T. Wernicke, K. Kalbantner-Wernicke Kinderakupunktur mit der entwicklungsphysiologisch orientierten Shōnishin-Methode Zusammenfassung Aus einer über 20-jährigen praktischen Arbeit mit Kindern heraus wurde am therapeuticum rhein-main eine Diagnostik entwickelt, welche die energetische Entwicklung eines Kindes unter dem Aspekt der Entwicklungsphysiologie wie auch umgekehrt, die entwicklungsphysiologischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse unter dem Aspekt der TCM/TJM berücksichtigt. Diese aus der Praxis entstandene Diagnostik dient als Grundlage für die Behandlung von Kindern mit unterschiedlichen Methoden wie Psychomotorik, Physiotherapie, Baby- und Kinder-Shiatsu oder der japanischen Kinderakupunktur Shōnishin. Gemeinsames Ziel aller dieser Methoden ist, mittels Regulierung auf energetischer Ebene Wohlbefinden und Gesundheit des Kindes herbeizuführen oder zu erhalten. Als Methode dient das Modell der energetischen Entwicklung von den drei Umläufen (Säuglingsalter) über die sechs Achsen (Kleinkinder/Vorschulkinder) zu den Fünf Wandlungsphasen (ab Schulalter). Hierbei ist von Interesse, welche Meridiane welchen Entwicklungsschritt steuern und welche Störungen dabei auftreten können. Somit ist es möglich, die energetische Entwicklungsebene, auf der das Kind sich befindet, zu erkennen und vor allem, auf welcher Entwicklungsebene es gegebenenfalls ins Stocken geraten ist. Auf dieser Ebene wird das Kind therapeutisch abgeholt. Anhand eines Fallbeispiels bei einem Kind mit Enuresis wird dieses Konzept näher erläutert. Als Behandlungsmethode wird die nicht-invasive Kinderakupunktur Shōnishin herangezogen. Diese im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte in Japan etablierte Kinderbehandlung wird unter Berücksichtigung entwicklungsphysiologischer Kenntnisse vorgestellt. Schlüsselwörter Meridianentwicklung, drei Umläufe, sechs Achsen, Fünf Wandlungsphasen, Shōnishin, Enuresis Shōnishin ist eine in Japan entwickelte Form der nicht-invasiven Akupunkturbehandlung bei Kindern. Traditionell wird hierbei eine Diagnostik durchgeführt, die neben der Befragung und dem Betrachten im Sinne der trad. chinesischen Medizin/trad. japanischen Medizin (TCM/TJM) insbesondere feinste palpatorische und perkussorische Techniken heranzieht [1]. Ungewöhnlich nicht nur für den „klassisch“ arbeitenden Akupunkteur ist bei dieser kinderspezifischen Behandlung die gleichzeitige Durchführung von Palpation und therapeutischem Vorgehen. Während mit der Shōnishin-Nadel sanfte Streichungen auf der Hautoberfläche durchgeführt werden, registriert der Behandler palpatorisch gleichzeitig mit Ring- und Kleinfinger der behandelnden Hand die meist augenblicklich eintretenden – besonders die Hautspannung (Turgor) betreffenden – Veränderungen [2-4]. Während der letzten zehn Jahre erfuhr Shōnishin im Bereich der diagnostischen Vorgehensweise eine Weiterentwicklung. Aus der über 20-jährigen praktischen Arbeit im therapeuticum rhein-main mit Kindern auf unterschiedlichen Ebenen (Krankengymnastik nach Vojta und Bobath, Psychomotorik auf der Grundlage der Fünf Wandlungsphasen, 1 sensorische Integration, Manualtherapie für Kinder und Säuglinge, kraniosakrale Behandlung, Baby- und Kinder-Shiatsu und nicht zuletzt Shōnishin) hat sich eine Diagnostik entwickelt, die täglich in ihrer praktischen Anwendbarkeit überprüft wurde und wird [5, 6]. So basiert die Behandlung kleiner und großer Kinder mit Shōnishin auf der Grundlage der energetischen chinesischen/japanischen Diagnostik – unter Berücksichtigung moderner entwicklungsphysiologischer Erkenntnisse [7, 8]. