Prof. Dr. Thomas Ruster

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PROF. DR. THOMAS RUSTER
UNIVERSITÄT DORTMUND
WINTERSEMESTER 2000/2001
SKRIPT ZUR VORLESUNG:
VON MENSCHEN, MÄCHTEN UND GEWALTEN:
THEOLOGISCHE ANTHROPOLOGIE
EINFÜHRUNG IN GRUNDFRAGEN
Nicht zitierfähiges Manuskript!
Nur für den studentischen Gebrauch.
1
INHALTSVERZEICHNIS
1. Einführung
1.1.
Grenzen und Ort einer Lehre vom Menschen
1.1.1. Der Begriff „der Mensch“, ein irreführendes Abstraktum
1.1.2. Menschen können sich selbst niemals vollständig zum
Gegenstand der Erkenntnis werden
1.1.3. Anthropologie ist Selbstauslegung von Menschen in ihrer
Welt und ihrer Geschichte
1.1.3.1.
Unsere Welt ist vom Code des Geldes bestimmt
1.1.3.2.
Systemische Eigendynamiken bestimmen die Welt;
deshalb die „Theologie der Mächte und Gewalten“
1.2.
Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie
1.3.
Einsichten aus der philosophischen Anthropologie
2. Ein Gang durch die Schöpfungs- und Urgeschichte
2.1.
Zur Eigenart der biblischen Schöpfungsgeschichte. Erklären
und Verstehen
2.2.
Zu einigen Zügen der Schöpfungserzählung
Gen 1,1 – 2,25 (in kanonischer Lektüre)
2.3.
Der „Sündenfall“ Gen 3
2.4.
Fortgang der Urgeschichte bis zu Abrahams Berufung
3. Klassische Positionen und Texte der theologischen
Anthropologie: Paulus – Augustinus – Luther
3.1.
Paulus Der Mensch zwischen Geist und Fleisch. Zu Röm 7,1-8,17
3.1.1. Die Stellung von 7,1 – 8,17 im Gesamtaufbau des Briefes
3.1.2. 7,1-6 Das Gesetz geht eine neue Verbindung ein
3.1.3. 7,7-13 Wie die Sünde sich des Gesetzes bediente
3.1.4. 7,14-25 Der sich selbst entfremdete, elende Mensch
3.1.5. 7,25-8,17 Freies Leben nach dem Gesetz des Geistes
des Lebens
3.2.
Kann der Mensch das Gute wollen? Augustinus und Pelagius
3.2.1. Skizze der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre
3.2.2. Die Prädestination (Vorherbestimmung)
3.2.3. Augustinus, der Neuplatoniker, und sein Verhältnis zum Gesetz
3.2.4. Pelagius: Die Theologie eines konservativen römischen
Sozialrevolutionärs
3.2.5. Vergleich Augustinus – Pelagius
3.2.6. Die Entscheidung des pelagianischen Streits durch
die Synode von Orange (529)
3.3.
Martin Luther: Dass der freie Wille nichts sei.
(De servo arbitrio, 1525)
3.3.1. Anlass und Eigenart der Schrift
3.3.2. Der freie Wille ist nichts; der Mensch als Lasttier
3.3.3. Der Mensch als ganzer ist Fleisch
3.3.4. Die Selbstaufgabe Gott gegenüber und die Prädestination
3.3.5. Die Verwirrung der Vernunft: Offenbarung im
Gegensatz (sub contrario)
3.3.6. Die Verborgenheit Gottes
3.3.7. Luthers Anthropologie als Kehrseite des
neuzeitlichen Menschenbildes
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4. Von der Schöpfungsgeschichte über Paulus und Augustinus
bis zu Luther. Ein Rückblick
5. Von Engeln und Dämonen, Mächten und Gewalten
5.1. Beobachtungen
5.1.1. Wiederkehr der Engel(-Vorstellung)
5.1.2. Engel und Dämonen in der Bibel
5.1.3. Engel(-lehre) in der Tradition der Kirche
6. Theologie der Mächte und Gewalten bei William Stringfellow
und Walter Wink
6.1.
Die Mächte und Gewalten im Verständnis
William Stringfellows
6.2.
Mächte und Gewalten im Verständnis Walter Winks
6.3.
Der Himmel als Ort der Mächte und Gewalten
7. Zusammenfassung: Was sind Engel-Dämonen-Mächte-Gewalten?
7.1.
Umrisse einer Theologie der Mächte und Gewalten
7.2.
Eine Relecture der klassischen katholischen Lehre
von den reinen Geistern
8. Der neue Mensch
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1. Einführung
1.1
Grenzen und Ort einer Lehre vom Menschen
1.1.1 Der Begriff „der Mensch“, ein irreführendes Abstraktum
Kein Mensch gleicht dem anderen! Die Verschiedenheit der Menschen ist der größte,
unerschöpfliche Reichtum der Welt. Es werden immer noch neue, andere Menschen sein.
Aussagen über „den Menschen“ müssen von dieser Verschiedenheit absehen. Sie werden
nicht nur den Menschen nicht gerecht, sie stehen in der Gefahr, ein bestimmtes Bild (eine
bestimmte Erfahrung) von Menschen zu generalisieren.
In vielen Sprachen ist der Begriff für ‚Mensch‘ und ‚Mann‘ gleich. Das zeigt bereits, von welcher
Menschenerfahrung hier ausgegangen wurde: der eigenen!
Das klassische Systematisierungsverfahren nach Gattung, Art und Differenz wird den
Menschen nur schwer gerecht. Vielleicht wäre es besser, jeden Menschen als eine eigene Art
zu begreifen, so wie es die Theologie von den Engeln sagt.
Die Bibel spricht „vom Menschen“ nur in der Relation zu Gott. Gen 1,26: Lasst uns den Menschen
machen...; Gen 2,7: Dann bildete Jahwe Gott den Menschen...; Ps 8,5/ 144,3: Was ist der Mensch, dass du seiner
gedenkest...Nur in der Unterscheidung zu Gott wird klar, was „der Mensch“ ist, in der
Unterscheidung zu den Tieren herrscht diese Klarheit nicht.
Die Kenntnis über den Menschen lässt sich durch Quantität nicht steigern, sondern nur
durch Intensität: Wer einen Menschen ganz kennen würde, dessen Wissen über „den
Menschen“ wäre nicht mehr zu übertreffen.
1.1.2 Menschen können sich selbst niemals vollständig zum Gegenstand der Erkenntnis
werden
Menschen können ihr Verhältnis zu anderen und zu sich selbst bewusst erfassen
(Bewusstsein, Selbstbewusstsein); sie können sich reflexiv auf das eigene Denken und
Handeln beziehen („Ich denke“ – „Ich handle“).
Daraus entsteht auch Bewusstsein von Zeit („Ich habe gedacht; ich werde tun“) und die Voraussetzung für
Freiheit („Ich habe so gehandelt, werde aber anders handeln“). Bewusstsein ist offenbar auf Sprache angewiesen.
Die Selbstreflexivität oder Selbstbeobachtung ist in beliebig vielen Graden wiederholbar („Ich
denke, dass ich denke, dass ich denke – d.h. ich beobachte mich dabei, wie ich denke, dass ich
denke...). Aber: „Das Auge kann sein Sehen nicht sehen“ – der Vorgang der Selbsterkenntnis
bleibt immer noch an das Selbst gebunden, das da denkt; die Beobachtung kann von dem
Selbst, das beobachtet, nicht abstrahieren; das Selbst wird sich selbst nicht anschaulich, es
bleibt unbeobachtbar. Auf diese Unterscheidung von beobachtbar/unbeobachtbar reflektiert N. LUHMANN,
DIE RELIGION DER GESELLSCHAFT, FRANKFURT 2000, 7-47 – sie ist für ihn der Ansatzpunkt von Religion!
Darum kann es keine Wissenschaft vom Menschen wie von anderen Dingen geben. Menschen
können sich selbst nicht vollständig erklären (trotz Genomanalyse etc.).
Dieser Nicht-Feststellbarkeit des Menschen entspricht: Was Menschen sind, steht noch nicht
fest, denn sie können immer noch etwas werden. Sie werden etwas in der unplanbaren
Begegnung mit anderem.
Darum sagt Gott vom Menschen nicht, „dass es gut war“, sondern: „Wachset und mehret euch“ (Gen 1,28). Wir
werden sehen, dass dieser Gedanke für die theologische Anthropologie ganz wichtig ist: Menschen sind noch
nicht, was sie sein können; sie sind Material für das schöpferische Handeln Gottes.
1.1.3
Anthropologie ist Selbstauslegung von Menschen in ihrer Welt und ihrer
Geschichte
Das kann auch nicht anders sein (vgl. W. HIRSCH, ART. MENSCH, PHILOSOPHISCH, IN: TRE, BD. 22, 567).
Zu wehren ist aber der Illusion, es gebe eine weltlose Menschenerkenntnis, der Mensch
stünde als Subjekt der Welt als Objekt gegenüber. ‚Welt‘ ist hier nicht verstanden als Summe
des Vorhandenen, sondern als der durch Geschichte und Geschichten erschlossene
Lebensraum. Was Menschen sind, können sie nicht ohne ihre Geschichte erklären! Im
Verhältnis zu der ihm vorgegebenen Geschichte zeigt sich das Eigenartige eines Menschen.
Vgl. D. RITSCHL, ZUR LOGIK DER THEOLOGIE, MÜNCHEN 1984, 45: „Wenn ich sagen soll, wer ich bin, so
erzähle ich am besten meine Story. Jeder von uns hat seine unverwechselbare Story, jeder ist seine Story. Wenn
einer nur das ist, was andere über ihn sagen, ohne selbst seine Story erzählen zu können, so ist er nicht reif, nicht
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erwachsen; wenn er in konflikthaften Stories lebt, seine Story nicht akzeptieren kann, so braucht er Hilfe,
Therapie. Ein Mensch ist das, was man zu und über ihn sagt und was er selbst über sich erzählen kann und was
er daraus mit seinem Leben macht.“ Einzelstories und Gesamtstories stehen dabei in einem wechselseitigen
Verhältnis.
Allgemeiner: Die Welt ist der durch Kommunikation geordnete Lebensraum (→
Kosmos/Logos). In diesem Raum geschieht Selbstauslegung des Menschen, die immer
sprachlich ist. Mythen, Religionen, wissenschaftliche Paradigmen lassen unterschiedliche
Welten entstehen, sie geben jeweils einen Code vor, in dem Informationen, (Selbst-)
Mitteilung und Verständigung vor sich gehen.
1.1.3.1 Unsere Welt ist von dem Code des Geldes bestimmt
Dies ist meine These, sie leitet dementsprechend meine anthropologischen Überlegungen. –
Warum ist die Sprache des Geldes so bestimmend?
Seine bestimmende Macht bekommt das Geld durch den Zins. Zins ist eine Prämie für den Verzicht auf
Liquidität, er regelt den Geldumlauf. Durch Zins und Zinseszins wächst Kapital exponentiell (10.000DM/ 6%
Zins: in 12 Jahren 20.000 DM, in 50 Jahren 174.000 DM). Geldvermögen und Verschuldung steigen
gleichermaßen. Durch den Zinseffekt liegt ein Wachstumszwang auf der Wirtschaft. Es müssen die Zinslast und
der Gewinn erwirtschaftet werden, mit der Folge rücksichtsloser Ausbeutung der Ressourcen, billiger
Massenproduktion durch billige Arbeitskräfte etc. Zinsen schlagen sich auf die Preise nieder; Zinsen zahlen alle.
Die Zinsen bewirken eine ständige Umverteilung von arm zu reich (in Deutschland: 50% der Bevölkerung
besitzen 4% des Geldvermögens, die anderen 50% besitzen 96%. 90% bezahlen mehr Zinsen als sie bekommen,
10% bekommen mehr als sie zahlen). Umverteilung zwischen armen und reichen Ländern: jeden Tag zahlen die
armen Länder 300 Mill.$ an die reichen Länder, das ist zwei- bis dreimal mehr als sie an Entwicklungshilfe
bekommen. Die Summe aller Spenden, jährlich 4 Millarden $, reicht gerade aus, um der Zinsverpflichtung für 14
Tage nachzukommen. Durch Schuld und Zinsen wird die Welt immer ärmer an Werten und immer reicher an
Kapital. (Vgl. M. KENNEDY, GELD OHNE ZINSEN UND INFLATION, MÜNCHEN 1994, 17-38; H. CREUTZ, DAS
GELD-SYNDROM, Berlin 41997, 77ff.)
Dem entspricht ein geldbestimmtes Bewusstsein, d.h. Selbstauslegung im Code des Geldes:
• Politik, Geist, Kultur, Bildung, Sport müssen sich dem Primat des Geldes beugen. Komplizierte
Handlungsketten werden durchschaubar, wenn man weiß, dass es nur um’s Geld geht (Kosmisierung)
• Austauschbarkeit von allem mit allem, alles ist zu ersetzen (deshalb: viel Abfall)
• Geld bestimmt Identität und Sozialität: Ich bin, was ich habe; Unterscheidung von mein und dein als
Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenseins: das Geld, das ich habe, ist immer das Geld, das du nicht
hast
• Erlebnissteigerung als Lebensgefühl
• Knappheit als Grundkategorie des Seins; Leben als Kampf um knappe Güter
• Geld bestimmt die Qualität der Zeiten: Durch Sparen (Kapitalakkumulation) wird die Gegenwart arm und
die Zukunft reich gemacht, durch Schulden wird die Gegenwart reich und die Zukunft arm gemacht. Zinsen
sorgen für eine gespaltene Zukunft: Die einen werden immer ärmer, die anderen immer reicher. (Vgl. J.
HÖRISCH, KOPF ODER ZAHL. DIE POESIE DES GELDES, FRANKFURT 1996)
Das Geld, eigentlich ein Mittel, hat längst die Herrschaft über die angetreten, denen es dienen
sollte.
1.1.3.2 Systemische Eigendynamiken bestimmen unsere Welt; deshalb die „Theologie
der Mächte und Gewalten“
Was sich am Gelde zeigt, gilt auch für andere Bereiche, z.B. Verkehr, Medien,
Informationstechnologie... Hier stimmt überall Goethes „Zauberlehrling“: „Die Geister, die
ich rief, werd‘ ich nun nicht mehr los“. Der Gewinn menschlicher Handlungsspielräume
führte zu Freiheitsverlusten! Theologisch ist darauf mit einer Theologie der Mächten und
Gewalten zu reagieren. Ohne sie kann eine theologische Anthropologie in dieser Welt nicht
mehr gelingen.
1.2
Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie
Ch. Darwins Buch Die Entstehung der Arten (1859), bald gefolgt von Thomas Henry Huxleys
Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (1863), leitete eine Revolution im
Verständnis des Menschen ein. Seine Entstehung wurde nun als Bestandteil der
Naturgeschichte („Evolution“) und nicht mehr als göttlicher Schöpfungsakt verstanden.
Ansatzpunkt für alle Forschungen war die Ähnlichkeit zwischen Menschen und
5
Menschenaffen. Vgl. zum folgenden ROGER LEWIN, SPUREN DER MENSCHWERDUNG. DIE EVOLUTION DES
HOMO SAPIENS, HEIDELBERG 1992.
Darwin erklärte die Entstehung des Menschen durch Selektion: Intelligenz, manuelle Geschicklichkeit,
Werkzeugherstellung und aufrechte Haltung seien Selektionsvorteile gewesen, die mit Notwendigkeit zum homo
sapiens geführt hätten. Neuere Theorien gehen dagegen von Schüben aus, die sich im Rahmen einer
unvorstellbar langsamen Entwicklung innerhalb kürzerer Zeitspannen – aus Gründen, die sich nicht klar
benennen lassen – ergeben haben: keine kontinuierliche, sondern sprunghafte Entwicklung.
• Vor 5 bis 10 Mill. Jahren erstmals aufrechter Gang
• Vor 3,5 Mill. Jahren älteste bekannte Hominidenart (Ähnlichkeiten im Knochenbau): Australopithecus
afarensis
• Vor 2 bis 3 Mill. Jahren erste Steinwerkzeuge, Vergrößerung des Gehirns: homo habilis
• Vor 1,6 bis 1 Mill. Jahren: Anzeichen systematisch durchgeführter Jagd, Heimstättenbau, systematische
Herstellung von Werkzeugen, Nutzung des Feuers, Fleischverzehr, deshalb Auswanderung aus Afrika in
alle Teile der Welt: homo erectus
• Vor 150.000 bis 300.000 Jahren: erstes Auftreten des homo sapiens in Afrika
• Vor 30.000 Jahren: „Kunst“, Höhlenmalereien
• Vor 10 bis 12.000 Jahren: Ackerbau und Viehzucht, Seßhaftigkeit, starke Bevölkerungszunahme (als Folge
oder Ursache?)
• Vor 8000 Jahren: erste Städte (Jericho; Catal Hüyük in der Türkei)
Es lässt sich keine Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen erweisen, d.h. man kann nicht
sagen, dass sich der homo sapiens aus dem homo erectus entwickelt hat usw. Es gibt parallele, sich
überschneidende Entwicklungen und häufige Neuansätze. Der Mensch stammt nicht „vom Affen ab“.
Entstehung von Kultur und Sprache: Der homo sapiens besaß erstmals einen für Sprache ausreichenden
Sprechapparat (Kehlkopflage, Muskulatur etc.). Erste Schriftzeichen um 6000 v. Chr. in der sumerischen Kultur.
Die menschliche Sprache lässt sich nicht als Weiterbildung der Laute der Primaten verstehen. Sprache setzt
Abstraktionsvermögen (deshalb geht ihre Entstehung mit den ersten Ritzzeichnungen einher) und einen Bedarf
an Kommunikation voraus. Wahrscheinlich hat eine komplexere Sozialstruktur, die die Fähigkeit erforderte, sich
in den anderen hineinzuversetzen, seine Handlungen zu berechnen und mit ihm Bündnisse einzugehen, die
Entstehung von Bewusstsein und Sprache gefördert. Aber erklären lässt sich die Entstehung von Bewusstsein
und Sprache nicht. Es ist eine „black box“: man weiß nur, was herausgekommen ist, nicht, was darin
vorgegangen ist.
Das Auftreten den Menschen in der Evolution ist ein emergentes Ereignis. Es ist aus dem Vorhergehenden nicht
ableitbar, aber nachdem es einmal geschehen ist, kann man rückwirkend Faktoren erkennen, die darauf
hindeuten. Es lässt sich gerade nicht durch Evolution und Selektion erklären (denn dann müssten ja auch andere
Primaten irgendwann einmal diesen Weg gegangen sein oder noch gehen.) Noch einmal: Der Mensch stammt
nicht vom Affen ab.
Wichtig zu merken: Die Menschen waren die längste Zeit ihrer Entwicklung Jäger und Sammler. Das hat sich
tief in ihre Gene eingeschrieben. Vielleicht bedeutete die rezente Entwicklung zum Ackerbau und zur
Städtegründung einen permanenten psychischen und sozialen Stress: Kultur als Dauer-Überforderung des
Menschen. Daraus kann Gewalt entstehen (Kain, der erste Städtebauer, der erste Mörder). Religiöse und
gesellschaftliche Rituale versuchen dann dieses Gewaltpotential einzudämmen, vgl. die Theorien zur Entstehung
des Opfers von H. Burkert. – Heute scheinen wir auf die Stufe der Jäger und Sammler zurückzusinken.
Die Ergebnisse der Paläoanthropologie sind hypothetisch, in allen Einzelheiten zwischen den Gelehrten
umstritten und allesamt unsicher. Wichtiger als die Ergebnisse ist die Geschichte, die sie erzählen: Die
Entwicklung des Menschen wird verstanden als Fortschrittsgeschichte (analog zu den Fortschritten in
Wissenschaft und Technik in der Neuzeit, von denen dieses Paradigma stammt). Der Gipfel des Fortschritts ist
immer homo sapiens, der weiße Wissenschaftler und seinesgleichen, der diese Geschichte schreibt. Vgl. Roy
Chapman Andrews mit einer charakteristischen Äußerung aus den 20er Jahren (nach Lewin, 13): „Die
Entwicklung der einzelnen Arten verlief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Einige entwickelten sich mit
unfaßbarer Geschwindigkeit zu den Herren der Welt, die Tasmanier hingegen und die noch existierenden
australischen Ureinwohner hinkten weit hinterher und haben sich kaum über die Stufe des Neandertalers hinaus
entwickelt.“ So konnte mit der Evolutionstheorie die Stellung des Menschen an der Spitze der Naturgeschichte
und insbesondere die Überlegenheit des weißen Mannes über die Schwarzen „wissenschaftlich“ begründet
werden. – Lewin, aaO. 14f, sagt zu diesem „Fortschrittsmythos“: „Sobald Arten sich erst einmal entwickelt
haben, sind sie in ihrer eigenen Anpassung, ihren Verhaltensweisen und ihren Genen bemerkenswert
konservativ. Oft bleiben sie mehrere Millionen Jahre hindurch unverändert. In diesem Licht gesehen ist es
falsch, die Evolution oder auch nur die Geschichte des Menschen als eine Form des Fortschritts – langsam oder
nicht – anzusehen. ... Im großen und ganzen ist die Welt in biologischer Hinsicht nicht komplexer geworden: Die
meisten Lebewesen haben einfache Strukturen beibehalten, wir aber lassen uns von den Ausnahmen blenden, vor
allem von jener einen, die uns bestens bekannt ist.“ Woran will man auch den Fortschritt messen? An den
technischen Fähigkeiten? Oder etwa auch an der Verwirklichung von Gerechtigkeit? – Die Bibel erzählt, wie wir
6
sehen werden, die Geschichte der Menschheit ohne Gott als eine Verfallsgeschichte immer größerer
Unmenschlichkeit.
1.3
Einsichten aus der philosophischen Anthropologie
Seit der „Wende zum Subjekt“ (Descartes, Kant) nimmt die Philosophie den Menschen aus
dem Zusammenhang der Schöpfung heraus und setzt ihn als Subjekt der Welt als Objekt
gegenüber (Descartes: res cogitans – res extensa). Damit ist der Bruch zu theologischen
Anthropologie vollzogen; vgl. Luther, Kl. Katechismus: „Ich glaube, dass Gott mich
geschaffen hat samt allen Kreaturen“. Der für die Theologie konstitutive Unterschied Gott –
Schöpfung (incl. der Menschen) wird zunehmend aufgelöst, z. B. in Hegels Philosophie des
absoluten Geistes, und, Hegel überbietend, in L. Feuerbachs anthropologischer Wende der
Theologie.
Eine ausdrückliche phil. Anthropologie entsteht erst im 20. Jahrhundert, wohl als Reaktion auf die radikale
Infragestellung des Menschen durch Darwin, Freud und den Ersten Weltkrieg.
M. SCHELER, DIE STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS (1928), fand, dass der Mensch im Stufenbau der
Natur („Leben“) nur graduell vom Tier abgehoben sei, ihm jedoch eine Sonderstellung aufgrund des „Geistes“
zukomme. Dieser macht ihn zur Person, befreit ihn vom Zwang der Triebe und schenkt ihm seine unbegrenzte
Weltoffenheit. Scheler setzte „Geist“ als metaphysischen Begriff.
H. PLESSNER, DIE STUFEN DES ORGANISCHEN UND DER MENSCH (1928); DERS., LACHEN UND WEINEN
(1941); CONDITIO HUMANA (1964), entdeckte die exzentrische Positionalität des Menschen: Während die Tiere
das Zentrum ihrer Lebensäußerungen in sich haben, ist der Mensch ex-zentrisch. Was er ist, wird er erst von
anderen her: von Menschen, Gegenständen, eigenen Werken, der eigenen Stimme... So gewinnt er auch einen
Bezug zu sich selbst. Zu diesem Sein-vom-anderen-her kann er sich verhalten: es in Freiheit annehmen und
gestalten, oder es trotzig ablehnen und sich aus sich selbst behaupten wollen („Der Wille zur Macht“). – In der
Theologie hat W. PANNENBERG, ANTHROPOLOGIE. ANTHROPOLOGIE IN THEOLOGISCHER PERSPEKTIVE,
GÖTTINGEN 1983, VOR ALLEM 32-35; 57-71; 77-82 die Ansätze von Scheler und Plessner kombiniert und
apologetisch ausgewertet: In seiner prinzipiell weltoffenen und zugleich exzentrischen Position greife der
Mensch über alles Gegebene hinaus und finde nur in Gott den Grund seines Daseins. In seiner
„Selbsttranszendenz“ bejahe er Gott als das „Jenseits aller Gegenstände seiner Welt“ implizit immer schon mit.
Dieser Ansatz Pannenbergs bleibt noch im Bann der Subjektphilosophie und bekommt deshalb Gott nur als
„Horizont“ menschlicher Selbstauslegung in den Blick.
Wichtig auch der Beitrag des Zoologen A. PORTMANN, BIOLOGISCHE FRAGMENTE ZU EINER LEHRE VOM
MENSCHEN, (³1969): Der Mensch ist eine biologische Frühgeburt. Erst nach einem Jahr erreicht er den
Entwicklungsstand vergleichbarer Säuger. In der extra-uterinen Phase wird er kulturell geformt, das begründet
seine Sonderstellung. An diese Erkenntnis schließt an
A. GEHLEN, URMENSCH UND SPÄTKULTUR (41977), der den Menschen als „Mängelwesen“ definiert. Da
ihm spezifische Instinkte, spezialisierte Organe und Umweltangepasstheit im Unterschied zum Tier fehlen, muss
er dies durch kulturelles Handeln ausgleichen. Da seine Sinne die Umweltreize nicht filtern, muss er sich vom
Reiz-Reaktions-Schema freimachen. Er gewinnt eine freie, nicht triebgebundene Haltung gegenüber den
Wahrnehmungen aus der Umwelt: er kann sich den Sachen selbst zuwenden. Zugleich muss er Institutionen
schaffen, die ihn vor Reizüberflutung schützen. Gehlen suchte eine biologische Erklärung für den Geist bzw. die
kulturschöpferische Kraft des Menschen.
Die genannten Ansätze orientieren sich am Verhältnis Mensch-Tier, sie suchen das Problem zu lösen,
das Darwin erst geschaffen hatte. Für eine theologische Anthropologie können sie keine größere Rolle spielen,
denn diese ist am Verhältnis Gott – Mensch (samt allen Kreaturen) interessiert.
Neuere Ansätze gehen in Richtung auf eine „Kulturanthropologie“, die Ansätze der Biologie,
Verhaltensforschung, Psychologie, Pädagogik, Sozialwissenschaft, Ethnologie etc. miteinander kombiniert. Vgl.
dazu NEUE ANTHROPOLOGIE, HG. VON H.G. GADAMER UND P. VOGLER, 7 BDE , 1972-75. Konsens herrscht
darin, dass die Frage nach dem Menschen nicht abschließend beantwortet werden kann, weil der Mensch kein
fertiges Wesen besitzt, sondern dieses stets neu deuten und bestimmen muss. – Hier ist theologisch anzuknüpfen,
denn die Theologie weiß, dass Gottes Werk am Menschen noch nicht vollendet ist. Das Wesen des Menschen
steht noch nicht fest. Deutet man diesen Sachverhalt atheistisch, kommt man wie J. P. SARTRE zu dem Schluss:
„L‘existence précède l’essence“; der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht (IST DER
EXISTENTIALISMUS EIN HUMANISMUS?, 1947). Der Streit zwischen Philosophie und Theologie geht also um die
Freiheit des Menschen: Hat er sie aus sich selbst, oder kommt sie ihm nur von Gott zu?
