 –133. 3. Brandt I. und Reinken L., „Die Wachstumsgeschwindigkeit gesunder Kinder in den ersten 16 Lebensjahren: Longitudinale Entwicklungsstudie Bonn – Dortmund“, Klin. Pädiatr. 1988;200:451–456. 12 SGA Tabelle 1b: Datentabellen zur raschen Diagnose bei Verdacht auf Kleinwuchs infolge SGA für Jungen SGA-Datengrundlage Jungen Geburtsgewicht1 (g) Geburtslänge1 (cm) Aktuelle Körperlänge/-höhe2 (cm) Wachstumsgeschwindigkeit2,3 (cm/Jahr) voll. SSW 3. Perzentile 3. Perzentile Alter Mittelwert SD – 2,5 SDS Alter 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 410 470 520 570 620 680 750 840 964 1090 1250 1480 1740 2020 2270 2510 2690 2810 2910 2930 2720 27,1 27,8 28,7 29,7 30,7 31,8 33,2 34,6 36,0 37,5 39,1 40,7 42,3 44,0 45,5 46,7 47,7 48,4 48,9 49,0 49,0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 76,1 2,9 88,5 2,7 98,3 3,4 105,3 4,0 112,1 3,9 118,4 4,3 125,1 4,9 130,9 5,2 136,5 5,5 141,4 5,9 146,1 6,4 150,7 7,3 158,1 8,1 165,2 8,7 172,1 7,7 176,8 6,8 178,8 6,7 179,9 6,4 68,9 81,8 89,8 95,3 101,5 107,7 112,9 117,9 122,8 126,7 130,1 132,5 137,8 143,4 152,8 159,8 162,1 163,9 0 –1 1 – 2 2 – 3 3 – 4 4 – 5 5 – 6 6 – 7 7 – 8 8 – 9 9 –10 10 –11 11 –12 12 –13 13 –14 14 –15 15 –16 16 –17 17 –18 Mittelwert SD 25,3 2,61 11,3 1,69 9,1 1,31 7,7 0,96 7,1 0,85 6,8 0,86 6,2 0,81 5,8 0,72 5,4 0,71 5,2 0,78 5,1 0,90 5,7 1,31 7,0 1,70 7,9 1,98 7,6 2,25 5,0 2,02 2,5 1,91 1,1 1,08 1. Voigt et al., „Analyse des Geburtsgutes des Jahrgangs 1992 der Bundesrepublik Deutschland. Teil 1: Neue Perzentilwerte für die Körpermasse von Neugeborenen.“ Geburtsh. und Frauenheilk. (1996), 56:550 –558 und „Kurzmitteilung zu den Perzentilkurven für die Körpermaße der Neugeborenen“, Geburtsh. und Frauenheilk. 2002;62:274–276. 2. Reinken L. et al., „Longitudinale Körperentwicklung gesunder Kinder von 0 bis 18 Jahren – Körperlänge/-höhe, Körpergewicht und Wachstumsgeschwindigkeit“, Klin. Pädiatr. 1992;204:129 –133. 3. Brandt I. und Reinken L., „Die Wachstumsgeschwindigkeit gesunder Kinder in den ersten 16 Lebensjahren: Longitudinale Entwicklungsstudie Bonn – Dortmund“, Klin. Pädiatr. 1988;200:451–456. 13 Inhaltsverzeichnis SGA Silver-Russel-Syndrom (SRS) Eine Untergruppe der SGA-Kinder zeigt zusätzliche körperliche Veränderungen und wird als SilverRussel-Syndrom (SRS) bezeichnet. Außer den oben beschriebenen SGA-Merkmalen kann eine Körper­asymmetrie mit Verkleinerung einer Gesichtshälfte oder der Extremitäten auf einer Körperseite auftreten. Die kleinen Finger können leicht gebogen sein und das Gesicht hat eine dreieckige Form mit vorgewölbter Stirn. Bei Kindern mit SRS ist der Kopf insgesamt jedoch nicht verkleinert und erscheint deshalb zu groß für den kleinwüchsigen Körper. Hinzu kommt, dass die körperliche Entwicklung dieser Kinder auch nach der Geburt verzögert bleibt. Ist eine Abgrenzung zwischen Silver-Russel-Syndrom und SGA durch die klinische Untersuchung nicht möglich, gelingt es mit Hilfe genetischer Untersuchungen in über 50 % der Kinder die Diagnose SRS zu bestätigen. Es handelt sich dabei um den Nachweis von Regulationsstörungen von Erbanlagen auf Chromosom 7 (sog. maternale uniparentale 14 Disomie UPD 7) bzw. auf Chromosom 11 (sog. Epimutationen der Region 11p15.5). Bei knapp der Hälfte der SRS-Betroffenen findet sich allerdings keine der bekannten (epi)genetischen Veränderungen. Somit gibt es keinen Test, der ein SRS sicher ausschließen kann. Die genauen Ursachen für die bekannten Genregulationsstörungen sind unbekannt, sie treten meist in Familien auf, in denen Kleinwuchs bislang nicht vorkam. Bei einem plötzlichen, nicht vorhersehbaren Auftreten einer solchen Veränderung spricht man von einem spora­ dischen Fall. Die zugrunde liegende Veränderung entsteht zufällig und kann durch das Verhalten der Eltern vor und während der Schwangerschaft weder ausgelöst noch verhindert werden. SGA Erkennung und Ursachen Diagnose SGA SGA-Ursachen Um ein Neugeborenes als SGA erkennen zu können, werden seine exakt ermittelten Körpermaße zum Zeitpunkt der Geburt auf die Schwangerschaftsdauer bezogen. Die genaue Festlegung der Schwangerschaftsdauer gelingt