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Vernetzung zwischen Meridianen und westlicher Entwicklungsphysiologie. Insbesondere interessiert uns, welcher Meridian bzw. welche Meridiane welchen Entwicklungsschritt steuern, und was passiert, wenn auf dieser Vernetzungsebene eine Störung auftritt. Dieses Wissen bildet die Grundlage für die Behandlung von Kindern jeglicher Altersstufe mit Shōnishin. Meridiane und Entwicklungsphysiologie In der Entwicklungsphysiologie und -psychologie hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Entwicklung eines Menschen sich Schritt für Schritt nach einem festgelegten Ablauf vollzieht [9-11]. Diese Entwicklungsschritte unterliegen gewissen Entwicklungsprinzipien, die einen entsprechenden Entwicklungsschritt erst möglich machen. Nach dem Modell der energetischen Entwicklung [4, 7] stellen die Meridiane ein Kommunikationsnetzwerk zwischen dem sich entwickelnden kindlichen Bewusstsein und seiner Außenwelt dar. Sie sind für die Integration von Reflexen und Reizen gleichermaßen zuständig, wie auch für die Entwicklung von Haltung, Bewegung und Persönlichkeits- und Verhaltensmuster eines Kindes. Wie sensibel das Zusammenspiel innerhalb des Kommunikationsnetzwerkes ist, zeigt sich an den vielfältigen Auffälligkeiten, die bei Störungen auftreten können. Diese äußern sich beispielsweise durch Schwierigkeiten im Bindungsaufbau, durch Wahrnehmungsstörungen, durch motorische Auffälligkeiten oder auch durch Entwicklungsverzögerungen bis hin zu Entwicklungsstörungen. Wie sehen nun die oben erwähnten Entwicklungsprinzipien bezogen auf die Meridianentwicklung aus? Eine Grundannahme besteht darin, dass nach der Geburt die vollständige Ausdifferenzierung aller zwölf Hauptmeridiane noch nicht erfolgt ist [12, 13]. Hierzu bedarf es Stimuli, auf die die noch nicht spezifizierten Meridiane auf unterschiedliche Weise reagieren – oder auch nicht reagieren. So erfolgt eine schrittweise „Meridianreifung“. Entsprechend den Entwicklungsprinzipien arbeiten zunächst während des ersten Lebensjahres jeweils vier der späteren zwölf Hauptmeridiane eng als Gemeinschaft zusammen, so dass insgesamt von drei Gruppen mit jeweils vier noch nicht ausdifferenzierten Meridianen ausgegangen werden kann. Aus dem vorhandenen noch undifferenzierten „Meridianpool“ entwickeln sich die aus der TCM bekannten drei Umläufe. Mit fortschreitender Entwicklung kommt es beim Baby zu einer Umstellung: aus dem VierFüßler wird ein Zwei-Füßler. Damit einhergehend findet eine Umstellung der miteinander innerhalb der entsprechenden Umläufe kommunizierenden Meridiane statt – es entstehen die sogenannten sechs Achsen. Diese haben sich voll entfaltet, wenn das Kind im Kindergartenalter ist. Mit Zunahme eines differenzierten und kontrollierten emotionalen Ausdrucks wird eine weitere „Paarung“ von Meridianen ermöglicht, die mit dem Erreichen der Schulreife einher geht. Dieses Entwicklungsstadium ist gekennzeichnet durch das Herausbilden der Fünf Wandlungsphasen. Diese drei großen Entwicklungsschritte – Umläufe, Achsen, Wandlungsphasen – werden im Folgenden etwas näher vorgestellt. 2 Die drei Umläufe Im ersten Lebensjahr gibt es drei Gruppen mit je vier sich allmählich spezifizierenden Meridianen. Hier geht es weniger um den einzelnen Meridian als vielmehr um die vier einer Gruppe zugehöriger Meridiane, die als eine Einheit angesehen werden. In der klassischen Akupunkturliteratur werden diese Gruppen als die drei Umläufe bezeichnet (1.Umlauf, 2.Umlauf, 3.Umlauf). Auf Grund deren Verlaufs entlang des Körpers werden im Folgenden die jeweiligen Umläufe als vorderer, hinterer und seitlicher Umlauf bezeichnet. Zum vorderen Umlauf werden der spätere Magen-, Milz-, Dickdarm- und Lungen-Meridian gerechnet, zum hinteren Umlauf der Blasen-, Nieren-, Herz- und Dünndarm-Meridian und zum seitlichen Umlauf der Gallenblasen-, Leber-, Perikard- und