Frühe Migration: Persien

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Persien
Frühe Migration: Persien
http://romani.uni-graz.at/rombase
Helmut Samer
Ausgangssituation
Die Herkunft der Roma aus dem Nordwesten Indiens gilt aufgrund sprachwissenschaftlicher
Untersuchungen seit etwa 200 Jahren als gesichert. Die Ursachen und der Zeitraum ihrer Abwanderung
nach Persien, die Dauer ihres Aufenthaltes im Persischen Reich sowie ihre etwaige Verwandtschaft
mit noch heute dort beheimateten Gruppen sind dagegen nach wie vor umstritten.
Zur Erforschung dieses frühen Kapitels der Roma-Historie stehen, weil es von den Roma selbst keine
schriftlichen Überlieferungen gibt, nur persische oder arabische Quellentexte zur Verfügung. Diese
enthalten vereinzelte Verweise auf indischstämmige Einwanderer, welche gemeinhin als erste fassbare
Spuren der Roma gewertet werden. Ob es sich bei den genannten Gruppen – den Zott und den Luri –
allerdings wirklich um die Vorfahren der heutigen Roma handelte, ist kaum nachzuweisen.
Einwanderung nach Persien
Aus dem 10. bzw. 11. Jahrhundert sind drei Quellentexte überliefert, welche die Einwanderung
"Roma-ähnlicher" Gruppen von Indien ins Sassanidenreich bereits im 5. Jahrhundert nach Christus
bezeugen:
Der arabische Historiker Hamza al-Isfahani berichtet 961 n. Chr. davon, dass einst Schah Bahram V.
Gur (420-438 n. Chr) aus Mangel an Sängern im eigenen Land den indischen König um Musiker für
sein Volk gebeten habe. Daraufhin seien 12.000 Sänger von Indien nach Persien gesandt worden, die
Bahram Gur in alle Regionen seines Reiches verteilt habe. Dort hätten sie geheiratet und Nachkommen
gezeugt, von denen – so Hamza – "obwohl in geringerer Zahl – noch immer einige anzutreffen sind.
Sie sind" – und damit schließt der Eintrag – "vom Stamm der "Zott"."
Eine zweite Version dieser Geschichte findet man im 1011 n. Chr. vollendeten persischen Nationalepos
"Shahnameh". Dessen Verfasser Firdausi weicht bei seiner Schilderung der Einwanderung kaum von
Hamza ab. Dass er nur von 10.000 Musikern spricht, ist zu vernachlässigen. Wichtiger scheint, dass
Firdausi die Einwanderer als Luri bezeichnet.
Ebenso bemerkenswert sind seine Ausführungen über deren weiteres Schicksal: Nachdem die Luri
eingetroffen waren, so der Dichter, habe der König jedem von ihnen einen Ochsen, einen Esel und
Saatgut gegeben. Anstatt sich jedoch als Bauern zu betätigen, hätten die Luri Getreide und Tiere
verspeist und seien nach Ablauf eines Jahres zum König zurückgekehrt. Dieser habe ihnen gezürnt
und sie in die Verbannung geschickt. "So kommt es", erklärt Firdausi, "dass die Luri noch heute durch
die Welt irren auf der Suche nach ihrem Lebensunterhalt, als Weggesellen der Hunde und Wölfe
wandern sie unablässig umher."
Nur neun Jahre danach (1020) wurde auch noch eine dritte Fassung dieser Begebenheit
niedergeschrieben. Der arabische Historiker Al-Talibi übersetzte einen später verloren gegangenen
persischen Text ins Arabische und nahm ihn in seine "Geschichte der persischen Könige" auf. Der
Kern seiner Erzählung deckt sich mit den beiden anderen Texten, lediglich die Anzahl der Luri –
diesmal werden 4.000 Musiker genannt – ist wieder eine andere.