mit Ultraschalluntersuchungen, ergänzt durch die Berechnung des Geburtstermins nach der letzten Monatsblutung. Ein normales Wachstum des Kindes während der Schwangerschaft ist in erster Linie von der Gesundheit der Mutter und einer ausreichenden Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen durch die Plazenta abhängig. Dies wird durch eine gesunde Lebensweise und eine ausgewogene Ernährung unterstützt. Das Wachstum des Kindes in der Schwangerschaft wird zu mehr als 60 % von den Lebensbedingungen bestimmt, die während seiner Entwicklung in der mütterlichen Gebärmutter herrschen. Eine große Rolle für die Entwicklung der kindlichen Körper­ maße spielen aber auch die Körperhöhe und Körper­ statur der Eltern. Ferner gibt es weitere Faktoren und Ursachen für eine kindliche Entwicklungsverzögerung, die in Tabelle 2 zusammengestellt sind. Bei rund einem Drittel der SGA-Neu­ge­borenen gelingt es allerdings nicht, eine sichere Ursache für die Entwicklungsverzögerung zu finden. Regelmäßig durchgeführte Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft zur Bestimmung des Geburtstermins und zur Beurteilung einer zeitgerechten Entwicklung des Kindes berücksichtigen zum Beispiel die Messung der Scheitel-Steiß-Länge, des Kopfdurchmessers, des Bauchdurchmessers und der Oberschenkelknochenlänge. Sollte sich der Verdacht auf eine Entwicklungsverzögerung des Kindes ergeben, kann auch der Blutfluss in den kindlichen Gefäßen mit Ultraschall (Doppler-Sonografie) gemessen werden und zusätzliche Hinweise auf eine mögliche verzögerte Entwicklung geben. 15 Inhaltsverzeichnis Erkennung und Ursachen Tabelle 2: Mögliche Ursachen für kindliche Entwicklungsverzögerungen während der Schwangerschaft Mütterliche Ursachen Krankheiten Hypertonie (Bluthochdruck) Nierenerkrankungen Infektionen (z. B. Röteln, Windpocken, Toxoplasmose, Herpes, Cytomegalie, HIV u. a.) Alle sonstigen schweren chronischen Erkrankungen Lebensstil und soziale Umstände Rauchen, Alkohol Medikamente (Steroidhormone, Antikonvulsiva) Drogen (Methamphetamin, Kokain) Unterernährung Entbindung vor dem 16. oder nach dem 35. Lebensjahr Mehrlingsschwangerschaft Krankhafte Veränderungen der Plazenta Lageanomalien Durchblutungsstörungen Kindliche Ursachen 16 Angeborene Fehlbildungen z. B. Skelettdysplasien, Herzfehler Angeborene Stoffwechselstörungen z. B. Phenylketonurie Chromosomenveränderungen z. B. Down-Syndrom (Trisomie 21), Ullrich-Turner-Syndrom Infektionen z. B. Ansteckung des Kindes bei einer mütterlichen Infektion, s. o. SGA Vorbeugung von SGA Wesentlichstes Ziel der Vorbeugung einer SGA-Geburt sollte die umfassende Aufklärung zukünftiger Eltern über alle Risiken für das ungeborene Kind sein, da einige der in Tabelle 1 genannten Ursachen durchaus vermeidbar sind. Rauchen, Alkohol, Drogen Rauchen während der Schwangerschaft führt nachweislich zu einer Verminderung von Körpergewicht, Körperlänge und Kopfumfang des neugeborenen Kindes und erhöht den Anteil unterentwickelter Neugeborener und von Frühgeburten. Bei 21 und mehr Zigaretten täglich konnte gezeigt werden, dass bei Raucherinnen im Vergleich zu Nichtraucherinnen die Frühgeburtenrate um 5 % höher und das Geburtsgewicht ihrer Kinder über 300 g niedriger waren. Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann außer Wachstumsstörungen des ungeborenen Kindes eine Reihe weiterer Schäden zur Folge haben. Bekannt sind zum Beispiel typische Gesichtsveränderungen, Hör- und Sehstörungen, Herzfehler, geistige und motorische Behinderungen. Alkoholbedingte kindliche Schädigungen sind häufig und werden mit ein bis zwei Fällen pro 1.000 Neugeborenen angegeben. Sie können nur durch absoluten Alkoholver- zicht während der Schwangerschaft vermieden werden. Es ist kein Grenzwert für den mütterlichen Blutalkoholspiegel bekannt, bei dessen Unterschreitung kindliche Alkoholschäden sicher vermieden werden können. Der Gebrauch von Drogen durch schwangere Frauen ist ein ernstes Problem, da die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes vor und nach der Geburt verzögert und gestört sein kann. So ist Methamphetamin (Crystal Meth) beispielsweise eine illegale, extrem suchterzeugende und giftige Sub­ stanz. Wird Methamphetamin in der Schwangerschaft eingenommen, erhöht es das Risiko einer SGA-Geburt um das 3,5-fache und gefährdet langfristig das weitere Wachstum sowie die intellektuelle Entwicklung des Kindes. 