San-Jiao-Meridian. Die Themen der drei Umläufe Jeder der drei Umläufe hat sein spezielles Entwicklungs- und Lebensthema, welches hier als kurze Übersicht dargestellt wird: Existenz sichern: der vordere Umlauf Der vordere Umlauf ist direkt nach der Geburt dafür zuständig, die grundlegenden Bedürfnisse des Neugeborenen zu befriedigen. Dazu gehören vor allem die Nahrungsaufnahme und Ausscheidung von dem, was der Körper nicht benötigt. Unter Nahrung wird nicht nur die (Mutter-) Milch verstanden, sondern dazu gehört auch die Atmung (Sauerstoffaufnahme und Stickstoffabgabe). Die im Verbund miteinander arbeitenden Meridiane des vorderen Umlaufs verlaufen überwiegend entlang der ventralen Körperseite und erhalten ihre besondere Stimulation, wenn das Baby auf dem Bauch liegt oder umarmt wird (z.B. beim Stillen). In Aufrichtung kommen: der hintere Umlauf Schon ein Neugeborenes schafft es in Bauchlage den Kopf kurz anzuheben. Damit ist er in der Lage, ihn auch drehen zu können, um beispielsweise die Atemwege frei zu halten. Etwa mit acht Wochen zeigt sich der sogenannte Unterarmstütz, wodurch das Baby den Kopf von der Unterlage abgehoben kurzfristig kontrollieren kann. Im Laufe seiner Entwicklung richtet sich der Säugling allmählich immer weiter auf (Unterarmstütz – Handstütz – Robben – Krabbeln – Sitzen), bis er schließlich in den Stand und letztendlich zum Laufen kommt. Für diese motorische Entwicklung ist die Zusammenarbeit der insbesondere dorsal verlaufenden Meridiane von Bedeutung. Flexibel und beweglich werden: der seitliche Umlauf Mit der Entdeckung sich drehen zu können kommt immer mehr der eigene Wille ins Spiel. Zunehmend kann jetzt der Raum erkundet werden. Das Kind kommt an die Dinge heran, die es vorher nicht erreichen konnte, und es lernt ein „Nein!“ kennen, was zuweilen zu heftigen Wut- und Schreiattacken führen kann. Die Fähigkeit, eine Körperseite verkürzen oder dehnen zu können bildet die Voraussetzung für die Durchführung einer Rotationsbewegung. Entsprechend verlaufen die zum seitlichen Umlauf zugehörigen Meridiane auf der lateralen, an den Extremitäten auch an der medialen Körperseite. Sobald alle grundlegenden Fähigkeiten eines jeden Umlaufs dem Baby zur Verfügung stehen, sind die Entwicklungsprinzipien eines Säuglings vorhanden. Nun können alle drei Umläufe im Wechsel und im Zusammenspiel für weitere Entwicklungsschritte eingesetzt werden. 3 Grundthemen Auch wenn in den ersten Lebensjahren sich zunehmend die Meridiane weiter ausdifferenzieren, greift das Kind wie auch der Erwachsene immer wieder auf die grundlegenden Themen der drei Umläufe zurück. So gibt der vordere Umlauf den Anstoß die eigene Mitte zu finden, was sowohl die motorische Ebene als auch den emotionalen Bereich betrifft. Die meisten Alltagsbewegungen sind auf Rotation des Körpers aufgebaut. Das Drehen im Babyalter vom Rücken auf den Bauch und etwas später auch wieder zurück auf den Rücken sind die ersten Rotationsübungen und entstammen dem seitlichen Umlauf. Der Entwicklungsschritt vom Robben in den Vierfüßlerstand oder als Erwachsener die morgendliche Aufrichtung aus dem Bett wiederum sind Qualitäten des hinteren Umlaufs. In der vorliegenden Darstellung werden die drei Umläufe und ihre Themen als getrennte Einheiten präsentiert, doch es sollte dabei nicht übersehen werden, dass die drei Umläufe miteinander gekoppelt sind, einander bedingen und sich gegenseitig fördernd oder hemmend beeinflussen. Für grundlegende Fähigkeiten wie beispielsweise Laufen, Sitzen oder Hüpfen sind immer die Qualitäten aller drei Umläufe gefordert. Die sechs Achsen Mit etwa ein- bis eineinhalb Jahren kommt das Kleinkind allmählich in die Aufrichtung, d.h. es verlässt seine horizontale Vier-Füßler-Position und nimmt eine neue