Abhängigkeitserkrankungen Benzodiazepine OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine Benzodiazepine sind psychotrop wirkende Medikamente als Beruhigungs- (Tranquilizer) oder Schlafmittel verordnet. Sie haben ein beträchtliches körperliches und psychisches Abhängigkeitspotential. OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine - Wirkungen ¾ alle prinzipiell gleiches Wirkungsprofil bei stark unterschiedlichen pharmakokinetischen Eigenschaften (Zeit des Wirkungseintritts, Dauer, Eiliminationshalbwertzeit, Kumulation) ¾ anxiolytisch sedierend hypnotisch anterograde Amnesie antikonvulsiv muskelrelaxierend OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine - Nebenwirkungen ¾ Benzodiazepinabhängigkeit ¾ paradoxe Wirkung i.S. von Erregungszuständen ¾ Müdigkeit, Benommenheit, Verwirrtheit, Muskelschwäche (selten Atemdepression), Koordinationsstörung OÄ Dr. med. A. Kopf Kontraindikation für Benzodiazepine ¾ akute Intoxikation mit Schlafmitteln, Psychopharmaka und Alkohol ¾ Drogenabhängigkeit ¾ Myasthenia gravis Cave: Schwangerschaft Floppy infant syndrome - Hypothermie - Muskelschlaffung - Atem- und Saugstörung OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine - Substanzen ¾ Agonisten mit sehr kurzer Halbwertzeit (2-4 h) • Midazolam (DormicumR) • Triazolam (HalcionR) ¾ Agonisten mit kurzer Halbwertzeit (4-8 h) • Brotiazolam (LendorminR) OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine - Substanzen ¾ Agonisten mit mittellanger Halbwertzeit (9-24 h) • • • • • • • Alprazolam (TafilR, u.a.) Bromazepam (Lexotanil R, u.a.) Flunitrazepam (RohypnolR, u.a.) Lorazepam (TavorR, u.a.) Lormetazepam (NoctamidR, u.a.) Oxazepam (AdumbranR, u.a.) Tetrazepam (MusarilR) OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine - Substanzen ¾ Agonisten mit langer bis sehr langer Halbwertzeit (25 h - mehrere Tage) • • • • • Chlordiazepoxid (LibriumR) Clobazam (FrisiumR) Clonazepam (RivotrilR) Diazepam (ValiumR, u.a.) Medazepam (RudotelR) OÄ Dr. med. A. Kopf Verordnungen von Schlafmitteln (2000) (in tausend) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Stilnox (Zolpidem) 1300 Noctamid (Lormetazepam) 970 Ximovan (Zopiclon) 650 Bikalm (Zolpidem) 530 Rohypnol (Flunitrazepam) 450 Remestan (Temazepam) 430 Lendormin (Brotizolam) 420 Kytta-Sedativum f (Baldrian, Hopfen, Passionsblumenkraut) 380 Halcion (Triazolam) 290 Chloraldurat Pohl (Chloralhydrat) 290 (Arzneiverordnungsreport 2001) OÄ Dr. med. A. Kopf Intoxikationen durch Benzodiazepine Psychische Zeichen: ¾ affektive Enthemmung ¾ Stimmungslabilität ¾ Beeinträchtigung von Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit ¾ Sedierung bis zum Koma ¾ psychomotorische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ¾ Verhaltensauffälligkeiten OÄ Dr. med. A. Kopf Intoxikationen durch Benzodiazepine Internistische-neurologische Zeichen: ¾ verwaschene Sprache ¾ Koordinationsstörungen ¾ Atemdepression ¾ Hypo- bis Areflexie ¾ kognitive Defizite OÄ Dr. med. A. Kopf Folgen des Benzodiazepinkonsums ¾ erhöhtes Unfallrisiko beim Autofahren, bei der Arbeit, im Haushalt ¾ erhebliches Risiko einer unabsichtlichen Vergiftung bei Überdosierung und Kombination mit Drogen