7
2. Ein Gang durch die biblische Schöpfungs- und Urgeschichte
Die Bibel hat der Menschheit eine bestimmte Ursprungsgeschichte vorgeordnet, sie hat ihr
einen anderen Ursprung erzählt. – Es gibt verschiedene Ursprungserzählungen. Sie machen
die Welt lesbar (Vgl. H. BLUMENBERG, DIE LESBARKEIT DER WELT). Sie stehen in Konkurrenz
zueinander, aber man kann nicht fragen: Welche ist wahr, sondern: Welches Weltverständnis
wird durch sie begründet? Welche Sinn-, aber auch Veränderungspotenziale enthalten sie?
Welche Verheißungen geben sie frei? Wem nützen sie? Welche Überordnung und Herrschaft
wird durch sie gestützt? – Die Interpretation von „Fakten“ folgt in der Regel der Logik der
Erzählung.
Trotz ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit hat die biblische Schöpfungserzählung jahrhundertelang ihre
Plausibilität behalten. Menschen haben durch sie die Welt verstanden. Bis heute ist sie Gegenstand zahlloser
Interpretationen. So schlecht kann sie nicht sein. Erst die Evolutionstheorie (-erzählung) bestritt ihre
Alleingeltung – mit welchen Folgen?
2.1 Zur Eigenart der biblischen Schöpfungsgeschichte. Erklären und Verstehen
Der (die...) Verfasser ist ein gläubiger Israelit. Er weiß von Gottes Handeln an der Welt
(mindestens) folgendes:
• Gott gibt Gebote/ Verbote/ Erlaubnisse/ Verheißungen (= Tora). Die Tora ist der Weg
zum Leben (Lev 18,5/ Dtr 30, 15-20: Wenn du diese Gebote tust, wirst du leben).
• Gott ist an der Fruchtbarkeit interessiert, auch da, wo sie biologisch nicht mehr möglich
ist (Abraham und Sara).
• Gott hat den Sabbat eingesetzt, das ist eine Grundordnung für alle Lebewesen (Ex 20,10: Da
•
•
darfst du keinerlei Werk tun, weder du selbst noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch
deine Magd, noch dein Vieh, noch der Fremde, der sich in deinen Toren aufhält).
Gott hat einst Israel aus Ägypten herausgeführt, d.h. er hat Israel von Ägypten
unterschieden und getrennt und damit etwas ganz Neues begonnen. (Er hat das Meer gespalten,
vgl. Ex 14,21; Die Wasser spalteten sich, mit Gen 1,6: es scheide sich Wasser und Wasser).
Er weiß auch: Menschen tun sich oft schwer mit Gottes Geboten, sie meinen es besser zu
wissen.
Aus diesen fünf Elemente kann man sich leicht erklären, wie es bei der Schöpfung
zugegangen ist. Sie lassen sich formalisieren:
• Gott handelt durch sein (gebietendes usw.) Wort. Dieses Wort gibt Leben.
• Gott will fruchtbares, wimmelndes, vielfältiges Leben.
• Der Sabbat ist der Höhepunkt der Schöpfung.
• Unterscheiden ist schöpferisch (Diese Erkenntnis hat die „Systemtheorie“ wiedergewonnen: GEORGE
•
SPENCER BROWN, LAWS OF ORDER, NEW YORK 1979, ERSTER SATZ: „Draw a distinction“. Bei Luhmann
passim: Neue Systeme entstehen, wenn eine Unterscheidung getroffen wird; dadurch werden Fremd- und
Selbstreferenz möglich).
Das Hauptproblem der Welt ist der Widerstand der Menschen gegen Gottes
lebensschaffendes Gebot; dadurch kommt unnötiger Tod in die Welt.
Mit diesen Elementen will die Schöpfungserzählung die Schöpfung erklären. – Die neuere Theologie hat sich in
einen falschen Gegensatz von Erklären und Verstehen drängen lassen: Die Naturwissenschaft erklärt die Welt,
die Bibel will sie verstehen. Es gilt aber: Erzählung und Erklärung bedingen sich gegenseitig. OSWALD BAYER,
ART. SCHÖPFER/ SCHÖPFUNG VIII: SYSTEMATISCH-THEOLOGISCH, TRE 30, 326-348, hier 344: „Eine Erzählung
ohne Erklärung wäre leer, eine Erklärung ohne Erzählung blind“ (Vgl. I.Kant: Begriffe und Anschauung).
Aus diesen Elementen ist klar: Die Schöpfung ist nicht aus der Natur(ordnung) ableitbar!
Gottes schöpferisches Wort ist ein anderes Gesetz als das der Natur! Das fruchtbare
Gewimmel der Lebewesen wird durch den Kampf ums Dasein (das Recht des Stärkeren)
eingeschränkt, vor allem unter Menschen; dagegen ist Gott. Der Sabbat (7-Tage-Rhythmus)
ist nicht in der Natur gegeben. Und vor allem: In der Natur gibt es zwar vielerlei
Unterscheidungen, aber die Welt kann sich nicht von sich selbst unterscheiden. Und so auch
nicht der Mensch, vgl. oben 1.1.2. Die biblische Schöpfungserzählung kennt erstmals
„Transzendenz“, sie macht die Welt zu etwas Unterschiedenem und damit frei vom Zwang
der Naturgesetze (Bsp.: Ein Kind lernt eine Instanz außerhalb der Familie kennen).
8
2.2 Zu einigen Zügen der Schöpfungserzählung Gen 1,1 – 2,25 (in kanonischer Lektüre)
• „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“
– Es gibt ein Gegenüber zu Erde und Himmel! Alle anderen Schöpfungsmythen schildern die Erschaffung der
Erde aus den (Götter-)Himmeln, z.B. dem Olymp. Sie kennen nur eine relative Transzendenz. Die Gesetze der
Welt (Kampf, Neid, Liebe, Eifersucht) sind dort immer schon vorausgesetzt. M. WELKER, UNIVERSALITÄT
GOTTES UND RELATIVITÄT DER WELT, NEUKIRCHEN-VLUYN ²1988; DERS., SCHÖPFUNG UND WIRKLICHKEIT,
EBD. 1995: Himmel ist der relativ unzugängliche und unermessliche Teil der Welt – er ist Teil der Welt. Der
Himmel ist der Raum der Mächte und Gewalten. Diesen sind wir nicht ausgeliefert, wenn es eine Instanz über
ihnen gibt, die sie erschaffen hat. Die religiöse Urversuchung: Die Verwechslung von Gott und Himmel. – Vgl.
aber „Vater unser, der du bist im Himmel“: Gott ist – nur relativ unzugänglich – in unserer Welt!
– „Creatio ex nihilo“: 2 Makk 7,28: „Ich bitte dich, mein Kind, schau auf zum Himmel und blicke hin auf die
Erde und auf alles, was darin ist. Bedenke, dass Gott dies nicht aus schon Bestehendem gebildet hat und dass
auch das Menschengeschlecht so entstanden ist.“ So ermuntert die Mutter ihren Sohn zum Widerstand gegen das
Gesetz des ungerechten Tyrannen. Gott macht frei von bestehenden Gesetzen. Nur seinem Gesetz ist zu folgen.
– Ohne Gott wäre nichts. Nur wegen Gottes Güte und Barmherzigkeit ist überhaupt etwas, wird die Welt vor der
Bedrohung durch das Nichts bewahrt. O. BAYER, ART. SCHÖPFER aaO. 329f: Schöpfung ist bereits
Rechtfertigungsgeschehen! Ein Anspruch der Geschöpfe auf Selbstbewahrung und Selbstbegründung ist radikal
ausgeschlossen. Und das ist gegen die Naturordnung, denn die heißt: Selbstbewahrung.
LUTHER, KLEINER KATECHISMUS, ZUM ERSTEN GLAUBENSARTIKEL: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat
samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat
und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und
alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider
alle Fährlichkeit beschirmet und vor allen Übeln behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher,
göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu
loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.“
•
"Die Erde ... wüst und leer. Finsternis ... Geist Gottes schwebte über den Wassern.“
Dies ist keine Aussage über den Urzustand der Erde, sondern über die Erde, die (noch) nicht von Gottes Geist
erfüllt ist. Röm 8,22f.26: „Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt.
Und nicht nur das, auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes besitzen, auch wir seufzen in uns selbst in der
Erwartung der Erlösung unseres Leibes. ... Da tritt der Geist selbst für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“
Der Geist Gottes ist biblisch das Prinzip von Lebendigkeit, die aus der Vielfalt kommt, die aus der Gerechtigkeit
kommt, die aus Gottes Wort kommt. Und das kommt jetzt:
•
„Gott sprach: Es werde...“
– Gottes erstes Wort: ein Gebot, eine Aufforderung. Seine Tora ist schöpferisch! Sie besiegt das Nichts, die
Bedrohung und die Krankheit – so noch in Jesu Wundern (vgl. Mk 4,39: er gebot dem Wind und der See; Mk
9,25 zum unreinen Geist: Ich befehle dir, fahr aus; u.ö.)! TALMUD, ABOTH I,2: „Auf dreierlei hat die Welt
Bestand: auf der Tora, dem Gottesdienste und den Liebeswerken.“ Ebd. II,9: „Hast du viel Tora gelernt, so
rechne es dir nicht als Verdienst an, denn dazu bist zu ja geschaffen worden.“
– „Gott sprach“: Das Gegenüber der Welt – ein Wort. Nicht aus „Ursachen“ ist die Welt erschaffen, sondern aus
dem Sprechen Gottes. Schöpfung ist Anrede, die auf Antwort aus ist, ist Kommunikation (vgl. O.BAYER,
SCHÖPFUNG ALS ANTWORT, TÜBINGEN ²1990). Ein kausales Verständnis wird der Welt nicht gerecht
(Aristoteles: Gott als erste Ursache, höchstes Sein), sondern ein kommunikatives. Gottes Wort ist
Kommunikationsmacht und zur Kommunikation ermächtigend, ist Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft.
Zugleich auch: Streit im Wort um die Wirklichkeit, ein Ausfechten von Ansprüchen, d.h. um die Bestimmung
dessen, was wirklich und bestimmend ist: forensisches Weltverständnis, das ist biblisch. Auf dem Forum
(Gerichtsort) wird um die Wahrheit gestritten. Gottes Wort ist immer ein Rechtswort, das unterscheidet
(zwischen Licht und Finsternis etc.). Das alles bedeutet: die Tora war da von Anbeginn der Welt. So aber
vielleich auch schon der älteste philosophische Text des Abendlandes, ein Fragment von Anaximander von Milet
(Fragmente der Vorsokratiker, 1951, B 1, hier nach BAYER, ART. SCHÖPFER AAO. 332): „Aus welchen Dingen
aber die Genesis ist für die seienden Dinge, in diese hinein geschieht auch das Vergehen nach Schuldigkeit.
Denn es geben die Dinge einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Anordnung der Zeit.“
Positiv gewendet findet sich dieses kommunikativ-forensische Weltverständnis im TALMUD, ABOTH III,20:
„Alles wird gegen Bürgschaft gegeben, und ein Netz ist über alles gebreitet. Der Laden ist offen, der Krämer
borgt, das Buch ist aufgeschlagen, wer borgen will, mag kommen und borgen. Die Schuldforderer gehen
beständig, jeglichen Tag, umher und treiben vom Menschen Zahlung ein, mag er wollen, mag er nicht wollen,
denn sie haben worauf sie sich stützen. Der Rechtsspruch beruht auf Wahrheit, und zum Mahle ist alles bereitet.
(R. Aqiba)“ – Anthropologische Konsequenz: Die Beziehungen zwischen Menschen lassen sich am besten als
Rechts- und Schuldforderungen beschreiben: Ich darf borgen, vom anderen nehmen. Wir können einander
behaften. Was bin ich dem anderen schuldig? Wie kann ich ihm gerecht werden? Für die Bibel ist das Recht die
9
Sphäre der Öffentlichkeit, vgl. M. MARQUARDT, ESCHATOLOGIE BD. 1, GÜTERSLOH 1993, 221-226 – ein sehr
guter Text dazu!
– „Gott sprach“: Das Gegenüber der Welt – ein Text. Die Einheit, die Grundlage der Welt liegt nicht in dieser
selbst, sondern in Gottes Wort. Folglich ist sie aus dieser auch nicht zu deduzieren, nicht spekulativ zu
erschließen. Jeder solche Versuch endet in einem Totalitarismus (z.B. der Totalitarismus des griechischen
Seinsbegriff: dadurch wird das Nicht-Sein, die Bewegung diskreditiert). Man kann nur versuchen, den Text
Gottes immer besser zu verstehen. Aber damit kommt man nicht zuende, bevor nicht Leid, Krankheit und Unheil
aus der Welt verschwunden sind, bevor also nicht Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden ist. Noch befindet
sich Gott im Rechtsstreit mit der Welt. Erst wenn Gott „alles in allem ist“, wenn auch der Tod unterworfen ist (1
Kor 15,28), wird man erkennen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘ (= woraus alles seinen Bestand hat).
„An jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen“ (Joh 16,23). – Christen haben diesen Rechtsstreit Gottes in Jesus
vorläufig entschieden gesehen, sie haben am Gekreuzigten etwas von Gottes Textbuch (Gerechtigkeit)
verstanden und Jesus das Wort Gottes genannt, und über diese Erkenntnis gejubelt: „Denn in ihm ward alles
erschaffen im Himmel und auf Erden ... alles ist erschaffen durch ihn und auf ihn hin. Und er ist vor allem, und
alles hat in ihm Bestand“ (Kol 1,16f).
•
„Nun sprach Gott: Es werde ein Firmament inmitten der Wasser und scheide zwischen
Wasser und Wasser...“ (1,6) „Es lasse grünen die Erde Grünes, Kraut, das Samen bringt ...
Die Erde brachte Grünes hervor, Kraut, das Samen bringt nach seiner Art... (1,11f)
Wir sehen, wie Gott es macht: er scheidet, unterscheidet. Wasser oben und Wasser unten – Wasser unten und
trockenes Land – Tag und Nacht – Licht und Finsternis. Und bei allen Lebewesen heißt es immer: nach ihrer Art.
(So auch bei der 2. Schöpfung nach der Sintflut: alle Tiere ziehen ein in die Arche und wieder aus „Art um Art“:
Gen 7,19f und 8,19). Unterscheiden ist schöpferisch, wie gesagt. Gottes Wort, Gottes Gesetz unterscheidet. Die
biblisch-jüdische Kultur hat das aufgenommen: Israel und die Völker, „zunächst für die Juden und dann auch für
die Griechen“ (Röm 1,16), und all die Gebote und Verbote zu rein und unrein, zu Vermischungen (Lev 19,19)
etc.: Die biblische Kultur eine Kultur endloser Unterscheidungen, eine differenzfreundliche Kultur (Daraus
entstand der Talmud!). Damit wird kein Übereinander, sondern ein Nebeneinander begründet: eine
Lebensgemeinschaft! Auf das einzelne kommt es an, nicht auf das Abstrakte, Gemeinsame. Das unterscheidet
die biblische Kultur von anderen, von imperialen Monokulturen, die immer auf die Einheit aus waren und sind.
Wo die jüdisch-christlich geprägte Kultur schöpferisch war, da war sie es aus der Vorliebe für’s Unterscheiden.
Die moderne, hochdifferenzierte Gesellschaft, ein Erbe der Bibel. – Die griechische Philosophie hat ein
abstraktes Denken in Gemeinsamkeiten begründet. Und so auch die Geldkultur, die alle Vielfalt im abstrakten
Geldwert zusammenfasst. Das Individuum wird unsichtbar.
•
„Das Wasser wimmle, ein Wimmeln lebenden Wesens ... Gott schuf die großen
Ungetüme, und alle lebenden regen Wesen, von denen das Wasser wimmelte, nach ihren
Arten. ... Es ward so. .. Gott sah, dass es gut war.“ (1,20ff nach Buber/Rosenzweig)
An diesem Gewimmel hat Gott seine Freude, das findet er „gut“. Gott, ein Liebhaber der Vielfalt, ein Liebhaber
des Lebens. „Bellum omnium contra omnes“ (Th. Hobbes, Leviathan, zum Urzustand des Lebens) ist nicht seine
Sache. „Survival of the fittest“ (Darwin) ist nicht sein Gesetz. Er will, dass alle leben können, er ist interessiert
an dem Lebenszusammenhang der Geschöpfe, und gibt dazu sein Gesetz: für Witwen und Waisen, für Sklaven
und Ausländer, für alle Tiere und Pflanzen, vgl. Speisegebote Lev 11 und Gebote für Opfertiere Lev 1-17: das
sind ökologische Bestimmungen (A. HÜTTERMANN, DIE ÖKOLOGISCHE BOTSCHAFT DER TORA,
Naturwissenschaften 80 (1993) 147-156). Das Gesetz Gottes ist nicht das Naturgesetz. Gott will mehr Leben als
die Natur von sich aus hervorbringt. Man kann die Natur nicht sich selbst überlassen, deshalb heißt es an die
Menschen: „Macht euch die Erde untertan, herrschet über alles Getier, das sich auf Erden regt“ (1,28). Das
biblische Ideal ist nicht die wilde, unberührte Natur, sondern der Garten: „Aufs Neue wird der Geist ausgegossen
aus der Höhe; dann wird die Wüste zum fruchtbaren Garten, ... dann weilt in der Wüste das Recht, und im
Fruchtgarten weilt die Gerechtigkeit“ (Jes 32,15f). „Dann wird der Wolf bei dem Lamm zu Gast sein...“ (Jes
11,6): so wagte der Prophet zu denken. ‚Zurück zur Natur‘, das ist nicht biblisch. – Hier sieht man auch, dass die
Schöpfung noch nicht vollendet ist; Gott braucht die Mitwirkung des Menschen. – NB: Den heute vermuteten
naturgeschichtlichen Ablauf der Schöpfung setzt die Bibel als bekannt voraus: Ende der Urflut -–Vegetation –
Wassertiere –Flugtiere– Landtiere – Menschen.
•
Die sieben Tage; der Sabbat
Es ist der Erzähler, nicht Gott, der die Tage zählt. Er gibt das Zeitmaß an. Es gehört zur menschlichen Freiheit,
die Zeit zu messen und zu qualifizieren. Zeit nur als quantitativ gemessene ist fixiert auf die Vergangenheit und
hat Zukunft nur als leere Größe. Menschen wissen: die Zeit kann auch anders vergehen als die Uhr es will. Die
Zeit der Schöpfung ist qualifizierte Zeit, Zeit mit Zukunft. Schöpfung in sieben Tagen will sagen: Die Tora ist
das Zeitmaß der Schöpfung, eine Zeit, die Gott für uns eröffnet hat. Gott schenkt uns Zeit. Die Zukunft ist der
Sabbat: Zeit der Ruhe vom Werk, Zeit der Gerechtigkeit, wenn der Streit Gottes mit dem Bösen und dem Tod
zuende ist, Zeit der Menschen- und Tierrechte, Ende der Sklaverei (s. Sabbatgebot Ex 20,10; Dtn 5,12-15). Auf
diese Zukunft gehen wir zu, sie ist uns verheißen: „Kommt, lasst uns doch hinausgehen, dem Schabbat, der
10
Braut, der Königin entgegen ... Komm, Braut, komm, Braut“ (Talmud, Bawa kamma 32b). Die Leviten singen
am Sabbat „einen Psalm, ein Lied für die Zukunft, für den Tag, der ganz Schabbat, Ruhe ist, für das ewige
Leben.“ (Mischna Tamid VII,4). Aber da hören wir: „Gott vollendete am siebten Tag...“ (2,2) – der Sabbat ist
schon da! „Ein kostbares Geschenk habe ich in meiner Schatzkammer, und sein Name ist Schabbat“ (Talmud,
Schabbat 10b). O. BAYER, ART. SCHÖPFUNG aaO. 345: „Mit dem den Sabbat aufnehmenden Sonntag gehen uns
die Augen auf für das, was unserem Werk schon zuvorgekommen und vollendet ist. ... Wer sich und seine Welt
durch Arbeit und geschäftigen Konsum selbst erzeugen will, verkennt damit den Sabbat und Sonntag; er
verkennt die Rechtfertigung allein aus Glauben, die in der Unterscheidung von Sonntag und Werktag wirksam
ist und sich in ihr darstellt.“ Jeden Sonntag können wir hören, was Gott schon für uns getan hat; jeder Sonntag ist
der Anfang der Vollendung der Welt.
•
„Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich. Sie sollen
herrschen...“ (1,26-28)
Die alte Theologie sah in der Vernunftbegabung die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Aber davon gibt der
Text nichts her. Es ist nur zur Erklärung gesagt: „Sie sollen herrschen...“ (1,26 u. 1,28!): sie sollen teilnehmen
an Gottes Herrschaft über die Natur, d.h. an dem Wirken seines Geistes. Wie sich Gottes Geist zur wüsten und
leeren Erde verhält, so der Geist im Menschen (der Gottes Geist ist) zum Lehm, aus dem er genommen ist (2,7!):
das ist des Menschen Ebenbildlichkeit, das ist seine Lebendigkeit, dass er das bloß Erdenhafte aus dem Geist
gestalte, der schon in ihm ist. Der Mensch ist nicht nur ein Wesen der Natur, er ist bereits vor der übrigen Natur
Wesen des Geistes, und mit diesem Geist soll er herrschen (=die wilde Natur in einen Garten verwandeln). Darin
tut er es Gott gleich: „Gott pflanzte einen Garten in Eden ... und setzte hinein den Menschen, damit er ihn bebaue
und bewahre“ (2,8-15). Die Geistbegabung des Menschen ist Hoffnung für die gesamte Schöpfung, vgl. Röm
8,22ff.
Und es ist gesagt: „nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er ihn“ (1,27). Als
Mann und Frau, in ihrer unaufhebbaren Unterschiedlichkeit und Bezogenheit aufeinander, sind sie Bild Gottes.
Der Mensch ein Wesen des Bundes: der Gemeinschaft bleibend Unterschiedener – und darin Gott entsprechend.
Gott ist selbst ein Wesens des Bundes [auch in sich selbst: das will später die Trinitätslehre sagen].
Und es ist gesagt: „Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch...“ (1,28). Das
erste Wort an die Menschen: ein Gebot. Der Mensch, ein gebotsfähiges Wesen, und im Tun der Gebote
verwirklicht er seine Gottebenbildlichkeit, denn es heißt gleich: „Herrschet über die Fische des Meeres ...“
Talmud, Sanhedrin 38a: „Der Mensch wurde am Vorabend des Sabbat erschaffen. Warum wohl? ... Damit er
sofort an eine Gebotserfüllung gehen könne.“ Dem Gebot aber geht der Segen voran, eine göttliche Wohltat, eine
Verheißung, die sich in der Erfüllung der Gebote erfüllt: Gabe und Aufgabe [Der biblische Rhythmus von Gabe
und Aufgabe: Exodus und Sinai, Liebe und Liebesgebot]. Der Mensch ist geschaffen zum Tun des Guten, zum
Tun der Gebote, darin liegt seine Würde und Verantwortung, seine Auszeichnung von Gott her. Und darin liegt
seine Freiheit, denn das Tun der Gebote setzt Freiheit voraus. TALMUD, BERAKOTH 33b: „Alles ist in Gottes
Hand, nur nicht des Menschen Gottesfurcht“ (R. Chanina). – Der Inhalt dieses ersten Gebots: Wachset und
mehret euch, das geht nicht nur auf die Fruchtbarkeit, sondern auf das Wachsen: Durch das Tun des Guten
können Menschen noch mehr werden, als sie sind. Die Schöpfung ist erst der Anfang. Im Auftrag Gottes können
und sollen die Menschen mehr werden, können und sollen die Welt gestalten. Für die Bibel ist die Schöpfung
nicht der ideale Urzustand, sondern der Anfang. – LEO BAECK, DAS WESEN DES JUDENTUMS, KÖLN 1960, 168f:
„Die Gotteskindschaft trägt die ganze Fülle des Gebotes in sich; sie ist gewissermaßen der Obersatz aller
Gebote. Denn je größer die Gabe, desto umfassender die Verantwortlichkeit, die aus ihr folgt. In der
unvergleichlichen Bedeutung unseres Lebens liegt seine unermeßliche Bestimmung: Du bist göttlich, also
bewähre dich auch als göttlich. Der Mensch ist im Ebenbilde Gottes geschaffen, das heißt also auch: von jedem
Menschen kann das Höchste gefordert werden. Auf sittlichem Gebiete soll jeder ein Genie sein.“
Gottesebenbildichkeit heißt also (mindestens): Der Mensch ein Wesen des über die Mächte der Natur
herrschenden Geistes Gottes – des Bundes – des Gebotes. Das ist wie die Reihenfolge: Exodus – Bundesschluss
– Gabe des Gesetzes! (Vgl. auch Joh 13: Jesu Stunde ist gekommen (=Tod als Hinübergehen zum Vater, Sieg
über den Tod) – Fußwaschung (neuer Bund, Neudefinition von Herr und Knecht) – ‚Ein neues Gebot gebe ich
euch...‘)
•
„Gott segnete den siebten Tag“ (2,1-3)
Vollendung der Schöpfung ist der Sabbat, der nur eintritt, wenn das Gebot gehalten wird. Der Segen der
Schöpfung erwächst aus der Erfüllung der Gebote.
•
„Gott pflanzte einen Garten ... und setzte den Menschen hinein, damit er ihn bebaue...“
(2,8-15)
Dieser Garten hat einen konkreten Ort: zwischen Pischon und Gischon (heute unbekannt), zwischen Euphrat und
Tigris (das fruchtbare Land inmitten der Wüste). Eden ist nicht eine ferne Utopie! Mitten darin der Baum des
Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (vermutlich sind beide identisch; der Text ist nicht
eindeutig. Später ist nur noch von einem Baum die Rede). Erkenntnis von Gut und Böse ist richterliche
Erkenntnis, Erkenntnis aus dem Gesetz (hier ist nicht die philosophische Erkenntnis des Guten und des Bösen
11
gemeint)! Wird der Erkenntnis von Gut und Böse nach dem Gesetz gefolgt, ist man im Garten Eden, beim Baum
des Lebens und bei den Bäumen „lieblich anzuschauen und gut zu essen“. Das Gesetz Gottes eröffnet den
Zugang zur Fülle der guten Schöpfung Gottes: „ein Strom ging aus von Eden, den Garten zu bewässern...“ (vgl.
dazu unbedingt Ez 47, Vision von der Tempelquelle, die das Land gen Osten mit Fruchtbarkeit erfüllt; das
fruchtbare Wasser ist die Tora, vgl. Ez 40-46. Das Paradies ersteht neu, wenn die Tora gehalten wird!).