17 Vorbeugung von SGA Inhaltsverzeichnis Medikamente Ist die Einnahme von Medikamenten während der Schwangerschaft unbedingt erforderlich, sollte mit Unterstützung des Frauenarztes sorgfältig geprüft werden, ob aufgrund wissenschaftlicher Daten die Möglichkeit für Schädigungen des Fetus oder Em­ bryos gegeben sind. Besteht die Gefahr fort, kann man versuchen, das betreffende Arzneimittel für die Dauer der Schwangerschaft abzusetzen, durch eine verträglichere Substanz zu ersetzen oder gegebenenfalls seine Dosis zu ver­mindern. Die Verabreichung von Glukokortikoiden (z. B. Prednison) in der Schwangerschaft vermindert das Geburtsgewicht und stört dauerhaft die normale Entwicklung der Lunge und anderer Organe des heranwachsenden Kindes. Frauen mit Epilepsie müssen zur Vermeidung oder Verminderung von Anfällen häufiger auch in der Schwangerschaft antikonvulsive Medikamente wie Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin oder Phenobarbital einnehmen, von denen bekannt ist, dass sie vermehrt zu Frühgeburten und SGA-Geburten führen können. 18 Dabei ist es wichtig, sowohl die Risiken einer medikamentösen Behandlung als auch die Gefahren durch epileptische Anfälle während der Schwangerschaft für Mutter und Kind zu berücksichtigen und abzuwägen. Zusammenfassend kann empfohlen werden, nach Möglichkeit vor der Schwangerschaft alle gesundheitlichen Risiken der zukünftigen Eltern ärztlich abklären zu lassen, den Impfstatus zu überprüfen und die medikamentösen Behandlungen chronischer Krankheiten auf das Notwendigste zu beschränken. Während der Schwangerschaft sollte unter allen Umständen auf Alkohol, Rauchen, Drogen und unkontrollierte Selbstmedikation verzichtet werden. Ist die Anwendung von Medikamenten bei akuten Krankheiten nicht zu umgehen, empfiehlt sich in je­dem Fall die Rücksprache mit dem behandelnden Arzt. SGA Entwicklung nach der Geburt Die ersten Wochen und Monate nach der Geburt sind für die weitere Entwicklung von Säuglingen mit einer Entwicklungsverzögerung infolge SGA von besonders großer Bedeutung, und eine optimale Ernährung, Pflege und medizinische Betreuung sind entscheidende Voraussetzungen für ein gutes Gedeihen. Muttermilch ist für Säuglinge aufgrund ihrer Zusammensetzung die beste Nahrung und sollte nach Möglichkeit in den ersten 4 bis 6 Monaten ausschließlich verabreicht werden. Industriell hergestellte Säuglingsmilchnahrungen sind eine sehr gute Alternative zur Muttermilch. Sie erfordern aber insbesondere bei SGA-Säuglingen das Einhalten der empfohlenen Mengen, um eine zu rasche Gewichtszunahme mit der Gefahr von Übergewicht und Fettsucht im späteren Leben zu vermeiden. Das Körpergewicht, die Körperlänge und der Kopfumfang von SGA-Kindern sollten im ersten Lebensjahr alle drei Monate und danach im Abstand von sechs Monaten ermittelt werden. 19 Entwicklung nach der Geburt Inhaltsverzeichnis Aufholwachstum und Zielgröße Mehr als 80 % der SGA-Kinder sind in der Lage, die nach der Entbindung festgestellte Wachstumsverzögerung innerhalb von sechs Monaten aufzuholen. Nach zwei Jahren haben etwa 90 % der SGA-Kinder ihr Körperlängen- und Gewichtsdefizit ausge­ glichen. Die verbleibenden 10 % erfordern eine intensive kinderärztliche Betreuung, um bei Bedarf ein un­zureichendes Auf­holwachstum durch geeignete Maßnahmen zeitgerecht behandeln zu können. Nach dem vierten Lebensjahr ist in der Regel nicht mehr damit zu rechnen, dass sich eine Wachstumsverzögerung infolge SGA im Laufe der kindlichen Entwicklung noch von selbst ausgleicht. Diese Kinder erreichen ihre genetisch vorgegebene Körperhöhe als Erwachsene meist nicht und bleiben zu klein. SGA wird in ca. 10 – 20 % als Ursache eines Kleinwuchses im Erwachsenenalter angenommen. 