und Alkohol ¾ erhöhtes Selbstmordrisiko, gerade bei zusätzlichen Depressionen ¾ erhöhtes Risiko für Aggressionen und Gewalt ¾ erhöhtes Risiko für Diebstahl und kriminellem Verhalten ¾ Beteiligung an Partnerschaftsproblemen mit Trennung/Scheidungen ¾ Arbeitsplatzverlust, Arbeitslosigkeit ¾ Kosten für Notfallbehandlungen, Krankenhauskosten etc. ¾ Probleme für ungeborene Kinder bzw. Babys ¾ Abhängigkeitsentwicklung ¾ Kosten der Medikamente ¾ Kosten der Entgiftung und Entwöhnungsbehandlung OÄ Dr. med. A. Kopf Epidemiologie Jahrbuch Sucht 2001 Medikamentenabhängigkeit Insgesamt 1,5 Mio Medikamentenabhängige davon 1,2 Mio von Benzodiazepinderivaten - in westeuropäischen Ländern nehmen 10 – 30 % der Bevölkerung Benzodiazepine ein (Schätzungen), davon sind > 2 % abhängig - 2/3 bis 3/4 sind Frauen [Remien,1994] OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine Risikofaktoren für Suchtentwicklung – 1/2 1. 2. 3. 4. 5. Einnahme von Benzodiazepinen in verordneter therapeutischer Dosierung über Monate und Jahre Einnahme von Benzodiazepinen zur Bewältigung von Alltagstätigkeiten Einnahme von Benzodiazepinen fortlaufend, obwohl ursprünglicher Behandlungsanlass nicht mehr besteht Absetzphänomene bei Dosisreduktion oder Verzicht Auftreten von Angst/Panik/Unsicherheit bei nachlassender Benzodiazepin-Wirkung OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepine Risikofaktoren für Suchtentwicklung – 2/2 6. 7. 8. 9. mehrfache Arztbesuche und Arztwechsel, um Medikamente zu erhalten Dosissteigerung Belastungssituationen führen im Vorfeld zur Medikamenteneinnahme Auftreten von psychischen Symptomen wie Angst, Panik, Schlafstörungen, Depression und körperlicher Symptome trotz BenzodiazepinEinnahme OÄ Dr. med. A. Kopf Epidemiologie des Gebrauchs und Missbrauchs von Benzodiazepinen ¾ 90 % der mit Benzodiazepinen Behandelten nahmen diese als Dauermedikation (> 6 Monate) und zu 50 % täglich ein [Helmchen, 1996] ¾ bei Erhebungen im ambulanten Suchtbereich waren 10 % aller Suchtmittel Sedativa/Hypnotika ¾ im stationären Bereich waren 20 % aller Suchtmittel Sedativa/Hypnotika [Holz u. Jeune, 1998] OÄ Dr. med. A. Kopf Hinweise auf Medikamentenabhängigkeit Psychische Symptome - Interesseverlust - Stimmungsschwankungen - Gleichgültigkeit/ Reizbarkeit - ängstliche Unruhe und Spannung - sozialer Rückzug Körperliche Symptome - Schläfrigkeit - Schwitzen, Übelkeit, Gewichtsverlust - Stürze - neurologische Ausfälle - kognitive Störungen - Schlafstörungen OÄ Dr. med. A. Kopf Abhängigkeitstypen nach Definition der WHO Stoff psychische Abhängigkeit physische Abhängigkeit Toleranz Morphin-Typ +++ +++ +++ Kokain-Typ +++ - - Cannabis-Typ (+)++ (+) (+) AmphetaminTyp ++ (+) ++ BarbituratAlkohol-Typ (+)++ ++ ++ Halluzinogen (LSD)-Typ (+)++ (+) ++ OÄ Dr. med. A. Kopf Zuordnung der Arzneimittelgruppen zu den Abhängigkeitstypen nach WHO Arzneimittelgruppe Hypnotika/Sedativa • Barbiturate • Benzodiazepine • sonstige Psychopharmaka • Tranquillantien - Benzodiazepine - Carbamate WHO-Abhängigkeitstyp (ICD-10) Barbiturat-Typ (Sedativa/Hypnotika) (psychoaktive Substanzen) OÄ Dr. med. A. Kopf Formen der Benzodiazepinabhängigkeit ¾ primäre Hochdosisabhängigkeit (extreme