Körperhaltung ein. Es gibt nun ein „Oben“ und ein „Unten“, und damit bewegt sich das heranwachsende Kind zwischen Himmel (Yang) und Erde (Yin). Dies führt zu einer Neuausrichtung der Meridiane, indem sich die angelegten Yin-Meridiane eines Arms und des Beins derselben Seite und die angelegten Yang-Meridiane eines Arms und des Beins derselben Seite verbinden. So entwickeln sich innerhalb der drei Umläufe Oben-Unten-Verbindungen, die auch als die sechs Achsen bezeichnet werden. Durch diese Weiterentwicklung der Meridiane befindet sich das Kind nun auf seiner nächsten energetischen Entwicklungsstufe. Einhergehend mit dieser Aufrichtung entstehen völlig neue Bewegungsmöglichkeiten und damit völlig neue Handlungsmöglichkeiten: Der Horizont des Kleinkinds erweitert sich auf allen Ebenen, so dass neue Impulse die Meridianverbindungen, wie sie in den drei Umläufen zum Ausdruck kommen, durch weitere Verschaltungen, nämlich den sechs Achsen, erweitert werden. Aufrichtung und Ausdehnung des Aktionsradius führen zu einer Erweiterung der motorischen Entwicklung des heranwachsenden Kindes mit den dazugehörigen emotionalen und sozialen Themen. Das Kind ist nun in der Lage, beispielsweise auf einem Bein hüpfend einen Ball zu fangen. Auch kann es schnell um eine Ecke rennen und abrupt, falls sich ein Hindernis in seinen Weg stellt, abbremsen. Die Fünf Wandlungsphasen Die zwölf Hauptmeridiane durchziehen Organe, Gewebe, Muskeln und das Nervensystem, verbinden das innere biologische System des Körpers mit dem Bewegungsapparat, erhalten Informationen aus der Umwelt und beeinflussen dadurch Organe, Muskeln, Nervensystem 4 und inneres Gleichgewicht (z.B. vegetatives Nervensystem). Dabei unterstützen die Meridiane den Informationsfluss zwischen den motorischen und sensorischen Zentren, wie auch umgekehrt Bewegung und sensorische Reize den Energiefluss in den Meridianen verstärken. Das Zusammenspiel des Informationsflusses führt dazu, dass das Kind in der Lage ist, zunehmend Reize aufzunehmen, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, auf seine Umwelt zu reagieren und mit ihr zu kommunizieren [5]. So bildet sich innerhalb der drei Umläufe neben der Oben-Unten-Verbindung eine Innen-Außen-Verbindungen der Meridiane heran – die Fünf Wandlungsphasen. Diese Innen-Außen-Kopplung ermöglicht eine zunehmende Feinabstimmung des emotionalen Ausdrucks, was zu einem individuellen Aktions- und Reaktionsmuster führt. Während auf der Sechs-Achsen-Ebene die Emotionen noch sehr ungefiltert und direkt ausgedrückt werden (z.B. sich an der Supermarktkasse vor versammelter Mannschaft schreiend auf den Boden werfen, um etwas zu bekommen), werden die Handlungs- und Lösungsstrategien im Rahmen der Wandlungsphasen immer komplexer. Mit Erreichen dieser Entwicklungsstufe sollte das Kind in der Lage sein, seine Emotionen adäquat, also angepasst an die entsprechende Situation ausdrücken zu können. Jetzt hat es die nötigen Sozialkompetenzen erworben und damit die Schulreife. Zusammenfassung Folgendes kann festgehalten werden: Die energetische Entwicklung eines Kindes läuft in drei großen Phasen ab, die fließend ineinander übergehen. Die erste Phase entspricht dem Entwicklungsstadium der drei Umläufe – diese beginnt schon vor der Geburt und erstreckt sich bis zum Erreichen des Laufalters. Die zweite Phase entspricht dem Entwicklungsstadium der sechs Achsen – diese beginnt mit der Aufrichtung (Laufalter) und geht mit Verlassen des Kindergartenalters in die dritte Phase, dem Entwicklungsstadium der Fünf Wandlungsphasen – die ab dem Erreichen der Schulreife beginnt. Entsprechend richten sich im therapeuticum rhein-main Diagnose und Behandlung von Kindern nach dem energetischen Entwicklungsstadium, in welchem ein Kind sich