•
„Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen. Von dem Baum der Erkenntnis von Gut
und Böse darfst du nicht essen ... (sonst) musst du sicher sterben“ (2,17)
Das zweite Wort Gottes an den Menschen, wieder ein Gebotswort (Erlaubnis/Gebot/Verbot – so pflegt Gott mit
den Menschen zu reden). Die Erlaubnis geht voran: Gott überlässt uns die Fülle der Schöpfung. Das Verbot ist
mittlerweile klar: Wer sich vom Gesetz Gottes scheidet, Gut und Böse aus anderen Quellen bestimmen will, geht
zugrunde. Vgl. Dtn 30,17-20: „Wenn sich aber dein Herz wendet und du nicht gehorchst, dich verführen lässt,
fremde Götter anzubeten und ihnen zu dienen, so kündige ich euch an: ihr werdet unfehlbar zugrunde gehen...“
Diese Erfahrung hat Israel ja gemacht, das ist also geschichtlich beglaubigt. [Die Stelle zeigt: es geht vielleicht
nicht um Autonomie vs. Gehorsam, wie man immer ausgelegt hat, sondern um Gehorsam gegen Gott vs. Dienen
anderer Götter. Irgendeinem Gesetz gehorcht der Mensch immer.] Nur Gottes Gesetz ist zum Leben.
•
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei ... endlich Fleisch von meinem Fleisch ... “
(2,18-25)
Gott weiß vorher, was der Mensch braucht. Er ist zuvorkommend, darauf kann man sich verlassen. (Jesus: „Euer
Vater weiß ja, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet“, darum brauchen wir nur zu beten: „Dein Wille geschehe“,
dann ist bestens für uns gesorgt, Mt 6,8.10; vgl. BAYER, ART. SCHÖPFUNG aaO. 331f.) Der Mensch, als Wesen
des Bundes, braucht vor allem einen Bundespartner, ihm ungleich und doch mit ihm verbunden: Mann und Frau.
Die beiden können dann eine Bundesgemeinschaft, d.h. „ein Fleisch“ bilden (2,24), eine neue soziale Einheit,
nachdem sie Vater und Mutter verlassen haben (Eph 5,31 deutet das ‚ein-Fleisch-werden‘ gut biblisch auf die
Bundesgemeinschaft Christus-Kirche).
„Dann baute Gott die Rippe ... zu einem Weibe“ (2,22): Muss man das verstehen wie Paulus, 1 Kor
11,3-12: Der Mann Abglanz Gottes, die Frau Abglanz des Mannes, weil die Frau ja aus dem Mann ist – also
Unterordnung (Pls ist sich selbst nicht sicher, s. V.12: wie die Frau vom Mann, so der Mann von der Frau, alles
aber aus Gott)? Der Text hebt aber gerade die Gleichheit hervor: Bein von meinem Gebein... sie soll ‚ischa‘
heißen, weil sie vom ‚isch‘ genommen ist. – Aus der Seite/Rippe genommen: aus dem Zentrum von Lebenskraft,
Wille und Verstand, vgl. H. W. WOLFF, ANTHROPOLOGIE DES ALTEN TESTAMENTS, München 1973, 68ff. – Die
Frau wird mit Freude empfangen: „Diesmal ist sies!“ (Buber/Rosenzweig). Von Unterordnung keine Spur, wie ja
auch schon 1,27 nicht.
„Sie schämten sich nicht voreinander“: Sie hatten eine Partnerschaft/Bundesgemeinschaft, sie nutzen
sich nicht gegenseitig aus. Scham kommt aus dem Gefühl, ausgenützt zu werden (z.B. als Objekt der Begierde)
oder andere auszunützen. Die Bundesgemeinschaft verhindert gerade dieses. Vgl. CHR. GESTRICH, DIE
WIEDERKEHR DES GLANZES IN DER WELT, Tübingen 1996, 227-230.
2.3
Der „Sündenfall“ Gen 3
Dieser Text ist so beladen mit Deutungen, dass wir uns hier ganz nah an die Worte halten. In der Vergangenheit
wurde in zwei Richtungen ausgelegt: 1. Die Sünde war Auflehnung gegen Gottes Autorität und Herrschaft, der
Mensch will nicht dienen. Gott straft das wie ein grausamer Despot – die traditionell christliche Deutung. 2. Im
Gegenzug dazu erblickte die Neuzeit in der „Sünde“ den ersten Schritt zur Aufklärung, zur Autonomie, zur
Selbstständigkeit, zum Erwachsensein. F. Schiller: „Die glücklichste und größte Begebenheit in der
Menschheitsgeschichte ... hier wurde seiner Moralität der erste, entfernte Grundstein gelegt“ (zit. nach GESTRICH
aaO. 116; zum Ganzen ebd. 114-127).
•
„Die Schlange war listiger als alle Tiere ... sie erkannten, dass sie nackt waren“ (3,1-7)
Die Schlange weckt Zweifel an der Richtigkeit von Gottes Geboten (=Erkenntnis von Gut und Böse). Tatsächlich
ist es eine grundbiblische und –jüdische Erfahrung, dass nicht alle Gebote in ihrem Sinn einsehbar sind; daraus
kommt eine große Anfechtung! Es mag sich an der Gestalt Evas die Erfahrung in Israel festgemacht haben, dass
es vor allem die ausländischen Ehefrauen waren, die diese Zweifel weckten, vgl. Salomos Frauen, 1 Kön 11,113, die ihn zum Götzendienst verführen; die Königin Isebel im Elija-Zyklus, 1 Kön 17-21; das Problem der
fremden Frauen in Esra 9 u. 10 („Bei diesem Treubruch war die Hand der Fürsten und Vorsteher voran“ – solche
Ehen wurden zumeist aus politischen Gründen geschlossen). Auf die ausländische Herkunft des Zweifels
verweist auch die Schlange, Kulttier in allen angrenzenden heidnischen Religionen. Das Zweifeln ist nicht
schuldhaft, jede Gesetzesauslegung lebt aus der Frage nach dem Sinn des Gesetzes. Schlimm wird es aber, wenn
das zweifelnde Nachdenken von der Begierde gesteuert wird („der Baum gut zu essen, lieblich anzusehen,
begehrenswert“). Es ist diese gefährliche Mischung von Zweifel und Begierde (Habermas: Erkenntnis und
Interesse), diese Vernebelung und Verblendung der Erkenntnis, die zur Übertretung des Gebotes führt (Dabei
weckt das Verbot verhängnisvollerweise auch noch die Begierde; auf dieses Verhängnis des Gesetzes reflektiert
Paulus in Röm 7,7). Damit ist aber gleich schon gegeben eine eigene Erkenntnis von Gut und Böse, ein eigenes
Gesetz – d.h. wie Götter (pl.) sein, die Gutes und Böses erkennen (Eritis sicut Deus – das ist hier nicht so
12
dramatisch verstanden, als wolle sich der Mensch an die Herrschaftsposition Gottes setzen; es geht nur um die
richterlich-gesetzliche Erkenntnis von Gut und Böse). – Wird aber das Gesetz Gottes verworfen, kommt in
irgendeiner Variation gleich wieder das natürliche Gesetz zum Zuge: Selbsterhaltung als Grundregel des
Handelns; im Zweifelsfall wird dann der andere immer benutzt; Scham kommt auf: „Sie erkannten, dass sie
nackt waren“. – Der Sündenfall besteht nach dieser Interpretation darin: ein in seinem Sinn nicht einsichtiges
Gebot Gottes (1. Anlass zur Sünde) wird gar nicht mehr näher geprüft, sondern aus Begierde nach dem
Verbotenen (2., massgeblicher Anlass zur Sünde) gleich übertreten; damit ist der Anspruch verbunden, besser zu
wissen als Gott, was gut und böse ist. – Gegenmittel zur Sünde ist damit 1. Das ruhige Studium nach dem Sinn
des Gesetzes (Ps 1: Selig der Mann, der Freude hat an der Weisung Gottes und über seiner Weisung murmelt bei
Tag und bei Nacht) und 2. Die Besiegung der Leidenschaften, der Begierde (was vermutlich leichter ist, wenn 1.
stattfindet). – Talmud, Ketubbot 5a: „Wichtiger als die Erschaffung von Himmel und Erde ist die Erschaffung
von Bewährten“ (= die die Tora unbedingt, trotz aller Anfechtungen, halten). Joma 38b: „Sogar um eines
einzigen Bewährten willen wäre die Welt erschaffen worden.“ Zur Leidenschaft und Begierde: „Was bedeutet
der Vers: Nicht sei ein fremder Gott in dir (Ps 81,10)? Welcher fremde Gott ist’s, der im Leibe des Menschen
west? So sage doch: Das ist die böse Leidenschaft!“ (Schabbat 105b). „Immerzu erzürne der Mensch die gute
Leidenschaft gegen die böse Leidenschaft ... Wenn er sie besiegt, ist’s gut; wenn aber nicht, beschäftige er sich
mit der Weisung“ (Brachot 5a). Jüdisches Denken weiß um die Macht von Begierde und Leidenschaft, die
Menschen immer wieder die Gebote übertreten lässt („Die Leidenschaft eines Menschen besiegt diesen
alltäglich“, Sukka 52a), aber es hält die Möglichkeit der Umkehr immer offen: „Jeder, der seine Leidenschaft als
Opfer darbringt und sie bekennt, dem lässt es die Schrift gelten, als ob er den Heiligen, gelobt sei er, in beiden
Welten verehrt hätte, in der hiesigen Welt und in der kommenden Welt“ (Sanhedrin 43a/43b).
•
„Da vernahmen sie den Schritt Gottes ... Die Schlange hat mich verführt“ (3,8-13)
Da wird von einem beiderseitigen Verborgensein erzählt: die Menschen verbergen sich vor Gottes Angesicht
(3,8), vor seiner Nähe und Zuwendung, und Gott findet die Menschen nicht mehr: „Wo bist du?“ (3,9) M.
MARQUARDT, WAS DÜRFEN WIR HOFFEN BD. 3, Gütersloh 1996, 187: „Er sieht sein Ebenbild nicht mehr ... er
fehlt sich selbst in jener Beziehung, zu der er sich bestimmt hatte, ... in Bezug auf die er Gott sein wollte. ... sein
Ruf nach den ihn verborgenen Menschen ... ein Schmerzensschrei Gottes nach dem, was ihm an sich selbst fehlt“
(zum Abschnitt ebd. 186-194). Ein Bundesgott ohne Bundespartner. Das ist gar nicht der Gott, der die
Auflehnung der Menschen bestraft. Und auch die Menschen nicht in der Rolle der Empörer. Sie wälzen die
Verantwortung ab: der Mann auf die Frau, die Frau auf die Schlange: Feigheit als erster Charakterzug. Aber Gott
nimmt sie ernst, er fragt sie, wie in einer Gerichtsverhandlung (Marquardt: So wird es dereinst beim Gericht
sein, Gott will wissen, wie es wirklich war. Darum wird Christus der Richter sein, der kennt die Menschen
besser).
•
„Weil du das getan hast ... zum Staub musst du zurückkehren“ (3,14-19)
Die „Sündenstrafen“ ändern nichts an den Verhältnissen, es ist nur, dass auf allem jetzt ein Fluch lastet:
„verflucht bist du, ... verflucht sei der Erdboden...“ Der Segen, der aus dem Geist und dem Gesetz kommt (s.o.),
ist dahin, es herrscht jetzt das Naturgesetz der Selbsterhaltung und Vereinzelung. Dadurch wird alles mühsam:
das Leben wird ein Kampf ums Dasein. Auch die menschlichen Beziehungen werden zerstört: Verlangen und
Herrschaft bestimmen sie (3,16). Diese Strafen werden nicht von Gott verhängt, sie ergeben sich als Folge aus
der Verwerfung des Gesetzes. – Der leibliche Tod ist nicht Folge der Sünde, wie es ausdrücklich heißt: „Staub
bist du, zum Staube musst du zurückkehren“ (3,19) – das war schon vorher so. Nur der verfrühte, der unnötige,
der gewaltsame Tod stellt sich ein, wenn man Gottes lebensförderndes Gesetz verwirft. So die syrische
Baruchapokalypse, 56,6: „Denn als er übertreten hatte, ist der vorzeitige Tod gekommen, und Trauer ward
genannt und Trübsal, die Krankheit ward geschaffen und Mühsal vollendet“ (zit. nach M. Theobald, Römerbrief
1-11, Stuttgart 1992, 165)
•
„Eva, Mutter aller Lebendigen ... er stellte die Cheruben auf, den Weg zum Baum des
Lebens zu hüten“ (3,20-24)
Ein tröstlicher Ausgang: Eva (Chawwa=Leben) behält die Kraft zum Leben, wird Mutter aller Lebendigen. Gott
selbst macht Mann und Frau Fellkleider und bekleidet sie: auch im harten Leben nicht ungeschützt (Ist des
Paulus häufige Metapher „den Herrn Christus anziehen“ – Röm 3,14; Gal 3,27; 1 Thess 5,8 u.ö. – davon
inspiriert? Christus, das Kleid gegen Sünde und Tod). Gott will dafür sorgen, dass die Menschen mit ihrem
eigenen Gesetz („der Mensch ist geworden wie einer von uns, so dass er Gutes und Böses erkennt“ = er ist nun
auch Gesetzgeber geworden) nicht auch das Prinzip des Lebens angreifen („dass er nicht seine Hand ausstrecke
und von dem Baum des Lebens nehme und esse“) und dieses korrumpieren. „Ewig leben“ (3,22) nach diesem
Gesetz wäre die Hölle. Darum muss der Weg zum Baum des Lebens bewacht/behütet werden, Gott stellt dazu
die Cheruben auf mit dem flammenden Schwert. Versperrt ist der Weg nicht: der Weg führt über die
Bundeslade, in der die Tora aufbewahrt wird, dort sind die Cheruben angebracht (Ex 25,18-22: auf der
Versöhnungsplatte/Kapporet), von dort her wird Gott seinem Volk begegnen und mit ihm sprechen. Später sind
die Cheruben im Tempel (1 Kön 6,23-28), nach dessen Zerstörung sieht Ezechiel sie auf dem Thronwagen (Ez 1
u. 10), mit dem Gott, nun beweglich, seinem Volk bis ins Exil nachreisen kann. Der Thronwagen bringt die neue
Tora. Später sieht Paulus Christus als den Cherub auf der Kapporet, „um seine [Gottes] Gerechtigkeit zu
13
erweisen“, mit der er uns gerecht macht (Röm 3,25). Die Cheruben, allezeit Wächter der Tora und der
Gerechtigkeit Gottes, behüten und weisen den Weg zu Baum des Lebens.
2.4 Fortgang der Urgeschichte bis zu Abrahams Berufung
Die weitere Urgeschichte Gen 1-11 erzählt die Weltgeschichte der Menschheit ohne Gottes
Gesetz. Was geschieht, wenn die Menschen nach ihrer Erkenntnis von gut und böse handeln?
Gen 4: Kain tötet Abel. Gottes Segen gerät unter die Knappheitskalkulation, wird ökonomisch verrechnet;
auf wessen Arbeit ruht mehr Segen? Gott aber schützt Kain... Kain, der erste Städtebauer (4,17): Mit den Städten
beginnt Geldwirtschaft und Gesellschaftsordnung.
Gen 6,1-6: Göttersöhne und Menschentöchter: Gewalt gegen Frauen! Göttersöhne (?)/ Helden der Vorzeit
nehmen sich die Frauen, die ihnen gefallen – die Begierde regiert. Gott erkennt, was sein Geist im Menschen
(=Herrschen über die Natur) anrichten kann. Wir hören erstmals: Der Mensch ist auch Fleisch (Joh 3,5-6; Röm
8,13). Gott begrenzt die Lebenszeit der Menschen.
Gen 6,5-9,17: Die Sintflut. Gott erkennt, dass die Bosheit der Menschen groß ist und ihre Gedanken
allezeit nur auf das Böse gerichtet sind; die Schöpfung reut ihn! „Die Erde füllte sich mit Gewalttat. Gott sah die
Erde: verderbt war sie, denn alles Fleisch hatte seinen Wandel auf Erden verderbt“ (6,11f). Aber da gibt es einen
Gerechten, Noach, und wir wissen ja bereits: „Sogar um eines einzigen Bewährten willen wäre die Welt
erschaffen worden“ (Joma 38b). Mit dem Gerechten versucht Gott es erneut, die Schöpfung ersteht neu, mit allen
Tieren nach ihrer Art (6,20; 8,19). Aber diesmal verzichtet Gott auf ein Gesetzeswort an alle Menschen; er hat
sich mit den Menschen so wie sie sind versöhnt! „Ich will die Erde nicht wieder um den Menschen willen
verfluchen, denn das Gedankengebilde des Menschen ist böse von Jugend an“ (8,21). Er schließt einen Bund mit
diesen Menschen, die Fleisch sind: „Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich zwischen mir und allem Fleisch,
das auf Erden ist, geschlossen habe“ (9,17). Gott reguliert sich in seinem berechtigen Zorn, hält sich selbst an
das Gesetz des Bundes: „Wenn der Bogen in den Wolken erscheint, werde ich ihn ansehen, um des ewigen
Bundes zwischen Gott und allem Fleisch zu gedenken“ (9,16). – Der Bund mit Noach, Vorgänger aller späteren
Bundeschlüsse, ist perfekte Rechtfertigung! Gott will auch mit den sündigen Menschen Gemeinschaft haben, er
lässt sie in ihrer Bosheit nicht allein. Der Bund besteht aus Gnade und Gebot. Er schützt die Menschen vor dem
berechtigten Zorn Gottes („nicht noch einmal will ich alle Lebewesen vertilgen“, 8,21=Gnade), und er schützt
die Tiere und die Menschen vor den Folgen der Bosheit (Fleisch mit seiner Seele, nämlich dem Blut, dürft ihr
nicht essen; wer (Menschen-)Blut vergießt, dessen Blut wird Gott fordern: 9,3-5=Gebot). NB: Diese
Bestimmungen bilden den Kern der späteren sog. Noachidischen Gebote [Rechtspflege; Enthaltung von
Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub, Blut eines lebenden Tieres], die nach Meinung
der Rabbiner für alle Menschen, nicht nur für Juden, gelten, vgl. TALMUD, SANHEDRIN 56A; AWODA ZARA 64B;
KLAUS MÜLLER, TORA FÜR DIE VÖLKER, BERLIN 1994; F.W. MARQUARDT, WAS DÜRFEN WIR HOFFEN BD.I,
GÜTERSLOH 1993, 200-335 (zur Bedeutung dieser Gebote).
Gen 11: Der Turmbau zu Babel. Das Gesetz der Selbsterhaltung („damit wir uns nicht über die ganze
Erde zerstreuen“) gerät bei den Menschen zu unbegrenzter Machtanhäufung: „Wohlan, lasst uns eine Stadt und
einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht“ (11,4). Damit ist gegeben: totalitärer Einheitszwang:
„ein Volk ... eine Sprache“ (11,5). Die Gott so liebe Vielfalt der Schöpfung geht verloren. Die Verwirrung der
Sprache sichert dagegen ein Mindestmaß an Vielfalt.
Gen 12,1-3: Abrahams Berufung. Gott macht einen neuen Anfang in der Weltgeschichte. Er handelt nicht
mehr an allen, sondern beginnt bei der Berufung einzelner. Dieser einzelne soll für alle zum Segen werden („ich
will dich segnen ... du sollst ein Segen sein“); so soll der Segen wieder in die Welt zurückkehren. Das bleibt
seitdem die Art des göttlichen Handelns an den Menschen: Erwählung – Berufung – Sendung. – In dieser
Struktur liegt bereits die wesentliche anthropologische Aussage der Bibel: Der erwählte, der von Gott geliebte
Mensch kann und soll für andere dasein. Freies Dasein für andere aus der Kraft der Erwählung Gottes ist seit
Abraham die Berufung des Menschen. (Der Gegensatz dazu ist erzwungenes Dasein für sich selbst, für die
eigene Selbsterhaltung: das Gesetz der „Natur“.)
Die Abfolge der Urgeschichte gibt die Problemlage der christlichen Anthropologie vor: Der
Mensch ist 1. ein gutes Geschöpf Gottes (Gen 1 u. 2); 2. ein Sünder (Gen 3-11) und 3.
eine neue Kreatur kraft der Gnade Gottes (Gen 12). Die Frage ist dann: Wie sind diese
drei Bestimmungen auf ein Subjekt zu beziehen? Vgl. TRAUGOTT KOCH, ART. MENSCH, TRE BD. 22,
547f. Die Theologie hat diese Fragestellung meist umgangen, indem sie die drei Bestimmungen in einer (heils-)
geschichtlichen Abfolge darstellte: Gutes Geschöpf im Paradies, Sünder seit dem Sündenfall, neue Kreatur seit
Christus; s.u. Status-Lehre. Aber damit ist das Problem entschärft. Einen Hinweis auf die Lösung des Problems
gibt Paulus, wenn er sagt, dass der Mensch zugleich ‚im Geist‘ und ‚im Fleisch‘ sein kann. Darum nun zu
Paulus.
14
3. Klassische Positionen und Texte der theologischen Anthropologie: Paulus –
Augustinus – Luther
3.1 Paulus: Der Mensch zwischen Geist und Fleisch. Zu Röm 7,1-8,17
Der Römerbrief richtet sich an die römische Gemeinde, in der offenbar judenchristliche und heidenchristliche
Gruppen darüber stritten, inwieweit dem mosaischen Gesetz noch zu folgen sei, vgl. vor allem Kap 14 (Wer dem
Verbot des Götzenopferfleisches folgen wollte, war in Rom praktisch gezwungen,Vegetarier zu werden). Paulus
will zur Klärung der Konflikte beitragen. Zugleich ist der Brief seine theologische Selbstvorstellung in Rom, wo
man ihn noch nicht kannte. Er hat deswegen auch einen über den Anlass hinausgehenden Traktatcharakter. Das
Problem des Gesetzes wird grundsätzlich angegangen, d.h. mit Blick auf die Bedeutung, die das Gesetz für die
Juden hat. Paulus, ehemaliger Pharisäer, war selbst in gesetzesfreundlicher Tradition aufgewachsen und hatte sie
tief verinnerlicht. Darum trägt der Brief auch sehr persönliche Akzente. In 7,1-8,17 finden wir eine
anthropologische Engführung des Problems. Vgl. M. THEOBALD, RÖMERBRIEF KAP. 1-11, STUTTGART 1992, 1127.
3.1.1 Die Stellung von 7,1-8,17 im Gesamtaufbau des Briefes
1,1-6: Paulus, berufen zum Apostel für die Heiden durch Christus, den Sohn Gottes in Macht („... eine politische
Kampfansage an die Cäsaren“: J. TAUBES, DIE POLITISCHE THEOLOGIE DES PAULUS, MÜNCHEN 1993, 27).
1,8-15: Dank für den Glauben der Gemeinde; Wunsch des Paulus, nach Rom zu kommen.
1,16-17: Motto, Zentralgedanke des Briefes: Das Evangelium eine Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes,
eine Kraft, die jeden rettet: zuerst die Juden, dann auch die Griechen.
1,18-3,20: Alle Menschen sind vor Gott schuldig und stehen unter seinem Zorn. „Da ist keiner, der
gerecht ist, auch nicht einer“ (3,10=Ps 14,1-3). Die Heiden sündigen durch ihren Götzendienst (=Vertauschung
der Herrlichkeit Gottes mit den Bildern von vergänglichen Menschen und Tieren; daraus folgt die generelle
Verkehrung von Wahrheit in Lüge, 1,18-32), die Juden vor allem durch Hochmut über ihre Berufung, 2,17-29.
Das Gesetz macht die Sünde der Juden offenbar, es dient „der Erkenntnis der Sünde“ (3,20).
3,21-31: Unabhängig vom Gesetz ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, „bezeugt vom Gesetz
und den Propheten“ (!), durch den Glauben an Jesus Christus. Da alle ohne Werke des Gesetzes allein durch den
Glauben gerechtfertigt werden, ist alles Sich-Rühmen ausgeschlossen.
Kap. 4: Das Beispiel Abrahams, der durch seinen Glauben gerechtfertigt wurde, noch vor dem Gesetz
(nach Gen 15,6).
5,1-11 Durch den Tod Christi haben wir die Versöhnung mit Gott empfangen.
5,12-21: Alle haben in dem einen Adam gesündigt und sind verdammt worden, aber noch viel mehr ist
durch Jesus Christus die Gerechtigkeit für alle gekommen. „Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen
(zwischen Adam und Christus), damit die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da
ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“ (5,20). Die Sünde führt zum Tode, die Gnade durch Gerechtigkeit
zum ewigen Leben.
Kap. 6: Das neue Leben aus der Taufe: Wir sind in der Taufe mit Christus der Sünde gestorben und mit
ihm zum Leben auferstanden. Hier schon die Frage: „Wie nun, sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem
Gesetz sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne (denn es geht um die Frage, in wessen Dienst sich jemand
stellt: in den Dienst der Sünde/des Fleisches, oder in den Dienst der Gerechtigkeit)“ (6,15ff).
7,1-8,17 ... (s.u.)
8,18-39: Das Heil ist uns gegeben, aber nur auf Hoffnung. Aber jetzt schon die Gewissheit, dass uns
nichts (keine Macht und Gewalt) mehr von der Liebe Gottes trennen kann.
Kap. 9-11: Das Problem Israel: Es ist von Gott bleibend auserwählt, aber die in Israel, die die Chance des
Glaubens nicht ergreifen, können nicht gerettet werden. Vielleicht ist Israel nur verstockt worden, um zuerst die
Heiden zu retten; Israel wird dann eifersüchtig werden und doch noch zum Glauben kommen. Auf jeden Fall
wird der Rest Israels gerettet werden. Paulus weiß sogar um das Geheimnis, dass am Ende der Tage, dann, wenn
die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist, auch ganz Israel gerettet wird. Den Heiden sei gesagt: „Nicht du trägst
die Wurzel, die Wurzel trägt dich“ (11,18); die Heiden sind nur „wider die Natur in den edlen Ölbaum
eingepfropft worden“ (11,24).
12,1-15,13: Probleme der Gemeinde; ethische Unterweisung
15,14-27: Der Auftrag des Apostels, seine Reisepläne, die Kollekte für die Christen in Jerusalem.
3.1.2 7,1-6 Das Gesetz geht eine neue Verbindung ein
Die meisten Ausleger verstehen hier nur: Die Christen sind frei vom Gesetz. Aber um das zu sagen, hätte schon
V.1 genügt: Das Gesetz gilt nur, solange man lebt (rabbinischer Grundsatz, den Paulus in Erinnerung ruft). Wir
aber sind mit Christus gestorben (vgl. V. 4 u. Kap. 6) und darum nicht mehr im Geltungsbereich des Gesetzes.
Warum aber dann die Geschichte mit der Frau?
Solange der alte Ehemann lebt, ist die Frau an ihn gebunden. Ist er gestorben, ist sie frei für eine neue
Verbindung. Nun heißt es aber: wir sind dem Gesetz gestorben (V. 4), analog zu: der alte Ehemann ist der Frau
gestorben. Entsprechend muss gelten: Das Gesetz ist frei für eine neue Verbindung. Also:
Frau : alter Ehemann = Gesetz : wir, die wir gestorben sind.
Und:
Frau : neuer Ehemann = Gesetz : ???.
15
Hier hakt das Bild, denn mit wem kann das Gesetz eine neue Verbindung eingehen – wenn nicht mit uns? Also
müssen wir wieder leben und zugleich neu geworden sein, ein „neuer Ehemann“. Genau das sagt Paulus V. 4 u.