Dosissteigerung, allmähliche Persönlichkeitsveränderung, schwere Entzugssymptome) ¾ primäre Niedrigdosisabhängigkeit (über längeren Zeitraum tägliche Einnahme geringer Dosis, keine Steigerung, trotzdem bei abruptem Absetzen quälenden Entzugssymptome) ¾ sekundäre Benzodiazepinabhängigkeit (Mehrfachkonsumenten, bei denen sich sekundär bei bereits bestehender Abhängigkeit von anderen Substanzen eine Benzodiazepinabhängigkeit entwickelt) OÄ Dr. med. A. Kopf Abhängigkeitspotential der Tranquilizer (Remien, 1994) Alter AbhängigkeitsAbhängigkeitspotential bei Frauen potential bei Männern 40 – 49 11,2 % 10,0 % 50 – 59 19,0 % 16,7 % 60 – 69 27,0 % 20,3 % 70 und älter 28,9 % 22,0 % OÄ Dr. med. A. Kopf Folgen der Benzodiazepin-Langzeiteinname ¾ affektive Indifferenz ¾ dysphorische Verstimmungszustände ¾ Vergesslichkeit und psychische Leistungsminderung ¾ Konfliktvermeidung ¾ Überforderung bzw. Vermeidung neuer oder belastender Situationen ¾ Kritikschwäche ¾ gestörtes Vitalgefühl ¾ muskuläre Schwäche, ggf. mit Reflexverlust ¾ Appetitlosigkeit OÄ Dr. med. A. Kopf Entzugserscheinungen bei Benzodiazepinabhängigkeit ¾ Angstzustände mit Panikattacken ¾ Schwindelgefühle ¾ Muskelzittern ¾ Bauchkrämpfe ¾ Übelkeit ¾ Halluzinationen ¾ Krampfanfälle ¾ Ruhelosigkeit ¾ Verwirrtheit ¾ Suizidimpulse ¾ Entfremdungserlebnisse ¾ Entzugsdelir ¾ Entzugspsychose ¾ Perzeptionsstörungen OÄ Dr. med. A. Kopf Ätiologie und Pathophysiologie der Benzodiazepinabhängigkeit wahrscheinlich multifaktoriell Faktoren: - neurobiologische - genetische - soziale und psychologische OÄ Dr. med. A. Kopf Risikofaktoren für Medikamentenabhängigkeit ¾ vorbestehende andere Suchtkrankheit (z.B. Alkoholismus, Drogen) ¾ Vorerkrankungen (Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangserkrankungen, Schmerzen, Schizophrenie, Epilepsie, Manie, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen) ¾ situative Faktoren (berufliche/familiäre Exposition, Konflikte, Schlafstörungen, Verspannungen) OÄ Dr. med. A. Kopf Allgemeine Probleme der Medikamentenabhängigkeit - 1/2 (nach Glaeske 2001) ¾ etwa 6 – 8 % aller verordneten Arzneimittelmengen haben ein eigenes Abhängigkeitspotential ¾ insgesamt ca. 1,5 Mio. Abhängige von Arzneimitteln – zum großen Anteil iatrogen bedingt ¾ problematisch ist dabei nicht unbedingt die Auswahl der Mittel (wie die ambulante Verordnung von Benzodiazepinen oder von Distraneurin an Alkoholabhängige), sondern die Dauer, Dosis und Indikationsstellung ¾ ca. 15 % aller Ärzte verordnen bereits rund 46 % aller DDDs Benzodiazepinen („BenzodiazepinSchwerpunktpraxen“) OÄ Dr. med. A. Kopf Allgemeine Probleme der Medikamentenabhängigkeit - 2/2 (nach Glaeske 2001) ¾ 45 % der Benzodiazepin-Hypnotika und 38 % der Benzodiazepin-Tranquilizer werden länger als 3 Monate hintereinander verschrieben ¾ 2/3 der PatientInnen sind älter als 60 Jahre, 2/3 davon Frauen ¾ 2/3 der PatientInnen erhalten über lange Zeiträume das Mittel vom gleichen Arzt – doctor-hopping ist nicht erforderlich ¾ die Mittel sind preiswert – eine Auffälligkeit in Wirtschaftlichkeitsprüfungen ist nicht zu erwarten OÄ Dr. med. A. Kopf Entscheidungskriterien für einen ambulanten Benzodiazepin-Entzug ja ja nein nein ja nein