PROF. DR. THOMAS RUSTER UNIVERSITÄT DORTMUND WINTERSEMESTER 2000/2001 SKRIPT ZUR VORLESUNG: VON MENSCHEN, MÄCHTEN UND GEWALTEN: THEOLOGISCHE ANTHROPOLOGIE EINFÜHRUNG IN GRUNDFRAGEN Nicht zitierfähiges Manuskript! Nur für den studentischen Gebrauch. 1 INHALTSVERZEICHNIS 1. Einführung 1.1. Grenzen und Ort einer Lehre vom Menschen 1.1.1. Der Begriff „der Mensch“, ein irreführendes Abstraktum 1.1.2. Menschen können sich selbst niemals vollständig zum Gegenstand der Erkenntnis werden 1.1.3. Anthropologie ist Selbstauslegung von Menschen in ihrer Welt und ihrer Geschichte 1.1.3.1. Unsere Welt ist vom Code des Geldes bestimmt 1.1.3.2. Systemische Eigendynamiken bestimmen die Welt; deshalb die „Theologie der Mächte und Gewalten“ 1.2. Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie 1.3. Einsichten aus der philosophischen Anthropologie 2. Ein Gang durch die Schöpfungs- und Urgeschichte 2.1. Zur Eigenart der biblischen Schöpfungsgeschichte. Erklären und Verstehen 2.2. Zu einigen Zügen der Schöpfungserzählung Gen 1,1 – 2,25 (in kanonischer Lektüre) 2.3. Der „Sündenfall“ Gen 3 2.4. Fortgang der Urgeschichte bis zu Abrahams Berufung 3. Klassische Positionen und Texte der theologischen Anthropologie: Paulus – Augustinus – Luther 3.1. Paulus Der Mensch zwischen Geist und Fleisch. Zu Röm 7,1-8,17 3.1.1. Die Stellung von 7,1 – 8,17 im Gesamtaufbau des Briefes 3.1.2. 7,1-6 Das Gesetz geht eine neue Verbindung ein 3.1.3. 7,7-13 Wie die Sünde sich des Gesetzes bediente 3.1.4. 7,14-25 Der sich selbst entfremdete, elende Mensch 3.1.5. 7,25-8,17 Freies Leben nach dem Gesetz des Geistes des Lebens 3.2. Kann der Mensch das Gute wollen? Augustinus und Pelagius 3.2.1. Skizze der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre 3.2.2. Die Prädestination (Vorherbestimmung) 3.2.3. Augustinus, der Neuplatoniker, und sein Verhältnis zum Gesetz 3.2.4. Pelagius: Die Theologie eines konservativen römischen Sozialrevolutionärs 3.2.5. Vergleich Augustinus – Pelagius 3.2.6. Die Entscheidung des pelagianischen Streits durch die Synode von Orange (529) 3.3. Martin Luther: Dass der freie Wille nichts sei. (De servo arbitrio, 1525) 3.3.1. Anlass und Eigenart der Schrift 3.3.2. Der freie Wille ist nichts; der Mensch als Lasttier 3.3.3. Der Mensch als ganzer ist Fleisch 3.3.4. Die Selbstaufgabe Gott gegenüber und die Prädestination 3.3.5. Die Verwirrung der Vernunft: Offenbarung im Gegensatz (sub contrario) 3.3.6. Die Verborgenheit Gottes 3.3.7. Luthers Anthropologie als Kehrseite des neuzeitlichen Menschenbildes 4 4 4 4 4 5 5 5 7 8 8 9 12 14 15 15 15 15 16 16 17 18 18 19 20 20 20 20 21 21 21 21 21 22 22 22 2 4. Von der Schöpfungsgeschichte über Paulus und Augustinus bis zu Luther. Ein Rückblick 5. Von Engeln und Dämonen, Mächten und Gewalten 5.1. Beobachtungen 5.1.1. Wiederkehr der Engel(-Vorstellung) 5.1.2. Engel und Dämonen in der Bibel 5.1.3. Engel(-lehre) in der Tradition der Kirche 6. Theologie der Mächte und Gewalten bei William Stringfellow und Walter Wink 6.1. Die Mächte und Gewalten im Verständnis William Stringfellows 6.2. Mächte und Gewalten im Verständnis Walter Winks 6.3. Der Himmel als Ort der Mächte und Gewalten 7. Zusammenfassung: Was sind Engel-Dämonen-Mächte-Gewalten? 7.1. Umrisse einer Theologie der Mächte und Gewalten 7.2. Eine Relecture der klassischen katholischen Lehre von den reinen Geistern 8. Der neue Mensch 23 24 24 24 24 26 28 28 30 31 32 32 33 35 3 1. Einführung 1.1 Grenzen und Ort einer Lehre vom Menschen 1.1.1 Der Begriff „der Mensch“, ein irreführendes Abstraktum Kein Mensch gleicht dem anderen! Die Verschiedenheit der Menschen ist der größte, unerschöpfliche Reichtum der Welt. Es werden immer noch neue, andere Menschen sein. Aussagen über „den Menschen“ müssen von dieser Verschiedenheit absehen. Sie werden nicht nur den Menschen nicht gerecht, sie stehen in der Gefahr, ein bestimmtes Bild (eine bestimmte Erfahrung) von Menschen zu generalisieren. In vielen Sprachen ist der Begriff für ‚Mensch‘ und ‚Mann‘ gleich. Das zeigt bereits, von welcher Menschenerfahrung hier ausgegangen wurde: der eigenen! Das klassische Systematisierungsverfahren nach Gattung, Art und Differenz wird den Menschen nur schwer gerecht. Vielleicht wäre es besser, jeden Menschen als eine eigene Art zu begreifen, so wie es die Theologie von den Engeln sagt. Die Bibel spricht „vom Menschen“ nur in der Relation zu Gott. Gen 1,26: Lasst uns den Menschen machen...; Gen 2,7: Dann bildete Jahwe Gott den Menschen...; Ps 8,5/ 144,3: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkest...Nur in der Unterscheidung zu Gott wird klar, was „der Mensch“ ist, in der Unterscheidung zu den Tieren herrscht diese Klarheit nicht. Die Kenntnis über den Menschen lässt sich durch Quantität nicht steigern, sondern nur durch Intensität: Wer einen Menschen ganz kennen würde, dessen Wissen über „den Menschen“ wäre nicht mehr zu übertreffen. 1.1.2 Menschen können sich selbst niemals vollständig zum Gegenstand der Erkenntnis werden Menschen können ihr Verhältnis zu anderen und zu sich selbst bewusst erfassen (Bewusstsein, Selbstbewusstsein); sie können sich reflexiv auf das eigene Denken und Handeln beziehen („Ich denke“ – „Ich handle“). Daraus entsteht auch Bewusstsein von Zeit („Ich habe gedacht; ich werde tun“) und die Voraussetzung für Freiheit („Ich habe so gehandelt, werde aber anders handeln“). Bewusstsein ist offenbar auf Sprache angewiesen. Die Selbstreflexivität oder Selbstbeobachtung ist in beliebig vielen Graden wiederholbar („Ich denke, dass ich denke, dass ich denke – d.h. ich beobachte mich dabei, wie ich denke, dass ich denke...). Aber: „Das Auge kann sein Sehen nicht sehen“ – der Vorgang der Selbsterkenntnis bleibt immer noch an das Selbst gebunden, das da denkt; die Beobachtung kann von dem Selbst, das beobachtet, nicht abstrahieren; das Selbst wird sich selbst nicht anschaulich, es bleibt unbeobachtbar. Auf diese Unterscheidung von beobachtbar/unbeobachtbar reflektiert N. LUHMANN, DIE RELIGION DER GESELLSCHAFT, FRANKFURT 2000, 7-47 – sie ist für ihn der Ansatzpunkt von Religion! Darum kann es keine Wissenschaft vom Menschen wie von anderen Dingen geben. Menschen können sich selbst nicht vollständig erklären (trotz Genomanalyse etc.). Dieser Nicht-Feststellbarkeit des Menschen entspricht: Was Menschen sind, steht noch nicht fest, denn sie können immer noch etwas werden. Sie werden etwas in der unplanbaren Begegnung mit anderem. Darum sagt Gott vom Menschen nicht, „dass es gut war“, sondern: „Wachset und mehret euch“ (Gen 1,28). Wir werden sehen, dass dieser Gedanke für die theologische Anthropologie ganz wichtig ist: Menschen sind noch nicht, was sie sein können; sie sind Material für das schöpferische Handeln Gottes. 1.1.3 Anthropologie ist Selbstauslegung von Menschen in ihrer Welt und ihrer Geschichte Das kann auch nicht anders sein (vgl. W. HIRSCH, ART. MENSCH, PHILOSOPHISCH, IN: TRE, BD. 22, 567). Zu wehren ist aber der Illusion, es gebe eine weltlose Menschenerkenntnis, der Mensch stünde als Subjekt der Welt als Objekt gegenüber. ‚Welt‘ ist hier nicht verstanden als Summe des Vorhandenen, sondern als der durch Geschichte und Geschichten erschlossene Lebensraum. Was Menschen sind, können sie nicht ohne ihre Geschichte erklären! Im Verhältnis zu der ihm vorgegebenen Geschichte zeigt sich das Eigenartige eines Menschen. Vgl. D. RITSCHL, ZUR LOGIK DER THEOLOGIE, MÜNCHEN 1984, 45: „Wenn ich sagen soll, wer ich bin, so erzähle ich am besten meine Story. Jeder von uns hat seine unverwechselbare Story, jeder ist seine Story. Wenn einer nur das ist, was andere über ihn sagen, ohne selbst seine Story erzählen zu können, so ist er nicht reif, nicht 4 erwachsen; wenn er in konflikthaften Stories lebt, seine Story nicht akzeptieren kann, so braucht er Hilfe, Therapie. Ein Mensch ist das, was man zu und über ihn sagt und was er selbst über sich erzählen kann und was er daraus mit seinem Leben macht.“ Einzelstories und Gesamtstories stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis. Allgemeiner: Die Welt ist der durch Kommunikation geordnete Lebensraum (→ Kosmos/Logos). In diesem Raum geschieht Selbstauslegung des Menschen, die immer sprachlich ist. Mythen, Religionen, wissenschaftliche Paradigmen lassen unterschiedliche Welten entstehen, sie geben jeweils einen Code vor, in dem Informationen, (Selbst-) Mitteilung und Verständigung vor sich gehen. 1.1.3.1 Unsere Welt ist von dem Code des Geldes bestimmt Dies ist meine These, sie leitet dementsprechend meine anthropologischen Überlegungen. – Warum ist die Sprache des Geldes so bestimmend? Seine bestimmende Macht bekommt das Geld durch den Zins. Zins ist eine Prämie für den Verzicht auf Liquidität, er regelt den Geldumlauf. Durch Zins und Zinseszins wächst Kapital exponentiell (10.000DM/ 6% Zins: in 12 Jahren 20.000 DM, in 50 Jahren 174.000 DM). Geldvermögen und Verschuldung steigen gleichermaßen. Durch den Zinseffekt liegt ein Wachstumszwang auf der Wirtschaft. Es müssen die Zinslast und der Gewinn erwirtschaftet werden, mit der Folge rücksichtsloser Ausbeutung der Ressourcen, billiger Massenproduktion durch billige Arbeitskräfte etc. Zinsen schlagen sich auf die Preise nieder; Zinsen zahlen alle. Die Zinsen bewirken eine ständige Umverteilung von arm zu reich (in Deutschland: 50% der Bevölkerung besitzen 4% des Geldvermögens, die anderen 50% besitzen 96%. 90% bezahlen mehr Zinsen als sie bekommen, 10% bekommen mehr als sie zahlen). Umverteilung zwischen armen und reichen Ländern: jeden Tag zahlen die armen Länder 300 Mill.$ an die reichen Länder, das ist zwei- bis dreimal mehr als sie an Entwicklungshilfe bekommen. Die Summe aller Spenden, jährlich 4 Millarden $, reicht gerade aus, um der Zinsverpflichtung für 14 Tage nachzukommen. Durch Schuld und Zinsen wird die Welt immer ärmer an Werten und immer reicher an Kapital. (Vgl. M. KENNEDY, GELD OHNE ZINSEN UND INFLATION, MÜNCHEN 1994, 17-38; H. CREUTZ, DAS GELD-SYNDROM, Berlin 41997, 77ff.) Dem entspricht ein geldbestimmtes Bewusstsein, d.h. Selbstauslegung im Code des Geldes: • Politik, Geist, Kultur, Bildung, Sport müssen sich dem Primat des Geldes beugen. Komplizierte Handlungsketten werden durchschaubar, wenn man weiß, dass es nur um’s Geld geht (Kosmisierung) • Austauschbarkeit von allem mit allem, alles ist zu ersetzen (deshalb: viel Abfall) • Geld bestimmt Identität und Sozialität: Ich bin, was ich habe; Unterscheidung von mein und dein als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenseins: das Geld, das ich habe, ist immer das Geld, das du nicht hast • Erlebnissteigerung als Lebensgefühl • Knappheit als Grundkategorie des Seins; Leben als Kampf um knappe Güter • Geld bestimmt die Qualität der Zeiten: Durch Sparen (Kapitalakkumulation) wird die Gegenwart arm und die Zukunft reich gemacht, durch Schulden wird die Gegenwart reich und die Zukunft arm gemacht. Zinsen sorgen für eine gespaltene Zukunft: Die einen werden immer ärmer, die anderen immer reicher. (Vgl. J. HÖRISCH, KOPF ODER ZAHL. DIE POESIE DES GELDES, FRANKFURT 1996) Das Geld, eigentlich ein Mittel, hat längst die Herrschaft über die angetreten, denen es dienen sollte. 1.1.3.2 Systemische Eigendynamiken bestimmen unsere Welt; deshalb die „Theologie der Mächte und Gewalten“ Was sich am Gelde zeigt, gilt auch für andere Bereiche, z.B. Verkehr, Medien, Informationstechnologie... Hier stimmt überall Goethes „Zauberlehrling“: „Die Geister, die ich rief, werd‘ ich nun nicht mehr los“. Der Gewinn menschlicher Handlungsspielräume führte zu Freiheitsverlusten! Theologisch ist darauf mit einer Theologie der Mächten und Gewalten zu reagieren. Ohne sie kann eine theologische Anthropologie in dieser Welt nicht mehr gelingen. 1.2 Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie Ch. Darwins Buch Die Entstehung der Arten (1859), bald gefolgt von Thomas Henry Huxleys Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur (1863), leitete eine Revolution im Verständnis des Menschen ein. Seine Entstehung wurde nun als Bestandteil der Naturgeschichte („Evolution“) und nicht mehr als göttlicher Schöpfungsakt verstanden. Ansatzpunkt für alle Forschungen war die Ähnlichkeit zwischen Menschen und 5 Menschenaffen. Vgl. zum folgenden ROGER LEWIN, SPUREN DER MENSCHWERDUNG. DIE EVOLUTION DES HOMO SAPIENS, HEIDELBERG 1992. Darwin erklärte die Entstehung des Menschen durch Selektion: Intelligenz, manuelle Geschicklichkeit, Werkzeugherstellung und aufrechte Haltung seien Selektionsvorteile gewesen, die mit Notwendigkeit zum homo sapiens geführt hätten. Neuere Theorien gehen dagegen von Schüben aus, die sich im Rahmen einer unvorstellbar langsamen Entwicklung innerhalb kürzerer Zeitspannen – aus Gründen, die sich nicht klar benennen lassen – ergeben haben: keine kontinuierliche, sondern sprunghafte Entwicklung. • Vor 5 bis 10 Mill. Jahren erstmals aufrechter Gang • Vor 3,5 Mill. Jahren älteste bekannte Hominidenart (Ähnlichkeiten im Knochenbau): Australopithecus afarensis • Vor 2 bis 3 Mill. Jahren erste Steinwerkzeuge, Vergrößerung des Gehirns: homo habilis • Vor 1,6 bis 1 Mill. Jahren: Anzeichen systematisch durchgeführter Jagd, Heimstättenbau, systematische Herstellung von Werkzeugen, Nutzung des Feuers, Fleischverzehr, deshalb Auswanderung aus Afrika in alle Teile der Welt: homo erectus • Vor 150.000 bis 300.000 Jahren: erstes Auftreten des homo sapiens in Afrika • Vor 30.000 Jahren: „Kunst“, Höhlenmalereien • Vor 10 bis 12.000 Jahren: Ackerbau und Viehzucht, Seßhaftigkeit, starke Bevölkerungszunahme (als Folge oder Ursache?) • Vor 8000 Jahren: erste Städte (Jericho; Catal Hüyük in der Türkei) Es lässt sich keine Abhängigkeit zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen erweisen, d.h. man kann nicht sagen, dass sich der homo sapiens aus dem homo erectus entwickelt hat usw. Es gibt parallele, sich überschneidende Entwicklungen und häufige Neuansätze. Der Mensch stammt nicht „vom Affen ab“. Entstehung von Kultur und Sprache: Der homo sapiens besaß erstmals einen für Sprache ausreichenden Sprechapparat (Kehlkopflage, Muskulatur etc.). Erste Schriftzeichen um 6000 v. Chr. in der sumerischen Kultur. Die menschliche Sprache lässt sich nicht als Weiterbildung der Laute der Primaten verstehen. Sprache setzt Abstraktionsvermögen (deshalb geht ihre Entstehung mit den ersten Ritzzeichnungen einher) und einen Bedarf an Kommunikation voraus. Wahrscheinlich hat eine komplexere Sozialstruktur, die die Fähigkeit erforderte, sich in den anderen hineinzuversetzen, seine Handlungen zu berechnen und mit ihm Bündnisse einzugehen, die Entstehung von Bewusstsein und Sprache gefördert. Aber erklären lässt sich die Entstehung von Bewusstsein und Sprache nicht. Es ist eine „black box“: man weiß nur, was herausgekommen ist, nicht, was darin vorgegangen ist. Das Auftreten den Menschen in der Evolution ist ein emergentes Ereignis. Es ist aus dem Vorhergehenden nicht ableitbar, aber nachdem es einmal geschehen ist, kann man rückwirkend Faktoren erkennen, die darauf hindeuten. Es lässt sich gerade nicht durch Evolution und Selektion erklären (denn dann müssten ja auch andere Primaten irgendwann einmal diesen Weg gegangen sein oder noch gehen.) Noch einmal: Der Mensch stammt nicht vom Affen ab. Wichtig zu merken: Die Menschen waren die längste Zeit ihrer Entwicklung Jäger und Sammler. Das hat sich tief in ihre Gene eingeschrieben. Vielleicht bedeutete die rezente Entwicklung zum Ackerbau und zur Städtegründung einen permanenten psychischen und sozialen Stress: Kultur als Dauer-Überforderung des Menschen. Daraus kann Gewalt entstehen (Kain, der erste Städtebauer, der erste Mörder). Religiöse und gesellschaftliche Rituale versuchen dann dieses Gewaltpotential einzudämmen, vgl. die Theorien zur Entstehung des Opfers von H. Burkert. – Heute scheinen wir auf die Stufe der Jäger und Sammler zurückzusinken. Die Ergebnisse der Paläoanthropologie sind hypothetisch, in allen Einzelheiten zwischen den Gelehrten umstritten und allesamt unsicher. Wichtiger als die Ergebnisse ist die Geschichte, die sie erzählen: Die Entwicklung des Menschen wird verstanden als Fortschrittsgeschichte (analog zu den Fortschritten in Wissenschaft und Technik in der Neuzeit, von denen dieses Paradigma stammt). Der Gipfel des Fortschritts ist immer homo sapiens, der weiße Wissenschaftler und seinesgleichen, der diese Geschichte schreibt. Vgl. Roy Chapman Andrews mit einer charakteristischen Äußerung aus den 20er Jahren (nach Lewin, 13): „Die Entwicklung der einzelnen Arten verlief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Einige entwickelten sich mit unfaßbarer Geschwindigkeit zu den Herren der Welt, die Tasmanier hingegen und die noch existierenden australischen Ureinwohner hinkten weit hinterher und haben sich kaum über die Stufe des Neandertalers hinaus entwickelt.