5: Wir, die Gestorbenen, gehören jetzt Christus an, der von den Toten auferweckt. Also leben wir wieder. Und
wir sind neu geworden: nicht mehr dem Fleisch, den sündigen Leidenschaften verfallen. So kann das Gesetz eine
neue Verbindung mit uns eingehen: jetzt nicht mehr im alten Wesen des Buchstabens (offenbar verstehen die
dem Fleisch Verfallenen das Gesetz als Buchstaben), sondern im neuen Wesen des Geistes. Aber in jedem Fall
„dienen“ (V. 6) wir dem Gesetz.
3.1.3 7,7-13 Wie die Sünde sich des Gesetzes bediente
Dass das Gesetz nichts Schlechtes ist, stellt gleich V. 7 klar: „Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne!“. Aber das
Gesetz hat etwas damit zu tun, dass ich „einst lebte“ (V.9) und dann getötet wurde (V.12). Paulus reflektiert hier
auf seine Vergangenheit bzw. auf die Vergangenheit der Judenchristen insgesamt (wohl beides in einem).
Einst war ich lebendig und die Sünde tot (V.8 u. 9), dann war ich tot (V.10) und die Sünde höchst lebendig. Und
dazwischen kam das Gesetz. Hat also das Gesetz mich getötet und die Sünde lebendig gemacht? Das kann nicht
sein, Paulus ist sich sicher: „Das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig und gerecht und gut“; es ist ja Gottes
Gesetz zum Leben (V.12; 10). Nur die Sünde kann töten, und sie war‘s denn auch, die mich getötet hat (V.11).
Aber die Sünde nahm tückischerweise das Gebot zum Anlass oder Mittel, mich zu töten. Denn die Sünde lebt
von der Begierde, die sich auf sie richtet, und sie benutzte das Gesetz als Mittel, um die Begierde zu wecken.
Was verboten ist, das weiß jeder Mensch, ist besonders begehrenswert, ja vor allem das Gebot „Du sollst nicht
begehren“ lenkt die Begierde geradezu auf das Verbotene. Das Gesetz ist also, und darin liegt zweifellos seine
Schwäche, missbrauchbar, nämlich dann, wenn es im Sinne der Sünde, des Begehrens, des Fleisches gebraucht
wird. Diese Erkenntnis hat Paulus gemacht. Es liegt aber auch etwas Gutes darin: die Sünde wird sichtbar
(V.13), das Gesetz dient der Erkenntnis der Sünde bzw. meines eigenen Sündigseins. So kommt es zu größerer
Selbsterkenntnis, gleichsam im Spiegel des Gesetzes, in dem ich mich erkenne.
3.1.4 7,14-25 Der sich selbst entfremdete, elende Mensch
Die Sünde hat also etwas mit Paulus gemacht: sie hat ihn, mittels des Gesetzes, zur Begierde verführt. Deswegen
spricht er sie wie ein Handlungssubjekt, wie eine fremde Macht an, und hier heißt es nun V. 14: Ich bin unter die
Sünde „verkauft“ (wie ein Sklave). Aber er selbst war ja auch daran beteiligt, denn er war es ja, der sich
verführen ließ. Insofern er sich verführen lässt, nennt er sich „fleischlich“. „Fleisch“ ist also zunächst einfach das
Bildsame, Bewegbare im Menschen, das, womit er auf seine Umwelt reagiert (das ist ja auch die sinnliche
Bedeutung von Fleisch). Er könnte also sagen: Ich bin Fleisch, nämlich ganz und gar verführbar. Aber das
Gesetz, auch wenn es als Verbot Mittel der Sünde war, sagt ihm doch zugleich, was das Gute ist und dass das
nicht gut ist, was er tut. Das bedeutet Erkenntnisgewinn durch Selbstdistanzierung: Paulus kann durch das
Gesetz zwischen sich und sich unterscheiden, er kann sich gleichsam von außen beobachten (aus dem
Blickpunkt des Gesetzes) und feststellen: Da bin ich, der ich Fleisch bin. Diese Verdoppelung ist eine höchst
irritierende, dezentrierende Erfahrung. Die reflektiert Paulus nun: Da bin ich, der das Gute kennt und es auch
will, und da bin ich, der das Böse tut. Ich tue also nicht, was ich will, sondern was ich nicht will (V.15; 19). Dies
ist mehr als der Gegensatz von Wollen und Vollbringen, es ist die Spaltung in zwei Selbste: das, das tut (der
ganze Mensch), und das, das will (der ganze Mensch). Paulus ist gar nicht mehr er selbst, er ist nur noch der
Spielball fremder Mächte, deren Gesetzen er dient: dem Gesetz Gottes und dem Gesetz des Fleisches (V.25).
„Ich elender Mensch!“ (V. 25).
Was kann das sein, die Macht des Fleisches? Meist wurde sie mit der sexuellen Begierde gleichgesetzt, oder
überhaupt der Habsucht. Das ist zu eng. Vom Begehren hatte Paulus allerdings gesprochen: Etwas für mich
haben wollen, was ich noch nicht habe. Warum? Die Schilderungen dieses Abschnitts sehen genauer. Was tut
man unwillkürlich, insofern man eben Fleisch ist? Man schützt sich, man verschafft sich Sicherheiten, man will
Macht, Verfügungsmöglichkeiten über etwas gewinnen: man dient der eigenen Selbsterhaltung. (Das tut auf
naturwüchsige Weise auch die Sexualität.) Das Gesetz des Fleisches ist das Gesetz der Selbsterhaltung, eben das
Gesetz aller Natur. N. LUHMANN, passim: Selbsterhaltung ist Existenzprädikat aller Systeme (z.B. in: Die
Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, 142). Das Gesetz Gottes aber will etwas anderes: freies Dasein für
andere. Im Glauben ist das möglich, denn im Glauben bin ich gerechtfertigt, d.h. befreit vom Zwang zur
Selbsterhaltung und Selbstbegründung. Das Gesetz Gottes widerstreitet somit dem Gesetz des Fleisches (wie wir
schon bei der Schöpfungserzählung gesehen haben). Hier geht es also nicht um den Widerstreit von Vernunft
und „Trieben“, sondern um etwas viel tiefer Reichendes, um zwei Gesetze, die jeweils den ganzen Menschen mit
Leib und Seele beanspruchen.
Wer das Gesetz ‚im Fleische‘, also im Sinne der natürlichen Selbsterhaltung halten will, dem gereicht es zum
Tode. Denn dann ist immer die Frage: Was muss ich tun, um dem Anspruch des Gesetzes zu genügen und nicht
von ihm verdammt zu werden, also vernichtet zu werden? Das Gesetz ist dann die reinste Überforderung, an der
ich zerbreche. Das meint Paulus mit dem „Wesen des Buchstabens“ (V.6). Wer es aber im Geist hält, der weiß:
Ich brauche mir um mich keine Sorgen mehr zu machen, ich kann das Gute (für andere) tun, ich darf und kann
selbstlos sein. Und dann ist das Halten der Gebote das reinste Vergnügen. Das ist das „Wesen des Geistes“, der
der Geist Gottes ist. Darum jubelt der verzweifelte Paulus auf: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren
Herrn!"“(V. 25).
16
3.1.5 7,25-8,17 Freies Leben nach dem Gesetz des Geistes des Lebens
Dieser Text ist wie ein strahlendes Finale nach den dramatischen Mittelsätzen. Von einem Ende des Gesetzes für
die Christen keine Rede mehr. Paulus spricht jetzt direkt vom „Gesetz des Geistes des Lebens“, nach dem wir
leben können. Dieses Gesetz verurteilt nicht mehr (8,1). Jesus hat das Gesetz frei gemacht von seiner
missbräulichen fleischlichen Verwendung, weil er in seinem Leben und Sterben das Gesetz der Selbsterhaltung
aufgehoben hat. Das war seine Sühne für die Sünde, zu zeigen, dass auch der, der bis zur Selbstaufgabe auf
Selbsterhaltung verzichten kann, lebt (V. 3)! Das tat er, damit die Forderung des Gesetzes erfüllt wird, denn das
muss ja sein, damit Gottes Reich und Gerechtigkeit kommt. Also überhaupt nicht: Freiheit vom Gesetz, wie so
oft fälschlich und antijüdisch argumentiert wurde. Nur wird eben jetzt für die, die aus dem Geiste (des
ermöglichten Verzichts auf Selbsterhaltung) leben, klar, wie tödlich das Gesetz für die ist, die es fleischlich (im
Sinne ihrer Selbsterhaltung) erfüllen wollen. Der Gegensatz „Trachten des Fleisches“ und „Trachten des
Geistes“ ist jetzt völlig deutlich: das eine führt zum Tod, das andere zu Leben und Frieden (V.6-9).
Das Gesetz des Geistes des Lebens macht frei! Während ja im Fleische von der Sünde und dem Gesetz wie von
fremden, versklavenden Mächten gesprochen werden musste, ist es damit jetzt vorbei. Wir sind nicht mehr dem
Fleisch, d.h. dem Zwang zur Selbsterhaltung, verpflichtet, wir sind wirklich frei von uns selbst bzw. von der
Sorge um uns selbst und damit von allen Mächten, die uns bei dieser Sorge behaften und unfrei machen (V. 12f).
Das entfaltet der Schlussakkord V. 12-17: Nicht mehr Sklaven, sondern Söhne und Töchter Gottes, dann auch
Miterben an der Herrlichkeit Christi!
Festzuhalten ist:
Der Text Röm 7,1-8,17 bezieht sich nicht auf einen allgemeinen anthropologischen
Sachverhalt (etwa, wie oft gemeint wurde, den üblichen Gegensatz von Vernunft und Gefühl),
sondern er beschreibt in rein biblischer Wirklichkeitssicht die Begegnung der Menschen mit
dem Gesetz Gottes (eine Interpretation im allgemein anthropologischen Sinn findet man in E. KÄSEMANNS
RÖMERBRIEF-KOMMENTAR und auch bei M. THEOBALD, der aaO. 212-215 überflüssigerweise ‚Parallel‘-Belege
aus der Antike für den Zwiespalt zwischen Einsicht und Handeln beibringt.)
Nicht das „Ende des Gesetzes“ ist Thema des Textes, sondern die Bedingung, dieses
überhaupt zu halten und seine Forderungen zu erfüllen. Diese Bedingung ist das Leben im
Geist, für Christen konkret die Nachfolge Christi, d.h. ein selbstloses Leben im Verzicht auf
Selbsterhaltung durch den Glauben an Gott, der uns erhält.
Paulus hat hier eine Erkenntnis wiedergewonnen bzw. im Blick auf die Heidenchristen
aktualisiert, die biblisch-alttestamentlich nie zweifelhaft war: „Ich lege meinen Geist in euch
und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebot achtet und sie erfüllt“ (Ez
36,27). Gebotserfüllung als eigene Leistung („Werkgerechtigkeit“) ist überhaupt kein
jüdisches Problem bzw. nicht mehr ein jüdisches als ein christliches, denn der Abfall vom
Glauben, der Rückfall ins Fleisch ist immer möglich. Der Text kann nicht antijüdisch
instrumentalisiert werden, so oft das auch geschehen ist, er kann höchstens antichristlich
eingesetzt werden, insofern Christen sich durch ihn allzu leicht und überheblich von der
Einhaltung der Tora Gottes dispensiert glaubten.
Der TALMUD, MAKKOTH 23B-24A, überliefert ein Gespräch zwischen den Weisen, in dem die Zahl der 613 ToraGebote immer weiter auf das Wesentliche reduziert wird. Mose hatte 613 Gebote, 365 Verbote nach den Tagen
des Sonnenjahres und 248 Gebote entsprechend den Gliedern des Menschen. Da kam David und brachte sie auf
elf, gemäß Ps 15,1-5: Wer makellos wandelt – und recht tut – vom Herzen Wahrheit spricht – auf seiner Zunge
nicht Verleumdung hegt – seinem Nächsten nichts Böses zufügt – nicht Schmach auf seinen Freund lädt – dem
der Verworfene als verächtlich gilt – die in Ehren hält, die den Herrn fürchten – seinen Schwur nicht abändert,
auch wenn er zu seinem Schaden geschworen hat –sein Geld nicht um Zins gibt, nicht einmal an einen
Nichtjuden – nicht Bestechung gegen einen Unschuldigen annimmt. Da kam Jesaja und brachte sie auf sechs,
gemäß Jes 33,15: Wer in Rechtschaffenheit wandelt – und Redlichkeit redet, der seinen Genossen nicht öffentlich
kränkt – wer Gewinn durch Erpressung verschmäht – wer Bestechung abwehrt – wer sein Ohr verstopft, um
nicht Mordpläne zu hören – und seine Augen verschließt, um nicht das Böse zu schauen. Hierauf kam Micha und
brachte sie auf drei, gemäß Mi 6,8: Gerechtigkeit tun (=Rechtspflege üben) – sich der Liebe befleißigen
(Wohltätigkeit üben) – demütig wandeln vor deinem Gott (z.B. einen Toten hinausführen). Da kam Jesaja
abermals und brachte sie auf zwei, gemäß Jes 56,1: „Wahret das Recht und übt Gerechtigkeit“. Hierauf kam
Habakuk und brachte sie auf eines, gemäß Hab 2,4: „Der Fromme wird durch seinen Glauben leben“.
– Nichts anderes will Paulus im Römerbrief sagen: „Denn im Evangelium wird geoffenbart die Gerechtigkeit,
die vor Gott gilt; wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘ (Hab 2,4).“ (Röm 1,17)
17
3.2 Kann der Mensch das Gute wollen? Augustinus und Pelagius
Von Augustinus (354-430) ist hier die Rede, weil
• keiner in der Antike den paulinischen Impuls intensiver aufgenommen hat als er.
Es führt eine direkte Linie von der alttestamentlichen Tora-Lehre über Paulus, Augustinus und Luther in die
Neuzeit. Dort teilt sie sich: Descartes – Kant auf der einen (säkularen) Seite; Pascal – Kierkegaard – dialektische
Theologie (auf der christlichen Seite). Auf dieser Linie ist das meiste biblische Material in die Neuzeit
transportiert worden.
•
•
er das abendländische Menschenbild stärker geprägt hat als irgend jemand sonst!
seine Verbindung von Biographie und Theologie etwas sehr Modernes hat und
unmittelbar in unsere Zeit hineinspricht.
Erst mit Augustinus hat die Erfahrung überhaupt einen Stellenwert in der Theologie gewonnen – aber man
beachte, wie sie ihm erst im Spiegel der Bibel ansichtig wird und sich darin spezifisch verändert. Augustinus –
der Stammvater der Korrelation(sdidaktik)?
Lit.: P. BROWN, DER HEILIGE AUGUSTINUS, MÜNCHEN 1973; DERS., DIE KEUSCHHEIT DER ENGEL. SEXUELLE ENTSAGUNG,
ASKESE UND KÖRPERLICHKEIT AM ANFANG DES CHRISTENTUMS, MÜNCHEN 1991, 395-437; W.-D. HAUSCHILD, LEHRBUCH DER
DOGMEN- UND KIRCHENGESCHICHTE BD. I, GÜTERSLOH 1995, 209-246, hier v.a. 225-237; G. GRESHAKE, GNADE ALS
KONKRETE FREIHEIT. EINE UNTERSUCHUNG DER GNADENLEHRE DES PELAGIUS, MAINZ 1972, zu Augustinus 193-274; O.H.
PESCH, FREISEIN AUS GNADE, FREIBURG 1983, 88-91; TH.RUSTER, BIN ICH DAS SUBJEKT MEINES
BEGEHRENS?BEOBACAHTUNGEN ZUM FUNKTIONSWANDEL DER INTROSPEKTION VON AUGUSTINUS BIS ZUR WERBUNG, IN: THPQ
144 (1996) 168-176.
3.2.1 Skizze der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre
Vgl. HAUSCHILD aaO.
Gott und die Seele – das Grundthema des frühen A. „Gott und die Seele begehre ich
zu erkennen. Sonst nichts? Überhaupt nichts“ (Soliloquia I,2,7). „Denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und
unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir“ (Confessiones I,1,1). Nur Gott als das höchste Ziel darf man
genießen (frui), alle irdischen Güter nur gebrauchen (uti). Nur Gott als dem höchsten Gut (summum bonum) darf
man anhängen (adhaerere Deo), die Abwendung von ihm (aversio a Deo) ist zugleich Abwendung vom Guten
(aversio a bono) und vom Sein, damit Zuwendung zum Bösen, dem Nichts bzw. Nichtsein. A., der
Neuplatoniker: Die Glückseligkeit liegt im Geistigen/Göttlichen, das Materielle ist minderes Sein; die
Zuwendung zum Leiblichen ist Abwendung von Gott.
Urstand: Gott hat den Menschen richtig (rectus) erschaffen. Adam hat die ursprüngliche Gerechtigkeit
(iustitia originalis), sein Wille ist frei (liberum arbitrium) und erstrebt das Gute, er kann Gott lieben. Seine
Triebe (cupiditates) sind seinem Willen (voluntas) untergeordnet. Er muss nicht sündigen (posse non peccare).
Dies alles kommt ihm nicht von Natur aus zu, sondern nur durch die Hilfe der Gnade (adiutorium gratiae). [A.
denkt den Menschen nicht isoliert, sondern von vorneherein in der Gemeinschaft mit Gott.]
Sündenfall: In seiner Willensfreiheit hat sich Adam von Gott abgewandt (das Verbot, vom Baum zu
essen, ist für A. ein Gehorsamstest). Als Strafe geht ihm die Hilfe der Gnade (adiutorium gratiae), die ihm ja
unverdient zuteil geworden war, verloren. Folgen: Selbstliebe statt Gottesliebe (amor sui), ausschließlicher
Selbstbezug (incurvatio in seipsum), Unfähigkeit, das Gute zu wollen (non posse non peccare; Necessitas
peccandi – das hatte A. aus Röm 7); Auflehnung der Triebe gegen den Geist (poena reciproca: die Glieder
gehorchen dem Geist sowenig wie der Mensch Gott – hier der erste Brückenschlag zur sexuellen Erfahrung).
[Vgl. oben zu Gen 3,14-19. – A. will sagen: der Mensch ist mit seiner Natur alleingelassen, er ist jetzt nur noch
um seine Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung besorgt (dafür steht die Begierde, die concupiscentia). Im
Rahmen des (von Tertullian übernommenen) ‚Natur‘-Begriffs dachte er dies jedoch als eine ontologische
Bestimmung der menschlichen Natur (und nicht als die Folge des Gesetzes, nach dem die Menschen jetzt leben):
die schöpfungsgemäß gute, gnadenhaft gestützte Natur des Menschen ist durch die Sünde geschädigt. Die Frage
ist dann: Wie geht die einmalige Handlung von Adam und Eva auf alle Menschen (auf die menschliche Natur)
über? Darauf antwortet die Lehre von der Erbsünde.]
Erbsünde: Einerseits gilt Adam A. als der Repräsentant aller Menschen, als der ‚typische‘ Mensch.
Andererseits verstand er Röm 12,5 als biblische Grundlage für die Übertragung der Sünde Adams auf alle
Menschen (Dort steht: „Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und der
Tod ist zu allen Menschen durchgedrungen, weil [eph ho] alle sündigten.“ A. las jedoch: Durch einen Menschen
kam die Sünde in die Welt, in dem [lat. Übersetzung der Vulgata: in quo] alle sündigten, und so ist der Tod zu
allen Menschen durchgedrungen). Um sich zu erklären, wie die Sünde von Adam auf die anderen übergehen
kann, stützte sich A. auf die damals modernste Fortpflanzungstheorie: den Generatianismus. Durch die Zeugung
werden Leib und Seele zugleich erzeugt (dazu GESTRICH, DIE WIEDERKEHR DES GLANZES AAO. 271-280). Dazu
bemerkte A., dass das Grundübel des Menschen nach dem Sündenfall, die concupiscentia, bei jeder Zeugung
eine maßgebliche Rolle spielt (der zweite Brückenschlag zur sexuellen Erfahrung!). So kam er zum Schluss, dass
die Sünde und ihre Folgen „vererbt“ werden. – Er konnte sich auch auf die Praxis der Kindertaufe stützen:
Warum werden Kinder zur Vergebung der Sünden getauft, wenn sie keine Sünde haben?
Erlösung durch die Gnade: Aus sich selbst kann die verderbte Natur nichts zu ihrer Erlösung beitragen.
Sie ist ganz auf die Gnade angewiesen. Diese gibt Gott umsonst, gratis (gratia gratis data), und zwar durch den
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Heiligen Geist (nach Röm 5,5: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der
uns gegeben ist.“). Der Geist bewirkt eine innere Umwandlung des Menschen. Die Hilfe der Gnade (adiutorium
gratiae) wird ihm wieder gewährt. Folgen: Der Mensch kann das Gute wieder wollen, sein Herz ist wieder dem
Guten – Gott – zugewandt, und er ist nun auch fähig, das Gesetz Gottes zu erfüllen. Also wieder ein posse non
peccare. Aber: Die übrigen von Adam zugezogenen Sündenfolgen bleiben, vor allem der Kampf zwischen Geist
und Begierde (s.o. poena reciproca). Der Mensch ist auch nach der Erlösung in einen lebenslangen Kampf mit
seiner eigenen concupiscentia verwickelt, deren Auswirkung A. vor allem im sexuellen Bereich veranschaulichte
(obwohl sie nicht nur da anzutreffen ist!).
„Solange die Sünde in deinen Gliedern sein muss, soll ihr wenigstens die Herrschaft genommen werden;
es soll nicht geschehen, was sie befiehlt. Es erhebt sich der Zorn? Leihe dem Zorn nicht die Zunge zum
Schmähen, gib dem Zorn nicht die Hand oder den Fuß zum Schlagen [...] Jeder nach Vollkommenheit
Strebende muss trachten, dass diese Begierlichkeit, welcher die Glieder nicht zum Gehorsam dargeboten
werden, täglich im Voranschreiten sich mindere [...] Wann wird die volle und vollkommene Freiheit im
Herrn Jesus eintreten? Wenn keine Feindschaft mehr sein wird, wenn der ‚letzte Feind, der Tod,
vernichtet sein wird (1 Kor 15,26)“ (Tract. in Ioannis Ev 41,12-13).
[Dies ist dann das Lebensprogramm des abendländischen Menschen geworden, auf dem unsere
Zivilisation ruht. Das ‚Voranschreiten‘ war Erziehungsprogramm.]
3.2.2 Die Prädestination (Vorherbestimmung)
Alles, was der gerechtfertigte (=wieder in den Zustand der Gerechtigkeit eingesetzte, Gott lieben könnende)
Mensch hat, hat er von Gott: den Anfang des Glaubens, den freien Willen (mit dem er jetzt wieder zwischen gut
und schlecht wählen kann), und auch die Beharrlichkeit im Guten (donum perseverantiae). Alles ist Geschenk
Gottes (donum Dei); es gibt kein Verdienst (meritum) vor Gott. Wenn das aber so ist, dann ist das Gut- oder
Schlechtsein der Menschen, ihr Gläubig- und Nichtgläubigsein, allein von Gott vorherbestimmt! Alles liegt an
Gottes Erwählung! Ihr eigenes Verhalten fügt dem nichts hinzu: den Erwählten führen gut und schlechte Wege
zu Gott, den Nichterwählten können auch die besten Handlungen vor Gott nichts nützen. (Deshalb konnte A. in
den Confessiones seine eigene Schlechtigkeit so herausstreichen, ja offensichtlich übertreiben, um die Gnade
Gottes in um so hellerem Licht erscheinen zu lassen.)
A. fand in Röm 8,29 die biblische Basis dafür: „Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass
sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes.“ Aber warum werden nur einige erwählt – noch nicht einmal alle,
die berufen sind (dieses Problem plagt Paulus in Röm 9-11 in Bezug auf die nicht an Christus glaubenden
Juden!)? Warum werden viele verworfen? In seiner Schrift „De diversis quaestionibus ad Simplicinanum“ (um
397) tritt A. über diese Frage in eine intensive Diskussion mit Paulus ein. Röm 9,11-13 mit Bezug auf Jakob und
Esau, die Kinder Rebekkas: „Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, da
wurde, damit der Ratschluss Gott bestehen bliebe und seine freie Wahl – nicht aus Verdienst oder Würdigkeit,
sondern durch die Gnade des Berufenden –, zu ihr [Rebekka] gesagt: ‚Der Ältere [Esau] muss dem Jüngeren
[Jakob] dienen‘ (Gen 25,23), wie geschrieben steht: ‚Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst‘(Mal
1,2).“ A.: Hat Gott etwa das künftige Tun der Zwillinge vorhergesehen? Aber dann würde es ja nicht heißen: Ehe
sie Gutes oder Böses getan hatten... Nicht aus Verdienst... Also erfolgt die Erwählung grundlos. „Was ist dann
mit Esau? Dass er dem Jüngeren dient und dass geschrieben steht: Esau habe ich gehasst, auf Grund welcher
eigenen Bosheit hat er das verdient?“ Er war ja noch gar nicht geboren, als es hieß: Er soll dem Jüngeren dienen.
„Durch welches Verschulden wird Esau denn gehasst, bevor er geboren ist?“ (Ad Simpl. Z. 215-230) Und wenn
denn die Erwählung Jakobs aus reiner Gnade geschah: „Warum wurde dieses Erbarmen dem Esau versagt?“
(ebd. 274). „Warum ist er also verworfen worden, als er noch im Mutterleib war? Ich komme immer wieder auf
diese Schwierigkeit zurück...“ (ebd. 303-305).
A. kommt schließlich auf die aporetische Lösung des Paulus hinaus. Röm 9,14-20: „Was sollen wir nun hierzu
sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: ‚Wem ich gnädig bin, dem bin ich
gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich‘ (Ex 33,19). So liegt es nun nicht an jemandes
Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. [...] So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt,
wen er will [mit Blick auf den verstockten Pharao gesagt]. Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann
noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten
willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“ A. erklärt es sich: Alle haben
durch ihre Sünde die Verwerfung verdient. Gott ist also gerecht, wenn er verwirft. Aber einige erwählt er aus
unbegreiflicher Gnade. „Also sieht jeder, dass niemand Unrecht begehen kann, der fordert, was man ihm
schuldet, aber gewiss auch niemand, der schenken will, was ihm schuldet, und dass Letzeres nicht im Urteil der
Schuldner liegt, sondern in der Entscheidung dessen, dem man schuldet“ (Ad Simpl. 462-464).
[Haben Paulus und A. die Frage richtig gestellt? Wird 1 Tim 2,4 (Gott will, dass alle gerettet werden)
erreicht? Sie gehen von einer Sündenmacht aus, die der Mensch nicht überwinden kann. Also sind sie auf Gottes
Gabe angewiesen. Die Tora ist aber die Gabe, die das Tun des Guten fordert und zugleich ermöglicht: indem die
Erfüllung der Gebote diese Sündenmacht beseitigt [dazu später mehr!]. Die Tora kann nur tun, wer Gott glaubt.
Zu diesem Glauben sind aber alle gerufen und alle fähig; das eben ist Jesu Botschaft. Dabei ist der Glaube kein
19
Verdienst, sondern vom Wort Gottes ermöglichte Antwort. – Dies nur als Andeutung an dieser Stelle... Bleiben
wir vorerst bei Augustinus.]