befindet [6, 14]. So kann ein Schulkind mit guten schulischen Leistungen dadurch auffallen, dass sein Gangbild noch unrund ist und es dadurch tollpatschig wirkt. Demnach befindet sich dieses Kind altersmäßig zwar im Wandlungsphasenalter, seine Motorik jedoch weist darauf hin, dass seine energetische Entwicklung sich noch auf der Ebene der sechs Achsen befindet. Auf dieser Ebene wird das Kind abgeholt, das heißt, nicht die Meridiane der Wandlungsphasen (man könnte hier auf Holz tippen!) sondern die Meridiane der entsprechen Oben-Unten-Verbindung werden in das Therapiekonzept einbezogen. Literatur 1. Tanioka M. Taishiryû- Shōnishin („Shōnishin nach der Daishi-Schule“): Verlag Rikuzensha; 2005 2. Wernicke T. Shōnishin – die japanische Kinderakupunktur. Standortbestimmung einer bei uns noch weitgehend unbekannten Therapiemethode. Dt Ztschr f Akup 2006; 49,2:18-24 3. Wernicke T. Shōnishin – japanische Kinderakupunktur in der naturärztlichen Praxis. Komplement integr Med 2008; 49,2:8-11 4. Wernicke T. Shōnishin – japanische Kinderakupunktur. München: Elsevier; 2009 5 5. Kalbantner-Wernicke K. Die Fünf Elemente im Leben von Kindern. München: Kösel; 1998 6. Kalbantner-Wernicke K. Die Fünf Wandlungsphasen im therapeutischen Alltag. Praxis der Psychomotorik 2005; Jg. 30 (4): 249-257 7. Kalbantner-Wernicke K. Shiatsu für Babys und Kleinkinder. Energetische Entwicklung, Förderung, Behandlung. München: Elsevier 2009 8. Lidická M. Acupuncture Meridians and Fixed Movement Patterns. AKU 20; 1992: 92 - 93 9. Piaget, J. Gesammelte Werke. Stuttgart: Klett; 1975 10. Oerter R. und Montada L. Entwicklungspsychologie. Weinheim:Beltz Verlag; 2008 11. Vojta V. Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. Stuttgart: Hippokrates; 2000 12. Kappstein S. Akupressur bei Kindern. Stuttgart: Hippokrates-Verlag; 1982 13. Larre C., Rochat de la Vallée E. Chinese Medicine from the Classics: “the heart in lingshu chapter 8”. Monkey Press; 1991 14. Wernicke T. Baby-Shiatsu und Shōnishin. Grundlagen und Voraussetzungen für die Behandlung von Babys und Kindern. Shiatsu-Journal Herbst 2006;46:16-18 Autorenangaben Thomas Wernicke Facharzt für Allgemeinmedizin, Akupunktur, Manuelle Therapie, Naturheilverfahren Mitglied der japanischen Gesellschaft für Kinderakupunktur. therapeuticum rhein-main Karin Kalbantner-Wernicke Kinder-Physiotherapeutin (Vojta, Bobath, Psychomotorik, Sensorische Integration), ShiatsuLehrtherapeutin. therapeuticum rhein-main Kontaktadresse Thomas Wernicke Alte Dorfgasse 13 D-65239 Hochheim Tel.:+49 (0) 6145 / 52673 Fax:+49 (0) 6145 / 596483 www.aceki.de [email protected] Fallbeispiel Diagnose: Enuresis Wie nun der entwicklungsphysiologische Ansatz im Rahmen einer Shōnishinbehandlung seine praktische Anwendung findet, wird anhand des folgenden Beispiels dargestellt. Weil Lars mit seinen sieben Jahren immer noch jede Nacht einnässte und alle zwei bis drei Tage auch tagsüber, suchten seine Eltern das therapeuticum rhein-main mit der Frage auf, ob mit Shōnishin da was zu machen sei. Ihn nachts aufzuwecken, um ihn auf die Toilette zu begleiten, war nicht möglich, da er fast „komatös“ schlief. Weiterhin erzählten sie, dass er alle zwei bis drei Monate auch einkote. Ansonsten sei alles „ganz normal“ bei ihm, was insofern erwähnenswert ist, da Lars einen sehr schweren Start ins Leben hatte – so kam er in der 27. Schwangerschaftswoche als Zwillingskind auf die Welt und musste erst einmal 40 Tage beatmet werden. Bis zu seinem 6 dritten Lebensjahr galt er als entwicklungsverzögert, und erst mit zwei Jahren konnte er frei laufen. Diagnose (Kinderarzt) spast. Triparese Konsultationsgrund Einnässen Bisherige Therapien Seit seinem sechsten Lebensmonat wurde Lars regelmäßig osteopathisch behandelt, insgesamt