“ So konnte mit der Evolutionstheorie die Stellung des Menschen an der Spitze der Naturgeschichte und insbesondere die Überlegenheit des weißen Mannes über die Schwarzen „wissenschaftlich“ begründet werden. – Lewin, aaO. 14f, sagt zu diesem „Fortschrittsmythos“: „Sobald Arten sich erst einmal entwickelt haben, sind sie in ihrer eigenen Anpassung, ihren Verhaltensweisen und ihren Genen bemerkenswert konservativ. Oft bleiben sie mehrere Millionen Jahre hindurch unverändert. In diesem Licht gesehen ist es falsch, die Evolution oder auch nur die Geschichte des Menschen als eine Form des Fortschritts – langsam oder nicht – anzusehen. ... Im großen und ganzen ist die Welt in biologischer Hinsicht nicht komplexer geworden: Die meisten Lebewesen haben einfache Strukturen beibehalten, wir aber lassen uns von den Ausnahmen blenden, vor allem von jener einen, die uns bestens bekannt ist.“ Woran will man auch den Fortschritt messen? An den technischen Fähigkeiten? Oder etwa auch an der Verwirklichung von Gerechtigkeit? – Die Bibel erzählt, wie wir 6 sehen werden, die Geschichte der Menschheit ohne Gott als eine Verfallsgeschichte immer größerer Unmenschlichkeit. 1.3 Einsichten aus der philosophischen Anthropologie Seit der „Wende zum Subjekt“ (Descartes, Kant) nimmt die Philosophie den Menschen aus dem Zusammenhang der Schöpfung heraus und setzt ihn als Subjekt der Welt als Objekt gegenüber (Descartes: res cogitans – res extensa). Damit ist der Bruch zu theologischen Anthropologie vollzogen; vgl. Luther, Kl. Katechismus: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen“. Der für die Theologie konstitutive Unterschied Gott – Schöpfung (incl. der Menschen) wird zunehmend aufgelöst, z. B. in Hegels Philosophie des absoluten Geistes, und, Hegel überbietend, in L. Feuerbachs anthropologischer Wende der Theologie. Eine ausdrückliche phil. Anthropologie entsteht erst im 20. Jahrhundert, wohl als Reaktion auf die radikale Infragestellung des Menschen durch Darwin, Freud und den Ersten Weltkrieg. M. SCHELER, DIE STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS (1928), fand, dass der Mensch im Stufenbau der Natur („Leben“) nur graduell vom Tier abgehoben sei, ihm jedoch eine Sonderstellung aufgrund des „Geistes“ zukomme. Dieser macht ihn zur Person, befreit ihn vom Zwang der Triebe und schenkt ihm seine unbegrenzte Weltoffenheit. Scheler setzte „Geist“ als metaphysischen Begriff. H. PLESSNER, DIE STUFEN DES ORGANISCHEN UND DER MENSCH (1928); DERS., LACHEN UND WEINEN (1941); CONDITIO HUMANA (1964), entdeckte die exzentrische Positionalität des Menschen: Während die Tiere das Zentrum ihrer Lebensäußerungen in sich haben, ist der Mensch ex-zentrisch. Was er ist, wird er erst von anderen her: von Menschen, Gegenständen, eigenen Werken, der eigenen Stimme... So gewinnt er auch einen Bezug zu sich selbst. Zu diesem Sein-vom-anderen-her kann er sich verhalten: es in Freiheit annehmen und gestalten, oder es trotzig ablehnen und sich aus sich selbst behaupten wollen („Der Wille zur Macht“). – In der Theologie hat W. PANNENBERG, ANTHROPOLOGIE. ANTHROPOLOGIE IN THEOLOGISCHER PERSPEKTIVE, GÖTTINGEN 1983, VOR ALLEM 32-35; 57-71; 77-82 die Ansätze von Scheler und Plessner kombiniert und apologetisch ausgewertet: In seiner prinzipiell weltoffenen und zugleich exzentrischen Position greife der Mensch über alles Gegebene hinaus und finde nur in Gott den Grund seines Daseins. In seiner „Selbsttranszendenz“ bejahe er Gott als das „Jenseits aller Gegenstände seiner Welt“ implizit immer schon mit. Dieser Ansatz Pannenbergs bleibt noch im Bann der Subjektphilosophie und bekommt deshalb Gott nur als „Horizont“ menschlicher Selbstauslegung in den Blick. Wichtig auch der Beitrag des Zoologen A. PORTMANN, BIOLOGISCHE FRAGMENTE ZU EINER LEHRE VOM MENSCHEN, (³1969): Der Mensch ist eine biologische Frühgeburt. Erst nach einem Jahr erreicht er den Entwicklungsstand vergleichbarer Säuger. In der extra-uterinen Phase wird er kulturell geformt, das begründet seine Sonderstellung. An diese Erkenntnis schließt an A. GEHLEN, URMENSCH UND SPÄTKULTUR (41977), der den Menschen als „Mängelwesen“ definiert. Da ihm spezifische Instinkte, spezialisierte Organe und Umweltangepasstheit im Unterschied zum Tier fehlen, muss er dies durch kulturelles Handeln ausgleichen. Da seine Sinne die Umweltreize nicht filtern, muss er sich vom Reiz-Reaktions-Schema freimachen. Er gewinnt eine freie, nicht triebgebundene Haltung gegenüber den Wahrnehmungen aus der Umwelt: er kann sich den Sachen selbst zuwenden. Zugleich muss er Institutionen schaffen, die ihn vor Reizüberflutung schützen. Gehlen suchte eine biologische Erklärung für den Geist bzw. die kulturschöpferische Kraft des Menschen. Die genannten Ansätze orientieren sich am Verhältnis Mensch-Tier, sie suchen das Problem zu lösen, das Darwin erst geschaffen hatte. Für eine theologische Anthropologie können sie keine größere Rolle spielen, denn diese ist am Verhältnis Gott – Mensch (samt allen Kreaturen) interessiert. Neuere Ansätze gehen in Richtung auf eine „Kulturanthropologie“, die Ansätze der Biologie, Verhaltensforschung, Psychologie, Pädagogik, Sozialwissenschaft, Ethnologie etc. miteinander kombiniert. Vgl. dazu NEUE ANTHROPOLOGIE, HG. VON H.G. GADAMER UND P. VOGLER, 7 BDE , 1972-75. Konsens herrscht darin, dass die Frage nach dem Menschen nicht abschließend beantwortet werden kann, weil der Mensch kein fertiges Wesen besitzt, sondern dieses stets neu deuten und bestimmen muss. – Hier ist theologisch anzuknüpfen, denn die Theologie weiß, dass Gottes Werk am Menschen noch nicht vollendet ist. Das Wesen des Menschen steht noch nicht fest. Deutet man diesen Sachverhalt atheistisch, kommt man wie J. P. SARTRE zu dem Schluss: „L‘existence précède l’essence“; der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht (IST DER EXISTENTIALISMUS EIN HUMANISMUS?, 1947). Der Streit zwischen Philosophie und Theologie geht also um die Freiheit des Menschen: Hat er sie aus sich selbst, oder kommt sie ihm nur von Gott zu? 7 2. Ein Gang durch die biblische Schöpfungs- und Urgeschichte Die Bibel hat der Menschheit eine bestimmte Ursprungsgeschichte vorgeordnet, sie hat ihr einen anderen Ursprung erzählt. – Es gibt verschiedene Ursprungserzählungen. Sie machen die Welt lesbar (Vgl. H. BLUMENBERG, DIE LESBARKEIT DER WELT). Sie stehen in Konkurrenz zueinander, aber man kann nicht fragen: Welche ist wahr, sondern: Welches Weltverständnis wird durch sie begründet? Welche Sinn-, aber auch Veränderungspotenziale enthalten sie? Welche Verheißungen geben sie frei? Wem nützen sie? Welche Überordnung und Herrschaft wird durch sie gestützt? – Die Interpretation von „Fakten“ folgt in der Regel der Logik der Erzählung. Trotz ihrer hohen Unwahrscheinlichkeit hat die biblische Schöpfungserzählung jahrhundertelang ihre Plausibilität behalten. Menschen haben durch sie die Welt verstanden. Bis heute ist sie Gegenstand zahlloser Interpretationen. So schlecht kann sie nicht sein. Erst die Evolutionstheorie (-erzählung) bestritt ihre Alleingeltung – mit welchen Folgen? 2.1 Zur Eigenart der biblischen Schöpfungsgeschichte. Erklären und Verstehen Der (die...) Verfasser ist ein gläubiger Israelit. Er weiß von Gottes Handeln an der Welt (mindestens) folgendes: • Gott gibt Gebote/ Verbote/ Erlaubnisse/ Verheißungen (= Tora). Die Tora ist der Weg zum Leben (Lev 18,5/ Dtr 30, 15-20: Wenn du diese Gebote tust, wirst du leben). • Gott ist an der Fruchtbarkeit interessiert, auch da, wo sie biologisch nicht mehr möglich ist (Abraham und Sara). • Gott hat den Sabbat eingesetzt, das ist eine Grundordnung für alle Lebewesen (Ex 20,10: Da • • darfst du keinerlei Werk tun, weder du selbst noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Vieh, noch der Fremde, der sich in deinen Toren aufhält). Gott hat einst Israel aus Ägypten herausgeführt, d.h. er hat Israel von Ägypten unterschieden und getrennt und damit etwas ganz Neues begonnen. (Er hat das Meer gespalten, vgl. Ex 14,21; Die Wasser spalteten sich, mit Gen 1,6: es scheide sich Wasser und Wasser). Er weiß auch: Menschen tun sich oft schwer mit Gottes Geboten, sie meinen es besser zu wissen. Aus diesen fünf Elemente kann man sich leicht erklären, wie es bei der Schöpfung zugegangen ist. Sie lassen sich formalisieren: • Gott handelt durch sein (gebietendes usw.) Wort. Dieses Wort gibt Leben. • Gott will fruchtbares, wimmelndes, vielfältiges Leben. • Der Sabbat ist der Höhepunkt der Schöpfung. • Unterscheiden ist schöpferisch (Diese Erkenntnis hat die „Systemtheorie“ wiedergewonnen: GEORGE • SPENCER BROWN, LAWS OF ORDER, NEW YORK 1979, ERSTER SATZ: „Draw a distinction“. Bei Luhmann passim: Neue Systeme entstehen, wenn eine Unterscheidung getroffen wird; dadurch werden Fremd- und Selbstreferenz möglich). Das Hauptproblem der Welt ist der Widerstand der Menschen gegen Gottes lebensschaffendes Gebot; dadurch kommt unnötiger Tod in die Welt. Mit diesen Elementen will die Schöpfungserzählung die Schöpfung erklären. – Die neuere Theologie hat sich in einen falschen Gegensatz von Erklären und Verstehen drängen lassen: Die Naturwissenschaft erklärt die Welt, die Bibel will sie verstehen. Es gilt aber: Erzählung und Erklärung bedingen sich gegenseitig. OSWALD BAYER, ART. SCHÖPFER/ SCHÖPFUNG VIII: SYSTEMATISCH-THEOLOGISCH, TRE 30, 326-348, hier 344: „Eine Erzählung ohne Erklärung wäre leer, eine Erklärung ohne Erzählung blind“ (Vgl. I.Kant: Begriffe und Anschauung). Aus diesen Elementen ist klar: Die Schöpfung ist nicht aus der Natur(ordnung) ableitbar! Gottes schöpferisches Wort ist ein anderes Gesetz als das der Natur! Das fruchtbare Gewimmel der Lebewesen wird durch den Kampf ums Dasein (das Recht des Stärkeren) eingeschränkt, vor allem unter Menschen; dagegen ist Gott. Der Sabbat (7-Tage-Rhythmus) ist nicht in der Natur gegeben. Und vor allem: In der Natur gibt es zwar vielerlei Unterscheidungen, aber die Welt kann sich nicht von sich selbst unterscheiden. Und so auch nicht der Mensch, vgl. oben 1.1.2. Die biblische Schöpfungserzählung kennt erstmals „Transzendenz“, sie macht die Welt zu etwas Unterschiedenem und damit frei vom Zwang der Naturgesetze (Bsp.: Ein Kind lernt eine Instanz außerhalb der Familie kennen). 8 2.2 Zu einigen Zügen der Schöpfungserzählung Gen 1,1 – 2,25 (in kanonischer Lektüre) • „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ – Es gibt ein Gegenüber zu Erde und Himmel! Alle anderen Schöpfungsmythen schildern die Erschaffung der Erde aus den (Götter-)Himmeln, z.B. dem Olymp. Sie kennen nur eine relative Transzendenz. Die Gesetze der Welt (Kampf, Neid, Liebe, Eifersucht) sind dort immer schon vorausgesetzt. M. WELKER, UNIVERSALITÄT GOTTES UND RELATIVITÄT DER WELT, NEUKIRCHEN-VLUYN ²1988; DERS., SCHÖPFUNG UND WIRKLICHKEIT, EBD. 1995: Himmel ist der relativ unzugängliche und unermessliche Teil der Welt – er ist Teil der Welt. Der Himmel ist der Raum der Mächte und Gewalten. Diesen sind wir nicht ausgeliefert, wenn es eine Instanz über ihnen gibt, die sie erschaffen hat. Die religiöse Urversuchung: Die Verwechslung von Gott und Himmel. – Vgl. aber „Vater unser, der du bist im Himmel“: Gott ist – nur relativ unzugänglich – in unserer Welt! – „Creatio ex nihilo“: 2 Makk 7,28: „Ich bitte dich, mein Kind, schau auf zum Himmel und blicke hin auf die Erde und auf alles, was darin ist. Bedenke, dass Gott dies nicht aus schon Bestehendem gebildet hat und dass auch das Menschengeschlecht so entstanden ist.“ So ermuntert die Mutter ihren Sohn zum Widerstand gegen das Gesetz des ungerechten Tyrannen. Gott macht frei von bestehenden Gesetzen. Nur seinem Gesetz ist zu folgen. – Ohne Gott wäre nichts. Nur wegen Gottes Güte und Barmherzigkeit ist überhaupt etwas, wird die Welt vor der Bedrohung durch das Nichts bewahrt. O. BAYER, ART. SCHÖPFER aaO. 329f: Schöpfung ist bereits Rechtfertigungsgeschehen! Ein Anspruch der Geschöpfe auf Selbstbewahrung und Selbstbegründung ist radikal ausgeschlossen. Und das ist gegen die Naturordnung, denn die heißt: Selbstbewahrung. LUTHER, KLEINER KATECHISMUS, ZUM ERSTEN GLAUBENSARTIKEL: „Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allen Übeln behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.“ • "Die Erde ... wüst und leer. Finsternis ... Geist Gottes schwebte über den Wassern.“ Dies ist keine Aussage über den Urzustand der Erde, sondern über die Erde, die (noch) nicht von Gottes Geist erfüllt ist. Röm 8,22f.26: „Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung bis zur Stunde seufzt und in Wehen liegt. Und nicht nur das, auch wir, die wir die Erstlingsgabe des Geistes besitzen, auch wir seufzen in uns selbst in der Erwartung der Erlösung unseres Leibes. ... Da tritt der Geist selbst für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ Der Geist Gottes ist biblisch das Prinzip von Lebendigkeit, die aus der Vielfalt kommt, die aus der Gerechtigkeit kommt, die aus Gottes Wort kommt. Und das kommt jetzt: • „Gott sprach: Es werde...“ – Gottes erstes Wort: ein Gebot, eine Aufforderung. Seine Tora ist schöpferisch! Sie besiegt das Nichts, die Bedrohung und die Krankheit – so noch in Jesu Wundern (vgl. Mk 4,39: er gebot dem Wind und der See; Mk 9,25 zum unreinen Geist: Ich befehle dir, fahr aus; u.ö.)! TALMUD, ABOTH I,2: „Auf dreierlei hat die Welt Bestand: auf der Tora, dem Gottesdienste und den Liebeswerken.“ Ebd. II,9: „Hast du viel Tora gelernt, so rechne es dir nicht als Verdienst an, denn dazu bist zu ja geschaffen worden.“ – „Gott sprach“: Das Gegenüber der Welt – ein Wort. Nicht aus „Ursachen“ ist die Welt erschaffen, sondern aus dem Sprechen Gottes. Schöpfung ist Anrede, die auf Antwort aus ist, ist Kommunikation (vgl. O.BAYER, SCHÖPFUNG ALS ANTWORT, TÜBINGEN ²1990). Ein kausales Verständnis wird der Welt nicht gerecht (Aristoteles: Gott als erste Ursache, höchstes Sein), sondern ein kommunikatives. Gottes Wort ist Kommunikationsmacht und zur Kommunikation ermächtigend, ist Stiftung und Bewahrung von Gemeinschaft. Zugleich auch: Streit im Wort um die Wirklichkeit, ein Ausfechten von Ansprüchen, d.h. um die Bestimmung dessen, was wirklich und bestimmend ist: forensisches Weltverständnis, das ist biblisch. Auf dem Forum (Gerichtsort) wird um die Wahrheit gestritten. Gottes Wort ist immer ein Rechtswort, das unterscheidet (zwischen Licht und Finsternis etc.). Das alles bedeutet: die Tora war da von Anbeginn der Welt. So aber vielleich auch schon der älteste philosophische Text des Abendlandes, ein Fragment von Anaximander von Milet (Fragmente der Vorsokratiker, 1951, B 1, hier nach BAYER, ART. SCHÖPFER AAO. 332): „Aus welchen Dingen aber die Genesis ist für die seienden Dinge, in diese hinein geschieht auch das Vergehen nach Schuldigkeit. Denn es geben die Dinge einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Anordnung der Zeit.