3.2.3 Augustinus, der Neuplatoniker, und sein Verhältnis zum Gesetz
Für A. hatte das Gesetz keine Heilsbedeutung. Es zeigt nur auf, dass der Mensch den Willen Gottes nicht
erfüllen kann (negative Effizienz). Sein Inhalt interessiert A. nicht, er richtet sich ja nur auf zeitliche Güter
(temporalia). Das ist neuplatonisch: die strenge Unterscheidung von außen und innen. Damit hängt auch ein
Zweites zusammen: Alles Äußere (auch das Gesetz) kann nur ein Zeichen (signum) für das Innere, das
Entscheidende (res, significatio) sein. Das Entscheidende ist die innere Umschaffung des Willens, die durch die
Gnade geschieht; sie kommt allein von Gott (Illuminationstheorie). „Beides [Äußeres und Inneres] zu
identifizieren wäre für A. das ‚jüdische‘ Mißverständnis“ (GRESHAKE aaO. 212). Dann gilt aber auch: auch das
Evangelium, auch Jesus Christus, auch die Sakramente sind etwas Äußeres, sind nur Zeichen für die Gnade, die
Gott zu aller Zeit gibt. Für A. ist Christus nicht das entscheidende Heilsereignis. Die Gnade ist nur ‚per
Christum‘, weil Gott die Menschen (seit Anbeginn; innertrinitarisch) nur um seines Sohnes willen liebt. Diese
neuplatonische Abwertung des Äußeren (Politischen, Gesellschaftlichen) hat Theologie und Kirche in der Folge
überwiegend davon abgehalten, die Lebensbedeutung des Gesetzes wahrzunehmen. Aus A. folgt konsequent die
Zwei-Reiche-Lehre: civitas Dei und civitas terrena (vgl. De Civitate Dei, A..s Hauptwerk). Das Politische bleibt
jetzt sich selbst überlassen. – Zu diesem Abschnitt: GRESHAKE aaO. 207-228.
3.2.4 Pelagius: Die Theologie eines konservativen römischen Sozialrevolutionärs
(Zu Pelagius: GRESHAKE aaO. 47-192; HAUSCHILD aaO. 230-237; BROWN aaO. 419-438 (zu Pelagius‘ Schüler
Julian von Eclanum und der sex. Problematik); A. KESSLER, REICHTUMSKRITIK UND PELAGIANISMUS,
Freiburg/Ch 1999)
Die theol. Geschichtsschreibung lässt Pelagius, A.s Gegner im pelagianischen Streit 411-418 viel zu schlecht
wegkommen! Pelagius (ca. 350-420), aus Britannien stammend, ein gebildeter Theologe ohne Amt, wirkte ab
etwa 380 in Rom erfolgreich als Prediger und Asket. Er wollte die röm. Oberschicht zu christusgemäßem,
unterscheidbaren Handeln bewegen. Sein Wahlspruch: „Serva mandata“ (Befolgt die Gebote, vgl. KESSLER aaO.
14). Seine Kritik galt den unsozialen Reichen und ihren Ausschweifungen. Er betrieb literale, nicht allegorische
Schriftauslegung (antiochenische Richtung!): Das Gesetz Christi erfüllt das Gesetz des AT, indem es dieses
integriert. „Non figura sed veritas“ ist das AT im Verhältnis zum NT. Seine Theologie: Gott ist gut und gerecht,
der Mensch ist zum Guten und Gerechten fähig und soll wie Gott heilig, gut und gerecht sein. Es gibt keine
Urschuld, die ihn daran hindert. Das ‚posse‘ der sittlichen Anstrengung liegt der sittlichen Ermahnung sachlich
voraus. Wer das bestreitet, verleitet zu sittlicher Trägheit. Mit seinem freien Willen kann der Mensch auch das
Böse wollen, aber sein Gewissen und die Gebote orientieren ihn richtig. Nicht gewiss ist, ob irgendein Mensch
diesem ‚posse‘ auch voll entspricht, aber streben sollen alle. Christus ist vor allem exemplum; herrlich ist es,
wenn ein Asket ihm wirklich nacheifert. Glaube und Leben sollen in Übereinstimmung stehen; der Glaube
beweist sich im Tun der Gebote. – Im pelagianischen Streit fokussierte A. das Problem des freien Willens zum
Guten auf die Sexualität: Können Menschen (Männer!) enthaltsam leben? Die Erfahrung spricht dagegen. Zeigt
sich nicht in der Sexualität, dass wir innerlich von Trieben bestimmt werden, die der Wille nicht beherrscht? Ist
das nicht Ausdruck für die ‚poena reciproca‘ (Aufstand des Leibes gegen den Geist)? A.s Gegner hatten die
schwere Aufgabe zu zeigen, dass es anders ist.
3.2.5 Vergleich Augustinus – Pelagius
Pelagius – ein konservativer Römer, ein Mann der Antike (Stoa)! Es gibt eine Ordnung der Welt; Selbst und
Welt stehen in einem guten Zusammenhang, wo dieser nicht durch Übel gestört ist.
Augustinus – ein Moderner! Er überwindet das kosmologische Weltverständnis zugunsten eines subjektivpersonalistischen, das er an seiner Person („Seele“) in ihrer Konfrontation mit dem Willen Gottes gewonnen
hatte. Dann aber können die Übel nicht mehr von außen kommen, sie liegen im eigenen Selbst. Dort findet A.
den Zwiespalt zwischen Wollen und Vollbringen (Röm 7) und die Unfähigkeit, diesen zu überwinden. A.
markiert das Ende der Antike. Er entdeckt die einsame, auf sich (Descartes) bzw. auf die Gnade Gottes (Luther)
gestellte Subjektivität.
Warum hat sich A. gegen Pelagius durchsetzen können? Weil er sich besser durchzusetzen, rhetorische und
politische Mittel besser einzusetzen wusste (vgl. HAUSCHILD aaO. 234-236)? Weil er Gott und seine Gnade so
groß sein ließ – vielleich zu groß (A., der Doctor gratiae)? Weil er der Abgründigkeit menschlicher
Unheilserfahrung besser entsprach? Weil er Innerlichkeit und Glaubensintensität vermittelte, ohne dass sich
wirklich etwas ändern musste in der Welt (A., der Theologe der Großkirche)? Von allem ist es wohl etwas, mit
allem hat er die Kirche geprägt.
3.2.6 Die Entscheidung des pelagianischen Streits durch die Synode von Orange (529)
Die 2. Synode von Orange zog einen Schlussstrich unter den Streit; Papst Bonifaz II. bestätigte sie in folgenden
Worten: Es ist gewiss, „dass der Glaube, durch den wir an Christus glauben, ebenso wie alle anderen Güter
jedem einzelnen Menschen aus dem Geschenk der Gnade von oben (supernae gratiae) kommt, nicht aus der
Kraft der menschlichen Natur, ... dass der Glaube durch die zuvorkommende göttliche Gnade gewährt wird –
auch, dass es nichts Gutes in Bezug auf Gott gibt, das einer ohne Gottes Gnade wollen oder beginnen oder tun
oder vollenden könnte“ (DH 399; vgl. PESCH aaO. 129). Und das ist richtig.
20
3.3
Martin Luther: Dass der freie Wille nichts sei. (De servo arbitrio, 1525)
Luther (1483-1546) hat in dieser großen Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam alle wichtigen Themen
seiner Theologie durchgespielt: Rechtfertigung aus Glauben – die Klarheit der Schrift – Gottes Allmacht –
Gottes Verborgenheit (Deus absconditus) – der unfreie Wille – der ganze Mensch ist Fleisch (totus homo caro).
Sie war ihm selbst seine wichtigste Schrift zusammen mit dem Großen Katechismus. Wir finden in ihr die
Wiederaufnahme der paulinischen und augustinischen Motive in spezifisch neuzeitlicher, subjektzentrierter
Zuspitzung, und zugleich den schärfsten Widerspruch gegen das neuzeitliche Menschenverständnis, das eben auf
der Freiheit des Willens (der Selbstbestimmung) des Menschen beruht.
M. LUTHER, DASS DER FREIE WILLE NICHTS SEI. ANTWORT D. MARTIN LUTHERS AN ERASMUS VON ROTTERDAM, MÜNCHEN
³1983 (M. LUTHER, AUSGEWÄHLTE WERKE, HG. VON H.H. BORCHARDT U. G. MERZ, ERGÄNZUNGSREIHE 1.BAND); Lat.:
WEIMARER AUSGABE 18, 600-787; Sekundär: E. MAURER, LUTHER, FREIBURG 1999, 109-128; O.H. PESCH, FREI SEIN AUS
GNADE AAO. (alle Abschnitte über Luther); K. SCHWARZWÄLLER, THEOLOGIA CRUCIS. LUTHERS LEHRE VON PRÄDESTINATION
NACH DE SERVO ARBITRIO, MÜNCHEN 1970 (eignet sich gut als Lesehilfe); R. BRANDT, DIE ERMÖGLICHTE FREIHEIT.
SPRACHKRITISCHE REKONSTRUKTION DER LEHRE VOM UNFREIEN WILLEN, HANNOVER 1992 (geht vor allem dem Weiterwirken
des Themas in der prot. Theologie und Kirche nach)
3.3.1 Anlass und Eigenart der Schrift
Erasmus (1466-1536), der Humanist, Philologe und berühmteste Gelehrte seiner Zeit, war von kath. Seite zu
einer Stellungnahme gegen die Reformation gedrängt worden. In seiner „Diatribe sive collatio de libero arbitrio“
(Gespräche oder Unterredung über den freien Willen, Sep. 1524) griff er Luthers Lehre mit Zeugnissen aus der
theol. Tradition und der Schrift an. L., aufgehalten durch die Bekämpfung der Schwärmer, den Bauernkrieg und
seine Heirat, antwortete erst Dez. 1525. L. schätzte Erasmus wegen dessen Ausgabe des griechischen NT, hielt
aber theologisch nicht viel von ihm. Sein Ton in De servo arbitrio ist sehr scharf: Erasmus sei inkompetent,
langweilig, beschränkt, widersprüchlich, verstehe nichts von der Sache usw. L. tritt in der Rolle des Siegers auf.
Er erkennt ihm aber zu: „Einzig und allein du hast den Kardinalpunkt der Sache erkannt“ (248). – Die Schrift ist
nicht systematisch aufgebaut, sondern geht (oft sarkastisch!) kommentierend an Erasmus‘ Äußerungen entlang.
Darum ist sie schwer zu lesen. – Im Folgenden nur einige wichtige Gesichtspunkte.
3.3.2 Der freie Wille ist nichts; der Mensch als Lasttier
Erasmus: Der Wille kann sich aus sich selbst dem Guten und Heilbringenden zuwenden. L.: Das ist schlimmer
als die Scholastik, die sagt, der Wille könne sich aus sich selbst nur dem Bösen wenden, zum Guten bedürfe er
der Gnade. Aber auch das ist falsch, sonst könnte man sagen, ein Baumstamm habe freien Willen, weil er sich
aus sich selbst nach unten, mit fremder Hilfe nach oben bewegen könne. Er folgt aber immer der Schwerkraft
(vgl. 79-81). Und so auch beim Menschen: Er ist zwar frei zu tun, was er will, aber nicht frei zu wollen, was er
will. Der Wille wird durch äußere Mächte bestimmt, etwas zu wollen. Der Gegensatz ist also nicht: Freiheit vs.
Zwang, sondern Unbestimmtheit vs. Bestimmtheit bzw. Notwendigkeit. Wenn der freie Wille ohne die Gnade
nichts vermag, dann vermag er gar nichts, dann gibt es ihn nicht. – „So ist der menschliche Wille in die Mitte
hingestellt wie ein Lasttier. Wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will ... Wenn der Satan darauf
sitzt, will er und geht, wohin Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu
laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn festzuhalten und in Besitz zu nehmen“
(45f). [Vgl. dazu GESTRICH aaO. 9-12: der Unterschied zu Freud: Das ‚Ich‘ reitet das ‚Es‘.]
3.3.3 Der Mensch als ganzer ist Fleisch
Fleischlich ist der Mensch ganz, insofern er nur das sucht, was das Seine ist (vgl. 184). [=insofern er
Selbsterhaltung/Selbstrechtfertigung betreibt]. L. bestreitet die scholastische Unterscheidung von Geist und
Fleisch – als wenn der Mensch nur im Fleisch schwach wäre. Tatsächlich betreibt der Wille in allem was er will
nur Selbsterhaltung. Darum ist er nicht frei. Der Mensch als ganzer muss erlöst werden, nicht nur das Triebhafte
und Unedle im Menschen [so hat es das spätere aufgeklärte Christentum gemeint]. Joh 3,6: „Was aus Fleisch
geboren ist, das ist Fleisch, es sei denn, dass jemand von neuem geboren wird.“ Fleisch ist der Inbegriff der Welt
ohne Gott (die nicht weiß, dass, wer sich gewinnen will, sich verlieren muss). – Die Werke der Heiden: „Sie sind
niemals unsittlicher und schändlicher gewesen als dann, wenn sie in ihren höchsten Tugenden erstrahlten“ (185).
Sie taten ja alles zum eigenen Ruhm. Darin liegt keine Abwertung der Heiden. Die Christen sind nicht
vorzüglicher, aber sie haben gehört und zu sagen, dass das Heil allein aus Gott durch Christus kommt, ohne die
Werke.
3.3.4 Die Selbstaufgabe Gott gegenüber und die Prädestination
Erasmus hat das Bild: der Mensch am Scheidewege. Für den Weg zum Guten kann er nur mit der Hilfe Gottes
entscheiden. L. ist viel radikaler: Wenn ich mich für Gott entscheide, bin immer noch ich es, der entscheidet. Ich
baue mich als Instanz gegenüber Gott auf. Damit habe ich Gottes Souveränität und Allmacht nicht anerkannt,
mache ihn abhängig von meinem Willen. Es geht ja um die Entscheidung, dass nicht mehr ich entscheide,
sondern Gott für mich entscheidet. Sich für Gott entscheiden, heißt eigentlich, überhaupt nicht mehr entscheiden
zu können, und das ist noch mehr als: überhaupt nicht mehr entscheiden zu wollen. Gott ist nur da als Gott
anerkannt, wo mein Wille aufhört, d.h. letztlich: wo ich selber aufhöre etwas zu sein. Ich müsste mich also
entscheiden können, nicht mehr zu wollen – und das geht nicht, weil die Entscheidung selbst noch ein Willensakt
wäre. „Zwischen meinem Eigenwillen und dem Willen Gottes kann ich mich logischerweise nicht neutral
21
entscheiden. Beharre ich nämlich auf solch einer Entscheidung, so fixiere ich logischerweise meinen
Eigenwillen“ (MAURER aaO. 116). [Hier klingt das paulinische „Ich lebe, doch nicht mehr ich, Christus lebt in
mir“ (Gal2,20) durch.]. Vor Gott ist der Mensch also völlig passiv.
Erst wenn Gott sich für mich entschieden hat, ist der Wille wieder frei: Er kann sich dann verhalten zu der
Entscheidung, die über ihn gefallen ist.
Christus wurde von Gott in den Tod und das Nichts getan und dann zum neuen Leben erweckt. Im Gegensatz zur
katholischen Tradition hebt L. dabei nicht den (Willens-)Gehorsam Jesu hervor, sondern seine völlige Passivität
vor Gott. An ihm und durch ihn geschieht darum die Erlösung, deshalb ist er unser Erlöser.
Wir können verallgemeinern: Solange der Mensch noch ist und als solcher einen Willen hat, geht es ihm um
seine Selbsterhaltung. Die Neuschöpfung durch Gott vollzieht sich über die Auslöschung des Willens zur
Selbsterhaltung, damit über die Auslöschung des Selbst.
Prädestination: Die Stellung des Menschen vor Gott hängt deswegen ausschließlich von Gottes Erwählen und
Verwerfen ab. Wir können nur beten: ‚Dein Wille geschehe‘. Darin liegt etwas Unbegreifliches (warum Gott die
einen erwählt und die anderen verwirft, s. Jakob und Esau (vgl. 161-164), aber darüber können wir mit Gott
nicht rechten) und etwas Tröstliches: Es kommt auf uns, auf unser Glaubenkönnen, nicht an; Gott kennt die
Seinen und wird es schon recht machen. L. autobiographisch: „Denn bei jedem vollbrachten Werk bliebe der
ängstliche Zweifel zurück, ob es Gott gefalle oder ob er etwas darüber hinaus verlange, so wie es die Erfahrung
aller Werkgerechten beweist und ich zu meinem Unglück so viele Jahre hindurch genügend gelernt habe. Aber
nun, da Gott mein Heil meinem Willen entzogen hat und in seinen Willen aufgenommen hat ... bin ich sicher und
gewiß, daß er treu ist und mir nicht lügen wird, außerdem mächtig und gewaltig ist...“ (243).
[Exkurs: Luthers Theodizee. Gott ist die beständige schöpferische Kraft in allen Geschöpfen – auch im Bösen!
Er nimmt die Geschöpfe so, wie er sie antrifft (inveniens, non creans) und hält sie auf ihrem Weg (zum Guten
oder Bösen). Die Menschen können aus eigener Kraft nicht aus ihrem Zirkel [Selbsterhaltung des Systems]
ausbrechen, so bleibt Gottes Allmacht gewahrt. Soll man nun wünschen, dass Gott aus Erbarmen mit den Bösen
mit seiner Kraft und Wirksamkeit aussetze? Nein, denn dann würde man wünschen, dass er aufhört, Gott und
Schöpfer zu sein, dass er aufhört, gut zu sein, damit jene nicht böser werden, vgl. 135-146; dort auch zum
Problem der Verstockung. ]
3.3.5 Die Verwirrung der Vernunft: Offenbarung im Gegensatz (sub contrario)
An Jesus ist zu sehen: Das Heil kommt durch Tod, Kreuz und alle Übel in die Welt. Wenn nun der freie Wille
das Heil wollen könnte, müsste er das eigene Verderben wollen können [d.h. er müsste die Preisgabe der
Selbsterhaltung wollen können], und das ist unmöglich (vgl. 79). Das Widernatürliche, das Unvernünftige und
den freien Willen Vernichtende des Heiles kommt darin zu Ausdruck, dass Gott sich niemals als ein mögliches
Objekt des Willens [zur Selbsterhaltung] sehen lässt: Der Glaube bezieht sich auf Dinge, die man nicht sieht
(Hebr 11,1), und am tiefsten verborgen ist Gott unter seinem Gegensatz (sub contrario): „So, wenn Gott
lebendig macht, tut er das durch Töten, wenn er gerecht macht, tut er das, indem er zu Schuldigen macht, wenn
er in den Himmel bringt, tut er das, indem er in die Hölle führt“ (44). Dadurch wird die Vernunft verwirrt und
gedemütigt. „Gott hat den Demütigen, das ist, die sich verloren geben und verzweifelt sind, seine Gnade
zugesagt“ (43). [Von hier aus ist keine Korrelationsdidaktik mehr möglich!!!]
3.3.6 Die Verborgenheit Gottes
L. hat hier noch einen rätselhaften Gedanken angeschlossen, der über die Offenbarung sub contrario hinausgeht:
Es sei zu unterscheiden zwischen dem gepredigten, offenbaren Gott und dem verborgenen Gott (Deus
absconditus). Das ist Gott in seiner Majestät und seinem unerforschlichen Willen. Er geht uns nichts an: „Quae
supra nos, nihil ad nos“ (108). Während der gepredigte Gott darauf aus ist, dass Sünde und Tod besiegt werden,
beklagt der in seiner Majestät verborgene Gott „weder den Tod, noch hebt er ihn auf, sondern wirkt Leben und
Tod alles in allem. Denn er hat sich nicht durch sein Wort in Grenzen eingeschlossen, sondern hat die Freiheit
seiner selbst über alles behalten“ (ebd.). [Was ist das? Ein Rest des philosophischen Gottesbildes vom
‚Allmächtigen‘ (den L. vielleicht von Dionysios Areopagita hatte?) Oder nur ein „seelsorgerlicher Vorbehalt,
daß wir die Zuwendung Gottes nicht ausloten können“ (MAURER aaO. 128)?
3.3.7 Luthers Anthropologie als Kehrseite des neuzeitlichen Menschenbildes
Der freie Wille ist ein leeres Wort, Menschen werden von fremden Mächten bestimmt, Gott in seiner Allmacht
bewirkt letztlich alles Geschehen, aber Gott ist ganz anders, als sich Menschen etwas Göttliches, Mächtiges
überhaupt vorstellen können; er bedeutet für unsere Vernunft nur Verwirrung. Das Selbsterhaltungsstreben der
Menschen ist nichts als Sünde und führt geradewegs in die Hölle. –Eine radikalere Absage an das neuzeitliche
Menschenbild lässt sich nicht denken. L. hat in Erasmus den Vertreter der Neuzeit erkannt und verurteilt. Die
Neuzeit ist erasmisch geworden (sie hat sich vielleicht bewusst gegen die lutherische Verurteilung entwickelt,
die ihr bekannt war): Menschen regieren die Welt durch ihre Vernunft und ihren Willen, sie erfahren sich als
Subjekt ihres Handelns. Ihr Selbsterhaltungsstreben ist überall die treibende Kraft, vor allem im Kapitalismus
(Adam Smith: wenn alle ihren Vorteil suchen, dient das der Allgemeinheit am meisten. Das ist das Gesetz.).
Aber hat uns nicht gerade im Kapitalismus die Erfahrung der fremdbestimmenden Mächte wieder eingeholt, vor
allem die Erfahrung, dass wir zwar tun können, was wir wollen, aber nicht bestimmen können, was wir wollen?
Darum muss es nun weitergehen mit der „Theologie der Mächte und Gewalten“.
22
4. Von der Schöpfungsgeschichte über Paulus und Augustinus bis zu Luther. Ein
Rückblick
Von der Erschaffung an sind die Menschen zur Herrschaft über die Natur berufen. Man kann die Natur
nicht sich selbst überlassen (dem Gesetz der Selbsterhaltung, notfalls auf Kosten anderer), sie hat ein
besseres Gesetz verdient: Das Gesetz Gottes, die Tora, die schon Gottes Schöpfungshandeln leitet (s.
Sabbat). Von diesem Gesetz geht ein Segen über alles aus. Die Menschen haben den Geist Gottes, um
es zu erfüllen.
Im „Sündenfall“ entscheiden sich Adam und Eva für eine eigene Erkenntnis von gut und böse, für ein
eigenes Gesetz. Sofort fallen sie auf das Gesetz der Selbsterhaltung zurück (man sieht’s in ihrem SichSchämen). Seitdem lastet auf dem Leben ein Fluch.
Paulus denkt in seiner geschichtlichen Lage (Probleme der römischen Christen) darüber nach, ob auch
die Christen die Tora halten müssen. Der damit erstmals in der Bibel gegebene Abstand zur jüdischen
Gesetzestreue bringt ihn zu grundsätzlichen und persönlichen Reflexionen über die Tora. Er stellt fest,
dass das Gesetz, das doch zum Leben führen soll, auch zum Tode führen kann. Dies ist dann so, wenn
es „dem Fleische nach“ getan wird, also im Sinne und zum Zwecke der eigenen Selbsterhaltung. Das
Handeln zur eigenen Selbsterhaltung („Sünde“) lastet wie ein Zwang, wie eine Macht auf den
Menschen. Aus eigener Kraft können sie sich davon nicht befreien, es zerreißt sie, wenn sie von dem
wahren Sinn der Tora wissen und sie doch nicht halten können. Erst der Geist Christi, also der Geist
dessen, der auf die eigene Selbsterhaltung gar nicht bedacht war und von Gott das ewige Leben erhielt,
befreit von dieser Macht. In diesem Geist getan, wird das Gesetz für ihn wieder zum Gesetz des
Geistes des Lebens – was es in biblischer Tradition immer schon gewesen war.
Augustinus ist sich aus eigenen und zeitgeschichtlichen Erfahrungen sicher, dass die Menschen das
Gesetz Gottes überhaupt nicht erfüllen können. Es sei nur gegeben worden, um ihnen zu beweisen,
dass sie es nicht können. Er radikalisiert (und ontologisiert) den paulinischen Gedanken, dass alle
unter der Macht der Sünde stehen und deshalb unvermeidlich selbst sündigen (Erbsünde). Sie können
das Gute noch nicht einmal wollen. Erlösung liegt auch für ihn nur im Geist Gottes. Da es an dem
Menschen gar nicht liegt, muss alles von Gott kommen, Erwählung und Verwerfung (Prädestination).
Die Sündenfolgen, vor allem die Begierde (concupiscentia), bleiben aber auch für die Erwählten
zurück (während es bei Paulus heißt: Das Gesetz des Geistes hat dich frei gemacht von dem Gesetz der
Sünde und des Todes, Röm 8,2). So konzipiert Augustinus das christliche Leben als einen ständigen
Kampf gegen die innere Begierde. Die äußeren Werke der Tora, durch die ja der Segen über die
Schöpfung kommen soll, interessieren ihn nicht mehr; schon seine neuplatonische Einstellung hält ihn
davon ab. Damit bleibt die äußere Welt (civitas terrena) sich selbst überlassen, der Segen der Tora
kommt nicht zum Zuge.
Martin Luther spitzt den Gedanken unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivierung (die er
eben damit befördert) noch weiter zu: Die Menschen sind der Macht ihres Selbsterhaltungstrebens
restlos unterworfen, sie sind nicht einmal frei, auch nur etwas anderes zu wollen (also haben sie keinen
freien Willen). Gottes Gnade ist der reine Widerspruch zu dieser Art von Menschsein. Wenn Gott sich
den Menschen nähern will, muss er sie zuerst vernichten und dann neu schaffen. Gott und Welt
(genauer: Satan) stehen sich wie zwei feindliche Mächte gegenüber, ihr Kampf geht um den
Menschen, der dabei passiv zuschaut. Bei dieser Lage bleibt es (simul iustus et peccator), und in ihr
bewährt und verwirklicht sich der Glaube (als Glaube an die Rechtfertigung). Die Frage, ob und wie
die Gesetzesbestimmungen erfüllt werden sollen, liegt nicht mehr in Luthers Horizont (jedenfalls in
dieser Schrift, und auch nicht im nachfolgenden Protestantismus).
Die Frage im Paradies war: Können die Menschen das gute Gesetz Gottes erkennen?
Die Frage des Paulus war: Können die Menschen das Gesetz, das sie als gut erkannt haben,
auch tun? Kommen Wollen und Vollbringen zusammen?
Die Frage des Augustinus war: Können die Menschen das Gute überhaupt wollen?
Die Frage Luthers war: Haben die Menschen überhaupt einen freien Willen?
Man sieht: eine zunehmende Radikalisierung. Sie geht einher mit einem zunehmenden Abstand des
Christentums vom Judentum, vom torabestimmten Wirklichkeitsverständnis der Bibel. Das Tun der Tora wird
immer unwahrscheinlicher. Zugleich wird die Erfahrung der Mächte, die die Menschen zum Bösen zwingen,
immer stärker. Die beiden Aspekte (kein Tun der Tora/Erfahrung der Mächte) bedingen einander. Daraus kann
man den Schluss ziehen: Das Tun der Tora ist das Mittel gegen die Mächte. Aber der Erkenntnisgewinn dieser
Entwicklung ist: Das Tun der Tora darf nicht im Fleische, es muss im Geiste geschehen. Dieser Geist kommt
von Gott durch Jesus Christus zu allen Menschen und wird im Glauben wirksam.