20 SGA Entwicklung nach der Geburt Die genetisch beeinflusste Zielgröße (genetische Zielgröße) eines Kindes lässt sich aufgrund der Untersuchungen von Tanner vorhersagen und wird wie folgt berechnet: Beispiel Körperhöhe des Vaters: Körperhöhe der Mutter: 185 cm 163 cm Genetische Zielgröße: 185 cm + 163 cm Genetische Zielgröße 2 = 174 cm +/– 6,5 cm Größe des Vaters + Größe der Mutter Ein Junge dieser Eltern kann eine genetische Zielgröße von ca. 180,5 cm, ein Mädchen von 167,5 cm erreichen. Der statistische Schwankungsbereich liegt bei +/– 8,5 cm. 2 + 6,5 cm – 6,5 cm für Jungen für Mädchen Ein Aufholwachstum wird erkennbar, wenn die Wachstumsgeschwindigkeit (Zentimeter pro Jahr) größer ist als der Mittelwert (50. Perzentile) von gleich­ altrigen Kindern gleichen Geschlechts. Auch dafür liegen dem Kinderarzt entsprechende Normwerte vor. Unabhängig vom Aufholwachstum können jedoch bei SGA-Kindern im Vergleich zu Kindern mit normaler Schwangerschaftsentwicklung gesundheitliche Veränderungen und Störungen auftreten, die für das gesamte weitere Leben von Bedeutung sind (s. Kapitel „Gesundheitliche Risiken“). 21 Inhaltsverzeichnis Entwicklung nach der Geburt Frühgeborene SGA-Kinder Von allen SGA-Geborenen beträgt der Anteil frühgeborener SGA-Kinder ca. 8 –10 %. Im Vergleich zu SGA-Neugeborenen mit einer normalen Schwanger­ schaftsdauer von 38 – 42 Wochen ist das Wachstum SGA-Frühgeborener mit einer Schwangerschaftsdauer von weniger als 32 Wochen verzögert. Bei SGA-Frühgeborenen, die ein Geburtsgewicht von weniger als 1.250 g bzw. unterhalb der 10. Perzentile hatten, zeigten nur 44 % ein Aufholwachstum im Alter von zwei Jahren. Dies ist in erster Linie durch eine unzureichende Nahrungsaufnahme der Frühgeborenen bedingt. Gelingt eine ausreichende Ernährung bei Frühgeborenen, sind das Wachstum während der Kindheit und die Körperhöhe im Erwachsenenalter von SGA-Frühgeborenen vergleichbar mit den Werten von AGA-Frühgeborenen. SGA-­Frühgeborene erreichen eine normale Körperhöhe allerdings häufig erst mit vier bis fünf Jahren. 22 SGA Gesundheitliche Risiken Die Erkennung und besondere Betreuung von SGANeugeborenen ist wichtig, weil eine Wachstumsverzögerung während der Schwangerschaft mit einem erhöhten Erkrankungs- und Sterblichkeitsrisiko in den ersten Wochen nach der Geburt verbunden ist. Verminderte Werte für Blutdruck oder Blutzucker, Darmentzündungen oder Atemstörungen können vermehrt auftreten. Auch später sind diese Kinder in 10 % der Fälle kleiner als Gleichaltrige, die ohne Entwicklungsverzögerung geboren werden. Sie leiden häufiger an Appetitmangel und haben Ernährungsprobleme. Hinzu kommt, dass ehemalige SGA-Neugeborene ein erhöhtes Risiko für körper­ liche, psychische und geistige Einschränkungen im späteren Leben haben. Als Hauptursache für das erhöhte Krankheitsrisiko von SGA-Kindern im Erwachsenenalter wird eine Mangelernährung ins­ besondere während des mittleren und letzten Schwangerschaftsdrittels angenommen, die offensichtlich zu bleibenden Veränderungen mit Unterentwicklung einzelner Organe führen kann. So werden z. B. Herz-Kreislauf-Krankheiten, das metabolische Syndrom selbst oder das Auftreten einzelner Komponenten des Syndroms wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, gestörte Glukosetoleranz oder Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) mit SGA in Verbindung gebracht (Barker-Hypothese). 23 Gesundheitliche Risiken Inhaltsverzeichnis SGA und hormonelle (endokrinologische) Veränderungen Es gibt Hinweise, dass das Ansprechen auf Wachstumshormon bei SGA-Neugeborenen vermindert ist, sich jedoch bald normalisiert. Wenn jedoch bei SGAKindern die Wachstumsgeschwindigkeit konstant vermindert ist, wird eine Testung der wachstumshormonabhängigen Wachstumsfaktoren (IGF-1 und IGFBP-3) empfohlen. Meist beginnt man damit vor dem 4. Geburtstag des Kindes. Auffällige Veränderungen hinsichtlich des Beginns und Verlaufs der Pubertät sowie der Ausbildung von Pubertätsmerkmalen bei SGA-Kindern im Vergleich mit normal entwickelten Kindern konnten bisher nicht zuverlässig nachgewiesen werden. 