“ Positiv gewendet findet sich dieses kommunikativ-forensische Weltverständnis im TALMUD, ABOTH III,20: „Alles wird gegen Bürgschaft gegeben, und ein Netz ist über alles gebreitet. Der Laden ist offen, der Krämer borgt, das Buch ist aufgeschlagen, wer borgen will, mag kommen und borgen. Die Schuldforderer gehen beständig, jeglichen Tag, umher und treiben vom Menschen Zahlung ein, mag er wollen, mag er nicht wollen, denn sie haben worauf sie sich stützen. Der Rechtsspruch beruht auf Wahrheit, und zum Mahle ist alles bereitet. (R. Aqiba)“ – Anthropologische Konsequenz: Die Beziehungen zwischen Menschen lassen sich am besten als Rechts- und Schuldforderungen beschreiben: Ich darf borgen, vom anderen nehmen. Wir können einander behaften. Was bin ich dem anderen schuldig? Wie kann ich ihm gerecht werden? Für die Bibel ist das Recht die 9 Sphäre der Öffentlichkeit, vgl. M. MARQUARDT, ESCHATOLOGIE BD. 1, GÜTERSLOH 1993, 221-226 – ein sehr guter Text dazu! – „Gott sprach“: Das Gegenüber der Welt – ein Text. Die Einheit, die Grundlage der Welt liegt nicht in dieser selbst, sondern in Gottes Wort. Folglich ist sie aus dieser auch nicht zu deduzieren, nicht spekulativ zu erschließen. Jeder solche Versuch endet in einem Totalitarismus (z.B. der Totalitarismus des griechischen Seinsbegriff: dadurch wird das Nicht-Sein, die Bewegung diskreditiert). Man kann nur versuchen, den Text Gottes immer besser zu verstehen. Aber damit kommt man nicht zuende, bevor nicht Leid, Krankheit und Unheil aus der Welt verschwunden sind, bevor also nicht Gottes Gerechtigkeit offenbar geworden ist. Noch befindet sich Gott im Rechtsstreit mit der Welt. Erst wenn Gott „alles in allem ist“, wenn auch der Tod unterworfen ist (1 Kor 15,28), wird man erkennen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘ (= woraus alles seinen Bestand hat). „An jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen“ (Joh 16,23). – Christen haben diesen Rechtsstreit Gottes in Jesus vorläufig entschieden gesehen, sie haben am Gekreuzigten etwas von Gottes Textbuch (Gerechtigkeit) verstanden und Jesus das Wort Gottes genannt, und über diese Erkenntnis gejubelt: „Denn in ihm ward alles erschaffen im Himmel und auf Erden ... alles ist erschaffen durch ihn und auf ihn hin. Und er ist vor allem, und alles hat in ihm Bestand“ (Kol 1,16f). • „Nun sprach Gott: Es werde ein Firmament inmitten der Wasser und scheide zwischen Wasser und Wasser...“ (1,6) „Es lasse grünen die Erde Grünes, Kraut, das Samen bringt ... Die Erde brachte Grünes hervor, Kraut, das Samen bringt nach seiner Art... (1,11f) Wir sehen, wie Gott es macht: er scheidet, unterscheidet. Wasser oben und Wasser unten – Wasser unten und trockenes Land – Tag und Nacht – Licht und Finsternis. Und bei allen Lebewesen heißt es immer: nach ihrer Art. (So auch bei der 2. Schöpfung nach der Sintflut: alle Tiere ziehen ein in die Arche und wieder aus „Art um Art“: Gen 7,19f und 8,19). Unterscheiden ist schöpferisch, wie gesagt. Gottes Wort, Gottes Gesetz unterscheidet. Die biblisch-jüdische Kultur hat das aufgenommen: Israel und die Völker, „zunächst für die Juden und dann auch für die Griechen“ (Röm 1,16), und all die Gebote und Verbote zu rein und unrein, zu Vermischungen (Lev 19,19) etc.: Die biblische Kultur eine Kultur endloser Unterscheidungen, eine differenzfreundliche Kultur (Daraus entstand der Talmud!). Damit wird kein Übereinander, sondern ein Nebeneinander begründet: eine Lebensgemeinschaft! Auf das einzelne kommt es an, nicht auf das Abstrakte, Gemeinsame. Das unterscheidet die biblische Kultur von anderen, von imperialen Monokulturen, die immer auf die Einheit aus waren und sind. Wo die jüdisch-christlich geprägte Kultur schöpferisch war, da war sie es aus der Vorliebe für’s Unterscheiden. Die moderne, hochdifferenzierte Gesellschaft, ein Erbe der Bibel. – Die griechische Philosophie hat ein abstraktes Denken in Gemeinsamkeiten begründet. Und so auch die Geldkultur, die alle Vielfalt im abstrakten Geldwert zusammenfasst. Das Individuum wird unsichtbar. • „Das Wasser wimmle, ein Wimmeln lebenden Wesens ... Gott schuf die großen Ungetüme, und alle lebenden regen Wesen, von denen das Wasser wimmelte, nach ihren Arten. ... Es ward so. .. Gott sah, dass es gut war.“ (1,20ff nach Buber/Rosenzweig) An diesem Gewimmel hat Gott seine Freude, das findet er „gut“. Gott, ein Liebhaber der Vielfalt, ein Liebhaber des Lebens. „Bellum omnium contra omnes“ (Th. Hobbes, Leviathan, zum Urzustand des Lebens) ist nicht seine Sache. „Survival of the fittest“ (Darwin) ist nicht sein Gesetz. Er will, dass alle leben können, er ist interessiert an dem Lebenszusammenhang der Geschöpfe, und gibt dazu sein Gesetz: für Witwen und Waisen, für Sklaven und Ausländer, für alle Tiere und Pflanzen, vgl. Speisegebote Lev 11 und Gebote für Opfertiere Lev 1-17: das sind ökologische Bestimmungen (A. HÜTTERMANN, DIE ÖKOLOGISCHE BOTSCHAFT DER TORA, Naturwissenschaften 80 (1993) 147-156). Das Gesetz Gottes ist nicht das Naturgesetz. Gott will mehr Leben als die Natur von sich aus hervorbringt. Man kann die Natur nicht sich selbst überlassen, deshalb heißt es an die Menschen: „Macht euch die Erde untertan, herrschet über alles Getier, das sich auf Erden regt“ (1,28). Das biblische Ideal ist nicht die wilde, unberührte Natur, sondern der Garten: „Aufs Neue wird der Geist ausgegossen aus der Höhe; dann wird die Wüste zum fruchtbaren Garten, ... dann weilt in der Wüste das Recht, und im Fruchtgarten weilt die Gerechtigkeit“ (Jes 32,15f). „Dann wird der Wolf bei dem Lamm zu Gast sein...“ (Jes 11,6): so wagte der Prophet zu denken. ‚Zurück zur Natur‘, das ist nicht biblisch. – Hier sieht man auch, dass die Schöpfung noch nicht vollendet ist; Gott braucht die Mitwirkung des Menschen. – NB: Den heute vermuteten naturgeschichtlichen Ablauf der Schöpfung setzt die Bibel als bekannt voraus: Ende der Urflut -–Vegetation – Wassertiere –Flugtiere– Landtiere – Menschen. • Die sieben Tage; der Sabbat Es ist der Erzähler, nicht Gott, der die Tage zählt. Er gibt das Zeitmaß an. Es gehört zur menschlichen Freiheit, die Zeit zu messen und zu qualifizieren. Zeit nur als quantitativ gemessene ist fixiert auf die Vergangenheit und hat Zukunft nur als leere Größe. Menschen wissen: die Zeit kann auch anders vergehen als die Uhr es will. Die Zeit der Schöpfung ist qualifizierte Zeit, Zeit mit Zukunft. Schöpfung in sieben Tagen will sagen: Die Tora ist das Zeitmaß der Schöpfung, eine Zeit, die Gott für uns eröffnet hat. Gott schenkt uns Zeit. Die Zukunft ist der Sabbat: Zeit der Ruhe vom Werk, Zeit der Gerechtigkeit, wenn der Streit Gottes mit dem Bösen und dem Tod zuende ist, Zeit der Menschen- und Tierrechte, Ende der Sklaverei (s. Sabbatgebot Ex 20,10; Dtn 5,12-15). Auf diese Zukunft gehen wir zu, sie ist uns verheißen: „Kommt, lasst uns doch hinausgehen, dem Schabbat, der 10 Braut, der Königin entgegen ... Komm, Braut, komm, Braut“ (Talmud, Bawa kamma 32b). Die Leviten singen am Sabbat „einen Psalm, ein Lied für die Zukunft, für den Tag, der ganz Schabbat, Ruhe ist, für das ewige Leben.“ (Mischna Tamid VII,4). Aber da hören wir: „Gott vollendete am siebten Tag...“ (2,2) – der Sabbat ist schon da! „Ein kostbares Geschenk habe ich in meiner Schatzkammer, und sein Name ist Schabbat“ (Talmud, Schabbat 10b). O. BAYER, ART. SCHÖPFUNG aaO. 345: „Mit dem den Sabbat aufnehmenden Sonntag gehen uns die Augen auf für das, was unserem Werk schon zuvorgekommen und vollendet ist. ... Wer sich und seine Welt durch Arbeit und geschäftigen Konsum selbst erzeugen will, verkennt damit den Sabbat und Sonntag; er verkennt die Rechtfertigung allein aus Glauben, die in der Unterscheidung von Sonntag und Werktag wirksam ist und sich in ihr darstellt.“ Jeden Sonntag können wir hören, was Gott schon für uns getan hat; jeder Sonntag ist der Anfang der Vollendung der Welt. • „Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich. Sie sollen herrschen...“ (1,26-28) Die alte Theologie sah in der Vernunftbegabung die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Aber davon gibt der Text nichts her. Es ist nur zur Erklärung gesagt: „Sie sollen herrschen...“ (1,26 u. 1,28!): sie sollen teilnehmen an Gottes Herrschaft über die Natur, d.h. an dem Wirken seines Geistes. Wie sich Gottes Geist zur wüsten und leeren Erde verhält, so der Geist im Menschen (der Gottes Geist ist) zum Lehm, aus dem er genommen ist (2,7!): das ist des Menschen Ebenbildlichkeit, das ist seine Lebendigkeit, dass er das bloß Erdenhafte aus dem Geist gestalte, der schon in ihm ist. Der Mensch ist nicht nur ein Wesen der Natur, er ist bereits vor der übrigen Natur Wesen des Geistes, und mit diesem Geist soll er herrschen (=die wilde Natur in einen Garten verwandeln). Darin tut er es Gott gleich: „Gott pflanzte einen Garten in Eden ... und setzte hinein den Menschen, damit er ihn bebaue und bewahre“ (2,8-15). Die Geistbegabung des Menschen ist Hoffnung für die gesamte Schöpfung, vgl. Röm 8,22ff. Und es ist gesagt: „nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er ihn“ (1,27). Als Mann und Frau, in ihrer unaufhebbaren Unterschiedlichkeit und Bezogenheit aufeinander, sind sie Bild Gottes. Der Mensch ein Wesen des Bundes: der Gemeinschaft bleibend Unterschiedener – und darin Gott entsprechend. Gott ist selbst ein Wesens des Bundes [auch in sich selbst: das will später die Trinitätslehre sagen]. Und es ist gesagt: „Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch...“ (1,28). Das erste Wort an die Menschen: ein Gebot. Der Mensch, ein gebotsfähiges Wesen, und im Tun der Gebote verwirklicht er seine Gottebenbildlichkeit, denn es heißt gleich: „Herrschet über die Fische des Meeres ...“ Talmud, Sanhedrin 38a: „Der Mensch wurde am Vorabend des Sabbat erschaffen. Warum wohl? ... Damit er sofort an eine Gebotserfüllung gehen könne.“ Dem Gebot aber geht der Segen voran, eine göttliche Wohltat, eine Verheißung, die sich in der Erfüllung der Gebote erfüllt: Gabe und Aufgabe [Der biblische Rhythmus von Gabe und Aufgabe: Exodus und Sinai, Liebe und Liebesgebot]. Der Mensch ist geschaffen zum Tun des Guten, zum Tun der Gebote, darin liegt seine Würde und Verantwortung, seine Auszeichnung von Gott her. Und darin liegt seine Freiheit, denn das Tun der Gebote setzt Freiheit voraus. TALMUD, BERAKOTH 33b: „Alles ist in Gottes Hand, nur nicht des Menschen Gottesfurcht“ (R. Chanina). – Der Inhalt dieses ersten Gebots: Wachset und mehret euch, das geht nicht nur auf die Fruchtbarkeit, sondern auf das Wachsen: Durch das Tun des Guten können Menschen noch mehr werden, als sie sind. Die Schöpfung ist erst der Anfang. Im Auftrag Gottes können und sollen die Menschen mehr werden, können und sollen die Welt gestalten. Für die Bibel ist die Schöpfung nicht der ideale Urzustand, sondern der Anfang. – LEO BAECK, DAS WESEN DES JUDENTUMS, KÖLN 1960, 168f: „Die Gotteskindschaft trägt die ganze Fülle des Gebotes in sich; sie ist gewissermaßen der Obersatz aller Gebote. Denn je größer die Gabe, desto umfassender die Verantwortlichkeit, die aus ihr folgt. In der unvergleichlichen Bedeutung unseres Lebens liegt seine unermeßliche Bestimmung: Du bist göttlich, also bewähre dich auch als göttlich. Der Mensch ist im Ebenbilde Gottes geschaffen, das heißt also auch: von jedem Menschen kann das Höchste gefordert werden. Auf sittlichem Gebiete soll jeder ein Genie sein.“ Gottesebenbildichkeit heißt also (mindestens): Der Mensch ein Wesen des über die Mächte der Natur herrschenden Geistes Gottes – des Bundes – des Gebotes. Das ist wie die Reihenfolge: Exodus – Bundesschluss – Gabe des Gesetzes! (Vgl. auch Joh 13: Jesu Stunde ist gekommen (=Tod als Hinübergehen zum Vater, Sieg über den Tod) – Fußwaschung (neuer Bund, Neudefinition von Herr und Knecht) – ‚Ein neues Gebot gebe ich euch...‘) • „Gott segnete den siebten Tag“ (2,1-3) Vollendung der Schöpfung ist der Sabbat, der nur eintritt, wenn das Gebot gehalten wird. Der Segen der Schöpfung erwächst aus der Erfüllung der Gebote. • „Gott pflanzte einen Garten ... und setzte den Menschen hinein, damit er ihn bebaue...“ (2,8-15) Dieser Garten hat einen konkreten Ort: zwischen Pischon und Gischon (heute unbekannt), zwischen Euphrat und Tigris (das fruchtbare Land inmitten der Wüste). Eden ist nicht eine ferne Utopie! Mitten darin der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (vermutlich sind beide identisch; der Text ist nicht eindeutig. Später ist nur noch von einem Baum die Rede). Erkenntnis von Gut und Böse ist richterliche Erkenntnis, Erkenntnis aus dem Gesetz (hier ist nicht die philosophische Erkenntnis des Guten und des Bösen 11 gemeint)! Wird der Erkenntnis von Gut und Böse nach dem Gesetz gefolgt, ist man im Garten Eden, beim Baum des Lebens und bei den Bäumen „lieblich anzuschauen und gut zu essen“. Das Gesetz Gottes eröffnet den Zugang zur Fülle der guten Schöpfung Gottes: „ein Strom ging aus von Eden, den Garten zu bewässern...“ (vgl. dazu unbedingt Ez 47, Vision von der Tempelquelle, die das Land gen Osten mit Fruchtbarkeit erfüllt; das fruchtbare Wasser ist die Tora, vgl. Ez 40-46. Das Paradies ersteht neu, wenn die Tora gehalten wird!). • „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen. Von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen ... (sonst) musst du sicher sterben“ (2,17) Das zweite Wort Gottes an den Menschen, wieder ein Gebotswort (Erlaubnis/Gebot/Verbot – so pflegt Gott mit den Menschen zu reden). Die Erlaubnis geht voran: Gott überlässt uns die Fülle der Schöpfung. Das Verbot ist mittlerweile klar: Wer sich vom Gesetz Gottes scheidet, Gut und Böse aus anderen Quellen bestimmen will, geht zugrunde. Vgl. Dtn 30,17-20: „Wenn sich aber dein Herz wendet und du nicht gehorchst, dich verführen lässt, fremde Götter anzubeten und ihnen zu dienen, so kündige ich euch an: ihr werdet unfehlbar zugrunde gehen...“ Diese Erfahrung hat Israel ja gemacht, das ist also geschichtlich beglaubigt. [Die Stelle zeigt: es geht vielleicht nicht um Autonomie vs. Gehorsam, wie man immer ausgelegt hat, sondern um Gehorsam gegen Gott vs. Dienen anderer Götter. Irgendeinem Gesetz gehorcht der Mensch immer.] Nur Gottes Gesetz ist zum Leben. • „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei ... endlich Fleisch von meinem Fleisch ... “ (2,18-25) Gott weiß vorher, was der Mensch braucht. Er ist zuvorkommend, darauf kann man sich verlassen. (Jesus: „Euer Vater weiß ja, was ihr braucht, bevor ihr ihn bittet“, darum brauchen wir nur zu beten: „Dein Wille geschehe“, dann ist bestens für uns gesorgt, Mt 6,8.10; vgl. BAYER, ART. SCHÖPFUNG aaO. 331f.) Der Mensch, als Wesen des Bundes, braucht vor allem einen Bundespartner, ihm ungleich und doch mit ihm verbunden: Mann und Frau. Die beiden können dann eine Bundesgemeinschaft, d.h. „ein Fleisch“ bilden (2,24), eine neue soziale Einheit, nachdem sie Vater und Mutter verlassen haben (Eph 5,31 deutet das ‚ein-Fleisch-werden‘ gut biblisch auf die Bundesgemeinschaft Christus-Kirche). „Dann baute Gott die Rippe ... zu einem Weibe“ (2,22): Muss man das verstehen wie Paulus, 1 Kor 11,3-12: Der Mann Abglanz Gottes, die Frau Abglanz des Mannes, weil die Frau ja aus dem Mann ist – also Unterordnung (Pls ist sich selbst nicht sicher, s. V.12: wie die Frau vom Mann, so der Mann von der Frau, alles aber aus Gott)? Der Text hebt aber gerade die Gleichheit hervor: Bein von meinem Gebein... sie soll ‚ischa‘ heißen, weil sie vom ‚isch‘ genommen ist. – Aus der Seite/Rippe genommen: aus dem Zentrum von Lebenskraft, Wille und Verstand, vgl. H. W. WOLFF, ANTHROPOLOGIE DES ALTEN TESTAMENTS, München 1973, 68ff. – Die Frau wird mit Freude empfangen: „Diesmal ist sies!