23
5. Von Engeln und Dämonen, Mächten und Gewalten
Der bisherige Durchgang durch die Anthropologie hat gezeigt: Menschen sind nicht frei, das
Gute zu tun oder auch nur zu wollen. Also ist jetzt von den Mächten zu reden, die sie in ihrem
Handeln und Willen bestimmen.
Die Theologie entwickelte die Angelologie bzw. Dämonologie aus den biblischen Vorgaben.
Seit langem führt aber die Engel- und Mächtelehre ein Schattendasein in der Theologie
(Ausnahme im 20. Jhd: Karl Barth!); die Theologie hat sich der neuzeitlichen
„Entmythologisierung“ der Engelwelt fast widerstandslos angeschlossen.
Die These des Folgenden ist: Engel/Dämonen/Mächte/Gewalten bilden einen eigenen Bereich
der Wirklichkeit. Es gibt sie, und sie sind wirkmächig, sie bewirken etwas: Gutes oder
Schlechtes. Gott ist ihr Schöpfer („Schöpfer des Sichtbaren und des Unsichtbaren“). Mit
seiner Macht können die Menschen auch über die bösen, dämonischen Gewalten Herr
werden, sie in den Dienst des Reiches Gottes stellen.
Die „aufgeklärte“ Neuzeit hat zu ihrem Schaden die Existenz der unsichtbaren Mächte
geleugnet (Folge des Empirismus, der sich an das Sichtbare, Nachprüfbare hält) und sie in den
Bereich des Mythos, des Märchens, des Fiktionalen, des Symbolischen verwiesen. Weil sie
die Mächte nicht mehr kennt, ist sie ihrem (oft dämonischen) Wirken ungeschützt ausgesetzt.
Heute halten die Mächte unsere Welt nahezu ungehindert im Griff.
Aufgabe der Theologie ist es deshalb, über die himmlischen Gewalten und ihre Macht
aufzuklären. Theologie hat heute vor allem „Himmelslehre“ zu sein. Damit leistet sie ihren
unverzichtbaren Beitrag zur Befreiung von der Macht der Mächte und Gewalten.
H. VORGRIMLER, WIEDERKEHR DER ENGEL? EIN ALTES THEMA NEU DURCHDACHT, KEVELAER 1991 (kath.; bietet die Quellen
mit nur dürftiger Interpretation); D. HEIDTMANN, DIE ENGEL: GRENZGESTALTEN GOTTES. ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT UND
MÖGLICHKEIT DER CHRISTLICHEN REDE VON DEN ENGELN, NEUKIRCHEN-VLUYN 1999 (ev.; referiert die Engellehre von E.
Peterson und K. Barth sowie sehr knapp die biblischen Zeugnisse, nur ansatzweise eigene theol. Interpretation). Als
Durchbruch in der Theologie kann gelten: TH. ZEILINGER, ZWISCHEN-RÄUME. THEOLOGIE DER MÄCHTE UND GEWALTEN,
STUTTGART 1999. Lesenswert: R. GUARDINI, ENGEL. THEOLOGISCHE BETRACHTUNGEN, MAINZ 1995; E. PETERSON, DAS
BUCH VON DEN ENGELN, LEIPZIG 1935, NEU IN: DERS., THEOL. TRAKTATE BD. 1, 195-243, WÜRZBURG 1994.
5.1
Beobachtungen
5.1.1 Wiederkehr der Engel(-Vorstellung)
Noch für R. Bultmann ist „die Welt der Geister und Dämonen durch die moderne Naturwissenschaft und
Technik erledigt; sie gehören zum überholten Weltbild der Bibel, nicht zu ihrer bleibenden Botschaft“
(VORGRIMLER 16f). Aber überall außerhalb der Wissenschaft kehren die Engel wieder (oder sind immer präsent
geblieben): – in der Werbung – in der Literatur, vor allem der Kinderliteratur – in Filmen (nicht nur W.
Wenders!) – in der Kunst (z.B. Ernst Klee, von ihm inspiriert: W. Benjamin) – in der Frömmigkeit („von guten
Mächten“; „Abends wenn ich schlafen geh“) – im Sprachgebrauch (Du mein Engel; engelgleich, rein wie ein
Engel) – in der Charismatischen Bewegung („Geistliche Kriegsführung“) – in Esoterik, Okkultismus,
Satanismus (Ekstase, Besessenheit). – In UMBERTO ECOS Roman „Das Foucaultsche Pendel“ (dt. 1989) wird der
von der frühesten Zeit der Menschheit bis in die Gegenwart durchgehende Strom okkulter, hermetischer,
diabolischer Traditionen sichtbar. – Was bedeutet diese starke Präsenz des Themas, das doch von der
Wissenschaft völlig vernachlässigt wird?
5.1.2 Engel und Dämonen in der Bibel
(Engel, hebr. Mal’ak/Mal’akim; gr. angelos/angeloi.) Nur auf einige wenige Stellen kann ich hier hinweisen:
• Gen 3,24: Engel (Cherube) bewachen und hüten den Weg zum Baum des Lebens, der Tora (nach jüdischer
Überlieferung wurde die Tora dem Mose von den Engeln gegeben, vgl. im NT Gal 3,19 und Hebr 2,2).
• Gen 24,34-40: Ein Engel sorgt dafür, dass Rebecca gegen aller Wahrscheinlichkeit Isaaks Frau werden will.
• Gen 28,10-22: Die Himmelsleiter – Jakob der Engelskenner (vgl. auch 32,2): Wer die Engel sieht, wer um
die Engel weiß, wird das Land erhalten, er und seine Nachkommen. Vgl. auch Ex 23,20: Ein Engel führt in
das gelobte Land. “Habe acht auf ihn und höre auf ihn“.
• Gen 32,23-33: Der Kampf am Jabbok: Wer der dunklen, namenlosen, dämonischen Gewalt standhält, ist
gesegnet. Der neue Name „Israel“: Kämpfer gegen Gott (gegen das Göttliche? das, was für göttliche Gewalt
gehalten wird?). Israel können die dunkle Gewalten nicht überwinden.
• Num 22,22-35: Der Engel und Bileams Eselin: Ein Engel greift völlig unerwartet zugunsten Israels ein,
verhindert die befohlene Verfluchung.
• 1 Kön 19,1-13: Ein Engel stärkt den zu Tode erschöpften Elia in der Wüste.
• Das Buch Tobit: Der Engel Raphael hilft Tobias durch alle Gefahren und befreit seine Braut von einem
Dämon.
24
•
Lk 1,5-38: Der Engel Gabriel kündigt der unfruchtbaren Elisabeth und der jungfräulichen Maria die Geburt
ihrer Söhne an.
• Mk 1,12f/Mt 4,1-11/Lk 4,1-13: Engel stärken Jesus nach 40 Tagen Fasten in der Wüste.
• Mt 18,1-10: Die Engel der Kinder stehen allezeit vor Gottes Antlitz, deswegen darf man ihnen keinen
Schaden zufügen.
• Mk 16,1-8/Mt 28,1-8/Lk 24,1-10: Ein Engel verkündigt die Auferstehung Jesu von den Toten
Wir sehen bis hierher schon: Die Macht der Engel wirkt das unwahrscheinliche Gute. Sie gibt im Kampf
zwischen Leben und Tod, wenn der Tod wahrscheinlicher ist, den Ausschlag für das Leben. Daraus erklärt sich
die Nähe der Engel zu Tora und Landbesitz: Die Tora/das Leben im Gelobten Land ist das unwahrscheinliche
Gute in der Welt. Wer es mit den Engeln hält, wird von den dunklen Gewalten/von tödlichen Mächten nicht
überwunden.
Ps 91 gibt hiervon die Zusammenfassung: “Du, der du sprichst: Meine Zuflucht ist Jahwe ... so wird dir
begegnen kein Unheil, keine Plage wird nahn deinem Zelte. Denn er entbietet für dich seine Engel, dich zu
behüten auf all deinen Wegen. Sie sollen auf den Händen dich tragen, dass nicht an einem Stein sich stoße dein
Fuß...“ (Vv 10-12). Aber deswegen soll man sich nicht gleich mutwillig vom Tempel stürzen, Mt 4,6f.
• Jes 6,1-8//Ez 1-1-28//Dan 8,15-19//Dan 7,9-10//Offb 7,1-12//Offb 10,1-7: Engel bestimmen die Geschicke
der Welt, und wer sie kennt, kennt die Weltgeschichte – aber sie stehen unter Gott (als Gottes „Hofstaat“).
• Offb 1,9-2,7: Es gibt Engel der Gemeinden/der Städte
• Offb 12: Gottes Engel (Michael) kämpfen gegen den „Drachen“ und seine Engel zugunsten der Bewahrung
des Lebens der Frau und ihres Kindes
• Hebr 1,5-14: Jesus steht näher bei Gott als die Engel, sie sind ja nur „dienende Geister, zum Dienste
ausgesandt für die, die das Heil erben sollen“.
Diese Texte sind schwer zu interpretieren, denn sie zeigen uns die Himmelswelt, die uns unbekannt ist. Die
Geheimlehren aller Zeiten haben sich daran abgemüht. Aber zu erkennen ist doch: Irdisches Geschehen hat eine
Entsprechung im Himmel und wird vom Himmel her beeinflusst. Engel scheinen für Völker und Herrscher
zuständig zu sein. Gewisse Engel können sich auch gegen Gott stellen und damit gegen die Menschen. Sie
stehen dann im Kampf mit den Engeln, die für die Menschen, gerade für die hilfsbedürftigsten, streiten. Aber die
letzte Berufung der Engel ist es, Gott zu loben, d.h.: seiner Sache, seiner Gerechtigkeit zu dienen. Und am Ende
wird Gott es so einrichten, dass die Engel dieser Berufung entsprechen.
Es scheint, dass diese Ambivalenz der Engelwelt in der biblischen Lehre von den Mächten und Gewalten (archai
kai exousiai) zusammenfassend reflektiert wird:
• Röm 8,38f: „Denn ich bin überzeugt: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder
Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur
können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
• Kol 1,16: „In ihm [Jesus Christus] ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und
das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und
zu ihm geschaffen.“
• Kol 2,10: “... an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.“
• Kol 2,15: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zu Schau gestellt und
einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“
• Eph 1,20f: „...hat er ihn von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle
Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt,
sondern auch in der zukünftigen.“
• Eph 3,10: „Damit jetzt [durch die Verkündigung des Evangeliums an die Heiden] kund werde die
mannigfaltige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten im Himmel durch die Gemeinde.“
• Eph 6,12: „....wir habe nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Mächtigen und Gewaltigen,
nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem
Himmel. Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und
alles überwinden und das Feld behalten könnt.“
Die Zeit dieser „Deuteropaulinen“ (Ende des 1. Jhds.; römische Gewaltherrschaft über den ganzen Erdkreis,
Sklaverei, ökonomisch bedingter Expansionismus, Christenverfolgungen) waren die Christen offenbar besonders
empfänglich für die Wahrnehmung sowohl der irdischen wie der himmlischen Mächte. Sie wussten sich in ein
Machtsystem eingebunden und erkannten die Mächte, die darin wirken. Und sie hatten die Gewissheit, dass
diese Mächte von Christus besiegt sind, dass sie im Glauben an Christus etwas haben, was sie gegen die Mächte
stark macht und von ihrem Zwang befreit. Und was ist – nach dem Eph – der Grund für diese Gewissheit? Der
Apostel ruft es in Erinnerung: „Denkt daran, dass ihr, die ihr von Geburt einst Heiden wart ... dass ihr zu jener
Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der
Verheißung ... jetzt aber seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi“ (2,11-13).
Bürgerrecht in Israel haben=Anteil an der Gewalt über die Mächte! Vgl.: Israel in Gen 32!
25
5.1.3 Engel(-lehre) in der Tradition der Kirche
Hier kann nur ein ausschnitthafter Überblick gegeben werden.
•
•
•
Den Menschen der Antike ist die Existenz von unsichtbaren, guten und bösen himmlischen Mächten völlig
selbstverständlich. Pagane Religion, Gnosis, Mysterienkulte, Neuplatonismus kommen darin überein, auch
Christen und Juden machen keine Ausnahme (TALMUD, Berakoth VI: „Könnte das Auge die Teufel sehen,
die das Universum bevölkern, das Dasein wäre unmöglich.“).
HIRTE DES HERMAS, um 150: „‘Zwei Engel sind bei dem Menschen‘, sagte der Hirte, ‚einer der
Gerechtigkeit und einer der Schlechtigkeit.‘ – ‚Wie nun‘, unterbrach ich, ‘wie, Herr, soll ich ihre Wirkungen
erkennen, da doch beide Engel in mir wohnen?‘ – ‘Höre‘, erwiderte er, ‘und lerne sie kennen! Der Engel der
Gerechtigkeit ist zart, schamhaft, milde und ruhig; wenn dieser in deinem Herzen sich regt, spricht er
sogleich mit dir über Gerechtigkeit, Keuschheit, Heiligkeit, Genügsamkeit, über jegliche gerechte Tat und
über jede rühmliche Tugend. ... Betrachte nun die Werke des Engels der Schlechtigkeit. Er ist vor allem
jähzornig, verbittert und unverständig, seine Werke sind böse und verführen die Diener Gottes. Wenn also
dieser sich in deinem Herzen regt, dann erkenne ihn an seinen Werken“ (Kap. 2): Ein Bewusstsein ist
vorhanden, dass Menschen von äußeren Mächten beeinflusst werden, die in ihrem Innern wirken; zur
Aufmerksamkeit wird gemahnt!
Hauptintention der Christen ist, die Unterordnung dieser Mächte unter Gott und Christus aufzuzeigen. „Die
Engel sind zweitrangige, geistige Lichter. Durch den Sohn Gottes wurden alle Engel erschaffen und vom
Heiligen Geist durch die Heiligung vollendet ... Jedes Geschöpf wird ja von Gott, seinem Schöpfer
begrenzt“ (JOHANNES VON DAMASKUS, 675-749, De Fide orthodoxa 2,3). Ihrer Verwechslung mit
Gott/Göttern wird gewehrt: „Diese nun, die wir nach ihrer Tätigkeit Engel zu nennen gewohnt sind, finden
wir, weil sie göttlich sind, in den heiligen Schriften auch als ‘Götter‘ bezeichnet (Ps 49,1; 85,8; 95,4; 135,2),
aber nicht so, dass uns vorgeschrieben würde, die Dienenden, die uns die Aufträge Gottes überbringen, an
Stelle Gottes zu verehren und anzubeten“ (ORIGENES, 185-254, Contra Celsum 5,4-5).
Engel sollen ihrer eigentlichen Funktion, Gott und den Menschen zu dienen, zugeführt werden. Dem dient
die Einbettung des Lobgesangs der Engel in die Liturgie. CHRYSOSTOMOS-LITURGIE (Mitte des 6. Jhds.):
„Herr, Gebieter, unser Gott! Du hast in den Himmeln Ordnungen und Heere von Engeln und Erzengeln zur
Liturgie deiner Herrlichkeit bestellt: laß mit unserem Einzug heilige Engel Einzug halten, die mit uns die
Liturgie halten und deine Güte mitverherrlichen“ (nach Vorgrimler aaO. 73). Die gottesdienstliche
Gemeinde vollzieht ihr Gotteslob zusammen mit den Engeln: „Wir stellen geheimnisvoll die Cherubim dar
und singen der Dreieinigkeit, die alles Leben spendet, den Hymnus des Dreimal-Heilig: Laßt uns alle Sorge
der Erde ablegen“ (ebd., nach Vorgrimler aaO. 73f). Diese Texte sind auch eine Kampfansage an die
widergöttliche Gewalt der Mächte.
AUGUSTINUS (354-430) hatte die Erkenntnis: „ ‘Engel‘ (angelus/Bote) ist der Name für ein Amt, nicht für
eine Natur“ (sermo 7,3). Er stellt die funktionale Deutung in den Vordergrund, entgegen der ontologischen
(Engel als Seinsmächte). Die Frage, wann die Engel erschaffen worden waren, fand er in der Formulierung
des Schöpfungsberichts „Gott schuf Himmel und Erde“ beantwortet. Er meinte, dass die Engel parallel zur
Schöpfung der Erde miterschaffen worden seien [sie wachsen mit dem Geschaffenen mit!, vgl. De Genesi
ad litteram]. – Der Fall der bösen Engel kommt aus ihrem Hochmut, ihrem Aus-sich-selbst-sein-Wollen:
„Die wahre Ursache der Glückseligkeit der guten Engel liegt darin, dass sie dem anhängen, der das höchste
Wesen ist. Die Ursache der Unseligkeit der bösen Engel aber liegt in ihrer Abkehr von jenem Wesen und in
ihrer Hinkehr zum eigenen Wesen, das nicht das Sein aus sich selbst hat. ... Sie wollten also ihre Kraft nicht
bei ihm bewahren. Während sie in höherem Maße das Sein hätten, wenn sie dem anhingen, der im höchsten
Grade das Sein besitzt, haben sie ihm sich selbst vorgezogen und damit das, was geringeren Grades ist. Das
ist der erste Mangel, die erste Verarmung, das Grundgebrechen jener Natur... (De Civitate Dei 12,6).
Selbsterhaltung/Selbstherstellung/Autopoiesis ist also die Ursache für die bösen Mächte!
Von großem Einfluss war die Engellehre des (PSEUDO-) DIONYSIUS AREOPAGITA (5./6. Jhd.). Er verband die
Bibel mit dem Neuplatonimsus (eines Proklos oder Porphyrios) und stellte sich Engelshierarchien vor, die
von Gott bis zur Kirche herunterreichen, und er systematisierte dies: Drei Hierarchieebenen mit jeweils drei
Stufen (Auf der ersten Stufe, ganz nah bei Gott: die heiligsten Throne – Cherubime – Seraphime; auf der
zweiten Stufe: Gewalten – Herrschaften – Mächte; auf der dritten Stufe: Engel – Erzengel – Fürstentümer,
vgl. De coelesti Hierarchia 6,1-7,1). Über jede dieser Stufen wusste er etwas zu sagen. Aus diesen
Vorstellungen zog er eine doppelte Nutzanwendung: 1. Über die Engelsstufen kann man zu Gott aufsteigen
(„Mystische Theologie“) – so dachten es auch die Neuplatoniker. 2. Unter der himmlischen Hierarchie
kommt die kirchliche (De Hierarchia ecclesistica), aufgeteilt in Bischöfe – Priester – Liturgen (Diakone) bis
hinunter zu den Mönchen , und der Weg zu den Engeln führt nur über die kirchlichen Hierarchiestufen. Die
Bischöfe stehen den Engeln am nächsten; man kann sie selbst „Engel“ nennen. Damit hatte Dionysius den
Neuplatonismus in die kirchliche Heilsvermittlung eingebunden. (Davon inspiriert: Der Dadaist HUGO
BALL, BYZANTINISCHES CHRISTENTUM, 1923, neu Frankfurt 1979, dort S. 196: „Apotheose des Klerus“.
Vgl. meinen Beitrag Hugo Ball und der Weimarer Katholizismus, in: B. Wacker (Hg.), Dionysius DADA
Areopagita, Paderborn 1996, 183-206).
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Im Mittelalter treffen wir bei dem irischen Theologen JOHANNES SCOTUS ERIUGENA (9. Jhd., in Franken
wirkend) auf eine andere Übernahme des Neuplatonismus in die Engellehre: Die Engel entstehen im Geist
des Menschen, und die Menschen im Geist des Engels.
„Wenn du die wechselseitige Verbindung und Einheit der geistigen und vernünftigen Naturen aufmerksam
betrachtest, so wirst du in der Tat finden, daß sowohl das Wesen des Engels in dem menschlichen Wesen, als
auch das menschliche in dem des Engels begründet ist. In jedem entsteht nämlich, was der reine Geist auf
das Vollkommenste erkennt, und wird Eines mit ihm. ... Denn der Engel entsteht im Menschen durch den
Geist des Engels, der im Menschen ist, und der Mensch entsteht im Engel durch den im Engel gegründeten
Geist des Menschen. Wer nämlich ... das reine Denken vollzieht, wird in dem, was er denkt. Die geistige
und vernünftige Engelnatur ist also in der geistigen und vernünftigen Engelnatur ebenso geworden wie die
menschliche in der des Engels durch gegenseitige Erkenntnis, in der der Mensch den Engel und der Engel
den Menschen denkt. Dies ist auch gar nicht wunderbar; denn auch wir selbst werden, indem wir uns
miteinander unterreden, gegenseitig ineinander hervorgebracht. Indem ich nämlich denke, was du denkst,
werde ich dein Geist und bin auf unaussprechliche Weise in dir geworden. Ebenso: wenn du in reinem
Denken nachvollziehst, was ich durchaus denke, wirst du mein Geist, und aus den beiden Geistwesen wird
eines, welches aus dem, was wir beide lauter und unverweilt denken, gebildet ist. ... In diesem Sinne des
gegenseitigen Erkennens wird also ganz sachgemäß gesagt, daß der Engel im Menschen und der Mensch im
Engel geschaffen wurde" (De divisione naturae, zit. nach W.-U. Klünker, Einführung zu Thomas von
Aquin, Vom Wesen der Engel, Stuttgart 1989, 10). – Demnach gehen Engel und Menschen im Vollzug des
Denkens (auch: des Tuns, des Handelns?) wechselseitig auseinander hervor.
Das KIRCHLICHE LEHRAMT sah sich im Hochmittelalter einem neuaufkommenden Neo-Gnostizismus bzw.
Dualismus (neben Gott gibt es eine böse, satanische Macht, die ihm gleichberechtigt ist; so Katharer,
Bogumilen u.a.) gegenüber und definiert dagegen auf dem IV. LATERANKONZIL (1215):
"Wir glauben fest und bekennen ... , dass Gott der eine Ursprung aller Dinge ist, der Schöpfer der sichtbaren
und der unsichtbaren, der geistigen und der körperlichen. Er hat in seiner allmächtigen Kraft zu Anfang der
Zeit in gleicher Weise beide Ordnungen der Schöpfung aus dem Nichts geschaffen, die geistige und
körperliche, d.h. die Engelwelt und die irdische Welt und dann die Menschenwelt, die gewissenmaßen beide
umfasst, da sie aus Geist und Körper besteht. Denn der Teufel und die anderen bösen Geister sind von Gott
ihrer Natur nach gut geschaffen, aber sie sind durch sich selbst schlecht geworden" (De fide catholica, DH
800).
In der Hochscholastik hat THOMAS VON AQUIN (1225-1274) in einem theol. Bravourstück die Lehre von den
Engeln und Dämonen neu durchdacht, dabei auf Aristoteles aufbauend. Die Engel sind "getrennte
Substanzen", d.h. Geister ohne Materialität und ohne Zusammensetzung; sie bilden deshalb keine
Individuen und Arten, sondern jeder eine eigene Gattung (genus); sie stehen in der Seinsordnung notwendig
zwischen Gott und den Menschen. Sie erkennen nicht durch die Sinne, sondern unmittelbar durch ihr Wesen
die Ideen; sie sind nicht an einem bestimmten Ort, lassen sich aber durch ihr Wirken eingrenzen usw. (vgl.
Summa theologica I, qu. 50-64; Th. v. Aquin, Vom Wesen der Engel De substantiis seperatis, Stuttgart 1989
[unvollendet]). Die Engellehre des Thomas scheint einem ontologischen Vollständigkeitsbedürfnis zu
entspringen; über die Bedeutung der Engel im Leben ist bei ihm wenig zu erfahren (sie sind eben "getrennte
Substanzen"). Ihm gegenüber hat der Spätscholastiker DUNS SCOTUS (1265-1308) die Schutz- und
Hilfsfunktion der Engel wieder stärker herausgearbeitet. – Zur scholastischen Engellehre s. unten 7.
Im Raum der REFORMATION trat die Bedeutung der Engel in den Hintergrund. Gründe dafür sind das starke
solus Christus (gegen die bunte katholische Heiligen- und Engelwelt) und die Konzentration des Glaubens
auf das Subjekt (woraus man ersehen kann, dass die Engel in den Kategorien der Subjektivität schlecht zu
erfassen sind). Luther hat aber noch mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen... Die spätere
protestantische Theologie hat bis auf wenige Ausnahmen schnell Anschluss an den neuzeitlichen
Rationalismus gewonnen und schloss damit die Existenz der Engel als "unmöglich/erledigt" (so D.F.
Strauss, 19. Jhd., später ebenso Bultmann) aus (vgl. ART. ENGEL KIRCHENGESCHICHTLICH/DOGMATISCH,
RGG4 1999, 1281-1285). – In der Volksfrömmigkeit blieben die Engel aber immer präsent. In
charismatischen/evangelikalen/kath. fundamentalistischen Gruppen (Bsp. "Engelwerk") erlebt die
Engelverehrung heute ihr revival, s.o. 5.1.1.
Ich halte fest: nach kirchlicher Tradition
• ist die Existenz von Engeln unzweifelhaft (man muss nicht an sie glauben, es gibt sie)
• sind sie Gott untergeordnet, zum Lob Gottes und zum Dienst an den Menschen bestimmt
• sind sie (in der Liturgie) mit den Menschen im Lobpreis Gottes verbunden
• gibt es gute und schlechte, gefallene Engel; dies hängt von ihrem Willen ab
• können Engel in eine hierarchische Wirklichkeitsauffassung eingepasst und insofern zur
Begründung von irdischer (kirchlicher) Macht herangezogen werden
• hängt die Existenz der Engel irgendwie auch vom Denken (Tun?) der Menschen ab.
27
6.
Theologie der Mächte und Gewalten bei William Stringfellow und Walter Wink
Thomas ZEILINGER (s.o. Lit. zu 5.) hat in Deutschland die Theologie der "principalities and
powers" der Amerikaner W. Stringfellow und W. Wink bekannt gemacht und gründlich
reflektiert. Sein Buch bezeugt eindrücklich die Relevanz des Themas für das christliche
Wirklichkeitsverständnis. Er zeigt auch, dass die Rede von Mächten und Gewalten nicht
einem vorwissenschaftlichen Weltbild angehört, sondern an gegenwärtige wissenschaftliche
Diskurse anschlussfähig ist und diese bereichert. Im Folgenden beschränke ich mich auf eine
kurze Wiedergabe der Ansätze Stringfellows und Winks.
LIT.: TH. RUSTER, REZENSION ZU ZEILINGER, TH.: ZWISCHEN-RÄUME ... IN: THEOL. REVUE 97 (2001) 42F.