24 SGA und neurologische, psychosoziale und intellektuelle Veränderungen Infolge verminderter Versorgung des Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen während der Schwangerschaft (Ursachen s. Tabelle 2) kann die normale Entwicklung und Differenzierung des Gehirns verzögert oder gestört sein. Dadurch kann es bei diesen Kindern zu einer geringen Erhöhung des Risikos für Lernschwierigkeiten, Sprachstörungen, für Defizite hinsichtlich der Aufmerksamkeit und des Verhaltens oder zu Hyperaktivität kommen. Die rechtzeitige Beachtung solcher Auffälligkeiten und eine gezielte Beeinflussung und Förderung dieser Kinder sollte mit dem Ziel einer möglichst normalen sozialen und intellektuellen Entwicklung verfolgt werden. SGA Gesundheitliche Risiken SGA und Stoffwechselveränderungen Im Erwachsenenalter können bei ehemaligen SGANeugeborenen Störungen des Glukosestoffwechsels, Zuckerkrankheit, Fettstoffwechselstörungen, hoher Blutdruck und vermehrt Herz-Kreislauf-Krankheiten auftreten. Vor allem SGA-Neugeborene mit besonders raschem Aufholwachstum und schneller Körpergewichtszunahme sind später häufiger übergewichtig und zeigen die genannten krankhaften Veränderungen, die bei gleichzeitigem Auftreten als metabo­ lisches Syndrom bezeichnet werden. SGA und andere Organveränderungen Eine Reihe weiterer Organe kann durch die mangelhafte Entwicklung eines Kindes während der Schwangerschaft in ihrer Funktion und ihrem strukturellen Aufbau krankhaft verändert sein. So wird in Einzelfällen über Erkrankungen der Niere (verminderte Filtration), Lunge (Asthma), Leber (Zirrhose), Augen (Netzhautschäden) und der Knochen (Osteoporose) berichtet. 25 Inhaltsverzeichnis Behandlung und Langzeitbetreuung Bei annähernd 10 % der SGA-Neugeborenen bleibt ohne Behandlung ein dauerhafter Kleinwuchs bestehen, der nach Abschluss des Wachstums bei den betroffenen Erwachsenen eine Verminderung der Körperhöhe um mindestens zwei Standard­ab­ wei­chun­gen ( –2 SD, etwa 12 – 15 cm) zur Durch­ schnitts­größe in Deutschland (Männer 180 cm, Frauen 168 cm) zur Folge haben kann. defizit im Vergleich zur Normalpopulation bezogen auf das Alter und das Geschlecht nicht spontan aufgeholt hat, eine Behandlung mit Wachstumshormon (somatotropes Hormon, STH; englisch: growth hormone, GH) erwogen werden. Eltern und Patient sollten ausführlich über alle Vor- und Nachteile einer Behandlung mit Wachstumshormon informiert werden und ausdrücklich zustimmen. Bei SGA-Kindern mit Kleinwuchs ohne Aufholwachstum kann eine Behandlung mit Wachstumshormon durchgeführt werden, um ein Aufholwachstum während der Kindheit und eine möglichst normale Körperhöhe im Erwachsenenalter zu erreichen. Zur Beurteilung der jeweiligen Wachstumssituation eines Kindes werden die aktuelle Köperhöhe, die Wachstumsgeschwindigkeit und die Körperhöhe der Eltern herangezogen. Vor der Behandlung eines Kindes mit der Diagnose Kleinwuchs infolge einer vorgeburtlichen Wachstumsverzögerung (SGA) müssen jedoch ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, die in der nebenstehenden Tabelle zusammengefasst sind. Um das Wachstum anzuregen und zu beschleunigen, kann bei einem kleinwüchsigen SGA-Kind, das in den ersten vier Lebensjahren sein Körperlängen- 26 SGA Behandlung und Langzeitbetreuung Voraussetzungen für den Einsatz von Wachstumshormon bei Kindern mit Kleinwuchs infolge einer vorgeburtlichen Wachstumsverzögerung (SGA) Unter Berücksichtigung der Schwangerschaftsdauer liegen Geburtslänge und/oder Geburtsgewicht mindestens zwei Standardabweichungen ( –2 SD) unterhalb der Altersnorm. Das Kind muss mindestens vier Jahre alt sein. Die aktuelle Körperhöhe sollte wenigstens 2 Standardabweichungen ( –2,5 SD) unterhalb der Altersnorm liegen. Es darf kein Aufholwachstum mehr nachweisbar sein und die Wachstumsgeschwindigkeit muss altersentsprechend unterdurchschnittlich oder verlangsamt sein. Die aktuelle Körperhöhe muss wenigstens eine Standardabweichung ( –1 SD) unterhalb der auf das aktuelle Alter des Kindes bezogenen genetischen Zielgröße (Mittelwert aus der Körperhöhe beider Eltern) liegen. SGA, Small for Gestational Age; SD, Standard Deviation (Standardabweichung) 27 Behandlung und Langzeitbetreuung Inhaltsverzeichnis Die in der