über einen Zeitraum von sieben Jahren. Viel zu spät, nämlich erst als er drei Jahre alt war, wurde bei ihm Physiotherapie (nach Vojta) durchgeführt. Ein Jahr später, mit vier Jahren, erhielt er Ergotherapie. Im Alter von sechs Jahren wurden operativ seine Waden- und Knieflexoren verlängert mit dem Ziel, seine Hüftkontraktur aufzuheben, damit er aufrechter gehen kann. Exkurs Enuresis Enuresis kann in zwei unterschiedlichen Formen auftreten 1. als sogenannte primäre Enuresis – bei dieser Form der Enuresis sind die Kinder niemals nachts trocken gewesen (das betrifft etwa 3/4 aller Enuresis-Kinder) und 2. als sogenannte sekundäre Enuresis – hier findet nach einer Phase der Kontinenz ein erneutes Einnässen statt, meist nach Stress, Umzug, traumatischem Erlebnis o.ä. (1/4 aller Enuresis-Kinder). Ursache (aus westlicher Sicht) Aus westlicher Sicht vermutet man folgende Ursachen funktionell/psychisch (-> enuretische Kinder zeigen deutlich mehr Angstreaktionen) verzögerte Reifung des ZNS (-> nachts verringerte Vasopressin-Sekretion) genetische Veranlagung (-> bei vielen Familien scheint eine autosomal-dominante Vererbung vorzuliegen) (selten) organisch/anatomische Störung (-> anatomische Anomalien wie Ureterverschluss, Rückenmarksverletzung) Ursache (aus östlicher Sicht) In der chinesischen Medizin kommen hauptsächlich zwei unterschiedliche energetische Störungsmuster als Ursache für Enuresis in Frage – zum einen ein Nieren-Yang-Mangel, der der primären Enuresis enspricht und zum andern ein Milz-Qi- bzw. ein Lungen-Qi- Mangel, welche der sekundären Enuresis entspricht. 1. Nieren-Yang-Mangel Das Nieren-Yang wärmt den unteren Erwärmer und ist dafür verantwortlich, dass die Blase den Harn halten kann. Da das Nieren-Yang nachts seinen niedrigsten Stand hat, kann es sehr leicht zu einer Nieren-Yang-Schwäche kommen. Ist diese Schwäche ausgeprägter als gewöhnlich, dann kann die Blase das Wasser nicht mehr kontrollieren und speichern – mit dem Resultat des nächtlichen Einnässens. 2. Milz-Qi-Mangel und Lungen- Qi-Mangel Die Funktionskreise Milz und Lunge regulieren u.a. das Körperwasser. Während bei schwachem Milz-Qi die Flüssigkeit nicht richtig umgewandelt wird, findet bei einer LungenQi-Schwäche eine unzureichende Regulierung der Körperflüssigkeit im oberen Erwärmer statt. Dadurch wird der Wasserfluss nach unten zur Blase gestört (s. auch Mutter-KindRegel), was zum Einnässen führt. 7 Erweiterung der Ursachenfindung aus Sicht der energetischen Entwicklung Im Rahmen der Eingangsuntersuchung wird getestet, ob ein persistierender Galantreflex vorliegt. Dieser Reflex ist vor allem unter der Geburt aktiv, da durch diesen beim Entlangstreichen im Bereich des Blasen-Meridians auf thorako-lumbaler Höhe eine schlangenartige Bewegung des Kindes ausgelöst wird, wodurch seine Passage durch den Geburtskanal unterstützt bzw. sogar erst ermöglicht wird. Bis in den sechsten Lebensmonat hinein kann beim Säugling oder Kleinkind ein beidseitiges Bestreichen des Blasen-Meridians in seinem thorako-lumbalen Verlauf diesen Galantreflex auslösen. Als Folge davon fängt es meist unmittelbar an zu urinieren. Spätestens nach dem sechsten Monat sollte dieser Reflex erloschen sein, weshalb er zu den frühkindlichen Reflexen gezählt wird. Persistiert er jedoch, dann kann auch bei größeren Kindern dieser Reflex beispielsweise während des Schlafens ausgelöst werden, was dazu führen kann, dass die Blasenkontrolle in diesem Moment verloren geht und das Kind einnässt. Verantwortlich für den Galantreflex, seine motorischen Antwort und seine vegetative Funktion ist demnach auf Meridianebene der hintere Umlauf mit seinen Funktionskreisen Dünndarm, Blase, Herz und Nieren. Die Grundmuster des hinteren Umlaufs, nämlich unter