6.1
Die Mächte und Gewalten im Verständnis William Stringfellows
Biographisches: Der Anglikaner Stringfellow (=St.; 1928-1985; zum Folgenden vgl. ZEILINGER aaO. 35-70; alle
Zitate aus Schriften von St.) schlug sowohl den Priesterberuf wie die Karriere eines ökumenischen
Berufsdelegierten aus, um nach dem Studium des Rechts eine Rechtsanwaltskanzlei in East Harlem, einem
schwarzen Ghetto, zu eröffnen. Dort entwickelte sich sein Verständnis der Mächte und Gewalten: "Langsam
lernte ich etwas, das die Leute, die zum Ghetto gehören, von vornherein wissen, daß nämlich die Macht und der
Zweck des Todes in Institutionen und Strukturen, Verfahrensweisen und politischen Strukturen verkörpert sind –
die Gasgesellschaft oder das Sozialamt, die Mafia oder die Polizei, das Wohnungsamt oder die
Sozialarbeitsbürokratie ... In der Weisheit der Leute aus den Nachbarschaften East Harlems werden solche
Gewalten als dämonische Mächte identifiziert, wegen der unaufhörlichen und erbarmungslosen
Entmenschlichung, die sie bewirken" (38). Obwohl kein Fachtheologe, war er in der theologischen Szene der
USA hoch angesehen, seine Schriften kursierten im Untergrund. Im April 1962 eingeladen zu einer
Podiumsdiskussion mit Karl Barth (!), sagte dieser über ihn: "You should listen to this man" (36). St. engagierte
sich in der Bürgerrechtsbewegung und in der Kritik am Vietnamkrieg. 1972, nach dem Flächenbombardement in
Kambodscha, forderte er ein impeachment-Verfahren gegen Präsident Nixon. Die Titel seiner Bücher sprechen
für sich: "Dissenter in a Great society" (1966); "En Ethic for Christians and other Aliens in a Strange Land"
(1973); "Greive not the Holy Spirit" (1977, unvollendet). Nach einer schweren Schilddrüsenerkrankung zog sich
St. auf eine Insel bei Rhode Island (von ihm 'Eschaton' benannt) zurück, setzte jedoch bis zu seinem Tod seine
politisch-theologische Arbeit fort.
Annäherung an die Wirklichkeit der Mächte: Für St. sind die Mächte nichts Geheimnisvolles oder Wunderbares,
sie sind der modernen Welt gut vertraut, wenn sie sie auch mit anderen Namen bezeichnet. Z.B. als Image einer
Person, das ihr Bild in der Öffentlichkeit objektiviert und dem sie sich unterwirft (Bsp. Marilyn Monroe), oder
auch in Institutionen wie Unternehmen, Bürokratien, Regierungen, die die Menschen zu ihren Zwecken in Besitz
nehmen, oder auch in der Gewalt von Ideologien (Kommunismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch
scheinbar positive Größen wie Humanismus, Demokratie oder Rationalismus), die dazu neigen, sich zu
verabsolutieren und sich alles andere unterzuordnen.
Die Mächte als Geschöpfe Gottes: Obwohl Menschen bei der Erzeugung der Mächte eine Rolle spielen, sind sie
nach St.s Auffassung "nicht von Menschen gemacht oder eingerichtet, sondern, wie die Menschen und die ganze
Schöpfung, von Gott geschaffen zu seinem eigenen Gefallen" (46). Sie sind nicht einfach Projektionen von
Gedanken, sondern "Geschöpfe mit ihrem eigenen Namen, Identitäten, Integritäten" (ebd.). Dies zeigt sich schon
daran, dass Menschen sie nicht vollständig erklären und beherrschen können.
Exkurs: St.s "naive" Bibellektüre: St. geht von einer grundsätzlichen Diastase von biblischem Glauben und
Religion aus (s. Barth). Religiöse Zugänge führen nicht zu Gott, allein das Wort Gottes in der Bibel zeugt von
ihm. Man muss alle Ideen, Hypothesen, Spekulationen über Gott aufgeben und sich der Bibel "mit einer
gewissen Naivität" nähern und bekennen, "daß Gott ... unabhängig von irgendjemandes Intelligenz, Bedürfnis,
Emotion, Verstand oder Interpretationen lebt" (47). Gott ist der ganz Andere. "Diese Wertschätzung für die
Bibel entstammt einer andauernden Erfahrung mit der Bibel, einem alltäglichen Umgang mit der Bibel,
einer persönlichen Versenkung in die biblischen Geschichte, einer anschaulichen Identifikation mit dem
biblischen Drama, einer wiederkehrenden Begegnung mit dem Wort, einer bekennenden Beziehung mit
dem lebendigen Wort" (47).
Der "Sündenfall" der Mächte und seine Folgen: Genauso wie die Menschen haben die Mächte den Sündenfall
hinter sich, und zwar unabhängig von den Menschen. Es wäre Selbstüberschätzung zu meinen, die Menschen
hätten den Fall der Mächte mitverursacht; sie können ja nicht über sie herrschen. Die Mächte beanspruchten
Unabhängigkeit von Gott, dem Ursprung allen Seins, und von den Menschen. Sie stellen nun ihr eigenes
Überleben über alle anderen Zwecke und Werte, sie betreiben ausschließlich Selbsterhaltung (so wie der
Vietnamkrieg irgendwann nur noch geführt wurde, um das Pentagon nicht ins Unrecht zu setzen). Die Folge ist:
Die Mächte, die den Menschen dienen sollen, nehmen nun diese in ihren Dienst. Die Schöpfungsordnung ist
verkehrt und verwirrt: Die Menschen dienen der Selbsterhaltung der Mächte.
Der Tod als höchste Macht: Der Tod ist, abgesehen von Gott, die größte Macht auf Erden. Auch die Mächte sind
ihm unterworfen (dem entspricht die traditionelle Rede vom Teufel als dem obersten der bösen Engel); sie
sterben auch (Images, Ideologien, Nationen etc. gehen zuende). Da der Tod sie beherrscht, arbeiten sie ihm alle
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zu. St. nennt sie "die Minstranten des Todes in dieser Welt" (50). Gewalt ist die Form, die die Herrschaft des
Todes gewöhnlich annimmt. Dabei versteht St. den Tod in einem weiten Sinn: nicht nur das Sterben am Ende
des Lebens, sondern jede Minderung von Leben und Lebendigkeit (wie die Unternehmen, die von ihren
Mitarbeitern vollständige Hingabe fordern, bis hin zum Verzicht auf Kinder).
Die Strategien der Mächte: Weil es entscheidend um den Kampf um den menschlichen Geist geht, spielt der
verbale Faktor die Hauptrolle. St. nennt Verleugnung der Wahrheit; Doppeldeutigkeit und Überbetonung;
Überwachung und Belästigung; Übertreibung und Täuschung; Zerteilung und Demoralisierung (vgl. 52). All
dies erläutert er an Beispielen aus der amerikanischen Politik und Ökonomie.
Die Rivalität der Mächte: Ihre Zahl (und ihr Name: Mk 5,9) ist Legion, denn sie sind viele (Nationen,
Ideologien, Bürokratien, Systeme jeder Art...). So sind die Menschen zwischen vielen Mächten hin- und her
gerissen, manchmal scheint es, als habe sich eine ganze Gruppe gegen sie verbündet. Aber die Mächte liegen
auch untereinander im Streit, kämpfen sie doch letztlich alle nur um das eigene Überleben (Bsp.: Machtkampf
im Stalin-Regime; vgl. den Film The inner circle). Jede hat ein unstillbares Bedürfnis nach Verehrung und
Anerkennung, entsprechend "der Anmaßung eines jeden Götzen, der wahre Gott zu sein" (53). – Für St. war zu
seiner Zeit der Staat an der Spitze der Hierarchie der Mächte; aber diese Hierarchie kann nach den Umständen
auch fluktuieren, je nach dem Stand ihres Kampfes.
Die Unversöhnbarkeit der Mächte: Menschen können aus eigener Kraft der Todesverfallenheit durch die Mächte
nicht entkommen, sie können sie nicht in ihre ursprüngliche Schöpfungsintention zurückführen. St. sieht nur den
Gegensatz: gute Geschöpfe Gottes – Todesmächte nach dem Fall und dazwischen keine Abstufungen und
Vermittlungen.
Jesus Christus, der Sieger über die Mächte – der Zusammenstoß der Mächte mit Jesus: Christus ist das Ereignis
der Souveränität Gottes über die Mächte in der Welt (inkarnatorisch). Die Mächte haben gegen Jesus gekämpft,
aber er ist nicht unterlegen (Kindermord zu Betlehem; Versuchung in der Wüste; Dämonen; die drei Weisen aus
dem Morgenland sind für St. ein Vorgeschmack davon, dass die Mächte Jesus dienen). Sein Tod hat die Mächte
besiegt (sie haben sich, so sagt St., an ihm erschöpft, weil er sich ihrer Macht unterworfen hat und dieser damit
ihren widergöttlichen Charakter genommen hat). Die Auferstehung beglaubigt und bekräftigt das. Im Glauben
können Menschen an der Souveränität Gottes über die Mächte Anteil bekommen. – St. unterstreicht die
Naherwartung (imminence) des zweiten Kommens Christi. Wenn das Kommen Christi als Richter zu jeder Zeit
als unmittelbar bevorstehend erwartet wird, braucht man sich den Mächten nicht mehr zu unterwerfen. "Wir
leben in der Naherwartung des Eschatons. Das ist, für den Rest der Zeit, der einzige Weg, menschlich zu leben"
(60).
Die Kirche als Ort der Freiheit und als Institution: Die Kirche ist der einzige Ort der Freiheit von der Vergötzung
der Mächte des Todes, denn sie ist der Ort des Glaubens an den Sieg Christi über die Mächte. Aber die 'real
existierende(n) Kirche(n)' sind zur Institution wie andere auch geworden und betreiben auch nur das eigene
Überleben, sie werden ihrer Berufung nicht gerecht. Dennoch kann inmitten des 'Chaos von Babylon' die Kirche
als 'Jerusalem-Ereignis' immer wieder Wirklichkeit werden, in manchen Feiern, manchen Bewegungen, manchen
Menschen. Wahre Kirche existiert nur episodisch, und doch nimmt sie die Anwaltschaft für die Erneuerung der
ganzen Schöpfung wahr.
Das Leben der Christen: Christen müssen nichts Besonderes tun, sie haben keine letzten und richtigen
Antworten, sie leben und arbeiten wie andere auch. Aber sie können im Vertrauen auf den Sieg über die Mächte
leben, ihre Aufgabe ist, "innerhalb des Sieges all dessen, was Gott getan hat, zu leben" (63). Sie sind auf den
Tod/den Sieg Christi getauft und können Nein sagen zur Macht des Todes (St. unterstreicht, dass sie nicht die
Freiheit haben, zwischen gut und böse bzw. den Christus und den Mächten zu wählen, Gott hat sie gewählt und
der Gewalt der Mächte entzogen). Ihr eigentliches Handeln ist der Gottesdienst: Gott loben für sein Tun, und für
die Welt Fürbitte halten. Im Gottesdienst "feiern wir die Gabe des Lebens als solche, in dem wir an Gottes
Bestätigung des Lebens im Angesicht des Todes teilhaben", was wir aber im Gottesdienst feiern, ist das, "was
wir mit unserem täglichen Leben bestätigen und wofür wir darin arbeiten" (69). Die besonderen Gaben und
Aufgaben der Christen sind der Widerstand (unter der Nazi-Tyrannei war Widerstand die "einzig mögliche
Lebensweise", aber nach St. hat der "Geist der Achsenmächte" den Krieg gewonnen und lebt im USImperialismus weiter, Widerstand ist weiter nötig. Kirche als Ganze muss im Widerstand sein; in den USA sollte
sie z.B. auf ihre Steuerprivilegien verzichten, um Steuerboykott üben zu können) und die Unterscheidung der
Geister: Christen können besser als andere die dämonischen Folgen des Selbsterhaltungsstrebens von Systemen
erkennen (wie es die Kirchen in den USA z.B. nicht tun, wenn sie die Machthaber nur nach moralischen
Maßstäben kritisieren). St. plädiert für die Erneuerung des Exorzismus öffentliche, politische Zurückweisung der
Macht des Bösen (er selbst führte einen öffentlichen Exorzismus zu Nixons zweiter Amtseinführung wegen des
Vietnamkrieges durch).
Zusammenfassung: St.s Aktualisierung des biblischen Wirklichkeitsverständnisses: (Zeilinger resümiert mit S.
Hauerwas, ebd. 70 u. 364, ich paraphrasiere:) Es ist bemerkenswert, dass St. das Apokalyptische nicht
entmythologisiert. Er betrachtet das Apokalyptische nicht als eine extravagante Weise über Dinge zu reden, die
man besser mit den modernen Sozialwissenschaften ausdrücken kann. Er wollte die biblische Sprache nicht
übersetzen, sondern zeigen, dass mit ihrer Hilfe die Welt, so wie sie ist, besser verstanden werden kann und wir
nicht mehr von ihrer Weise, Gutes zu tun, verführt werden müssen.
29
6.2
Mächte und Gewalten im Verständnis Walter Winks
Der New Yorker Exeget W. Wink (=W.; zum Folgenden ZEILINGER aaO. 71-108; alle Zitate von W.) hat,
angeregt durch St. ("Kap. 3 von 'Free in Obedience' [Werk von St.] veränderte mein Leben", 41), in den 80er
Jahren das Nachdenken über die Mächte und Gewalten mit einer Trilogie über die 'Powers' wieder
aufgenommen. W. ist stark beeinflusst von der Tiefenpsychologie C.G. Jungs und der Prozessphilosophie A.N.
Whiteheads. Gegenüber der Ausschließlichkeit St.s suchte er einen mittleren Weg: "Mächte und Gewalten sind
gewöhnlich schlecht, aber sie schaffen auch Gutes; deshalb sind sie eine Mischung von gut und böse und
brauchen ein bißchen Reform hier und ein bißchen Zurechtweisung da, aber sie dürfen keinesfalls dämonisiert
oder als unheilbar böse abgeschrieben werden" (42).
Die Mächte und Gewalten sind innen und außen: Es erweist sich als unmöglich, das mit den Mächten und
Gewalten Gemeinte in moderne, materielle Kategorien zu übersetzen; es bleibt immer ein gewisser Rest. Das
liegt daran, dass die Mächte sich auf die äußeren Aspekte (politische Systeme, Organisationen, Vorsitzende etc.)
und die inneren Aspekte (Spiritualität, innerer Geist, treibende Kraft, Archetyp) von Manifestationen der Macht
beziehen. Dem entspricht, dass sie im NT als himmlisch und irdisch, göttlich und menschlich, spirituell und
politisch, unsichtbar und strukturell gezeichnet werden.
Das mythologische Weltbild der Bibel und das ganzheitliche Weltbild: Das Weltbild der Bibel war mythologisch
(Himmel und Erde als zwei räumliche Dimensionen, in denen sich das gleiche Geschehen ereignet – wie im
Himmel so auf Erden), deswegen ist es heute "einfach unverständlich" (72). "Irgendwie ist der
Verstehensschlüssel ... verlorengegangen" (73). Dieser kann aber nicht durch ein materialistisches oder ein
spiritualistisches Weltbild wiedergewonnen werden, sondern nur durch ein ganzheitliches: jeder äußeren
Wirklichkeit entspricht eine innere, und beide können nicht aufeinander zurückgeführt werden, sie sind zu
unterscheiden. Diesem Weltbild entsprechend ist der Himmel nicht mehr das Jenseits, sondern das Inseits der
Dinge, ihre – theologisch gesprochen – verborgene Beziehung zu Gott, ihre innere geistliche Wirklichkeit.
Die Wahrheit der Projektionen und Imaginationen: Mythische Bilder sind nicht nur Personifizierungen oder
Hypostasierungen äußerer Verhältnisse, sondern Ausdruck unsichtbarer Realitäten, wie sie C.G. Jung in den
Archetypen (kollektives Unterbewusste) entdeckt hatte. Die 'Geister' der Dinge sind nicht bloß intrapsychischen
Ursprungs, sondern eigene Wirklichkeiten, die nicht anders als in der Form von Bildern und Imaginationen
beschrieben werden können. "Die Imagination arbeitet, als wäre sie fähig, das Übersinnliche sinnlich
wahrzunehmen" (77). [In diesem Punkt hat er m.E. Recht.]
Die Götter und der Gott der Bibel: Die Götter des Polytheismus sind Ausdruck dieser inneren Realitäten, und die
Mythen erzählen das wirkliche innere Drama unserer Realität. Der Gott der Bibel hebt diese Wahrheiten nicht
auf, er ist "die Dynamik, die auf ihre Synthese drängt", "das System der Systeme, die Mutter von allem, das
Leben des Lebens" (78f). Gott ist der Geist mit dem Universum als Körper, er existiert nicht außerhalb des
Universums (kein Theismus/kein Monotheismus, sondern Henotheismus). Götzen entstehen nur, wenn ein
Subsystem die Würde beansprucht, die dem Ganzen zukommt. Im systemischen Denken W.s wirken unsere
inneren geistigen Kräfte am Geist des Ganzen mit. Es ist "genauso wahr zu sagen, daß die Götter uns erschaffen,
als wie zu sagen, daß wir die Götter erschaffen" (79 – das hat W. von Whitehead).
Die Mächte keine Personen: Obwohl sie oft wie Personen begegnen (in Träumen etc. – so wie auch
Computerviren oft personifiziert werden), möchte W. sie nicht als Personen bezeichnen, denn sie haben keinen
Körper, keine Form, sie sind ja nur eine spirituelle Realität. [Mir ist nicht mehr klar, ob er die frühere
Behauptung, die Mächte bezeichneten die innere und äußere Seite der Macht, noch aufrechterhält.]
Die Mächte: geschaffen und gefallen: von St. übernimmt W. , dass die Mächte Geschöpfe sind, die wie die
Menschen den Fall hinter sich haben. Der Fall der Mächte besteht darin, dass sie sich in den Dienst des "Systems
der Beherrschung" (domination system) stellen. Der Geist dieses Systems besteht in der Annahme, dass das Böse
Priorität vor dem Guten hat und deshalb beherrscht werden muss (wie im babylonischen Schöpfungsmythos).
Und dafür braucht es Macht, es herrscht jetzt die Ideologie: "'Macht macht es richtig' ... Das Leben ist ein
Kampf. Jede Form der Ordnung ist dem Chaos vorzuziehen. ... Die Welt ist ein Schauplatz des fortdauernden
Streites, in dem der Preis an den Starken geht. Friede durch Krieg, Sicherheit durch Stärke" (85); das ist übrigens
genau die Ideologie des amerikanischen und zugleich des männlichen Herrschaftssystems. W. glaubt, dass diese
Kultur der Gewalt nicht mit der Natur des Menschen gegeben sei, sondern sich erst auf einer bestimmten
Entwicklungsstufe der Gesellschaft ergeben habe.
Die Erlösung: Jesus hat die "androkratischen Werte durch partnerschaftliche" ersetzt, er hat der Kultur der
Herrschaft die Kultur der Gewaltlosigkeit entgegengestellt. Seine aktive Gewaltlosigkeit führte ihn ans Kreuz,
dadurch hat er das Gottesbild revidiert: Gott ist nicht auf der Seite der Macht, er ist kein Rivale für das
menschliche Machtstreben. Damit werden die Menschen aus dem Gefängnis ihres Hasses gegen Gott befreit.
Das "Christus-Prinzip" kann zum "Archetypen der Menschheit" werden für die, die sich zu ihm hingezogen
fühlen. Dadurch verändern sich die Mächte, werden aus ihrem Dienst am Herrschaftssystem befreit. Das Ego,
die Spiritualität der Macht und des Kampfes, muss sterben, muss von der Illusion befreit werden, es sei das
Zentrum der Welt, um einem neuen, von außen geschenkten Ich Platz zu machen. "Das Ego muß völlig
umorientiert werden mit Gott im Zentrum, aber dies ist unmöglich für das Ego von selbst zu erreichen" (89). W.
30
findet diesen gleichen Gedanken auch bei C.G. Jung und in dem "beinahe universalen" (90) Mythos von Tod und
Wiedergeburt, aber Jesus hat diesen Mythos geschichtlich realisiert.
Das christliche Tun und der Zugang zur spirituellen Dimension: Die Aufgabe der Christen liegt auf der
spirituellen Ebene. Sie sollen den Geist der Macht verändern, denn ein rein äußerlicher, struktureller Wandel
genügt nicht. Dazu brauchen sie Zugang zur spirituellen Dimension: durch Imagination, Träume (vielleicht einen
"Massen-Traum, der anfängt, sich in der Welt zu ereignen", 91), durch das Gebet. "Was die Kirche am besten
tun kann, obwohl sie es allzu selten tut, ist, ein ungerechtes System zu delegitimieren und ein spirituelles
Gegenklima zu schaffen" (93 – sie hat z.B. keine Rezepte und Mittel gegen die Obdachlosigkeit, aber sie kann
"ein beständiges Verlangen danach schaffen, daß Obdachlosigkeit ausgemerzt wird"). Eigentliches Ziel der
Christen ist aber die Feindesliebe, die auf der spirituellen Ebene ansetzen muss: Wir können den Feind nur
lieben, wenn wir den Feind in uns selbst lieben, unseren Schatten, und das können wir, weil Gott uns liebt, wie
wir sind, mit unserem Schatten.
Satan, Dämonen, Besessenheit, Engel: Alle diese Phänomene interpretiert W. als innere Wirklichkeiten, die eine
positive und negative Rolle für die Selbstwerdung spielen, sowohl bei Individuen wie bei Gemeinden oder der
Gesellschaft. Satan kann der Ausdruck des individuellen oder kollektiven Willens zur Macht sein, also der Geist
des Herrschaftssystems und der Gewalt, er kann aber auch den inneren Schatten symbolisieren, den wir
annehmen müssen, um uns selbst und andere lieben zu können (dann ist er 'Lucifer'). Dämonen sind Ausdruck
abgespaltener Persönlichkeitsanteile, es kann aber auch kollektive Besessenheit wie im Nazismus geben: der
Dämon war dann die "tatsächliche Spiritualität des Nazismus" (101), die innere Wirklichkeit von SS,
Hitlerjugend und Rassenwahn. Engel repräsentieren oder verkörpern den Geist einer Person oder Gruppe, so
kann es auch Engel der Gemeinde oder Nationenengel geben. – W. meint, dass die Welt heute auf dem Weg ist
zu einer ganzheitlichen, integrativen, spirtuellen Sicht der Wirklichkeit; das biete die Chance, kollektive
Unheilszusammenhänge aufzudecken und christliches Heil an den Mächten und Gewalten zu bezeugen.
[Meine Frage ist: Ist das nicht alles nur Psychologie? Und musste W. nicht dahin kommen, weil er sich von der
Bibel distanzierte, ihr Weltbild historisierte? Und weil er dann konsequent nicht mehr Gott von den Göttern
unterschied, und dann wieder konsequent Gott zum Inbegriff des Systems der Welt, zum System der Systeme
machte? Hat er nicht Gott mit dem Himmel verwechselt? das Jenseits der Welt mit ihrem Inseits vertauscht?
Darum jetzt noch ein kurzer Abschnitt zum Verständnis des Himmels)
6.3
Der Himmel als Ort der Mächte und Gewalten
(Ich halte mich wieder an ZEILINGER, aaO. 187-218, der wichtige theologische Posititonen zum Thema Himmel
referiert. Die überzeugendste ist die von M. WELKER in UNIVERSALITÄT GOTTES UND RELATIVITÄT DER WELT,
1981.) Der Himmel gehört zur Welt, zur Schöpfung: Gott schuf Himmel und Erde, Unsichtbares und Sichtbares.
Aber der Himmel ist ein besonderer Teil der Welt. Wie der natürliche Himmel steht auch der Begriff Himmel für
die uns relativ unzugänglichen, unverfügbaren Kräfte und Bereiche: Blitz, Donner, Regen, Sonne kommen vom
natürlichen Himmel, dieser ist auch unbegreiflich weit und hoch; dementsprechend steht der Himmel symbolisch
für die uns relativ unzugänglichen kulturellen und sozialen Kräfte, die unser Leben beeinflussen (z.B. die
Zukunft als Feld des Möglichen und Grund der Offenheit der Schöpfung: 'Der Himmel mag wissen, was daraus
wird'). WELKER: "Der Himmel ist der Bereich der Wirklichkeit, der es erlaubt, die Mächte und Kräfte, die unser
Leben bestimmen, die aber nicht in unserer unmittelbaren Wahrnehmung und Kontrolle stehen, in ihrer
Komplexität versinnlicht und plastisch zu erfassen, sie zu durchdenken oder wenigstens zu dechiffrieren" (aaO.
193). Der Himmel ist der Erde gegenüber relativ transzendent. Da die Mächte und Gewalten genau solche Kräfte
sind, die uns relativ, aber nicht völlig unzugänglich sind, die unser Leben bestimmen, die wir aber nicht völlig
bestimmen können, ist ihr Ort der Himmel. Da nun die Mächte und Gewalten aufgrund ihrer Macht leicht für
Götter gehalten werden können, liegt die Verwechslung Gottes mit dem Himmel in der Religion so nahe. Was
Wink das System der Systeme nennt, ist nichts anderes als der Himmel – das übergreifende Integral aller
irdischen Systeme, Inbegriff des Gesamts der Welt. Gott als System der Systeme wäre der Dynamik der Mächte
ausgeliefert. Aber davon ist Gott zu unterscheiden, es gilt: "Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel
können dich nicht fassen" (1 Kön 8,27). Und darin liegt die Bedingung der Möglichkeit, dass Gott auch über
die Mächte noch gebieten kann bzw. der Grund für die Unterscheidung von Gott und Göttern.
Aber wenn es nun heißt: Vater unser im Himmel, dann bedeutet das, dass Gott den Himmel, den Ort der
Mächte und Gewalten, als Ort seiner innergeschöpflichen Gegenwart gewählt hat. So ist Gott bei uns: im relativ,
aber nicht absolut unzugänglichen Raum des Himmels. Über Gott können wir nicht bestimmen, aber er ist doch
unseren Bitten zugänglich, da er im Himmel ist. Und so macht Gott auch die himmlischen Gestalten der Engel
zu seinen Mittlern und Boten. Vom Himmel her handelt Gott am Menschen, die Engel sind bei ihm – sie
vertreten sowohl die Schöpfung bei Gott (und loben ihn) wie auch Gott bei den Menschen. Der Himmel ist
Zwischenbereich zwischen Welt und Gott, der Ort der "wechselseitigen Einwohnung der Welt in Gott und
Gottes in der Welt" (J. MOLTMANN, aaO. 197). Der Himmel besagt sowohl die Nähe wie das bleibende
Gegenüber von Gott und Schöpfung.
Und ganz exakt heißt es auch, dass Jesus in den Himmel aufgenommen wurde. Er wirkt so, dass er seine
Macht bei den Mächten und Gewalten geltend macht und sie zum Guten und nicht zum Schlechten bestimmt.
Der Sieg Christi über die dämonischen Mächte musste zu seiner Aufnahme in den Himmel führen.
31
7.
Zusammenfassung: Was sind Engel-Dämonen-Mächte-Gewalten?
7.1
Umrisse einer Theologie der Mächte und Gewalten
Ich versuche Kap. 5 und 6 zusammenzufassen:
1. Unter Engeln, Dämonen, Mächten und Gewalten können wir systemische Eigendynamiken
verstehen, also Auswirkungen des Selbsterhaltungswillens von (psychischen oder sozialen)
Systemen. Sie lassen sich auf allen Ebenen des Daseins antreffen: personal (z.B. als
psychische Zwangsmechanismen), in Beziehungen zwischen Personen (der Lehrer sagt:
Beteilige dich mehr; der Schüler zieht sich auf diesen Druck hin immer mehr zurück; s. auch
Verhaltensmuster in Partnerschaften), in Gruppen und Familien (Eltern streiten sich, das Kind
wird krank, um Anlass zu gemeinsamer Sorge zu bieten), in Institutionen und Organisationen
(die stets so handeln, dass ihre Fortsetzung gesichert ist, z.B.: die Kritik am Chef schweißt die
Mitarbeiter zusammen), bei Nationen und politischen Gebilden (z.B.: zum Heimat- und
Nationalgefühl gehört immer die Abgrenzung gegen die andere Seite), in Ideologien und
Weltanschauungen (Rassismus, Faschismus, Kapitalismus etc., wie bei Stringfellow
dargestellt), in abstrakten Funktionssystemen (z.B. Geldwirtschaft).