kein regelmäßiger Alkoholkonsum im letzten viertel Jahr keine weiteren Suchtmittel außer Nikotin und Cannabis bisher kein Krampfanfall oder Delir 3 x „ja“: weiter bezüglich ambulanter Eignung prüfen: ja nein ja ja ja nein nein nein ja nein Interesse des Patienten an einem ambulanten Entzug gute körperliche Verfassung fester Wohnsitz mindestens eine Person im Umfeld, die nach ihm/ihr schauen kann keine aktuell behandlungsbedürftige weitere psychische Erkrankung OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepinabhängigkeit medikamentöse Entzugsbehandlung - 1/2 ¾ primär fraktionierter Entzug (schrittweise Reduktion der Tagesdosis) ¾ Faustregel: Monate der Einnahme entsprechen Wochen der Entzugsbehandlung ¾ Cave: verzögerte Entzugsphänomene (HWZ-abhängig) ¾ z.B. Behandlungsregime mit schrittweiser Halbierung der Ausgangsdosis (aller 5 Tage), muss im Einzelfall nach Klinik revidiert werden OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepinabhängigkeit medikamentöse Entzugsbehandlung - 2/2 Eine Behandlung psychischer (Angst/ Depression) und vegetativer Symptome erfordert oft eine begleitende Therapie mit Antidepressiva (sedierend, meist Trizyklika), gelegentlich auch Carbamazepin, Beta-Blockern und Clonidin. [Gastpar et al. 1999] Bei Abhängigkeiten von kurzwirksamen Benzodiazepinen ist die Umstellung auf ein langwirksames Benzodiazepin zu empfehlen. OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepinabhängigkeit - Entzugsbehandlung Psychotherapeutisches Vorgehen ¾ Ziel: Abstinenz ¾ Methode: multimodale Behandlungsstrategien, kognitive Verhaltenstherapie, psychoedukatives Training, allgemeine Psychotherapie, Training sozialer Fertigkeiten OÄ Dr. med. A. Kopf Benzodiazepinabhängigkeit - Verlauf und Prognose Komplikationen: • körperlich (neurologisch, gastrointestinal) • psychosoziale (wie sozialer Abstieg, Unfälle, Antriebslosigkeit) • psychiatrische Symptome wie Angst/Depression • Suizid (Schätzung 10 – 20 %, 75 % bei gleichzeitiger Depression) Unter Therapieprogramm mit fraktioniertem Entzug sind bis zu 70 % nach 3 – 5 Jahren abstinent. OÄ Dr. med. A. Kopf Fazit für die Praxis: ¾ Die Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen – auch im Niedrigdosisbereich – führt schleichend zu erheblichen Folgen in den Bereichen Affektivität, Kognition-Mnestik und körperliche Energie. ¾ Jenseits der Diskussion „begründete Langzeiteinnahme“ versus „Abhängigkeit/Sucht“ sollte man deshalb im Zweifelsfall immer mit dem Patienten den Entzug besprechen und ihn über die negativen Folgeerscheinungen aufklären. ¾ Beim Entzug sind verschiedene pharmakologische Besonderheiten zu berücksichtigen (Halbwertszeit, Verteilung der Einzeldosierungen über den Tag). Der Entzug von Benzodiazepinen sollte daher grundsätzlich nur im Rahmen eines umfassenden Behandlungsplanes erfolgen, der auch die Behandlung der zumeist zugrundeliegenden psychischen Störung umfasst. OÄ Dr. med. A. Kopf Prävention ¾ Öffentlichkeitsarbeit ¾ Mittel zur Selbstmedikation einschränken ¾ Aufklärung über Indikationsstellung (klare Indikation, kleine Dosis, kurze Anwendung, kein abruptes Absetzen – 4K-Regel ¾ Ausbau Frühwarnsystem [Glaeske, 2001] OÄ Dr. med. A. Kopf