“ (Buber/Rosenzweig). Von Unterordnung keine Spur, wie ja auch schon 1,27 nicht. „Sie schämten sich nicht voreinander“: Sie hatten eine Partnerschaft/Bundesgemeinschaft, sie nutzen sich nicht gegenseitig aus. Scham kommt aus dem Gefühl, ausgenützt zu werden (z.B. als Objekt der Begierde) oder andere auszunützen. Die Bundesgemeinschaft verhindert gerade dieses. Vgl. CHR. GESTRICH, DIE WIEDERKEHR DES GLANZES IN DER WELT, Tübingen 1996, 227-230. 2.3 Der „Sündenfall“ Gen 3 Dieser Text ist so beladen mit Deutungen, dass wir uns hier ganz nah an die Worte halten. In der Vergangenheit wurde in zwei Richtungen ausgelegt: 1. Die Sünde war Auflehnung gegen Gottes Autorität und Herrschaft, der Mensch will nicht dienen. Gott straft das wie ein grausamer Despot – die traditionell christliche Deutung. 2. Im Gegenzug dazu erblickte die Neuzeit in der „Sünde“ den ersten Schritt zur Aufklärung, zur Autonomie, zur Selbstständigkeit, zum Erwachsensein. F. Schiller: „Die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschheitsgeschichte ... hier wurde seiner Moralität der erste, entfernte Grundstein gelegt“ (zit. nach GESTRICH aaO. 116; zum Ganzen ebd. 114-127). • „Die Schlange war listiger als alle Tiere ... sie erkannten, dass sie nackt waren“ (3,1-7) Die Schlange weckt Zweifel an der Richtigkeit von Gottes Geboten (=Erkenntnis von Gut und Böse). Tatsächlich ist es eine grundbiblische und –jüdische Erfahrung, dass nicht alle Gebote in ihrem Sinn einsehbar sind; daraus kommt eine große Anfechtung! Es mag sich an der Gestalt Evas die Erfahrung in Israel festgemacht haben, dass es vor allem die ausländischen Ehefrauen waren, die diese Zweifel weckten, vgl. Salomos Frauen, 1 Kön 11,113, die ihn zum Götzendienst verführen; die Königin Isebel im Elija-Zyklus, 1 Kön 17-21; das Problem der fremden Frauen in Esra 9 u. 10 („Bei diesem Treubruch war die Hand der Fürsten und Vorsteher voran“ – solche Ehen wurden zumeist aus politischen Gründen geschlossen). Auf die ausländische Herkunft des Zweifels verweist auch die Schlange, Kulttier in allen angrenzenden heidnischen Religionen. Das Zweifeln ist nicht schuldhaft, jede Gesetzesauslegung lebt aus der Frage nach dem Sinn des Gesetzes. Schlimm wird es aber, wenn das zweifelnde Nachdenken von der Begierde gesteuert wird („der Baum gut zu essen, lieblich anzusehen, begehrenswert“). Es ist diese gefährliche Mischung von Zweifel und Begierde (Habermas: Erkenntnis und Interesse), diese Vernebelung und Verblendung der Erkenntnis, die zur Übertretung des Gebotes führt (Dabei weckt das Verbot verhängnisvollerweise auch noch die Begierde; auf dieses Verhängnis des Gesetzes reflektiert Paulus in Röm 7,7). Damit ist aber gleich schon gegeben eine eigene Erkenntnis von Gut und Böse, ein eigenes Gesetz – d.h. wie Götter (pl.) sein, die Gutes und Böses erkennen (Eritis sicut Deus – das ist hier nicht so 12 dramatisch verstanden, als wolle sich der Mensch an die Herrschaftsposition Gottes setzen; es geht nur um die richterlich-gesetzliche Erkenntnis von Gut und Böse). – Wird aber das Gesetz Gottes verworfen, kommt in irgendeiner Variation gleich wieder das natürliche Gesetz zum Zuge: Selbsterhaltung als Grundregel des Handelns; im Zweifelsfall wird dann der andere immer benutzt; Scham kommt auf: „Sie erkannten, dass sie nackt waren“. – Der Sündenfall besteht nach dieser Interpretation darin: ein in seinem Sinn nicht einsichtiges Gebot Gottes (1. Anlass zur Sünde) wird gar nicht mehr näher geprüft, sondern aus Begierde nach dem Verbotenen (2., massgeblicher Anlass zur Sünde) gleich übertreten; damit ist der Anspruch verbunden, besser zu wissen als Gott, was gut und böse ist. – Gegenmittel zur Sünde ist damit 1. Das ruhige Studium nach dem Sinn des Gesetzes (Ps 1: Selig der Mann, der Freude hat an der Weisung Gottes und über seiner Weisung murmelt bei Tag und bei Nacht) und 2. Die Besiegung der Leidenschaften, der Begierde (was vermutlich leichter ist, wenn 1. stattfindet). – Talmud, Ketubbot 5a: „Wichtiger als die Erschaffung von Himmel und Erde ist die Erschaffung von Bewährten“ (= die die Tora unbedingt, trotz aller Anfechtungen, halten). Joma 38b: „Sogar um eines einzigen Bewährten willen wäre die Welt erschaffen worden.“ Zur Leidenschaft und Begierde: „Was bedeutet der Vers: Nicht sei ein fremder Gott in dir (Ps 81,10)? Welcher fremde Gott ist’s, der im Leibe des Menschen west? So sage doch: Das ist die böse Leidenschaft!“ (Schabbat 105b). „Immerzu erzürne der Mensch die gute Leidenschaft gegen die böse Leidenschaft ... Wenn er sie besiegt, ist’s gut; wenn aber nicht, beschäftige er sich mit der Weisung“ (Brachot 5a). Jüdisches Denken weiß um die Macht von Begierde und Leidenschaft, die Menschen immer wieder die Gebote übertreten lässt („Die Leidenschaft eines Menschen besiegt diesen alltäglich“, Sukka 52a), aber es hält die Möglichkeit der Umkehr immer offen: „Jeder, der seine Leidenschaft als Opfer darbringt und sie bekennt, dem lässt es die Schrift gelten, als ob er den Heiligen, gelobt sei er, in beiden Welten verehrt hätte, in der hiesigen Welt und in der kommenden Welt“ (Sanhedrin 43a/43b). • „Da vernahmen sie den Schritt Gottes ... Die Schlange hat mich verführt“ (3,8-13) Da wird von einem beiderseitigen Verborgensein erzählt: die Menschen verbergen sich vor Gottes Angesicht (3,8), vor seiner Nähe und Zuwendung, und Gott findet die Menschen nicht mehr: „Wo bist du?“ (3,9) M. MARQUARDT, WAS DÜRFEN WIR HOFFEN BD. 3, Gütersloh 1996, 187: „Er sieht sein Ebenbild nicht mehr ... er fehlt sich selbst in jener Beziehung, zu der er sich bestimmt hatte, ... in Bezug auf die er Gott sein wollte. ... sein Ruf nach den ihn verborgenen Menschen ... ein Schmerzensschrei Gottes nach dem, was ihm an sich selbst fehlt“ (zum Abschnitt ebd. 186-194). Ein Bundesgott ohne Bundespartner. Das ist gar nicht der Gott, der die Auflehnung der Menschen bestraft. Und auch die Menschen nicht in der Rolle der Empörer. Sie wälzen die Verantwortung ab: der Mann auf die Frau, die Frau auf die Schlange: Feigheit als erster Charakterzug. Aber Gott nimmt sie ernst, er fragt sie, wie in einer Gerichtsverhandlung (Marquardt: So wird es dereinst beim Gericht sein, Gott will wissen, wie es wirklich war. Darum wird Christus der Richter sein, der kennt die Menschen besser). • „Weil du das getan hast ... zum Staub musst du zurückkehren“ (3,14-19) Die „Sündenstrafen“ ändern nichts an den Verhältnissen, es ist nur, dass auf allem jetzt ein Fluch lastet: „verflucht bist du, ... verflucht sei der Erdboden...“ Der Segen, der aus dem Geist und dem Gesetz kommt (s.o.), ist dahin, es herrscht jetzt das Naturgesetz der Selbsterhaltung und Vereinzelung. Dadurch wird alles mühsam: das Leben wird ein Kampf ums Dasein. Auch die menschlichen Beziehungen werden zerstört: Verlangen und Herrschaft bestimmen sie (3,16). Diese Strafen werden nicht von Gott verhängt, sie ergeben sich als Folge aus der Verwerfung des Gesetzes. – Der leibliche Tod ist nicht Folge der Sünde, wie es ausdrücklich heißt: „Staub bist du, zum Staube musst du zurückkehren“ (3,19) – das war schon vorher so. Nur der verfrühte, der unnötige, der gewaltsame Tod stellt sich ein, wenn man Gottes lebensförderndes Gesetz verwirft. So die syrische Baruchapokalypse, 56,6: „Denn als er übertreten hatte, ist der vorzeitige Tod gekommen, und Trauer ward genannt und Trübsal, die Krankheit ward geschaffen und Mühsal vollendet“ (zit. nach M. Theobald, Römerbrief 1-11, Stuttgart 1992, 165) • „Eva, Mutter aller Lebendigen ... er stellte die Cheruben auf, den Weg zum Baum des Lebens zu hüten“ (3,20-24) Ein tröstlicher Ausgang: Eva (Chawwa=Leben) behält die Kraft zum Leben, wird Mutter aller Lebendigen. Gott selbst macht Mann und Frau Fellkleider und bekleidet sie: auch im harten Leben nicht ungeschützt (Ist des Paulus häufige Metapher „den Herrn Christus anziehen“ – Röm 3,14; Gal 3,27; 1 Thess 5,8 u.ö. – davon inspiriert? Christus, das Kleid gegen Sünde und Tod). Gott will dafür sorgen, dass die Menschen mit ihrem eigenen Gesetz („der Mensch ist geworden wie einer von uns, so dass er Gutes und Böses erkennt“ = er ist nun auch Gesetzgeber geworden) nicht auch das Prinzip des Lebens angreifen („dass er nicht seine Hand ausstrecke und von dem Baum des Lebens nehme und esse“) und dieses korrumpieren. „Ewig leben“ (3,22) nach diesem Gesetz wäre die Hölle. Darum muss der Weg zum Baum des Lebens bewacht/behütet werden, Gott stellt dazu die Cheruben auf mit dem flammenden Schwert. Versperrt ist der Weg nicht: der Weg führt über die Bundeslade, in der die Tora aufbewahrt wird, dort sind die Cheruben angebracht (Ex 25,18-22: auf der Versöhnungsplatte/Kapporet), von dort her wird Gott seinem Volk begegnen und mit ihm sprechen. Später sind die Cheruben im Tempel (1 Kön 6,23-28), nach dessen Zerstörung sieht Ezechiel sie auf dem Thronwagen (Ez 1 u. 10), mit dem Gott, nun beweglich, seinem Volk bis ins Exil nachreisen kann. Der Thronwagen bringt die neue Tora. Später sieht Paulus Christus als den Cherub auf der Kapporet, „um seine [Gottes] Gerechtigkeit zu 13 erweisen“, mit der er uns gerecht macht (Röm 3,25). Die Cheruben, allezeit Wächter der Tora und der Gerechtigkeit Gottes, behüten und weisen den Weg zu Baum des Lebens. 2.4 Fortgang der Urgeschichte bis zu Abrahams Berufung Die weitere Urgeschichte Gen 1-11 erzählt die Weltgeschichte der Menschheit ohne Gottes Gesetz. Was geschieht, wenn die Menschen nach ihrer Erkenntnis von gut und böse handeln? Gen 4: Kain tötet Abel. Gottes Segen gerät unter die Knappheitskalkulation, wird ökonomisch verrechnet; auf wessen Arbeit ruht mehr Segen? Gott aber schützt Kain... Kain, der erste Städtebauer (4,17): Mit den Städten beginnt Geldwirtschaft und Gesellschaftsordnung. Gen 6,1-6: Göttersöhne und Menschentöchter: Gewalt gegen Frauen! Göttersöhne (?)/ Helden der Vorzeit nehmen sich die Frauen, die ihnen gefallen – die Begierde regiert. Gott erkennt, was sein Geist im Menschen (=Herrschen über die Natur) anrichten kann. Wir hören erstmals: Der Mensch ist auch Fleisch (Joh 3,5-6; Röm 8,13). Gott begrenzt die Lebenszeit der Menschen. Gen 6,5-9,17: Die Sintflut. Gott erkennt, dass die Bosheit der Menschen groß ist und ihre Gedanken allezeit nur auf das Böse gerichtet sind; die Schöpfung reut ihn! „Die Erde füllte sich mit Gewalttat. Gott sah die Erde: verderbt war sie, denn alles Fleisch hatte seinen Wandel auf Erden verderbt“ (6,11f). Aber da gibt es einen Gerechten, Noach, und wir wissen ja bereits: „Sogar um eines einzigen Bewährten willen wäre die Welt erschaffen worden“ (Joma 38b). Mit dem Gerechten versucht Gott es erneut, die Schöpfung ersteht neu, mit allen Tieren nach ihrer Art (6,20; 8,19). Aber diesmal verzichtet Gott auf ein Gesetzeswort an alle Menschen; er hat sich mit den Menschen so wie sie sind versöhnt! „Ich will die Erde nicht wieder um den Menschen willen verfluchen, denn das Gedankengebilde des Menschen ist böse von Jugend an“ (8,21). Er schließt einen Bund mit diesen Menschen, die Fleisch sind: „Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich zwischen mir und allem Fleisch, das auf Erden ist, geschlossen habe“ (9,17). Gott reguliert sich in seinem berechtigen Zorn, hält sich selbst an das Gesetz des Bundes: „Wenn der Bogen in den Wolken erscheint, werde ich ihn ansehen, um des ewigen Bundes zwischen Gott und allem Fleisch zu gedenken“ (9,16). – Der Bund mit Noach, Vorgänger aller späteren Bundeschlüsse, ist perfekte Rechtfertigung! Gott will auch mit den sündigen Menschen Gemeinschaft haben, er lässt sie in ihrer Bosheit nicht allein. Der Bund besteht aus Gnade und Gebot. Er schützt die Menschen vor dem berechtigten Zorn Gottes („nicht noch einmal will ich alle Lebewesen vertilgen“, 8,21=Gnade), und er schützt die Tiere und die Menschen vor den Folgen der Bosheit (Fleisch mit seiner Seele, nämlich dem Blut, dürft ihr nicht essen; wer (Menschen-)Blut vergießt, dessen Blut wird Gott fordern: 9,3-5=Gebot). NB: Diese Bestimmungen bilden den Kern der späteren sog. Noachidischen Gebote [Rechtspflege; Enthaltung von Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub, Blut eines lebenden Tieres], die nach Meinung der Rabbiner für alle Menschen, nicht nur für Juden, gelten, vgl. TALMUD, SANHEDRIN 56A; AWODA ZARA 64B; KLAUS MÜLLER, TORA FÜR DIE VÖLKER, BERLIN 1994; F.W. MARQUARDT, WAS DÜRFEN WIR HOFFEN BD.I, GÜTERSLOH 1993, 200-335 (zur Bedeutung dieser Gebote). Gen 11: Der Turmbau zu Babel. Das Gesetz der Selbsterhaltung („damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen“) gerät bei den Menschen zu unbegrenzter Machtanhäufung: „Wohlan, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht“ (11,4). Damit ist gegeben: totalitärer Einheitszwang: „ein Volk ... eine Sprache“ (11,5). Die Gott so liebe Vielfalt der Schöpfung geht verloren. Die Verwirrung der Sprache sichert dagegen ein Mindestmaß an Vielfalt. Gen 12,1-3: Abrahams Berufung. Gott macht einen neuen Anfang in der Weltgeschichte. Er handelt nicht mehr an allen, sondern beginnt bei der Berufung einzelner. Dieser einzelne soll für alle zum Segen werden („ich will dich segnen ... du sollst ein Segen sein“); so soll der Segen wieder in die Welt zurückkehren. Das bleibt seitdem die Art des göttlichen Handelns an den Menschen: Erwählung – Berufung – Sendung. – In dieser Struktur liegt bereits die wesentliche anthropologische Aussage der Bibel: Der erwählte, der von Gott geliebte Mensch kann und soll für andere dasein. Freies Dasein für andere aus der Kraft der Erwählung Gottes ist seit Abraham die Berufung des Menschen. (Der Gegensatz dazu ist erzwungenes Dasein für sich selbst, für die eigene Selbsterhaltung: das Gesetz der „Natur“.) Die Abfolge der Urgeschichte gibt die Problemlage der christlichen Anthropologie vor: Der Mensch ist 1. ein gutes Geschöpf Gottes (Gen 1 u. 2); 2. ein Sünder (Gen 3-11) und 3. eine neue Kreatur kraft der Gnade Gottes (Gen 12). Die Frage ist dann: Wie sind diese drei Bestimmungen auf ein Subjekt zu beziehen? Vgl. TRAUGOTT KOCH, ART. MENSCH, TRE BD. 22, 547f. Die Theologie hat diese Fragestellung meist umgangen, indem sie die drei Bestimmungen in einer (heils-) geschichtlichen Abfolge darstellte: Gutes Geschöpf im Paradies, Sünder seit dem Sündenfall, neue Kreatur seit Christus; s.u. Status-Lehre. Aber damit ist das Problem entschärft. Einen Hinweis auf die Lösung des Problems gibt Paulus, wenn er sagt, dass der Mensch zugleich ‚im Geist‘ und ‚im Fleisch‘ sein kann. Darum nun zu Paulus. 14 3. Klassische Positionen und Texte der theologischen Anthropologie: Paulus – Augustinus – Luther 3.1 Paulus: Der Mensch zwischen Geist und Fleisch. Zu Röm 7,1-8,17 Der Römerbrief richtet sich an die römische Gemeinde, in der offenbar judenchristliche und heidenchristliche Gruppen darüber stritten, inwieweit dem mosaischen Gesetz noch zu folgen sei, vgl. vor allem Kap 14 (Wer dem Verbot des Götzenopferfleisches folgen wollte, war in Rom praktisch gezwungen,Vegetarier zu werden). Paulus will zur Klärung der Konflikte beitragen. Zugleich ist der Brief seine theologische Selbstvorstellung in Rom, wo man ihn noch nicht kannte. Er hat deswegen auch einen über den Anlass hinausgehenden Traktatcharakter. Das Problem des Gesetzes wird grundsätzlich angegangen, d.h. mit Blick auf die Bedeutung, die das Gesetz für die Juden hat. Paulus, ehemaliger Pharisäer, war selbst in gesetzesfreundlicher Tradition aufgewachsen und hatte sie tief verinnerlicht. Darum trägt der Brief auch sehr persönliche Akzente. In 7,1-8,17 finden wir eine anthropologische Engführung des Problems. Vgl. M. THEOBALD, RÖMERBRIEF KAP. 1-11, STUTTGART 1992, 1127. 