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Eine Verbindung zwischen den Musikern des Schahs und den Roma herzustellen, ist verlockend. Zum
einen waren im Zeitraum zwischen 415 und 500 n. Chr. die "weißen Hunnen" in Indien eingefallen,
und es scheint nicht ausgeschlossen, dass die in Firdausis und Al-Talibis Texten als Luri bezeichnete
Gruppe unter dem Druck dieser Horden tatsächlich nach Persien auswich. Nach der Eroberung
Nordindiens durch den persischen König Ardaschir (224–241 n. Chr.) im Jahr 227 n. Chr. dürften die
politischen Bedingungen derartig weiträumige Wanderungen durchaus zugelassen haben. Zum anderen
verleitet auch die Darstellung der Lebensweise dieser Einwanderer zu dem Schluss, sie könnten
Vorfahren der europäischen Roma gewesen sein.
Noch heute leben im Iran, in Afghanistan und in Pakistan nomadisierende Gruppen, die als Luri, Nuri
oder Luli bezeichnet werden. Diese sprechen aber im Gegensatz zu den Roma kein indisches Idiom,
sondern Beluchi. Zwar reisten auch sie bis in die jüngste Vergangenheit als Handwerker und Musiker
umher, jedoch ging der Trend ihrer Wanderungen eher nach Osten als nach Westen. Dass die heutigen
Luri mit den damaligen ident sind, ist wohl auszuschließen.
Es stellt sich somit die Frage, wie verlässlich die Angaben in den beiden Texten, die sehr lange nach
dem beschriebenen Ereignis verfasst wurden, sind. Nicht die Einwanderung als solche muss bezweifelt
werden, sondern dass es sich bei den indischen Immigranten um Luri handelte.
Möglicherweise ist die Bezeichnung, die Firdausi und Al-Talibi für die Vorfahren der Roma
verwendeten, Ergebnis einer durch die ähnliche Lebensweise und die romantische Aura, die beide
Gruppen umgab, verursachten Verwechslung.
Ebenso wenig gesichert wie die Verwandtschaft der Roma mit den Luri ist die von Hamza behauptete
Zugehörigkeit der indischen Einwanderer zum Stamm der Zott. Die Zott waren ursprünglich im Punjab
beheimatete Wasserbüffel-Züchter. Sie verließen diese Region nachweislich in mehreren Etappen und
aus unterschiedlichen Gründen.
Bereits nach der Eroberung Nordwest-Indiens (227 n. Chr.) durch die Sassaniden hatten sie ihr
Wandergebiet auf die indisch-persische Grenzregion ausgedehnt. Bis ins 7. Jahrhundert stand eine
größere Zahl von Zott in Diensten des persischen Hofes. Im Zuge der arabischen Expansion wechselten
die Zott jedoch die Seite, wandten sich dem Islam zu und siedelten sich in Basra an. Von dort wurden
sie – zumal sie den Arabern als ehemalige Gefolgsleute des Schahs als unzuverlässig erschienen –
schließlich nach Antiochien an die Mittelmeerküste verlegt.
Nachdem im Jahre 711 Feldherr Muhammad ibn al-Quasim das Indus-Gebiet erobert hatte, deportierten
die Araber mehrere tausend Zott zur Grenzsicherung an die Tigrismündung. Dort wurden diese im
Lauf der Zeit jedoch so mächtig, dass sie von reisenden Kaufleuten Zölle einhoben und offen gegen
das Kalifat von Bagdad rebellierten. Kalif al-Mutasim schickte deshalb im Jahr 820 Truppen gegen
sie, doch erst 834 gelang es ihm, den Widerstand der Zott zu brechen.
Der arabische Historiograph Al Tabari berichtet, dass 27.000 Zott nach ihrer Unterwerfung zunächst
nach Bagdad gebracht und der Bevölkerung in ihrer Tracht und mit ihren Musikinstrumenten vorgeführt
wurden. Anschließend wurde ein kleinerer Teil der Aufständischen nach Khanikin, einem Ort
nordöstlich von Bagdad, deportiert. Den weit größeren Teil siedelten die Araber jedoch nach Ain
Zarba an die Grenze des Byzantinischen Reiches um. Als die Byzantiner 855 das arabische Reich
angriffen – so schildert Al Tabari – verschleppten sie die in der Grenzregion lebenden Zott in die
Gefangenschaft ins Byzantinische Reich.