Tabelle genannten Voraussetzungen für eine Behandlung mit Wachstumshormon lassen sich am Beispiel eines 6-jährigen Jungen verdeutlichen. Als SGA-Kind ohne Aufholwachstum hat dieser Junge eine Körperhöhe, die –2,5 SDS unterhalb der Altersnorm liegt. Die entsprechende Altersnorm für die Körperhöhe beträgt 118 cm und 1 SDS entspricht ca. 6 cm. Dementsprechend wäre der Junge ca. 15 cm kleiner als seine gesunden Altersgenossen. Bei gutem Ansprechen auf die Behandlung mit Wachstumshormon besteht die Möglichkeit, bis zu 10 cm der Wachstumsverzögerung aufzuholen. Zur Entscheidungsfindung für oder gegen eine Behandlung mit Wachstumshormon wird auch die Körperhöhe der leiblichen Eltern des Jungen herangezogen. Eine Behandlung wird dann befürwortet, wenn zwischen der jetzigen um –2,5 SDS verminderten Körperhöhe des Jungen und der ebenfalls in SDS ausgedrückten elterlichen Körperhöhe eine Differenz von mindestens –1 SDS besteht. Da die Körperhöhe der Eltern für die Körperhöhe ihrer Kinder von großer Bedeutung ist, muss berücksichtigt werden, dass 28 eine Behandlung mit Wachstumshormon sehr wahrscheinlich erfolglos ist, wenn die mittlere elterliche Körperhöhe deutlich unter dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Körperhöhe für Männer ca. 180 cm und für Frauen ca. 168 cm. Die Behandlung mit Wachstumshormon ist allerdings nur dann angezeigt, wenn die Diagnose SGA eindeutig ist und keine anderen Ursachen für den Kleinwuchs nachweisbar sind. In der Regel sind bei Kindern mit Kleinwuchs infolge SGA normale Werte für das Wachstumshormon im Blut nachweisbar. SGA Behandlung und Langzeitbetreuung Beispiel für den Wachstumsverlauf eines Jungen mit SGA-Kleinwuchs Größe in cm Perzentile 97 90 75 50 25 10 3 190 170 150 130 Standardabweichung 110 Junge, Geburt in der 40. Schwangerschaftswoche Geburtsgewicht: 2.750 g Geburtslänge: 46 cm 90 70 0,11 Jahre: – 4,12 0,28 Jahre: – 4,10 1,01 Jahre: –3,33 2,22 Jahre: –3,02 3,03 Jahre: –3,21 4,47 Jahre: –3,03 5,67 Jahre: –3,03 50 0 2 4 6 8 10 12 Alter (Jahre) 14 16 18 20 29 Behandlung und Langzeitbetreuung Inhaltsverzeichnis In der unten stehenden Tabelle sind einige Krankheiten aufgeführt, die zu Kleinwuchs führen können und vor Beginn einer Behandlung mit Wachstumshormon im Rahmen der SGA-Indikation sicher ausgeschlossen werden müssen. Wichtige Ursachen für einen Kleinwuchs Familiärer Kleinwuchs Chromosomenanomalien (Ullrich-Turner-Syndrom, Trisomie 21 ) Prader-Willi-Syndrom Skelettdysplasien (Achondroplasie) Chronische Krankheiten (Zöliakie, Niereninsuffizienz, Herzkrankheiten) Endokrinologische Krankheiten (Schilddrüsenunterfunktion, Wachstumshormonmangel) Stoffwechselkrankheiten (Glykogenosen) Wachstumshemmende Medikamente (Glukokortikoide, Zytostatika) Mangelernährung Kindesvernachlässigung 30 SGA Behandlung und Langzeitbetreuung Wachstumshormon Das Wachstumshormon ist ein körpereigenes Hormon und wird in der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) gebildet. Es hat große Bedeutung für ein normales Körperwachstum und die Geweberegeneration. Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Faktoren fördert das Wachstumshormon ein symmetrisches Längenwachstum an den Wachstumsfugen (Epiphysenfugen), insbesondere der langen Röhrenknochen an Beinen und Armen. Das Längenwachstum ist normalerweise mit der Verknöcherung der Wachstumsfugen am Ende der Pubertät abgeschlossen. Als Medikament muss Wachstumshormon einmal am Tag abends unter die Haut gespritzt werden (subkutane Injektion). Geeignete Injektionssysteme werden von verschiedenen Pharmaunternehmen angeboten, z. B. das flüssige Wachstumshormon der Firma Novo Nordisk, in einem leicht handhabbaren Fertigpen. Wachstumshormon wird seit Mitte der 80er Jahre biosynthetisch hergestellt und wurde von der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) 2003 zur Behandlung von Kindern mit Kleinwuchs infolge einer vorgeburtlichen Wachstumsverzögerung (SGA) zugelassen. Die Behandlung mit Wachstumshormon wird insgesamt gut vertragen und es besteht nach der aktuellen Datenlage kein erhöhtes Risiko für bleibende Veränderungen oder bösartige Erkrankungen. 