3.1.1 Die Stellung von 7,1-8,17 im Gesamtaufbau des Briefes 1,1-6: Paulus, berufen zum Apostel für die Heiden durch Christus, den Sohn Gottes in Macht („... eine politische Kampfansage an die Cäsaren“: J. TAUBES, DIE POLITISCHE THEOLOGIE DES PAULUS, MÜNCHEN 1993, 27). 1,8-15: Dank für den Glauben der Gemeinde; Wunsch des Paulus, nach Rom zu kommen. 1,16-17: Motto, Zentralgedanke des Briefes: Das Evangelium eine Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, eine Kraft, die jeden rettet: zuerst die Juden, dann auch die Griechen. 1,18-3,20: Alle Menschen sind vor Gott schuldig und stehen unter seinem Zorn. „Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer“ (3,10=Ps 14,1-3). Die Heiden sündigen durch ihren Götzendienst (=Vertauschung der Herrlichkeit Gottes mit den Bildern von vergänglichen Menschen und Tieren; daraus folgt die generelle Verkehrung von Wahrheit in Lüge, 1,18-32), die Juden vor allem durch Hochmut über ihre Berufung, 2,17-29. Das Gesetz macht die Sünde der Juden offenbar, es dient „der Erkenntnis der Sünde“ (3,20). 3,21-31: Unabhängig vom Gesetz ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden, „bezeugt vom Gesetz und den Propheten“ (!), durch den Glauben an Jesus Christus. Da alle ohne Werke des Gesetzes allein durch den Glauben gerechtfertigt werden, ist alles Sich-Rühmen ausgeschlossen. Kap. 4: Das Beispiel Abrahams, der durch seinen Glauben gerechtfertigt wurde, noch vor dem Gesetz (nach Gen 15,6). 5,1-11 Durch den Tod Christi haben wir die Versöhnung mit Gott empfangen. 5,12-21: Alle haben in dem einen Adam gesündigt und sind verdammt worden, aber noch viel mehr ist durch Jesus Christus die Gerechtigkeit für alle gekommen. „Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen (zwischen Adam und Christus), damit die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade noch viel mächtiger geworden“ (5,20). Die Sünde führt zum Tode, die Gnade durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben. Kap. 6: Das neue Leben aus der Taufe: Wir sind in der Taufe mit Christus der Sünde gestorben und mit ihm zum Leben auferstanden. Hier schon die Frage: „Wie nun, sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne (denn es geht um die Frage, in wessen Dienst sich jemand stellt: in den Dienst der Sünde/des Fleisches, oder in den Dienst der Gerechtigkeit)“ (6,15ff). 7,1-8,17 ... (s.u.) 8,18-39: Das Heil ist uns gegeben, aber nur auf Hoffnung. Aber jetzt schon die Gewissheit, dass uns nichts (keine Macht und Gewalt) mehr von der Liebe Gottes trennen kann. Kap. 9-11: Das Problem Israel: Es ist von Gott bleibend auserwählt, aber die in Israel, die die Chance des Glaubens nicht ergreifen, können nicht gerettet werden. Vielleicht ist Israel nur verstockt worden, um zuerst die Heiden zu retten; Israel wird dann eifersüchtig werden und doch noch zum Glauben kommen. Auf jeden Fall wird der Rest Israels gerettet werden. Paulus weiß sogar um das Geheimnis, dass am Ende der Tage, dann, wenn die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist, auch ganz Israel gerettet wird. Den Heiden sei gesagt: „Nicht du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt dich“ (11,18); die Heiden sind nur „wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden“ (11,24). 12,1-15,13: Probleme der Gemeinde; ethische Unterweisung 15,14-27: Der Auftrag des Apostels, seine Reisepläne, die Kollekte für die Christen in Jerusalem. 3.1.2 7,1-6 Das Gesetz geht eine neue Verbindung ein Die meisten Ausleger verstehen hier nur: Die Christen sind frei vom Gesetz. Aber um das zu sagen, hätte schon V.1 genügt: Das Gesetz gilt nur, solange man lebt (rabbinischer Grundsatz, den Paulus in Erinnerung ruft). Wir aber sind mit Christus gestorben (vgl. V. 4 u. Kap. 6) und darum nicht mehr im Geltungsbereich des Gesetzes. Warum aber dann die Geschichte mit der Frau? Solange der alte Ehemann lebt, ist die Frau an ihn gebunden. Ist er gestorben, ist sie frei für eine neue Verbindung. Nun heißt es aber: wir sind dem Gesetz gestorben (V. 4), analog zu: der alte Ehemann ist der Frau gestorben. Entsprechend muss gelten: Das Gesetz ist frei für eine neue Verbindung. Also: Frau : alter Ehemann = Gesetz : wir, die wir gestorben sind. Und: Frau : neuer Ehemann = Gesetz : ???. 15 Hier hakt das Bild, denn mit wem kann das Gesetz eine neue Verbindung eingehen – wenn nicht mit uns? Also müssen wir wieder leben und zugleich neu geworden sein, ein „neuer Ehemann“. Genau das sagt Paulus V. 4 u. 5: Wir, die Gestorbenen, gehören jetzt Christus an, der von den Toten auferweckt. Also leben wir wieder. Und wir sind neu geworden: nicht mehr dem Fleisch, den sündigen Leidenschaften verfallen. So kann das Gesetz eine neue Verbindung mit uns eingehen: jetzt nicht mehr im alten Wesen des Buchstabens (offenbar verstehen die dem Fleisch Verfallenen das Gesetz als Buchstaben), sondern im neuen Wesen des Geistes. Aber in jedem Fall „dienen“ (V. 6) wir dem Gesetz. 3.1.3 7,7-13 Wie die Sünde sich des Gesetzes bediente Dass das Gesetz nichts Schlechtes ist, stellt gleich V. 7 klar: „Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne!“. Aber das Gesetz hat etwas damit zu tun, dass ich „einst lebte“ (V.9) und dann getötet wurde (V.12). Paulus reflektiert hier auf seine Vergangenheit bzw. auf die Vergangenheit der Judenchristen insgesamt (wohl beides in einem). Einst war ich lebendig und die Sünde tot (V.8 u. 9), dann war ich tot (V.10) und die Sünde höchst lebendig. Und dazwischen kam das Gesetz. Hat also das Gesetz mich getötet und die Sünde lebendig gemacht? Das kann nicht sein, Paulus ist sich sicher: „Das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig und gerecht und gut“; es ist ja Gottes Gesetz zum Leben (V.12; 10). Nur die Sünde kann töten, und sie war‘s denn auch, die mich getötet hat (V.11). Aber die Sünde nahm tückischerweise das Gebot zum Anlass oder Mittel, mich zu töten. Denn die Sünde lebt von der Begierde, die sich auf sie richtet, und sie benutzte das Gesetz als Mittel, um die Begierde zu wecken. Was verboten ist, das weiß jeder Mensch, ist besonders begehrenswert, ja vor allem das Gebot „Du sollst nicht begehren“ lenkt die Begierde geradezu auf das Verbotene. Das Gesetz ist also, und darin liegt zweifellos seine Schwäche, missbrauchbar, nämlich dann, wenn es im Sinne der Sünde, des Begehrens, des Fleisches gebraucht wird. Diese Erkenntnis hat Paulus gemacht. Es liegt aber auch etwas Gutes darin: die Sünde wird sichtbar (V.13), das Gesetz dient der Erkenntnis der Sünde bzw. meines eigenen Sündigseins. So kommt es zu größerer Selbsterkenntnis, gleichsam im Spiegel des Gesetzes, in dem ich mich erkenne. 3.1.4 7,14-25 Der sich selbst entfremdete, elende Mensch Die Sünde hat also etwas mit Paulus gemacht: sie hat ihn, mittels des Gesetzes, zur Begierde verführt. Deswegen spricht er sie wie ein Handlungssubjekt, wie eine fremde Macht an, und hier heißt es nun V. 14: Ich bin unter die Sünde „verkauft“ (wie ein Sklave). Aber er selbst war ja auch daran beteiligt, denn er war es ja, der sich verführen ließ. Insofern er sich verführen lässt, nennt er sich „fleischlich“. „Fleisch“ ist also zunächst einfach das Bildsame, Bewegbare im Menschen, das, womit er auf seine Umwelt reagiert (das ist ja auch die sinnliche Bedeutung von Fleisch). Er könnte also sagen: Ich bin Fleisch, nämlich ganz und gar verführbar. Aber das Gesetz, auch wenn es als Verbot Mittel der Sünde war, sagt ihm doch zugleich, was das Gute ist und dass das nicht gut ist, was er tut. Das bedeutet Erkenntnisgewinn durch Selbstdistanzierung: Paulus kann durch das Gesetz zwischen sich und sich unterscheiden, er kann sich gleichsam von außen beobachten (aus dem Blickpunkt des Gesetzes) und feststellen: Da bin ich, der ich Fleisch bin. Diese Verdoppelung ist eine höchst irritierende, dezentrierende Erfahrung. Die reflektiert Paulus nun: Da bin ich, der das Gute kennt und es auch will, und da bin ich, der das Böse tut. Ich tue also nicht, was ich will, sondern was ich nicht will (V.15; 19). Dies ist mehr als der Gegensatz von Wollen und Vollbringen, es ist die Spaltung in zwei Selbste: das, das tut (der ganze Mensch), und das, das will (der ganze Mensch). Paulus ist gar nicht mehr er selbst, er ist nur noch der Spielball fremder Mächte, deren Gesetzen er dient: dem Gesetz Gottes und dem Gesetz des Fleisches (V.25). „Ich elender Mensch!“ (V. 25). Was kann das sein, die Macht des Fleisches? Meist wurde sie mit der sexuellen Begierde gleichgesetzt, oder überhaupt der Habsucht. Das ist zu eng. Vom Begehren hatte Paulus allerdings gesprochen: Etwas für mich haben wollen, was ich noch nicht habe. Warum? Die Schilderungen dieses Abschnitts sehen genauer. Was tut man unwillkürlich, insofern man eben Fleisch ist? Man schützt sich, man verschafft sich Sicherheiten, man will Macht, Verfügungsmöglichkeiten über etwas gewinnen: man dient der eigenen Selbsterhaltung. (Das tut auf naturwüchsige Weise auch die Sexualität.) Das Gesetz des Fleisches ist das Gesetz der Selbsterhaltung, eben das Gesetz aller Natur. N. LUHMANN, passim: Selbsterhaltung ist Existenzprädikat aller Systeme (z.B. in: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, 142). Das Gesetz Gottes aber will etwas anderes: freies Dasein für andere. Im Glauben ist das möglich, denn im Glauben bin ich gerechtfertigt, d.h. befreit vom Zwang zur Selbsterhaltung und Selbstbegründung. Das Gesetz Gottes widerstreitet somit dem Gesetz des Fleisches (wie wir schon bei der Schöpfungserzählung gesehen haben). Hier geht es also nicht um den Widerstreit von Vernunft und „Trieben“, sondern um etwas viel tiefer Reichendes, um zwei Gesetze, die jeweils den ganzen Menschen mit Leib und Seele beanspruchen. Wer das Gesetz ‚im Fleische‘, also im Sinne der natürlichen Selbsterhaltung halten will, dem gereicht es zum Tode. Denn dann ist immer die Frage: Was muss ich tun, um dem Anspruch des Gesetzes zu genügen und nicht von ihm verdammt zu werden, also vernichtet zu werden? Das Gesetz ist dann die reinste Überforderung, an der ich zerbreche. Das meint Paulus mit dem „Wesen des Buchstabens“ (V.6). Wer es aber im Geist hält, der weiß: Ich brauche mir um mich keine Sorgen mehr zu machen, ich kann das Gute (für andere) tun, ich darf und kann selbstlos sein. Und dann ist das Halten der Gebote das reinste Vergnügen. Das ist das „Wesen des Geistes“, der der Geist Gottes ist. Darum jubelt der verzweifelte Paulus auf: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn!"“(V. 25). 16 3.1.5 7,25-8,17 Freies Leben nach dem Gesetz des Geistes des Lebens Dieser Text ist wie ein strahlendes Finale nach den dramatischen Mittelsätzen. Von einem Ende des Gesetzes für die Christen keine Rede mehr. Paulus spricht jetzt direkt vom „Gesetz des Geistes des Lebens“, nach dem wir leben können. Dieses Gesetz verurteilt nicht mehr (8,1). Jesus hat das Gesetz frei gemacht von seiner missbräulichen fleischlichen Verwendung, weil er in seinem Leben und Sterben das Gesetz der Selbsterhaltung aufgehoben hat. Das war seine Sühne für die Sünde, zu zeigen, dass auch der, der bis zur Selbstaufgabe auf Selbsterhaltung verzichten kann, lebt (V. 3)! Das tat er, damit die Forderung des Gesetzes erfüllt wird, denn das muss ja sein, damit Gottes Reich und Gerechtigkeit kommt. Also überhaupt nicht: Freiheit vom Gesetz, wie so oft fälschlich und antijüdisch argumentiert wurde. Nur wird eben jetzt für die, die aus dem Geiste (des ermöglichten Verzichts auf Selbsterhaltung) leben, klar, wie tödlich das Gesetz für die ist, die es fleischlich (im Sinne ihrer Selbsterhaltung) erfüllen wollen. Der Gegensatz „Trachten des Fleisches“ und „Trachten des Geistes“ ist jetzt völlig deutlich: das eine führt zum Tod, das andere zu Leben und Frieden (V.6-9). Das Gesetz des Geistes des Lebens macht frei! Während ja im Fleische von der Sünde und dem Gesetz wie von fremden, versklavenden Mächten gesprochen werden musste, ist es damit jetzt vorbei. Wir sind nicht mehr dem Fleisch, d.h. dem Zwang zur Selbsterhaltung, verpflichtet, wir sind wirklich frei von uns selbst bzw. von der Sorge um uns selbst und damit von allen Mächten, die uns bei dieser Sorge behaften und unfrei machen (V. 12f). Das entfaltet der Schlussakkord V. 12-17: Nicht mehr Sklaven, sondern Söhne und Töchter Gottes, dann auch Miterben an der Herrlichkeit Christi! Festzuhalten ist: Der Text Röm 7,1-8,17 bezieht sich nicht auf einen allgemeinen anthropologischen Sachverhalt (etwa, wie oft gemeint wurde, den üblichen Gegensatz von Vernunft und Gefühl), sondern er beschreibt in rein biblischer Wirklichkeitssicht die Begegnung der Menschen mit dem Gesetz Gottes (eine Interpretation im allgemein anthropologischen Sinn findet man in E. KÄSEMANNS RÖMERBRIEF-KOMMENTAR und auch bei M. THEOBALD, der aaO. 212-215 überflüssigerweise ‚Parallel‘-Belege aus der Antike für den Zwiespalt zwischen Einsicht und Handeln beibringt.) Nicht das „Ende des Gesetzes“ ist Thema des Textes, sondern die Bedingung, dieses überhaupt zu halten und seine Forderungen zu erfüllen. Diese Bedingung ist das Leben im Geist, für Christen konkret die Nachfolge Christi, d.h. ein selbstloses Leben im Verzicht auf Selbsterhaltung durch den Glauben an Gott, der uns erhält. Paulus hat hier eine Erkenntnis wiedergewonnen bzw. im Blick auf die Heidenchristen aktualisiert, die biblisch-alttestamentlich nie zweifelhaft war: „Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebot achtet und sie erfüllt“ (Ez 36,27). Gebotserfüllung als eigene Leistung („Werkgerechtigkeit“) ist überhaupt kein jüdisches Problem bzw. nicht mehr ein jüdisches als ein christliches, denn der Abfall vom Glauben, der Rückfall ins Fleisch ist immer möglich. Der Text kann nicht antijüdisch instrumentalisiert werden, so oft das auch geschehen ist, er kann höchstens antichristlich eingesetzt werden, insofern Christen sich durch ihn allzu leicht und überheblich von der Einhaltung der Tora Gottes dispensiert glaubten. Der TALMUD, MAKKOTH 23B-24A, überliefert ein Gespräch zwischen den Weisen, in dem die Zahl der 613 ToraGebote immer weiter auf das Wesentliche reduziert wird. Mose hatte 613 Gebote, 365 Verbote nach den Tagen des Sonnenjahres und 248 Gebote entsprechend den Gliedern des Menschen. Da kam David und brachte sie auf elf, gemäß Ps 15,1-5: Wer makellos wandelt – und recht tut – vom Herzen Wahrheit spricht – auf seiner Zunge nicht Verleumdung hegt – seinem Nächsten nichts Böses zufügt – nicht Schmach auf seinen Freund lädt – dem der Verworfene als verächtlich gilt – die in Ehren hält, die den Herrn fürchten – seinen Schwur nicht abändert, auch wenn er zu seinem Schaden geschworen hat –sein Geld nicht um Zins gibt, nicht einmal an einen Nichtjuden – nicht Bestechung gegen einen Unschuldigen annimmt. Da kam Jesaja und brachte sie auf sechs, gemäß Jes 33,15: Wer in Rechtschaffenheit wandelt – und Redlichkeit redet, der seinen Genossen nicht öffentlich kränkt – wer Gewinn durch Erpressung verschmäht – wer Bestechung abwehrt – wer sein Ohr verstopft, um nicht Mordpläne zu hören – und seine Augen verschließt, um nicht das Böse zu schauen. Hierauf kam Micha und brachte sie auf drei, gemäß Mi 6,8: Gerechtigkeit tun (=Rechtspflege üben) – sich der Liebe befleißigen (Wohltätigkeit üben) – demütig wandeln vor deinem Gott (z.B. einen Toten hinausführen). Da kam Jesaja abermals und brachte sie auf zwei, gemäß Jes 56,1: „Wahret das Recht und übt Gerechtigkeit“. Hierauf kam Habakuk und brachte sie auf eines, gemäß Hab 2,4: „Der Fromme wird durch seinen Glauben leben“. – Nichts anderes will Paulus im Römerbrief sagen: „Denn im Evangelium wird geoffenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt; wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘ (Hab 2,4).