NB: Eine vollständige Erklärung dieser Zusammenhänge ließe sich nur durch eine Reformulierung der
Systemtheorie auf das Phänomen der Mächte und Gewalten hin erreichen.
2. Diese Mächte sind unsichtbar und in der Regel schwer zu erkennen, denn sie entziehen sich
dem Bewusstsein der Beteiligten, sonst könnten sie gar nicht wirksam werden.
3. Sie üben eine wirkliche Macht aus, die um so größer ist, je mehr sie unerkannt bleiben
(Gegenbeispiel Familientherapie: die Aufdeckung der systemischen Strukturen hilft). Das
heißt aber umgekehrt: Ihre Macht ist begrenzt, denn sie kann erkannt und dadurch gebannt
werden. Die Unentrinnbarkeit ist nur scheinbar.
4. Sie sind Wesen zwischen Gott und Mensch. Gott hat sie geschaffen, denn wenn er die Welt
erschaffen hat, dann hat er auch den Selbsterhaltungswillen aller Geschöpfe geschaffen und
die systemischen Strukturen, die sich daraus ergeben.
Die Schöpfungserzählung drückt das durch die Rede von 'Himmel und Erde' sowie durch den Hinweis auf das
Unterscheiden als schöpferische Handlung aus: Durch Unterscheidung von System und Umwelt/Selbst- und
Fremdreferenz entstehen Systeme, die versuchen, sich gegen die Umwelt stabil zu erhalten.
Als gute Geschöpfe Gottes sollen sie den Menschen dienen.
Luther hat gesehen, dass die Mächte nur in der Kraft Gottes wirken können, auch wenn sie zum Bösen wirken,
vgl. oben 3.3.4.
Aber auch die Menschen haben sie erschaffen, denn sie entstehen infolge menschlichen
Denkens, Fühlens und Handelns (hier hat die theologische Rede von den Menschen als
Miterschaffern, Cocreatores ihren Platz). Auch die Menschen erschaffen sie zu ihrem Dienst.
5. Gott und die Menschen können die Systeme verschieden codieren (s.o. 6.3: der Himmel als
Begegnungsraum von Gott und Mensch in der Welt). Der Staat z.B. kann von Menschen als
Mittel für das gerechte und menschliche Zusammenleben eingerichtet werden (Code:
Gemeinwohl/Beteiligung aller an der Macht), aber auch als Machtinstrument (Code:
Machtkampf der Starken gegen die Schwachen). Die Geldwirtschaft kann auf leichten Tausch
der Güter, auf den Wohlstand aller hin codiert werden, aber auch auf die Vermehrung des
Reichtums der einen zu Lasten der anderen.
Gott codiert die Systeme durch seine Tora! Durch die Gebote der Tora übt er seinen Einfluss
auf Familie, Recht, Staat, Wirtschaft usw. aus (und ist dabei auf die Mithilfe der Menschen
angewiesen). Darum hängen Engel und Tora in der Bibel so eng zusammen.
Vielleicht können wir jetzt verstehen, was Engel in der Bibel sind: die konkreten Auswirkungen von Torabestimmten Systemen, jeweils im Gegensatz zu ihrer menschlichen Codierung. Vgl. die Stellen oben 5.1.2:
Gen 3: Engel hüten den Weg zum Baum des Lebens, der Tora. Gen 24: Ein Engel sorgt durch das Institut der
Brautwerbung dafür, dass die Abrahamsverheißung weiter gehen kann. Ex 23: Ein Engel führt in das gelobte
Land, er steht für die Tora, die Bedingung für das gute Leben im Lande ist. Num 22: Der Engel und Bileams
Eselin: Gott codiert das Institut der Feindverfluchung um. 1 Kön 19: Ein Engel stärkt den zu Tode erschöpften
Elia in der Wüste, kurz vor der neuen Offenbarung Gottes am Horeb (=Gabe des Gesetzes). Tobit 4 u. 5:
Nachdem Tobit Tobias in der Tora unterwiesen hat, erscheint der Engel Rafael. Lk 1: Nachdem der Engel
Gabriel erschienen ist, loben Maria ('Magnifikat') und Zacharias ('Benediktus') die Segnungen der Erwählung
32
Israels und der Tora. Mt 18: Die Engel schützen die Kinder und die Schwachen genau wie die Tora. Mk 16/Mt
28/Lk 24/Joh 20: Der Engel der Auferstehung erklärt den Sieg des Lebens über den Tod, genau wie es Dtn 30 für
die Tora verheißen ist. – Wo nach Gottes Gesetz gelebt wird, sind wir "von guten Mächten wunderbar
geborgen", erscheinen Engel. Tora-bestimmtes Leben entfaltet eine eigene systemische Wirkung, die nicht
nur aus dem Handeln der Menschen kommt. – Nur an den Stellen der Bibel, bei denen die Tora keine direkte
Rolle spielen kann (nämlich im Verhältnis zwischen den Völkern, da ist die Tora nicht Gesetz), müssen die
Engel direkt kämpferisch eingreifen, können sie nicht über das System der Tora wirken, vgl. Dan und Offb.
6. Der "Fall" der Mächte und Gewalten ereignet sich dann, wenn die Codierung der Systeme
(Institutionen etc.) auf Selbsterhaltung hin sich verselbstständigt und sich gegen die
Menschen richtet, denen sie dienen sollen. Die Mächte werden dann autonom, unabhängig
von Gott und den Menschen, s.o. Stringfellow, aber auch schon Augustinus, oben 5.1.3.
7. Die Mächte können als Personen oder doch mindestens personal erscheinen, und das aus
zwei Gründen: a) Sie haben ihr Sein aus dem Handeln von Personen, nämlich von Gott und
den Menschen. Ihre Personalität ist abgeleitet, geliehen. b) Sie begegnen wie Personen –
verlockend, verführerisch, überredend, zwingend, aber doch niemals wie eine unentrinnbare
Gewalt oder Schicksalsmacht. Die Rede von der Personalität der Engel hält daran fest, dass
sie eben keine anonyme Gewalt, kein Schicksal sind, dass sie beeinflussbar sind. – Im
biblischen Sprachgebrauch sieht man: Die Mächte sind um so personaler, je mehr sie den
Menschen dienen und die Begegnung mit ihnen in Freiheit geschieht (vgl. Tobias; Maria: Mir
geschehe nach deinem Wort). Dann sind es Engel. Als Dämonen (deren Name 'Legion' ist,
also zerrissene, vervielfältigte Persönlichkeiten) oder Mächte und Gewalten erscheinen sie,
wenn sie als anonyme Strukturen und Schicksalsgewalten auftreten (s.o. 5.1.2: Reiche,
Throne, Herrschaften, Fürstentümer) und ihnen gegenüber scheinbar keine Freiheit mehr
bleibt. Dazu ZEILINGER aaO. 219-267; B. J. CLARET, GEHEIMNIS DES BÖSEN. ZUR DISKUSSION UM DEN
TEUFEL, Innsbruck 1997, 337-359.
7.2
Eine Relecture der klassischen katholischen Lehre von den reinen Geistern
Die neuscholastische Dogmatik enthält einen Traktat von den "reinen Geistern", den ich ganz kurz referiere, um
zu überprüfen, ob die oben vorgetragene Interpretation einen Anhalt in der Tradition hat. Zum Folgenden: F.
DIEKAMP, KATHOLISCHE DOGMATIK NACH DEN GRUNDSÄTZEN DES HL. THOMAS, Münster 3-51921, Bd. II, § 1218. Bemerkungen in [ ] von mir.
Es wird gelehrt:
§ 12 Dasein und Ursprung der Engel. Es gibt Engel. Sie sind reine Geister und persönliche Wesen. Sie
übertreffen die Menschen an Vollkommenheit und Macht. Sie sind von Gott geschaffen aus dem Nichts.
Theologische Gründe für ihr Dasein: 1. Sie passen in die Stufenfolge der Vollkommenheit [das kommt von Ps.Dionysius Areopagita], 2. Gott muss würdiger gelobt werden können als nur durch Menschen [das ist biblisch
gedacht].
§ 13 Die rein geistige Natur, die Zahl und die Unterschiede der Engel. Sie sind rein geistig, bloße Formen ohne
Materie. Sie sind unsichtbar [das gehört, wie gesagt, zu ihrem Wesen]. Ihre Zahl ist überaus groß [jedes
wirkliche oder mögliche psychische oder soziale System hat einen Engel]. Sie sind untereinander nicht gleich.
Jeder Engel ist eine eigene Spezies, weil sie sich durch die Materie nicht unterscheiden können. [Das alles passt
zu obiger Deutung. – Es gibt Versuche, so die Dogmatik, ihre Zahl zur Zahl der Menschen in ein Verhältnis zu
setzen. Der Text versteht aber nicht, dass die Engel auch Geschöpfe des Menschen sind. Darum führen diese
Versuche zu nichts.]
§ 14 Die natürlichen Eigenschaften und Kräfte der Engel. Sie sind unsterblich [die Gattung der Mächte und
Gewalten vergeht nie?!] und unveränderlich [sie können sich aus sich selbst nicht verändern, aber verändert
werden?!]. Sie sind definitiv im Raum, wenn auch nicht genau lokalisierbar; Thomas: Sie sind durch ihre
Tätigkeit, nicht durch ihre Ausdehnung im Raum [das passt]. Sie sind nicht ewig wie Gott, ihre Tätigkeit findet
in einem Nacheinander statt. Ihre Erkenntnis ist sehr vollkommen, aber in Bezug auf Gott und die Zukunft
begrenzt; die geheimen Gedanken kennen sie nicht [vor dem System bleiben die Menschen Geheimnis]. Sie
haben eine Sprache [s. Stringfellow!] und einen freien Willen. Sie haben eine außerordentliche Festigkeit in
ihren Beschlüssen, es steht ihnen eine sehr große Macht zu Gebote [das stimmt genau].
§ 15 Der Urstand der Engel und ihre Prüfung. Gott hat sie von Anfang an in die übernatürliche Ordnung
[=Ordnung der Tora] erhoben, sie sollen an der übernatürlichen Gerechtigkeit mitwirken. Alle Engel hatten eine
sittliche Prüfung zu bestehen [sonst könnten sie ja nicht an der Gerechtigkeit teilnehmen; auch sie sind
gebotsfähig, haben sich an der Alternative 'Selbsterhaltung – freies Dasein für andere' zu entscheiden. Je nach
ihrer Entscheidung wird über ihr ewiges Geschick entschieden: entweder Beseligung [sie dienen der
Gerechtigkeit] oder Verdammnis [sie werden zu todbringenden Mächten, selbst dem Tod unterworfen].
33
§ 16 Die Seligkeit der Engel im Himmel, ihre Aufgaben und die ihnen gebührende Verehrung. Die einmal
gewonnene Seligkeit der Engel ist unverlierbar [hat der Engel Israels nicht aber im Zusammenhang der Intifada
seine Seligkeit verloren?!], sie steigert sich nur akzidentiell durch die Freude über die Geretteten (Eph 3,10; Lk
15,10). Ihre Aufgaben sind: Anbetung und Lob Gottes und Ausbreitung des Reiches Gottes sowie Sorge für die
Menschen (als Schutzengel, Gemeindeengel, Völkerengel) [das alles schreibt die Bibel der Tora zu]. Die
Verehrung der Engel ist gut und nützlich, aber es dürfen ihnen keine göttlichen Ehren erwiesen werden [hier
liegt der entscheidende Vorbehalt gegen den Götzendienst].
§ 17 Die bösen Geister, ihre Sünde und ihr Sturz. Es "kann nur eine voreingenommene und gewalttätige
Schriftdeutung das Dasein und die Persönlichkeit der bösen Engel leugnen" (66) [Das ist einfach richtig]. Die
Sünde der Engel bestand in ihrer Hoffart (superbia), sie wollten es Gott in seiner Unabhängigkeit und Herrschaft
gleichtun; sie waren nur auf ihre natürliche Vollendung bedacht bzw. erstrebten das übernatürliche Endziel als
etwas ihnen Zustehendes. [Das ist es, was Stringfellow in anderen Worten beschreibt!] Ihre Strafe: Verfinsterung
und Verblendung der Erkenntnis, die Geneigtheit zum sittlich Falschen, vollständige Verhärtung und
Verstocktheit des Willens, "im Sinne sowohl der Unbußfertigkeit als auch der Absicht, stets böse zu handeln"
(68) [ungefähr das, was das heutige Geldsystem mit den von ihm ergriffenen Menschen wirkt]. Die Mächte
erleiden, indem sie böse handeln, selbst höllische Qualen. Nur die Gnade könnte sie retten, aber die enthält Gott
ihnen vor [vgl. dazu Stringfellows Rigorismus hinsichtlich der 'Unversöhnbarkeit der Mächte' und auch schon
Luther, oben 3.3.4 und 3.3.5]. Eine Allversöhnung (Apokatastasis) der gefallenen Engel ist ausgeschlossen.
[Über diese Frage ist aber theologisch immer wieder gestritten worden. Die Lehre des Origenes von der
Apokatastasis ist zwar kirchlich verurteilt worden, findet aber immer wieder Anhänger, z.B. in unserem
Jahrhundert H. U. von Balthasar. Vgl dazu auch meinen Beitrag "AUFERSTEHUNG DES FLEISCHES" – EINE
HANDLUNGSANWEISUNG FÜR CHRISTEN IN EINER GOTTFEINDLICHEN WELT?, in: Kirche und Schule 27 (2000) 111 (bei mir erhältlich)].
§ 18 Zustand und Wirksamkeit der bösen Geister vor dem Weltgericht. Bis zum Weltgericht ist die Luft
zwischen Himmel und Erde voll von feindlichen Geistern (vgl. Eph 2,2; 1 Petr 5,8). Der Teufel besitzt infolge
der Sünde Adams eine Herrschaft über die ganze Menschheit (Joh 12,31; 14,30: Fürst dieser Welt; 2 Kor 4,4:
Gott dieser Weltzeit). Diese Herrschaft hat ihm Christus entrissen (Mt 12,29; Kol 1,13; Kol 2,15; Hebr 2,14; 1
Kor 15,26). Durch Zulassung Gottes darf der Teufel seine Macht noch vielfach betätigen [vgl. Offb 12; – hier
liegt ja das ganze Problem der Theodizee; vgl. aber Stringfellows Überlegungen zum Sieg Christi und zur
Aufgabe der Kirche und der Christen], nämlich durch: Versuchungen (mit List und Verschlagenheit, Reizung des
sinnlichen Begehrens, auch Nötigung ist nicht ausgeschlossen [man denke an die Werbung, die Propagierung
einer egozentrischen Kultur etc.], durch Verursachung physischer Übel [da fällt unserem Dogmatiker nur der
Dämon Asmodäus aus dem Buch Tobit ein, zu denken ist aber auch an: Altlasten, Kriegsfolgen, Verkehrsfolgen,
Erderwärmung, CO²-Ausstoss usw.) sowie durch Besessenheit [die Besesssenheit durch das Nazi-Regime hat
Diekamp noch nicht kennengelernt, er hätte sie hier anführen können].
Die neuscholastische Engel- und Dämonenlehre ist eine seltsame Mischung aus einer
Ontologie der Wirklichkeitsebenen, die sich letztendlich vom Neuplatonismus herschreibt und
über Dionysius Areopagita in das Christentum eingedrungen ist, und biblischen Wurzeln. Der
biblische Duktus gewinnt aber je länger je mehr die Oberhand. Die eigentümliche Zeit- und
Kontextlosigkeit dieser Lehre entspringt ihrer Formierung durch Thomas von Aquin (s.o.
5.1.3 zur Hochscholastik/Thomas von Aquin: Engel als getrennte Substanzen), sie läßt sich
aber durch die Verbindung mit Phänomenen unserer Gegenwart leicht auflösen. Es ist ja, als
wenn Stringfellow nur diese Dogmatik gelesen und sie auf die Verhältnisse in East Harlem
(vgl. oben 6.1) adaptiert hätte. Die Mächte- und Gewaltenlehre der Zukunft braucht nur die
Begriffe und Kategorien dieser alten Theologie mit einer systemtheoretischen Reflexion der
Gegenwart zu verbinden, um die "Himmelslehre" vorlegen zu können, die unsere Zeit so
dringend benötigt. Theologische Himmelslehre wird die neue Form der Theologie der
Befreiung sein.
34
8.
Der neue Mensch
Wir haben aus der biblischen Urgeschichte gelernt (vgl. oben 2.4): Der Mensch ist a) ein
gutes Geschöpf Gottes, b) ein Sünder, c) ein neues Geschöpf (in Christus, das gilt für
Christen). Das sind die Eckdaten der theologischen Anthropologie. Wie können sie nun
genauer verstehen:
a) Der Mensch ist ein gutes Geschöpf Gottes, d.h. er verdankt sein Leben und Sein ganz
und gar Gott. Er lebt nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Lebensmacht Gottes (vgl. oben
2.2: Luther, Kl. Katechismus). Darum ist schon Schöpfung Rechtfertigung (vgl. oben 2.2).
Als gute Geschöpfe sind die Menschen dazu berufen, den Geist des Dasein aus
Rechtfertigung überall zu verbreiten. Aus der Natur, die dem Gesetz der Selbsterhaltung folgt,
soll ein Garten werden, der dem Gesetz des geschenkten Daseins folgt (vgl. oben 2.2 zu 'Das
Wasser wimmle..' und 'Lasset uns den Menschen machen'). Dieses "Gesetz des Geistes des
Lebens" (Röm 8,1) ist die Tora.
b) Der Mensch ist ein Sünder. Wenn er das Gesetz Gottes verwirft, weil er aus eigener und
nicht aus fremder Kraft leben will, dann fällt er auf den Zustand der Natur zurück. Er, der
Freiheit von Gott wollte, ist dem Zwang zur Selbsterhaltung unterworfen. Und nicht nur er,
auch alle Werke (Systeme, Lebensordnungen), die er schafft. Im Wissen um die von Gott
ermöglichte und in der Sünde verlorene Freiheit (vom Selbst-Sein-Müssen) haben Paulus,
Augustinus und Luther (vgl. oben 3.1 bis 3.3) die Zwanghaftigkeit des Daseins unter der
Sünde eindrücklich aufgezeigt. Alles wird für den Sünder zum Zwang, weil er mit allem, was
er tut und denkt, seiner Selbsterhaltung dienen muss. Sogar das gute Gesetz Gottes ist davon
nicht ausgenommen (Röm 7, vgl. 3.1). Stringfellow hat diese Erfahrung für die Lebenswelt
der Moderne weitergeführt, die infolge ihrer hohen systemischen Ausdifferenzierung die
Menschen der Gewalt der selbstgeschaffenen Institutionen, Ideologien etc. unterwirft (vgl.
6.1). In den späten Schriften des Neuen Testaments ist unter dem Druck des Römischen
Imperiums bereits eine vergleichbare Erfahrung präsent, die in einer Theologie der "Mächte
und Gewalten" artikuliert wurde (vgl. 5.1.2 zur 'biblischen Lehre von den Mächten und
Gewalten').
c) Der Mensch ist eine neue Kreatur. Weil Gott dem in die Sünde (den Widerstand gegen
Gott!) verstrickten Menschen treu bleibt (vgl. 2.3 zu Gen 3,20-24 'Eva, Mutter aller
Lebendigen',und 2.4 zu Gen 6,5-9,17 'Sintflut'), gibt es Auswege aus der Gewalt der Sünde,
des 'Fleisches', der Mächte und Gewalten. Menschen können im Glauben an Gott wieder das
gute Geschöpf werden, als das Gott sie geschaffen hat. Aber vorher müssen sie die Macht der
Sünde loswerden, die sie und ihre Welt bis in die tiefsten Fasern durchdringt: Sie müssen sich
selbst und die Welt loswerden, um ein neues Geschöpf in einem neuen Himmel und einer
neuen Erde (Offb 21,1) werden zu können.
Zahlreiche Texte im Neuen Testament bezeugen die Erfahrung, dass Christen im Glauben an Jesus Christus
solche neuen Menschen geworden sind. Diese Texte sollen uns Mut und Gewissheit geben, dass das möglich ist.
Röm 6,6-11: "Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Sündenleib vernichtet
wurde, auf dass wir nicht mehr der Sünde dienten. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir
auch mit ihm leben werden. ... Denn mit seinem Sterben ist er [Christus] der Sünde gestorben ein für allemal, mit
seinem Leben aber lebt er für Gott. So müsst auch ihr euch als solche betrachten, die für die Sünde tot sind, für
Gott aber in Jesus Christus leben."
2 Kor 5,17f: "Also: wenn einer in Christus ist, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen; siehe, Neues
ist geworden. Das alles aber kommt von Gott her, der uns mit sich versöhnte durch Christus und uns den Dienst
der Versöhnung übertrug."
Gal 2,19f: "Denn durch das Gesetz bin ich dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Mit Christus bin ich
gekreuzigt. Ich lebe, doch nicht mehr [als] Ich, sondern Christus lebt in mir."
Gal 5,24f: "Die, welche zu Jesus Christus gehören, haben das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Genüssen
gekreuzigt. Wenn wir nun durch den Geist das Leben haben, so wollen wir auch im Geiste wandeln."
Eph 2,10-22: Nachdem nun die Heiden, die einst von Gottes Volk "fern" waren, durch Christus mit Gott
versöhnt worden sind, ist die "Scheidewand" und die "Feindschaft" [zwischen Juden und Heiden] niedergerissen.
Das hat Christus getan, "um die beiden in ihm als Friedensstifter zu einem neuen Menschen umzuschaffen."
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Offb 21,1f: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde
sind vergangen. ... Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich herabsteigen aus dem Himmel von Gott
her, bereitet wie eine Braut..."
Diese Texte zeigen: Christen (Heiden) werden dadurch neue Menschen, dass sie durch
Christus mit Gottes Volk, mit Israel, verbunden worden sind und damit auch an der
lebensschaffenden Kraft der Tora Anteil haben. (So auch ganz deutlich der 1 Petr, vgl. dazu TH.
RUSTER, DER VERWECHSELBARE GOTT aaO. 37-43; 177-187; vgl. auch mein Vorlesungsskript Christologie: Jesus
traut allen Menschen das Tun der Tora zu und erwartet deswegen das baldige Kommen des Gottesreiches).
Schon Gen 32 (vgl. oben 5.1.2) zeigt: Israel ist das Volk, das den dunklen Mächten nicht
unterliegen muss, denn mit Gottes Erwählung, dem Bund und dem Gesetz hat es die Mittel
dagegen. Das muss dann auch gegenüber den Mächten und Gewalten gelten, die uns heute
bedrängen, d.h. gegenüber den zerstörerischen Zwangsmechanismen der geldbestimmten
Ökonomie (vgl. oben 1.1.3.1 und 1.1.3.2 und die dort angegebene Literatur).
Ich sehe vier Torabestimmungen, mit deren Hilfe es gelingen kann, den Zwang des heutigen ökonomischen
Systems zu überwinden:
• Das Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20f; Lev 25,35-38): Der Zins ist die Wurzel des Wachstumszwangs und
aller ökonomischen Verheerungen. An seine Stelle kann eine andere Form der Sicherung des Geldumlaufs
treten (dazu H. CREUTZ, DAS GELDSYNDROM aaO. 407ff)
• Regelungen zur Entschuldung (Dtn 15,1-11;Lev 25,1-7): Menschen oder Staaten durch Überschuldung in
den Ruin zu treiben, ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Ein internationales "Insolvenzrecht" wird heute von
allen vernünftigen Fachleuten gefordert.
• Grundbesitz muss Gemeineigentum sein, er darf nicht dauerhaft in der Verfügung privater Kapitalinteressen
bleiben (Lev 25,13-34). Spekulationen mit dem knappen Gut Grund und Boden treiben die Preise in die
Höhe und führen zur Ungleichkeit der Lebenschancen – in den Innenstädten zuerst, aber auch bei dem
fruchtbaren Land in den armen Regionen.
• Es müssen die Produkte, nicht die Arbeit besteuert werden (Der 'Zehnte', Dtn 14,22-28). Besteuerung der
Arbeit schafft Arbeitslosigkeit und sinnlose Massenproduktion sowie Massenabfall. Die Besteuerung der
Produkte macht Arbeit billig und beseitigt Arbeitslosigkeit. In die Produkte kann ihr ökologischer Preis mit
eingerechnet werden, sie bleiben länger erhalten, werden repariert (und schaffen damit wieder Arbeit).
Diese Toragebote müssen natürlich für heute weiterentwickelt werden, so wie es die jüdische Halacha immer
getan hat.
Die Lebenskraft der Tora scheint darin zu bestehen, dass sie die Eigendynamik von
menschengeschaffenen Systemen, sofern diese Macht über die Menschen gewinnt (vgl.
7.1), erkennt und verhindert. Das zeigt sich an diesen ökonomischen Bestimmungen,
ließe sich aber auch für andere Bereiche aufzeigen. Insofern ist die Tora praktizierte
Überwindung des Götzendienstes, denn jene autonom gewordenen Mächte und
Gewalten sind das, was die Bibel Götzen nennt. Alle Tora-Gebote setzen das Erste
Gebot sachlich voraus. – Dass es mit einer bloß mechanischen Anwendung der
Toraregeln nicht getan ist, hat Paulus nachdrücklich aufgewiesen. Ohne den Glauben an
die Rechtfertigung, d.h. ohne den ermöglichten Verzicht auf Selbstbehauptung und
Selbsterhaltung, kann auch die Tora zu einem tödlichen System wie die anderen werden
(und dasselbe gilt auch für die Kirche!).
Kommt aber die Tora im Glauben zum Zuge, erscheinen Engel (vgl. 7.1 Punkt 5). Die
torabestimmen Systeme entfalten dann eine gute Eigendynamik, so wie die von der
Selbsterhaltung bestimmten eine zerstörerische entfalten. Nach jüdischer Überlieferung
tritt beim Entzünden der Sabbatkerzen ein Engel ein (er wird auch der Duft des Sabbat,
die Sabbatbraut oder die Königin Sabbat genannt): der Sabbat ist eine größere Wohltat
als sich aus dem bloßen Verzicht auf Arbeit erwarten lässt.
Ein doxologischer Schluss: Das Sanctus der Heilige Messe
HEILIG, HEILIG, HEILIG
GOTT, HERR ALLER MÄCHTE UND GEWALTEN.
ERFÜLLT SIND HIMMEL UND ERDE VON DEINER HERRLICHKEIT [Jes 6,3: Wir stimmen in den Chor der
Engel ein, wir haben sie auf unserer Seite]
HOSANNA IN DER HÖHE. HOCHGELOBT SEI, DER DA KOMMT IM NAMEN DES HERRN. HOSANNA IN DER
HÖHE.
[Mt 21,8 par = Ps 118,26. Durch Jesus haben wir an dieser Herrlichkeit Anteil.]
Ich danke allen für's Zuhören und Mitdenken. Viel Freude an der Theologie!
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