31 Behandlung und Langzeitbetreuung Behandlung mit Wachstumshormon bei Kleinwuchs infolge SGA Seit vielen Jahren bestehen Erfahrungen in der Behandlung von SGA-Kindern mit Wachstumshormon. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass die Gabe von Wachstumshormon bei der Mehrheit der Kinder (85 %) zum Erreichen der genetischen Zielgröße beiträgt. Die Wachstums­ hormon­therapie ist besonders wirkungsvoll, wenn die Behandlung in der frühen Kindheit beginnt und kontinuierlich bis zum Erreichen der Erwachsenenkörperhöhe fortgeführt wird. Jede Unterbrechung dieser Langzeitbehandlung reduziert die erreichbare Körperhöhe. Die in wissenschaftlichen Studien nachgewiesene Verbesserung der Körperhöhe von SGAKindern betrug nach einer achtjährigen Behandlung mit Wachstumshormon durchschnittlich 5 bis 8 cm im Vergleich zu unbehandelten SGA-Kindern. In Einzelfällen betrug das Aufholwachstum über 10 cm und die Kinder erreichten die familiäre Zielgröße. Falls nach dem ersten Behandlungsjahr keine posi­ tive Wachstumsreaktion erkennbar ist, sollte die zugrunde gelegte Diagnose sowie die verwendete Dosis und korrekte Verabreichung des Wachstumshormons überprüft werden. Gegebenenfalls kann über den Abbruch der Behandlung nachgedacht 32 werden. Bei gutem Ansprechen auf die regelmäßige Verabreichung des Wachstumshormons wird die Behandlung in der Regel bis zum Ende des Körper­ höhenwachstums erfolgen. Das entspricht bei Mädchen einem Alter von ca. 14 Jahren und bei Jungen von ca. 16 Jahren und beruht auf dem Schluss der Wachstumsfugen (Epiphysenfugen) durch Verknöcherung am Ende der Pubertät. Durch die Behandlung mit Wachstumshormon kommt es neben den positiven Effekten auf das Körperhöhenwachstum noch zu weiteren positiven Effekten. So verbessern sich kognitive Fähigkeiten, psychosoziales Verhalten und der Fettstoffwechsel. Wachstumshormon kann zu Veränderungen des Glukosestoffwechsels führen, die sich nach Beendigung der Behandlung vollständig normalisieren. Deshalb sollte vor Beginn der Behandlung ein Glukosetoleranztest durchgeführt werden, um eventuell bestehende Störungen des Glukosestoffwechsels rechtzeitig erkennen zu können. Auch sollte ermittelt werden, ob ein erhöhtes familiäres Risiko für eine Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) besteht, obwohl es keine Hinweise gibt, dass die Behandlung mit Wachstumshormon eine Diabeteserkrankung auslösen kann. Behandlung und Langzeitbetreuung Unerwünschte Wirkungen Unter einer Wachstumshormonbehandlung wurden selten (bei etwa einem von 1.000 Kindern) anhaltende Kopfschmerzen ohne Zeichen eines Infektes beobachtet, die auf eine Steigerung des Schädel­ innendrucks zurückzuführen sind. Bei solchen Beschwerden sollte in Absprache mit dem behandelnden Arzt umgehend eine augenärztliche Untersuchung veranlasst werden. Ebenfalls selten ist die Hüftkopflösung (Epiphyseolysis capitis femoris), ein Krankheitsbild, bei dem sich das obere Ende des Oberschenkelknochens, die Epiphyse, die den Gelenkkopf für das Hüftgelenk trägt, vom restlichen Knochen, der Diaphyse, löst. Ursache für die Hüftkopfepiphysenlösung ist das vermehrte Wachstum im Rahmen der Wachstumshormonbehandlung, wodurch es zu einer Lockerung der aktiven Epiphysenfuge kommt. Aufgrund der schrägen Lage der Epiphysenfuge zur Gewichtsbelastung durch den Rumpfbereich kommt es zu einer typischen Verschiebung bzw. einem Abrutschen des Hüftkopfes vom Oberschenkelknochen. Sollten bei Ihrem Kind Schmerzen in der Hüfte oder Schmerzen beim Gehen auftreten, wird empfohlen, umgehend den behandelnden Arzt aufzusuchen, damit dieser sofort weitere Untersuchungen veranlassen kann. Nach dem jetzigen Kenntnisstand gilt, dass Wachstumshormon für SGA/SRS-Kinder das Leukämieoder Krebsrisiko nicht steigert. Es ist bekannt, dass Wachstumshormon den Spiegel von IGF-1 (insulinähnlicher Wachstumsbotenstoff) steigert. Aus Tierversuchen, aber auch bei Erwachsenen ist bekannt, dass langfristig erhöhte IGF-1-­ Spiegel das Tumorrisiko steigern können. Bei einer Tumorerkrankung des Kindes in der Vorgeschichte muss die Risiko-Nutzen-Bewertung daher mit dem behandelnden Arzt besonders gründlich vorgenommen werden. Aus demselben Grund wird unter einer Wachstumshormonbehandlung immer auch der IGF-1-Spiegel im Blut gemessen. Bei erhöhtem IGF-1-Spiegel sollte die Dosis des Wachstumshormons gegebenenfalls reduziert werden, um Nebenwirkungen zu minimieren. 