“ (Röm 1,17) 17 3.2 Kann der Mensch das Gute wollen? Augustinus und Pelagius Von Augustinus (354-430) ist hier die Rede, weil • keiner in der Antike den paulinischen Impuls intensiver aufgenommen hat als er. Es führt eine direkte Linie von der alttestamentlichen Tora-Lehre über Paulus, Augustinus und Luther in die Neuzeit. Dort teilt sie sich: Descartes – Kant auf der einen (säkularen) Seite; Pascal – Kierkegaard – dialektische Theologie (auf der christlichen Seite). Auf dieser Linie ist das meiste biblische Material in die Neuzeit transportiert worden. • • er das abendländische Menschenbild stärker geprägt hat als irgend jemand sonst! seine Verbindung von Biographie und Theologie etwas sehr Modernes hat und unmittelbar in unsere Zeit hineinspricht. Erst mit Augustinus hat die Erfahrung überhaupt einen Stellenwert in der Theologie gewonnen – aber man beachte, wie sie ihm erst im Spiegel der Bibel ansichtig wird und sich darin spezifisch verändert. Augustinus – der Stammvater der Korrelation(sdidaktik)? Lit.: P. BROWN, DER HEILIGE AUGUSTINUS, MÜNCHEN 1973; DERS., DIE KEUSCHHEIT DER ENGEL. SEXUELLE ENTSAGUNG, ASKESE UND KÖRPERLICHKEIT AM ANFANG DES CHRISTENTUMS, MÜNCHEN 1991, 395-437; W.-D. HAUSCHILD, LEHRBUCH DER DOGMEN- UND KIRCHENGESCHICHTE BD. I, GÜTERSLOH 1995, 209-246, hier v.a. 225-237; G. GRESHAKE, GNADE ALS KONKRETE FREIHEIT. EINE UNTERSUCHUNG DER GNADENLEHRE DES PELAGIUS, MAINZ 1972, zu Augustinus 193-274; O.H. PESCH, FREISEIN AUS GNADE, FREIBURG 1983, 88-91; TH.RUSTER, BIN ICH DAS SUBJEKT MEINES BEGEHRENS?BEOBACAHTUNGEN ZUM FUNKTIONSWANDEL DER INTROSPEKTION VON AUGUSTINUS BIS ZUR WERBUNG, IN: THPQ 144 (1996) 168-176. 3.2.1 Skizze der augustinischen Sünden- und Gnadenlehre Vgl. HAUSCHILD aaO. Gott und die Seele – das Grundthema des frühen A. „Gott und die Seele begehre ich zu erkennen. Sonst nichts? Überhaupt nichts“ (Soliloquia I,2,7). „Denn du hast uns auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir“ (Confessiones I,1,1). Nur Gott als das höchste Ziel darf man genießen (frui), alle irdischen Güter nur gebrauchen (uti). Nur Gott als dem höchsten Gut (summum bonum) darf man anhängen (adhaerere Deo), die Abwendung von ihm (aversio a Deo) ist zugleich Abwendung vom Guten (aversio a bono) und vom Sein, damit Zuwendung zum Bösen, dem Nichts bzw. Nichtsein. A., der Neuplatoniker: Die Glückseligkeit liegt im Geistigen/Göttlichen, das Materielle ist minderes Sein; die Zuwendung zum Leiblichen ist Abwendung von Gott. Urstand: Gott hat den Menschen richtig (rectus) erschaffen. Adam hat die ursprüngliche Gerechtigkeit (iustitia originalis), sein Wille ist frei (liberum arbitrium) und erstrebt das Gute, er kann Gott lieben. Seine Triebe (cupiditates) sind seinem Willen (voluntas) untergeordnet. Er muss nicht sündigen (posse non peccare). Dies alles kommt ihm nicht von Natur aus zu, sondern nur durch die Hilfe der Gnade (adiutorium gratiae). [A. denkt den Menschen nicht isoliert, sondern von vorneherein in der Gemeinschaft mit Gott.] Sündenfall: In seiner Willensfreiheit hat sich Adam von Gott abgewandt (das Verbot, vom Baum zu essen, ist für A. ein Gehorsamstest). Als Strafe geht ihm die Hilfe der Gnade (adiutorium gratiae), die ihm ja unverdient zuteil geworden war, verloren. Folgen: Selbstliebe statt Gottesliebe (amor sui), ausschließlicher Selbstbezug (incurvatio in seipsum), Unfähigkeit, das Gute zu wollen (non posse non peccare; Necessitas peccandi – das hatte A. aus Röm 7); Auflehnung der Triebe gegen den Geist (poena reciproca: die Glieder gehorchen dem Geist sowenig wie der Mensch Gott – hier der erste Brückenschlag zur sexuellen Erfahrung). [Vgl. oben zu Gen 3,14-19. – A. will sagen: der Mensch ist mit seiner Natur alleingelassen, er ist jetzt nur noch um seine Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung besorgt (dafür steht die Begierde, die concupiscentia). Im Rahmen des (von Tertullian übernommenen) ‚Natur‘-Begriffs dachte er dies jedoch als eine ontologische Bestimmung der menschlichen Natur (und nicht als die Folge des Gesetzes, nach dem die Menschen jetzt leben): die schöpfungsgemäß gute, gnadenhaft gestützte Natur des Menschen ist durch die Sünde geschädigt. Die Frage ist dann: Wie geht die einmalige Handlung von Adam und Eva auf alle Menschen (auf die menschliche Natur) über? Darauf antwortet die Lehre von der Erbsünde.] Erbsünde: Einerseits gilt Adam A. als der Repräsentant aller Menschen, als der ‚typische‘ Mensch. Andererseits verstand er Röm 12,5 als biblische Grundlage für die Übertragung der Sünde Adams auf alle Menschen (Dort steht: „Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und der Tod ist zu allen Menschen durchgedrungen, weil [eph ho] alle sündigten.“ A. las jedoch: Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt, in dem [lat. Übersetzung der Vulgata: in quo] alle sündigten, und so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen). Um sich zu erklären, wie die Sünde von Adam auf die anderen übergehen kann, stützte sich A. auf die damals modernste Fortpflanzungstheorie: den Generatianismus. Durch die Zeugung werden Leib und Seele zugleich erzeugt (dazu GESTRICH, DIE WIEDERKEHR DES GLANZES AAO. 271-280). Dazu bemerkte A., dass das Grundübel des Menschen nach dem Sündenfall, die concupiscentia, bei jeder Zeugung eine maßgebliche Rolle spielt (der zweite Brückenschlag zur sexuellen Erfahrung!). So kam er zum Schluss, dass die Sünde und ihre Folgen „vererbt“ werden. – Er konnte sich auch auf die Praxis der Kindertaufe stützen: Warum werden Kinder zur Vergebung der Sünden getauft, wenn sie keine Sünde haben? Erlösung durch die Gnade: Aus sich selbst kann die verderbte Natur nichts zu ihrer Erlösung beitragen. Sie ist ganz auf die Gnade angewiesen. Diese gibt Gott umsonst, gratis (gratia gratis data), und zwar durch den 18 Heiligen Geist (nach Röm 5,5: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“). Der Geist bewirkt eine innere Umwandlung des Menschen. Die Hilfe der Gnade (adiutorium gratiae) wird ihm wieder gewährt. Folgen: Der Mensch kann das Gute wieder wollen, sein Herz ist wieder dem Guten – Gott – zugewandt, und er ist nun auch fähig, das Gesetz Gottes zu erfüllen. Also wieder ein posse non peccare. Aber: Die übrigen von Adam zugezogenen Sündenfolgen bleiben, vor allem der Kampf zwischen Geist und Begierde (s.o. poena reciproca). Der Mensch ist auch nach der Erlösung in einen lebenslangen Kampf mit seiner eigenen concupiscentia verwickelt, deren Auswirkung A. vor allem im sexuellen Bereich veranschaulichte (obwohl sie nicht nur da anzutreffen ist!). „Solange die Sünde in deinen Gliedern sein muss, soll ihr wenigstens die Herrschaft genommen werden; es soll nicht geschehen, was sie befiehlt. Es erhebt sich der Zorn? Leihe dem Zorn nicht die Zunge zum Schmähen, gib dem Zorn nicht die Hand oder den Fuß zum Schlagen [...] Jeder nach Vollkommenheit Strebende muss trachten, dass diese Begierlichkeit, welcher die Glieder nicht zum Gehorsam dargeboten werden, täglich im Voranschreiten sich mindere [...] Wann wird die volle und vollkommene Freiheit im Herrn Jesus eintreten? Wenn keine Feindschaft mehr sein wird, wenn der ‚letzte Feind, der Tod, vernichtet sein wird (1 Kor 15,26)“ (Tract. in Ioannis Ev 41,12-13). [Dies ist dann das Lebensprogramm des abendländischen Menschen geworden, auf dem unsere Zivilisation ruht. Das ‚Voranschreiten‘ war Erziehungsprogramm.] 3.2.2 Die Prädestination (Vorherbestimmung) Alles, was der gerechtfertigte (=wieder in den Zustand der Gerechtigkeit eingesetzte, Gott lieben könnende) Mensch hat, hat er von Gott: den Anfang des Glaubens, den freien Willen (mit dem er jetzt wieder zwischen gut und schlecht wählen kann), und auch die Beharrlichkeit im Guten (donum perseverantiae). Alles ist Geschenk Gottes (donum Dei); es gibt kein Verdienst (meritum) vor Gott. Wenn das aber so ist, dann ist das Gut- oder Schlechtsein der Menschen, ihr Gläubig- und Nichtgläubigsein, allein von Gott vorherbestimmt! Alles liegt an Gottes Erwählung! Ihr eigenes Verhalten fügt dem nichts hinzu: den Erwählten führen gut und schlechte Wege zu Gott, den Nichterwählten können auch die besten Handlungen vor Gott nichts nützen. (Deshalb konnte A. in den Confessiones seine eigene Schlechtigkeit so herausstreichen, ja offensichtlich übertreiben, um die Gnade Gottes in um so hellerem Licht erscheinen zu lassen.) A. fand in Röm 8,29 die biblische Basis dafür: „Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes.“ Aber warum werden nur einige erwählt – noch nicht einmal alle, die berufen sind (dieses Problem plagt Paulus in Röm 9-11 in Bezug auf die nicht an Christus glaubenden Juden!)? Warum werden viele verworfen? In seiner Schrift „De diversis quaestionibus ad Simplicinanum“ (um 397) tritt A. über diese Frage in eine intensive Diskussion mit Paulus ein. Röm 9,11-13 mit Bezug auf Jakob und Esau, die Kinder Rebekkas: „Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, da wurde, damit der Ratschluss Gott bestehen bliebe und seine freie Wahl – nicht aus Verdienst oder Würdigkeit, sondern durch die Gnade des Berufenden –, zu ihr [Rebekka] gesagt: ‚Der Ältere [Esau] muss dem Jüngeren [Jakob] dienen‘ (Gen 25,23), wie geschrieben steht: ‚Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst‘(Mal 1,2).“ A.: Hat Gott etwa das künftige Tun der Zwillinge vorhergesehen? Aber dann würde es ja nicht heißen: Ehe sie Gutes oder Böses getan hatten... Nicht aus Verdienst... Also erfolgt die Erwählung grundlos. „Was ist dann mit Esau? Dass er dem Jüngeren dient und dass geschrieben steht: Esau habe ich gehasst, auf Grund welcher eigenen Bosheit hat er das verdient?“ Er war ja noch gar nicht geboren, als es hieß: Er soll dem Jüngeren dienen. „Durch welches Verschulden wird Esau denn gehasst, bevor er geboren ist?“ (Ad Simpl. Z. 215-230) Und wenn denn die Erwählung Jakobs aus reiner Gnade geschah: „Warum wurde dieses Erbarmen dem Esau versagt?“ (ebd. 274). „Warum ist er also verworfen worden, als er noch im Mutterleib war? Ich komme immer wieder auf diese Schwierigkeit zurück...“ (ebd. 303-305). A. kommt schließlich auf die aporetische Lösung des Paulus hinaus. Röm 9,14-20: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: ‚Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich‘ (Ex 33,19). So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. [...] So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will [mit Blick auf den verstockten Pharao gesagt]. Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“ A. erklärt es sich: Alle haben durch ihre Sünde die Verwerfung verdient. Gott ist also gerecht, wenn er verwirft. Aber einige erwählt er aus unbegreiflicher Gnade. „Also sieht jeder, dass niemand Unrecht begehen kann, der fordert, was man ihm schuldet, aber gewiss auch niemand, der schenken will, was ihm schuldet, und dass Letzeres nicht im Urteil der Schuldner liegt, sondern in der Entscheidung dessen, dem man schuldet“ (Ad Simpl. 462-464). [Haben Paulus und A. die Frage richtig gestellt? Wird 1 Tim 2,4 (Gott will, dass alle gerettet werden) erreicht? Sie gehen von einer Sündenmacht aus, die der Mensch nicht überwinden kann. Also sind sie auf Gottes Gabe angewiesen. Die Tora ist aber die Gabe, die das Tun des Guten fordert und zugleich ermöglicht: indem die Erfüllung der Gebote diese Sündenmacht beseitigt [dazu später mehr!]. Die Tora kann nur tun, wer Gott glaubt. Zu diesem Glauben sind aber alle gerufen und alle fähig; das eben ist Jesu Botschaft. Dabei ist der Glaube kein 19 Verdienst, sondern vom Wort Gottes ermöglichte Antwort. – Dies nur als Andeutung an dieser Stelle... Bleiben wir vorerst bei Augustinus.] 3.2.3 Augustinus, der Neuplatoniker, und sein Verhältnis zum Gesetz Für A. hatte das Gesetz keine Heilsbedeutung. Es zeigt nur auf, dass der Mensch den Willen Gottes nicht erfüllen kann (negative Effizienz). Sein Inhalt interessiert A. nicht, er richtet sich ja nur auf zeitliche Güter (temporalia). Das ist neuplatonisch: die strenge Unterscheidung von außen und innen. Damit hängt auch ein Zweites zusammen: Alles Äußere (auch das Gesetz) kann nur ein Zeichen (signum) für das Innere, das Entscheidende (res, significatio) sein. Das Entscheidende ist die innere Umschaffung des Willens, die durch die Gnade geschieht; sie kommt allein von Gott (Illuminationstheorie). „Beides [Äußeres und Inneres] zu identifizieren wäre für A. das ‚jüdische‘ Mißverständnis“ (GRESHAKE aaO. 212). Dann gilt aber auch: auch das Evangelium, auch Jesus Christus, auch die Sakramente sind etwas Äußeres, sind nur Zeichen für die Gnade, die Gott zu aller Zeit gibt. Für A. ist Christus nicht das entscheidende Heilsereignis. Die Gnade ist nur ‚per Christum‘, weil Gott die Menschen (seit Anbeginn; innertrinitarisch) nur um seines Sohnes willen liebt. Diese neuplatonische Abwertung des Äußeren (Politischen, Gesellschaftlichen) hat Theologie und Kirche in der Folge überwiegend davon abgehalten, die Lebensbedeutung des Gesetzes wahrzunehmen. Aus A. folgt konsequent die Zwei-Reiche-Lehre: civitas Dei und civitas terrena (vgl. De Civitate Dei, A..s Hauptwerk). Das Politische bleibt jetzt sich selbst überlassen. – Zu diesem Abschnitt: GRESHAKE aaO. 207-228. 3.2.4 Pelagius: Die Theologie eines konservativen römischen Sozialrevolutionärs (Zu Pelagius: GRESHAKE aaO. 47-192; HAUSCHILD aaO. 230-237; BROWN aaO. 419-438 (zu Pelagius‘ Schüler Julian von Eclanum und der sex. Problematik); A. KESSLER, REICHTUMSKRITIK UND PELAGIANISMUS, Freiburg/Ch 1999) Die theol. Geschichtsschreibung lässt Pelagius, A.s Gegner im pelagianischen Streit 411-418 viel zu schlecht wegkommen! Pelagius (ca. 350-420), aus Britannien stammend, ein gebildeter Theologe ohne Amt, wirkte ab etwa 380 in Rom erfolgreich als Prediger und Asket. Er wollte die röm. Oberschicht zu christusgemäßem, unterscheidbaren Handeln bewegen. Sein Wahlspruch: „Serva mandata“ (Befolgt die Gebote, vgl. KESSLER aaO. 14). Seine Kritik galt den unsozialen Reichen und ihren Ausschweifungen. Er betrieb literale, nicht allegorische Schriftauslegung (antiochenische Richtung!): Das Gesetz Christi erfüllt das Gesetz des AT, indem es dieses integriert. „Non figura sed veritas“ ist das AT im Verhältnis zum NT. Seine Theologie: Gott ist gut und gerecht, der Mensch ist zum Guten und Gerechten fähig und soll wie Gott heilig, gut und gerecht sein. Es gibt keine Urschuld, die ihn daran hindert. Das ‚posse‘ der sittlichen Anstrengung liegt der sittlichen Ermahnung sachlich voraus. Wer das bestreitet, verleitet zu sittlicher Trägheit. Mit seinem freien Willen kann der Mensch auch das Böse wollen, aber sein Gewissen und die Gebote orientieren ihn richtig. Nicht gewiss ist, ob irgendein Mensch diesem ‚posse‘ auch voll entspricht, aber streben sollen alle. Christus ist vor allem exemplum; herrlich ist es, wenn ein Asket ihm wirklich nacheifert. Glaube und Leben sollen in Übereinstimmung stehen; der Glaube beweist sich im Tun der Gebote. – Im pelagianischen Streit fokussierte A. das Problem des freien Willens zum Guten auf die Sexualität: Können Menschen (Männer!) enthaltsam leben? Die Erfahrung spricht dagegen. Zeigt sich nicht in der Sexualität, dass wir innerlich von Trieben bestimmt werden, die der Wille nicht beherrscht? Ist das nicht Ausdruck für die ‚poena reciproca‘ (Aufstand des Leibes gegen den Geist)? A.s Gegner hatten die schwere Aufgabe zu zeigen, dass es anders ist. 3.2.5 Vergleich Augustinus – Pelagius Pelagius – ein konservativer Römer, ein Mann der Antike (Stoa)! Es gibt eine Ordnung der Welt; Selbst und Welt stehen in einem guten Zusammenhang, wo dieser nicht durch Übel gestört ist. Augustinus – ein Moderner! Er überwindet das kosmologische Weltverständnis zugunsten eines subjektivpersonalistischen, das er an seiner Person („Seele“) in ihrer Konfrontation mit dem Willen Gottes gewonnen hatte. Dann aber können die Übel nicht mehr von außen kommen, sie liegen im eigenen Selbst. Dort findet A. den Zwiespalt zwischen Wollen und Vollbringen (Röm 7) und die Unfähigkeit, diesen zu überwinden. A. markiert das Ende der Antike. Er entdeckt die einsame, auf sich (Descartes) bzw. auf die Gnade Gottes (Luther) gestellte Subjektivität. Warum hat sich A. gegen Pelagius durchsetzen können? Weil er sich besser durchzusetzen, rhetorische und politische Mittel besser einzusetzen wusste (vgl. HAUSCHILD aaO. 234-236)? Weil er Gott und seine Gnade so groß sein ließ – vielleich zu groß (A., der Doctor gratiae)? Weil er der Abgründigkeit menschlicher Unheilserfahrung besser entsprach? Weil er Innerlichkeit und Glaubensintensität vermittelte, ohne dass sich wirklich etwas ändern musste in der Welt (A., der Theologe der Großkirche)? Von allem ist es wohl etwas, mit allem hat er die Kirche geprägt. 