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Das wichtigste Indiz für die These, wonach die Zott Vorfahren der heutigen Roma gewesen sein
könnten, ist deren kontinuierliche Westwärtsbewegung. Mit Hilfe der arabischen Quellen lässt sich
ihr Weg von Nordwestindien nach Syrien und weiter ins Byzantinische Reich nachzeichnen.
Erhebliche Schwierigkeiten resultieren jedoch daraus, dass die Araber nicht nur die Büffelzüchter aus
dem Punjab in einer arabisierten Form ihres indischen Stammesnamens Jat als Zott bezeichneten. Sie
verwendeten diesen Begriff vielmehr für alle indischstämmigen Menschen und Völker, die im Lauf
der Jahrhunderte in ihr Reich gelangten. Wenn in den Quellen von Zott die Rede ist, können die Jat
gemeint sein, aber auch andere aus Indien eingewanderte Gruppen. Ob die Texte etwas über die
Vorfahren der Roma verraten, bleibt demnach ungewiss.
Die noch heute für die Roma im Nahen Osten übliche Bezeichnung Zott ist also wahrscheinlich nur
das Ergebnis einer zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung nicht vorgenommenen Differenzierung. Für
die arabischen Geschichtsschreiber schienen die Roma Zott gewesen zu sein - genau wie alle anderen
Menschen aus Indien, mit denen sie in Kontakt kamen. Auf Basis dieser arabischen Texte sind die
Roma als eigene Ethnie nicht gesondert fassbar.
Lässt sich mit den Texten Hamzas, Firdausis und Al-Talibis das Eintreffen der ersten Roma in Persien
im 5. Jahrhundert auch nur schwer beweisen, so erlauben ihre Schilderungen zumindest eine wichtige
Schlussfolgerung: Als sie um das Jahr 1000 n. Chr. verfasst wurden, müssen die indischen Einwanderer
dort bereits so etabliert gewesen sein, dass der Zeitpunkt ihrer Ankunft weit nach hinten verlegt wurde.
Wenn es auch nicht zur Zeit des legendären Königs Bahram Gur gewesen sein mochte, so doch deutlich
vor dem 10. Jahrhundert.
Gegenteilige Thesen, welche die Einwanderung der Roma nach Persien in spätere Zeit verlegen,
scheinen wenig plausibel. Die bekannteste davon ist jene von Ian Hancock, der behauptet, die
Abwanderung der Roma aus Indien sei erst im Zuge der kriegerischen Einfälle Mahmuds von Ghazna
zu Beginn des 11. Jahrhunderts erfolgt. Die von ihm vorgebrachten linguistischen Beweise werden
durch das einfache Argument entkräftet, demzufolge die Roma Indien wohl kaum im selben Jahrhundert
verlassen haben können, in dem sie auch schon in Byzanz aufgetaucht sind. Selbst die maximale
Ausweitung des zeitlichen Rahmens auf ca. 200 Jahre reicht nicht aus, um Hancocks Theorie mit der
Entwicklung eines Romani-Wortschatzes, der zu einem Drittel persische, armenische und griechische
Wörter enthält, in Einklang zu bringen.
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Literatur
Fraser, Angus (1992) The Gypsies. Oxford.
Gilsenbach, Reimer (1998) Weltchronik der Zigeuner. 2000 Ereignisse aus der Geschichte
der Roma und Sinti, der Gypsies und Gitanos und aller anderen Minderheiten, die "Zigeuner"
genannt werden. Teil 4: von 1930 bis 1960, Frankfurt.
Hancock, Ian (1987) The Pariah Syndrome. An Account of Gypsy Slavery and Persecution,
Ann Arbor.
Kenrick, Donald (1998) Sinti und Roma: Von Indien bis zum Mittelmeer. Die Wanderwege
der Sinti und Roma, Berlin.
Reemtsma, Katrin (1996) Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München.
Vossen, Rüdiger (1983) Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und
Romantisierung, Hamburg.
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