anderem Tonusaufbau und Stabilität, gelten auch für den Galantreflex. So spielt dieser Reflex nicht nur für den Geburtsvorgang eine Rolle, sondern er ist auch zuständig für die Thorax-Becken-Verbindung wie auch für die Aufrichtung der Wirbelsäule. Dies erklärt, warum ein Persistieren von Restreaktionen des Galantreflexes unter anderem zu einer Instabilität der Wirbelsäule führen kann, da eine stabile Rumpfkontrolle sich in solch einem Fall nicht optimal entwickeln kann. Auch das Bettnässen über das Kleinkindalter hinaus kann Resultat einer solchen Restreaktion sein. Diagnosestellung unter Berücksichtigung der energetischen Entwicklung Auch bei Lars konnte im Rahmen der körperlichen Untersuchung der Galantreflex ausgelöst werden. Des Weiteren zeigte sich eine auffallend schwache Rückenmuskulatur im thorakolumbalen-Bereich (s. Triparese). Im Langsitz fiel sein deutlicher Rundrücken mit nach hinten gekippten Becken auf, die innenrotierten Schultern fielen nach vorne, den Kopf hielt er bei hyperlordierter HWS nach vorne geschoben. Von seinem Verhalten her war er äußerst freundlich und kooperativ. Bei der Palpation des Bauchbereichs (Hara-Diagnose) konnte eine Kühle wie auch ein erniedrigter Turgor im Bereich des mittleren Unterbauchs (Organfeld der Nieren) festgestellt werden. Das energetische Entwicklungsalter bestimmt die Behandlung Die vollständige Entwicklung der drei Umläufe zu den sechs Achsen und zu den Fünf Wandlungsphasen schienen bei Lars noch nicht ausreichend stattgefunden zu haben. Seinem Lebensalter nach sollte er eigentlich auf der Entwicklungsstufe der Wandlungsphasen angekommen sein, doch sowohl seine motorischen Unzulänglichkeiten als auch sein Einnässen wiesen darauf hin, dass eine energetische Stagnation auf der Entwicklungsstufe eines Vorschulkindes stattgefunden hatte. Aus diesem Grund wurde sein aktueller energetischer Entwicklungsstand auf der Achsen-Ebene (Laufalter bis Schulreife) angesiedelt, auf der auch die Behandlung basierte. Um herauszufinden, welche der sechs Achsen bei Lars hauptsächlich gestört war, dienten folgende Beobachtungen: Nächtliches Einnässen weist auf die Entwicklungsstufe eines Vorschulkindes hin, was dem energetischen Entwicklungsstand auf Achsen-Ebene entspricht. Die oben beschriebene Haltungsschwäche weist auf eine Störung der Achsen des hinteren Umlaufs hin. 8 Der motorische Ausdruck (Kopfhaltung, vorfallende Schultern, Rundrücken, Beckenkippung) kann als Hinweis einer gestörten Dünndarm-Blasen-Achse gedeutet werden. Der Galantreflex wird über den Blasen-Meridian ausgelöst. Behandlung Abb. 1 Shōnishin-Nadel Abb. 2 Grundbehandlung am Bauch Abb. 3 Punktstimulationstechnik Grundbehandlung Nach einer entsprechenden Diagnostik, die zum einen die kindliche Entwicklung aus westlicher und aus östlicher (energetischer) Sicht, zum anderen den Tastbefund der Haut des Kindes einschließt, wird die Behandlung durchgeführt. Alle Behandlungen beginnen mit einer allgemeinen Grundbehandlung, wobei mit der Shōnishin-Nadel (Abb.1) in einem Rhythmus von 150-200 Streichbewegungen pro Minute auf der Hautoberfläche Streichungen durchgeführt werden. Die Streichungen folgen dem Prinzip von innen nach außen von kranial nach kaudal. Bei der Grundbehandlung werden Meridianverläufe nicht berücksichtigt, vielmehr gilt es, eine flächenhafte Bestreichung der Yang-Seiten aller vier Extremitäten sowie von Thorax, Abdomen (Abb.2), Kopf und Rücken durchzuführen, um das bei Kindern sehr leicht nach oben schießende Qi zu harmonisieren. In den meisten aller Fälle ist die Grundbehandlung als alleinige Maßnahme ausreichend. Bleibt nach der ersten Behandlung der therapeutische Effekt aus, dann werden ab der zweiten Behandlung im Anschluss an die Grundbehandlung eine