3.2.6 Die Entscheidung des pelagianischen Streits durch die Synode von Orange (529) Die 2. Synode von Orange zog einen Schlussstrich unter den Streit; Papst Bonifaz II. bestätigte sie in folgenden Worten: Es ist gewiss, „dass der Glaube, durch den wir an Christus glauben, ebenso wie alle anderen Güter jedem einzelnen Menschen aus dem Geschenk der Gnade von oben (supernae gratiae) kommt, nicht aus der Kraft der menschlichen Natur, ... dass der Glaube durch die zuvorkommende göttliche Gnade gewährt wird – auch, dass es nichts Gutes in Bezug auf Gott gibt, das einer ohne Gottes Gnade wollen oder beginnen oder tun oder vollenden könnte“ (DH 399; vgl. PESCH aaO. 129). Und das ist richtig. 20 3.3 Martin Luther: Dass der freie Wille nichts sei. (De servo arbitrio, 1525) Luther (1483-1546) hat in dieser großen Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam alle wichtigen Themen seiner Theologie durchgespielt: Rechtfertigung aus Glauben – die Klarheit der Schrift – Gottes Allmacht – Gottes Verborgenheit (Deus absconditus) – der unfreie Wille – der ganze Mensch ist Fleisch (totus homo caro). Sie war ihm selbst seine wichtigste Schrift zusammen mit dem Großen Katechismus. Wir finden in ihr die Wiederaufnahme der paulinischen und augustinischen Motive in spezifisch neuzeitlicher, subjektzentrierter Zuspitzung, und zugleich den schärfsten Widerspruch gegen das neuzeitliche Menschenverständnis, das eben auf der Freiheit des Willens (der Selbstbestimmung) des Menschen beruht. M. LUTHER, DASS DER FREIE WILLE NICHTS SEI. ANTWORT D. MARTIN LUTHERS AN ERASMUS VON ROTTERDAM, MÜNCHEN ³1983 (M. LUTHER, AUSGEWÄHLTE WERKE, HG. VON H.H. BORCHARDT U. G. MERZ, ERGÄNZUNGSREIHE 1.BAND); Lat.: WEIMARER AUSGABE 18, 600-787; Sekundär: E. MAURER, LUTHER, FREIBURG 1999, 109-128; O.H. PESCH, FREI SEIN AUS GNADE AAO. (alle Abschnitte über Luther); K. SCHWARZWÄLLER, THEOLOGIA CRUCIS. LUTHERS LEHRE VON PRÄDESTINATION NACH DE SERVO ARBITRIO, MÜNCHEN 1970 (eignet sich gut als Lesehilfe); R. BRANDT, DIE ERMÖGLICHTE FREIHEIT. SPRACHKRITISCHE REKONSTRUKTION DER LEHRE VOM UNFREIEN WILLEN, HANNOVER 1992 (geht vor allem dem Weiterwirken des Themas in der prot. Theologie und Kirche nach) 3.3.1 Anlass und Eigenart der Schrift Erasmus (1466-1536), der Humanist, Philologe und berühmteste Gelehrte seiner Zeit, war von kath. Seite zu einer Stellungnahme gegen die Reformation gedrängt worden. In seiner „Diatribe sive collatio de libero arbitrio“ (Gespräche oder Unterredung über den freien Willen, Sep. 1524) griff er Luthers Lehre mit Zeugnissen aus der theol. Tradition und der Schrift an. L., aufgehalten durch die Bekämpfung der Schwärmer, den Bauernkrieg und seine Heirat, antwortete erst Dez. 1525. L. schätzte Erasmus wegen dessen Ausgabe des griechischen NT, hielt aber theologisch nicht viel von ihm. Sein Ton in De servo arbitrio ist sehr scharf: Erasmus sei inkompetent, langweilig, beschränkt, widersprüchlich, verstehe nichts von der Sache usw. L. tritt in der Rolle des Siegers auf. Er erkennt ihm aber zu: „Einzig und allein du hast den Kardinalpunkt der Sache erkannt“ (248). – Die Schrift ist nicht systematisch aufgebaut, sondern geht (oft sarkastisch!) kommentierend an Erasmus‘ Äußerungen entlang. Darum ist sie schwer zu lesen. – Im Folgenden nur einige wichtige Gesichtspunkte. 3.3.2 Der freie Wille ist nichts; der Mensch als Lasttier Erasmus: Der Wille kann sich aus sich selbst dem Guten und Heilbringenden zuwenden. L.: Das ist schlimmer als die Scholastik, die sagt, der Wille könne sich aus sich selbst nur dem Bösen wenden, zum Guten bedürfe er der Gnade. Aber auch das ist falsch, sonst könnte man sagen, ein Baumstamm habe freien Willen, weil er sich aus sich selbst nach unten, mit fremder Hilfe nach oben bewegen könne. Er folgt aber immer der Schwerkraft (vgl. 79-81). Und so auch beim Menschen: Er ist zwar frei zu tun, was er will, aber nicht frei zu wollen, was er will. Der Wille wird durch äußere Mächte bestimmt, etwas zu wollen. Der Gegensatz ist also nicht: Freiheit vs. Zwang, sondern Unbestimmtheit vs. Bestimmtheit bzw. Notwendigkeit. Wenn der freie Wille ohne die Gnade nichts vermag, dann vermag er gar nichts, dann gibt es ihn nicht. – „So ist der menschliche Wille in die Mitte hingestellt wie ein Lasttier. Wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will ... Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn festzuhalten und in Besitz zu nehmen“ (45f). [Vgl. dazu GESTRICH aaO. 9-12: der Unterschied zu Freud: Das ‚Ich‘ reitet das ‚Es‘.] 3.3.3 Der Mensch als ganzer ist Fleisch Fleischlich ist der Mensch ganz, insofern er nur das sucht, was das Seine ist (vgl. 184). [=insofern er Selbsterhaltung/Selbstrechtfertigung betreibt]. L. bestreitet die scholastische Unterscheidung von Geist und Fleisch – als wenn der Mensch nur im Fleisch schwach wäre. Tatsächlich betreibt der Wille in allem was er will nur Selbsterhaltung. Darum ist er nicht frei. Der Mensch als ganzer muss erlöst werden, nicht nur das Triebhafte und Unedle im Menschen [so hat es das spätere aufgeklärte Christentum gemeint]. Joh 3,6: „Was aus Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, es sei denn, dass jemand von neuem geboren wird.“ Fleisch ist der Inbegriff der Welt ohne Gott (die nicht weiß, dass, wer sich gewinnen will, sich verlieren muss). – Die Werke der Heiden: „Sie sind niemals unsittlicher und schändlicher gewesen als dann, wenn sie in ihren höchsten Tugenden erstrahlten“ (185). Sie taten ja alles zum eigenen Ruhm. Darin liegt keine Abwertung der Heiden. Die Christen sind nicht vorzüglicher, aber sie haben gehört und zu sagen, dass das Heil allein aus Gott durch Christus kommt, ohne die Werke. 3.3.4 Die Selbstaufgabe Gott gegenüber und die Prädestination Erasmus hat das Bild: der Mensch am Scheidewege. Für den Weg zum Guten kann er nur mit der Hilfe Gottes entscheiden. L. ist viel radikaler: Wenn ich mich für Gott entscheide, bin immer noch ich es, der entscheidet. Ich baue mich als Instanz gegenüber Gott auf. Damit habe ich Gottes Souveränität und Allmacht nicht anerkannt, mache ihn abhängig von meinem Willen. Es geht ja um die Entscheidung, dass nicht mehr ich entscheide, sondern Gott für mich entscheidet. Sich für Gott entscheiden, heißt eigentlich, überhaupt nicht mehr entscheiden zu können, und das ist noch mehr als: überhaupt nicht mehr entscheiden zu wollen. Gott ist nur da als Gott anerkannt, wo mein Wille aufhört, d.h. letztlich: wo ich selber aufhöre etwas zu sein. Ich müsste mich also entscheiden können, nicht mehr zu wollen – und das geht nicht, weil die Entscheidung selbst noch ein Willensakt wäre. „Zwischen meinem Eigenwillen und dem Willen Gottes kann ich mich logischerweise nicht neutral 21 entscheiden. Beharre ich nämlich auf solch einer Entscheidung, so fixiere ich logischerweise meinen Eigenwillen“ (MAURER aaO. 116). [Hier klingt das paulinische „Ich lebe, doch nicht mehr ich, Christus lebt in mir“ (Gal2,20) durch.]. Vor Gott ist der Mensch also völlig passiv. Erst wenn Gott sich für mich entschieden hat, ist der Wille wieder frei: Er kann sich dann verhalten zu der Entscheidung, die über ihn gefallen ist. Christus wurde von Gott in den Tod und das Nichts getan und dann zum neuen Leben erweckt. Im Gegensatz zur katholischen Tradition hebt L. dabei nicht den (Willens-)Gehorsam Jesu hervor, sondern seine völlige Passivität vor Gott. An ihm und durch ihn geschieht darum die Erlösung, deshalb ist er unser Erlöser. Wir können verallgemeinern: Solange der Mensch noch ist und als solcher einen Willen hat, geht es ihm um seine Selbsterhaltung. Die Neuschöpfung durch Gott vollzieht sich über die Auslöschung des Willens zur Selbsterhaltung, damit über die Auslöschung des Selbst. Prädestination: Die Stellung des Menschen vor Gott hängt deswegen ausschließlich von Gottes Erwählen und Verwerfen ab. Wir können nur beten: ‚Dein Wille geschehe‘. Darin liegt etwas Unbegreifliches (warum Gott die einen erwählt und die anderen verwirft, s. Jakob und Esau (vgl. 161-164), aber darüber können wir mit Gott nicht rechten) und etwas Tröstliches: Es kommt auf uns, auf unser Glaubenkönnen, nicht an; Gott kennt die Seinen und wird es schon recht machen. L. autobiographisch: „Denn bei jedem vollbrachten Werk bliebe der ängstliche Zweifel zurück, ob es Gott gefalle oder ob er etwas darüber hinaus verlange, so wie es die Erfahrung aller Werkgerechten beweist und ich zu meinem Unglück so viele Jahre hindurch genügend gelernt habe. Aber nun, da Gott mein Heil meinem Willen entzogen hat und in seinen Willen aufgenommen hat ... bin ich sicher und gewiß, daß er treu ist und mir nicht lügen wird, außerdem mächtig und gewaltig ist...“ (243). [Exkurs: Luthers Theodizee. Gott ist die beständige schöpferische Kraft in allen Geschöpfen – auch im Bösen! Er nimmt die Geschöpfe so, wie er sie antrifft (inveniens, non creans) und hält sie auf ihrem Weg (zum Guten oder Bösen). Die Menschen können aus eigener Kraft nicht aus ihrem Zirkel [Selbsterhaltung des Systems] ausbrechen, so bleibt Gottes Allmacht gewahrt. Soll man nun wünschen, dass Gott aus Erbarmen mit den Bösen mit seiner Kraft und Wirksamkeit aussetze? Nein, denn dann würde man wünschen, dass er aufhört, Gott und Schöpfer zu sein, dass er aufhört, gut zu sein, damit jene nicht böser werden, vgl. 135-146; dort auch zum Problem der Verstockung. ] 3.3.5 Die Verwirrung der Vernunft: Offenbarung im Gegensatz (sub contrario) An Jesus ist zu sehen: Das Heil kommt durch Tod, Kreuz und alle Übel in die Welt. Wenn nun der freie Wille das Heil wollen könnte, müsste er das eigene Verderben wollen können [d.h. er müsste die Preisgabe der Selbsterhaltung wollen können], und das ist unmöglich (vgl. 79). Das Widernatürliche, das Unvernünftige und den freien Willen Vernichtende des Heiles kommt darin zu Ausdruck, dass Gott sich niemals als ein mögliches Objekt des Willens [zur Selbsterhaltung] sehen lässt: Der Glaube bezieht sich auf Dinge, die man nicht sieht (Hebr 11,1), und am tiefsten verborgen ist Gott unter seinem Gegensatz (sub contrario): „So, wenn Gott lebendig macht, tut er das durch Töten, wenn er gerecht macht, tut er das, indem er zu Schuldigen macht, wenn er in den Himmel bringt, tut er das, indem er in die Hölle führt“ (44). Dadurch wird die Vernunft verwirrt und gedemütigt. „Gott hat den Demütigen, das ist, die sich verloren geben und verzweifelt sind, seine Gnade zugesagt“ (43). [Von hier aus ist keine Korrelationsdidaktik mehr möglich!!!] 3.3.6 Die Verborgenheit Gottes L. hat hier noch einen rätselhaften Gedanken angeschlossen, der über die Offenbarung sub contrario hinausgeht: Es sei zu unterscheiden zwischen dem gepredigten, offenbaren Gott und dem verborgenen Gott (Deus absconditus). Das ist Gott in seiner Majestät und seinem unerforschlichen Willen. Er geht uns nichts an: „Quae supra nos, nihil ad nos“ (108). Während der gepredigte Gott darauf aus ist, dass Sünde und Tod besiegt werden, beklagt der in seiner Majestät verborgene Gott „weder den Tod, noch hebt er ihn auf, sondern wirkt Leben und Tod alles in allem. Denn er hat sich nicht durch sein Wort in Grenzen eingeschlossen, sondern hat die Freiheit seiner selbst über alles behalten“ (ebd.). [Was ist das? Ein Rest des philosophischen Gottesbildes vom ‚Allmächtigen‘ (den L. vielleicht von Dionysios Areopagita hatte?) Oder nur ein „seelsorgerlicher Vorbehalt, daß wir die Zuwendung Gottes nicht ausloten können“ (MAURER aaO. 128)? 3.3.7 Luthers Anthropologie als Kehrseite des neuzeitlichen Menschenbildes Der freie Wille ist ein leeres Wort, Menschen werden von fremden Mächten bestimmt, Gott in seiner Allmacht bewirkt letztlich alles Geschehen, aber Gott ist ganz anders, als sich Menschen etwas Göttliches, Mächtiges überhaupt vorstellen können; er bedeutet für unsere Vernunft nur Verwirrung. Das Selbsterhaltungsstreben der Menschen ist nichts als Sünde und führt geradewegs in die Hölle. –Eine radikalere Absage an das neuzeitliche Menschenbild lässt sich nicht denken. L. hat in Erasmus den Vertreter der Neuzeit erkannt und verurteilt. Die Neuzeit ist erasmisch geworden (sie hat sich vielleicht bewusst gegen die lutherische Verurteilung entwickelt, die ihr bekannt war): Menschen regieren die Welt durch ihre Vernunft und ihren Willen, sie erfahren sich als Subjekt ihres Handelns. Ihr Selbsterhaltungsstreben ist überall die treibende Kraft, vor allem im Kapitalismus (Adam Smith: wenn alle ihren Vorteil suchen, dient das der Allgemeinheit am meisten. Das ist das Gesetz.). Aber hat uns nicht gerade im Kapitalismus die Erfahrung der fremdbestimmenden Mächte wieder eingeholt, vor allem die Erfahrung, dass wir zwar tun können, was wir wollen, aber nicht bestimmen können, was wir wollen? Darum muss es nun weitergehen mit der „Theologie der Mächte und Gewalten“. 