33 Literatur 1. Bettendorf M. Kleinwuchs bei Kindern und Jugendlichen – Aktuelle Aspekte zur Diagnostik und Therapie. 1. Auflage, Bremen, UNI-MED Verlag, 2009 2. Clayton PE, Cianfarani S, Czernichow P, Johannsson G, Rapaport R, Rogol A. Consensus statement: Management of the child born small for gestational age through to adulthood: a consensus statement of the international societies of pediatric endocrinology and the growth hormone research society. J Clin Endocrinol Metab 2007;92:804–810 3. Saenger P, Czernichow P, Hughes I, Reiter EO. Small for gestational age: short stature and beyond. Endocrine Reviews 2007;28:219–251 4. Reinehr T, Kleber M, Toschke AM. Small for gestational age status is associated with metabolic syndrome in overweight children. Eur J Endocrinol 2009;160:579–584 5. de Bie HMA, Oostrom KJ, Delemarre-van de Waal HA. Brain development, intelligence and cognitive outcome in children born small for gestational age. Horm Res Paediatr 2010;73:6–14 6. Salonen M, Tenhola S, Laitinen T, Lyyra-Laitinen T, Romppanen J, Jääskeläinen J, Voutilainen R. Tracking serum lipid levels and the association of cholesterol concentrations, blood pressure and cigarette smoking with carotid intima-media thickness in young adults born small for gestational age. Circ J 2010;74:2419–2425 7. Maiorana A, Cianfarani S. Impact of growth hormone therapy on adult height of children born small for gestational age. Pediatrics 2009;124:e519-e528 8. Moller N, Jorgensen JOL. Effects of growth hormone on glucose, lipid, and protein metabolism in human subjects. Endocrine Reviews 2009;30:152–177 9. Sas T, Mulder P, Hokken-Koelega A. Body composition, blood pressure, and lipid metabolism before and during long-term growth hormone (GH) treatment in children with short stature born small for gestational age either with or without GH deficiency. J Clin Endocrinol Metab 2000;85:3786–3792 10. van Pareren Y, Mulder P, Houdijk M, Jansen M, Reeser M, Hokken-Koelega A. Effect of discontinuation of growth hormone treatment on risk factors for cardiovascular disease in adolescents born small for gestational age. J Clin Endocrinol Metab 2003;88:347–353 11. Eggermann T, Begemann M, Spengler S, Schröder C, Kordass U, Binder G. Genetic and epigenetic findings in Silver-Russell syndrome. Pediatr Endocrinol Rev. 2010 Dec;8(2):86–93 34 Glossar Verwendete Abkürzungen und Fremdwörter SGA Small for Gestational Age SRS Silver-Russel-Syndrom IUGR Intrauterine Growth Retardation AGA Appropriate for Gestational Age Frühgeburt Geburt vor der 37. Schwangerschaftswoche oder Geburtsgewicht unter 2.500 g SD Standard Deviation SDS Standard Deviation Score EMA European Medicines Agency IGF-1 Insulin-like Growth Factor-1 IGFBP-3 Insulin-like Growth Factor Binding Protein-3 Perzentilen Perzentilen für Körperhöhe, Körpergewicht oder Kopfumfang sind Prozentangaben der Durchschnittswerte normaler Kinder bezogen auf Alter und Geschlecht und ermöglichen den Vergleich mit individuellen Messwerten. Epiphysenfugen Wachstumsfugen der Knochen Dysplasie Fehlbildung Endokrinologie Teilgebiet der Medizin, das sich mit hormonellen Störungen und Stoffwechselkrankheiten beschäftigt, z. B. Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Schilddrüsenerkrankungen, Adipositas (Fettsucht), Osteoporose (Knochenschwund), Wachstumsstörungen Chromosomen Chromosomen befinden sich im Zellkern jeder Körperzelle und enthalten die Erbinformationen (genetischen Informationen). 35 Artikel-Nr.: 701691 (04/15) DE/GHT/0315/0013 Druckdatum: 04/15 Auflage: 2.000 Druck: PPPP Ein Service von Novo Nordisk Pharma GmbH Brucknerstraße 1 D-55127 Mainz Tel.: +49 (0) 61 31 903-0 Fax: +49 (0) 61 31 903-250 www.novonordisk.de nordicare ® ist ein eingetragenes Warenzeichen der Novo Nordisk Health Care AG, Schweiz.