Meridianbehandlung entsprechend dem energetischen Entwicklungsstand des Kindes und gegebenenfalls eine spezifische nicht-invasive Akupunkturbehandlung mittels Punktstimulationstechnik (Abb.3) durchgeführt. Ziel der Behandlung ist durch Harmonisierung des Qi -Flusses das Kind in seine Mitte zu bringen. Die reine Behandlungszeit beträgt bei Säuglingen unter fünf Minuten und steigert sich mit zunehmendem Alter auf zehn bis fünfzehn Minuten bei Teenagern. Bei funktionellen Beschwerden wird Shōnishin in der Regel ein- bis zweimal pro Woche, in seltenen Fällen auch täglich durchgeführt. Spezifische Behandlung Was die Aufgabe von Lars ist Sobald Lars den Drang verspürte, Wasser zu lassen, war er angehalten, anstatt auf die Toilette zunächst ins Schlafzimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und so tun, als ob er schlafe. Dabei sollte er darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich so seine Blase nachts anfühlte, wenn diese versuchte, ihn zu wecken. Nach ein paar Minuten konnte er dann aufstehen und die Toilette aufsuchen – genauso, wie er das nachts auch machen sollte. 9 Was die Aufgabe der Mutter/des Vaters ist Um den persistierenden Galant-Reflex zu löschen, sollten jeden Abend vor dem Schlafengehen Mutter oder Vater mit einem Igelball die Sakrum-Region von Lars sowie den paravertebralen Bereich der thorako-lumbalen Region mit kräftigen, aber noch nicht schmerzhaften Druck abrollen. Was die Aufgabe des Shōnishin-Therapeuten ist Abb. 4 Klopftechnik Abb. 5 Nieren-Zone (blau) im Unterbauchbereich Abb. 6 Enuresis-Reaktionszone nach Masanori Tanioka Schwerpunkt der Behandlung lag in der Stärkung der Dünndarm- / Blasen-Meridianachse. So wurden bei jeder Behandlung im Anschluss an die Grundbehandlung der DünndarmMeridian und anschließend der Blasen-Meridian in deren Meridianverlauf der einen Seite mit der Streichtechnik behandelt, danach gleiches Vorgehen auf der Gegenseite. Mittels der Klopftechnik (Abb.4) wurde die Nieren-Zone im Bereich des mittleren Unterbauchs tonisiert (Abb.5), ebenso die Enuresis-Reaktionszone nach Masanori Tanioka im Sakrumbereich (Abb.6). Zur nicht-invasiven Punktbehandlung wurden folgende Akupunkturpunkte ausgewählt, wobei auch die Schwäche im thorako-lumbalen Bereich (Tetraspastik) bei der Punktauswahl berücksichtigt wurde: Mi 6 reguliert Le- und Ni-Funktionskreis aktiviert Qi-Fluss stärkt das Ni-Yin Bl 23 (Moxa) stärkt das Ni-Qi, stärkt das Ni-Yang reguliert SJ-Funktionskreis und die Wasserwege stärkt den unteren Rücken Bl 28 reguliert Bl-Funktionskreis und Wasserwege im unteren SJ stärkt den unteren Rücken Bl 40 stärkt den unteren Rücken entspannt die Sehnen unterstützt die Lumbalregion Ni 3 tonisiert Ni-Funktionskreis (durch Stärkung des Ni-Yin und Ni-Yang) stabilisiert das Ni-Qi stärkt den unteren Rücken Ren 3 reguliert Qi-Fluss im unteren SJ Du 20 macht den Schlaf etwas leichter 10 Pro Sitzung wurden in der Regel zwei bis vier unterschiedliche Punkte ausgewählt, die jeweils variiert wurden. Die reine Behandlungszeit betrug pro Sitzung acht bis zehn Minuten. Behandelt wurde Lars einmal wöchentlich, insgesamt neun Mal. Verlauf Zur fünften Shōnishin-Sitzung berichtete die Mutter, dass Lars fünf Nächte hintereinander trocken gewesen sei. Diese positive Entwicklung setzte sich fort, so dass bis zum siebten Behandlungstag Lars so weit war, dass er tagsüber nicht mehr einnässte. Nachts „passierte es“ nur noch einmal pro Woche. Da er von der siebten bis zur neunten Behandlung nicht mehr einnässte, wurde auf eine Fortführung der Shōnishinbehandlung verzichtet. Bei der Wiedervorstellung drei Monate nach Behandlungsende berichtete seine Mutter, dass er seit der letzten Behandlung lediglich zweimal nachts „nicht trocken“ gewesen sei. ☼ 11