22 4. Von der Schöpfungsgeschichte über Paulus und Augustinus bis zu Luther. Ein Rückblick Von der Erschaffung an sind die Menschen zur Herrschaft über die Natur berufen. Man kann die Natur nicht sich selbst überlassen (dem Gesetz der Selbsterhaltung, notfalls auf Kosten anderer), sie hat ein besseres Gesetz verdient: Das Gesetz Gottes, die Tora, die schon Gottes Schöpfungshandeln leitet (s. Sabbat). Von diesem Gesetz geht ein Segen über alles aus. Die Menschen haben den Geist Gottes, um es zu erfüllen. Im „Sündenfall“ entscheiden sich Adam und Eva für eine eigene Erkenntnis von gut und böse, für ein eigenes Gesetz. Sofort fallen sie auf das Gesetz der Selbsterhaltung zurück (man sieht’s in ihrem SichSchämen). Seitdem lastet auf dem Leben ein Fluch. Paulus denkt in seiner geschichtlichen Lage (Probleme der römischen Christen) darüber nach, ob auch die Christen die Tora halten müssen. Der damit erstmals in der Bibel gegebene Abstand zur jüdischen Gesetzestreue bringt ihn zu grundsätzlichen und persönlichen Reflexionen über die Tora. Er stellt fest, dass das Gesetz, das doch zum Leben führen soll, auch zum Tode führen kann. Dies ist dann so, wenn es „dem Fleische nach“ getan wird, also im Sinne und zum Zwecke der eigenen Selbsterhaltung. Das Handeln zur eigenen Selbsterhaltung („Sünde“) lastet wie ein Zwang, wie eine Macht auf den Menschen. Aus eigener Kraft können sie sich davon nicht befreien, es zerreißt sie, wenn sie von dem wahren Sinn der Tora wissen und sie doch nicht halten können. Erst der Geist Christi, also der Geist dessen, der auf die eigene Selbsterhaltung gar nicht bedacht war und von Gott das ewige Leben erhielt, befreit von dieser Macht. In diesem Geist getan, wird das Gesetz für ihn wieder zum Gesetz des Geistes des Lebens – was es in biblischer Tradition immer schon gewesen war. Augustinus ist sich aus eigenen und zeitgeschichtlichen Erfahrungen sicher, dass die Menschen das Gesetz Gottes überhaupt nicht erfüllen können. Es sei nur gegeben worden, um ihnen zu beweisen, dass sie es nicht können. Er radikalisiert (und ontologisiert) den paulinischen Gedanken, dass alle unter der Macht der Sünde stehen und deshalb unvermeidlich selbst sündigen (Erbsünde). Sie können das Gute noch nicht einmal wollen. Erlösung liegt auch für ihn nur im Geist Gottes. Da es an dem Menschen gar nicht liegt, muss alles von Gott kommen, Erwählung und Verwerfung (Prädestination). Die Sündenfolgen, vor allem die Begierde (concupiscentia), bleiben aber auch für die Erwählten zurück (während es bei Paulus heißt: Das Gesetz des Geistes hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes, Röm 8,2). So konzipiert Augustinus das christliche Leben als einen ständigen Kampf gegen die innere Begierde. Die äußeren Werke der Tora, durch die ja der Segen über die Schöpfung kommen soll, interessieren ihn nicht mehr; schon seine neuplatonische Einstellung hält ihn davon ab. Damit bleibt die äußere Welt (civitas terrena) sich selbst überlassen, der Segen der Tora kommt nicht zum Zuge. Martin Luther spitzt den Gedanken unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivierung (die er eben damit befördert) noch weiter zu: Die Menschen sind der Macht ihres Selbsterhaltungstrebens restlos unterworfen, sie sind nicht einmal frei, auch nur etwas anderes zu wollen (also haben sie keinen freien Willen). Gottes Gnade ist der reine Widerspruch zu dieser Art von Menschsein. Wenn Gott sich den Menschen nähern will, muss er sie zuerst vernichten und dann neu schaffen. Gott und Welt (genauer: Satan) stehen sich wie zwei feindliche Mächte gegenüber, ihr Kampf geht um den Menschen, der dabei passiv zuschaut. Bei dieser Lage bleibt es (simul iustus et peccator), und in ihr bewährt und verwirklicht sich der Glaube (als Glaube an die Rechtfertigung). Die Frage, ob und wie die Gesetzesbestimmungen erfüllt werden sollen, liegt nicht mehr in Luthers Horizont (jedenfalls in dieser Schrift, und auch nicht im nachfolgenden Protestantismus). Die Frage im Paradies war: Können die Menschen das gute Gesetz Gottes erkennen? Die Frage des Paulus war: Können die Menschen das Gesetz, das sie als gut erkannt haben, auch tun? Kommen Wollen und Vollbringen zusammen? Die Frage des Augustinus war: Können die Menschen das Gute überhaupt wollen? Die Frage Luthers war: Haben die Menschen überhaupt einen freien Willen? Man sieht: eine zunehmende Radikalisierung. Sie geht einher mit einem zunehmenden Abstand des Christentums vom Judentum, vom torabestimmten Wirklichkeitsverständnis der Bibel. Das Tun der Tora wird immer unwahrscheinlicher. Zugleich wird die Erfahrung der Mächte, die die Menschen zum Bösen zwingen, immer stärker. Die beiden Aspekte (kein Tun der Tora/Erfahrung der Mächte) bedingen einander. Daraus kann man den Schluss ziehen: Das Tun der Tora ist das Mittel gegen die Mächte. Aber der Erkenntnisgewinn dieser Entwicklung ist: Das Tun der Tora darf nicht im Fleische, es muss im Geiste geschehen. Dieser Geist kommt von Gott durch Jesus Christus zu allen Menschen und wird im Glauben wirksam. 23 5. Von Engeln und Dämonen, Mächten und Gewalten Der bisherige Durchgang durch die Anthropologie hat gezeigt: Menschen sind nicht frei, das Gute zu tun oder auch nur zu wollen. Also ist jetzt von den Mächten zu reden, die sie in ihrem Handeln und Willen bestimmen. Die Theologie entwickelte die Angelologie bzw. Dämonologie aus den biblischen Vorgaben. Seit langem führt aber die Engel- und Mächtelehre ein Schattendasein in der Theologie (Ausnahme im 20. Jhd: Karl Barth!); die Theologie hat sich der neuzeitlichen „Entmythologisierung“ der Engelwelt fast widerstandslos angeschlossen. Die These des Folgenden ist: Engel/Dämonen/Mächte/Gewalten bilden einen eigenen Bereich der Wirklichkeit. Es gibt sie, und sie sind wirkmächig, sie bewirken etwas: Gutes oder Schlechtes. Gott ist ihr Schöpfer („Schöpfer des Sichtbaren und des Unsichtbaren“). Mit seiner Macht können die Menschen auch über die bösen, dämonischen Gewalten Herr werden, sie in den Dienst des Reiches Gottes stellen. Die „aufgeklärte“ Neuzeit hat zu ihrem Schaden die Existenz der unsichtbaren Mächte geleugnet (Folge des Empirismus, der sich an das Sichtbare, Nachprüfbare hält) und sie in den Bereich des Mythos, des Märchens, des Fiktionalen, des Symbolischen verwiesen. Weil sie die Mächte nicht mehr kennt, ist sie ihrem (oft dämonischen) Wirken ungeschützt ausgesetzt. Heute halten die Mächte unsere Welt nahezu ungehindert im Griff. Aufgabe der Theologie ist es deshalb, über die himmlischen Gewalten und ihre Macht aufzuklären. Theologie hat heute vor allem „Himmelslehre“ zu sein. Damit leistet sie ihren unverzichtbaren Beitrag zur Befreiung von der Macht der Mächte und Gewalten. H. VORGRIMLER, WIEDERKEHR DER ENGEL? EIN ALTES THEMA NEU DURCHDACHT, KEVELAER 1991 (kath.; bietet die Quellen mit nur dürftiger Interpretation); D. HEIDTMANN, DIE ENGEL: GRENZGESTALTEN GOTTES. ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT UND MÖGLICHKEIT DER CHRISTLICHEN REDE VON DEN ENGELN, NEUKIRCHEN-VLUYN 1999 (ev.; referiert die Engellehre von E. Peterson und K. Barth sowie sehr knapp die biblischen Zeugnisse, nur ansatzweise eigene theol. Interpretation). Als Durchbruch in der Theologie kann gelten: TH. ZEILINGER, ZWISCHEN-RÄUME. THEOLOGIE DER MÄCHTE UND GEWALTEN, STUTTGART 1999. Lesenswert: R. GUARDINI, ENGEL. THEOLOGISCHE BETRACHTUNGEN, MAINZ 1995; E. PETERSON, DAS BUCH VON DEN ENGELN, LEIPZIG 1935, NEU IN: DERS., THEOL. TRAKTATE BD. 1, 195-243, WÜRZBURG 1994. 5.1 Beobachtungen 5.1.1 Wiederkehr der Engel(-Vorstellung) Noch für R. Bultmann ist „die Welt der Geister und Dämonen durch die moderne Naturwissenschaft und Technik erledigt; sie gehören zum überholten Weltbild der Bibel, nicht zu ihrer bleibenden Botschaft“ (VORGRIMLER 16f). Aber überall außerhalb der Wissenschaft kehren die Engel wieder (oder sind immer präsent geblieben): – in der Werbung – in der Literatur, vor allem der Kinderliteratur – in Filmen (nicht nur W. Wenders!) – in der Kunst (z.B. Ernst Klee, von ihm inspiriert: W. Benjamin) – in der Frömmigkeit („von guten Mächten“; „Abends wenn ich schlafen geh“) – im Sprachgebrauch (Du mein Engel; engelgleich, rein wie ein Engel) – in der Charismatischen Bewegung („Geistliche Kriegsführung“) – in Esoterik, Okkultismus, Satanismus (Ekstase, Besessenheit). – In UMBERTO ECOS Roman „Das Foucaultsche Pendel“ (dt. 1989) wird der von der frühesten Zeit der Menschheit bis in die Gegenwart durchgehende Strom okkulter, hermetischer, diabolischer Traditionen sichtbar. – Was bedeutet diese starke Präsenz des Themas, das doch von der Wissenschaft völlig vernachlässigt wird? 5.1.2 Engel und Dämonen in der Bibel (Engel, hebr. Mal’ak/Mal’akim; gr. angelos/angeloi.) Nur auf einige wenige Stellen kann ich hier hinweisen: • Gen 3,24: Engel (Cherube) bewachen und hüten den Weg zum Baum des Lebens, der Tora (nach jüdischer Überlieferung wurde die Tora dem Mose von den Engeln gegeben, vgl. im NT Gal 3,19 und Hebr 2,2). • Gen 24,34-40: Ein Engel sorgt dafür, dass Rebecca gegen aller Wahrscheinlichkeit Isaaks Frau werden will. • Gen 28,10-22: Die Himmelsleiter – Jakob der Engelskenner (vgl. auch 32,2): Wer die Engel sieht, wer um die Engel weiß, wird das Land erhalten, er und seine Nachkommen. Vgl. auch Ex 23,20: Ein Engel führt in das gelobte Land. “Habe acht auf ihn und höre auf ihn“. • Gen 32,23-33: Der Kampf am Jabbok: Wer der dunklen, namenlosen, dämonischen Gewalt standhält, ist gesegnet. Der neue Name „Israel“: Kämpfer gegen Gott (gegen das Göttliche? das, was für göttliche Gewalt gehalten wird?). Israel können die dunkle Gewalten nicht überwinden. • Num 22,22-35: Der Engel und Bileams Eselin: Ein Engel greift völlig unerwartet zugunsten Israels ein, verhindert die befohlene Verfluchung. • 1 Kön 19,1-13: Ein Engel stärkt den zu Tode erschöpften Elia in der Wüste. • Das Buch Tobit: Der Engel Raphael hilft Tobias durch alle Gefahren und befreit seine Braut von einem Dämon. 24 • Lk 1,5-38: Der Engel Gabriel kündigt der unfruchtbaren Elisabeth und der jungfräulichen Maria die Geburt ihrer Söhne an. • Mk 1,12f/Mt 4,1-11/Lk 4,1-13: Engel stärken Jesus nach 40 Tagen Fasten in der Wüste. • Mt 18,1-10: Die Engel der Kinder stehen allezeit vor Gottes Antlitz, deswegen darf man ihnen keinen Schaden zufügen. • Mk 16,1-8/Mt 28,1-8/Lk 24,1-10: Ein Engel verkündigt die Auferstehung Jesu von den Toten Wir sehen bis hierher schon: Die Macht der Engel wirkt das unwahrscheinliche Gute. Sie gibt im Kampf zwischen Leben und Tod, wenn der Tod wahrscheinlicher ist, den Ausschlag für das Leben. Daraus erklärt sich die Nähe der Engel zu Tora und Landbesitz: Die Tora/das Leben im Gelobten Land ist das unwahrscheinliche Gute in der Welt. Wer es mit den Engeln hält, wird von den dunklen Gewalten/von tödlichen Mächten nicht überwunden. Ps 91 gibt hiervon die Zusammenfassung: “Du, der du sprichst: Meine Zuflucht ist Jahwe ... so wird dir begegnen kein Unheil, keine Plage wird nahn deinem Zelte. Denn er entbietet für dich seine Engel, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie sollen auf den Händen dich tragen, dass nicht an einem Stein sich stoße dein Fuß...“ (Vv 10-12). Aber deswegen soll man sich nicht gleich mutwillig vom Tempel stürzen, Mt 4,6f. • Jes 6,1-8//Ez 1-1-28//Dan 8,15-19//Dan 7,9-10//Offb 7,1-12//Offb 10,1-7: Engel bestimmen die Geschicke der Welt, und wer sie kennt, kennt die Weltgeschichte – aber sie stehen unter Gott (als Gottes „Hofstaat“). • Offb 1,9-2,7: Es gibt Engel der Gemeinden/der Städte • Offb 12: Gottes Engel (Michael) kämpfen gegen den „Drachen“ und seine Engel zugunsten der Bewahrung des Lebens der Frau und ihres Kindes • Hebr 1,5-14: Jesus steht näher bei Gott als die Engel, sie sind ja nur „dienende Geister, zum Dienste ausgesandt für die, die das Heil erben sollen“. Diese Texte sind schwer zu interpretieren, denn sie zeigen uns die Himmelswelt, die uns unbekannt ist. Die Geheimlehren aller Zeiten haben sich daran abgemüht. Aber zu erkennen ist doch: Irdisches Geschehen hat eine Entsprechung im Himmel und wird vom Himmel her beeinflusst. Engel scheinen für Völker und Herrscher zuständig zu sein. Gewisse Engel können sich auch gegen Gott stellen und damit gegen die Menschen. Sie stehen dann im Kampf mit den Engeln, die für die Menschen, gerade für die hilfsbedürftigsten, streiten. Aber die letzte Berufung der Engel ist es, Gott zu loben, d.h.: seiner Sache, seiner Gerechtigkeit zu dienen. Und am Ende wird Gott es so einrichten, dass die Engel dieser Berufung entsprechen. Es scheint, dass diese Ambivalenz der Engelwelt in der biblischen Lehre von den Mächten und Gewalten (archai kai exousiai) zusammenfassend reflektiert wird: • Röm 8,38f: „Denn ich bin überzeugt: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ • Kol 1,16: „In ihm [Jesus Christus] ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.“ • Kol 2,10: “... an dieser Fülle habt ihr teil in ihm, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.“ • Kol 2,15: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zu Schau gestellt und einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ • Eph 1,20f: „...hat er ihn von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen.“ • Eph 3,10: „Damit jetzt [durch die Verkündigung des Evangeliums an die Heiden] kund werde die mannigfaltige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten im Himmel durch die Gemeinde.“ • Eph 6,12: „....wir habe nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.“ Die Zeit dieser „Deuteropaulinen“ (Ende des 1. Jhds.; römische Gewaltherrschaft über den ganzen Erdkreis, Sklaverei, ökonomisch bedingter Expansionismus, Christenverfolgungen) waren die Christen offenbar besonders empfänglich für die Wahrnehmung sowohl der irdischen wie der himmlischen Mächte. Sie wussten sich in ein Machtsystem eingebunden und erkannten die Mächte, die darin wirken. Und sie hatten die Gewissheit, dass diese Mächte von Christus besiegt sind, dass sie im Glauben an Christus etwas haben, was sie gegen die Mächte stark macht und von ihrem Zwang befreit. Und was ist – nach dem Eph – der Grund für diese Gewissheit? Der Apostel ruft es in Erinnerung: „Denkt daran, dass ihr, die ihr von Geburt einst Heiden wart ... dass ihr zu jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen vom Bürgerrecht Israels und Fremde außerhalb des Bundes der Verheißung ... jetzt aber seid ihr, die ihr einst Ferne wart, Nahe geworden durch das Blut Christi“ (2,11-13). Bürgerrecht in Israel haben=Anteil an der Gewalt über die Mächte! Vgl.: Israel in Gen 32! 25 5.1.3 Engel(-lehre) in der Tradition der Kirche Hier kann nur ein ausschnitthafter Überblick gegeben werden. • • • Den Menschen der Antike ist die Existenz von unsichtbaren, guten und bösen himmlischen Mächten völlig selbstverständlich. Pagane Religion, Gnosis, Mysterienkulte, Neuplatonismus kommen darin überein, auch Christen und Juden machen keine Ausnahme (TALMUD, Berakoth VI: „Könnte das Auge die Teufel sehen, die das Universum bevölkern, das Dasein wäre unmöglich.“). HIRTE DES HERMAS, um 150: „‘Zwei Engel sind bei dem Menschen‘, sagte der Hirte, ‚einer der Gerechtigkeit und einer der Schlechtigkeit.‘ – ‚Wie nun‘, unterbrach ich, ‘wie, Herr, soll ich ihre Wirkungen erkennen, da doch beide Engel in mir wohnen?‘ – ‘Höre‘, erwiderte er, ‘und lerne sie kennen! Der Engel der Gerechtigkeit ist zart, schamhaft, milde und ruhig; wenn dieser in deinem Herzen sich regt, spricht er sogleich mit dir über Gerechtigkeit, Keuschheit, Heiligkeit, Genügsamkeit, über jegliche gerechte Tat und über jede rühmliche Tugend. ... Betrachte nun die Werke des Engels der Schlechtigkeit. Er ist vor allem jähzornig, verbittert und unverständig, seine Werke sind böse und verführen die Diener Gottes. Wenn also dieser sich in deinem Herzen regt, dann erkenne ihn an seinen Werken“ (Kap. 2): Ein Bewusstsein ist vorhanden, dass Menschen von äußeren Mächten beeinflusst werden, die in ihrem Innern wirken; zur Aufmerksamkeit wird gemahnt! Hauptintention der Christen ist, die Unterordnung dieser Mächte unter Gott und Christus aufzuzeigen. „Die Engel sind zweitrangige, geistige Lichter. Durch den Sohn Gottes wurden alle Engel erschaffen und vom Heiligen Geist durch die Heiligung vollendet ... Jedes Geschöpf wird ja von Gott, seinem Schöpfer begrenzt“ (JOHANNES VON DAMASKUS, 675-749, De Fide orthodoxa 2,3). Ihrer Verwechslung mit Gott/Göttern wird gewehrt: „Diese nun, die wir nach ihrer Tätigkeit Engel zu nennen gewohnt sind, finden wir, weil sie göttlich sind, in den heiligen Schriften auch als ‘Götter‘ bezeichnet (Ps 49,1; 85,8; 95,4; 135,2), aber nicht so, dass uns vorgeschrieben würde, die Dienenden, die uns die Aufträge Gottes überbringen, an Stelle Gottes zu verehren und anzubeten“ (ORIGENES, 185-254, Contra Celsum 5,4-5). Engel sollen ihrer eigentlichen Funktion, Gott und den Menschen zu dienen, zugeführt werden. Dem dient die Einbettung des Lobgesangs der Engel in die Liturgie. CHRYSOSTOMOS-LITURGIE (Mitte des 6. Jhds.): „Herr, Gebieter, unser Gott! Du hast in den Himmeln Ordnungen und Heere von Engeln und Erzengeln zur Liturgie deiner Herrlichkeit bestellt: laß mit unserem Einzug heilige Engel Einzug halten, die mit uns die Liturgie halten und deine Güte mitverherrlichen“ (nach Vorgrimler aaO. 73). Die gottesdienstliche Gemeinde vollzieht ihr Gotteslob zusammen mit den Engeln: „Wir stellen geheimnisvoll die Cherubim dar und singen der Dreieinigkeit, die alles Leben spendet, den Hymnus des Dreimal-Heilig: Laßt uns alle Sorge der Erde ablegen“ (ebd., nach Vorgrimler aaO. 73f). Diese Texte sind auch eine Kampfansage an die widergöttliche Gewalt der Mächte. AUGUSTINUS (354-430) hatte die Erkenntnis: „ ‘Engel‘ (angelus/Bote) ist der Name für ein Amt, nicht für eine Natur“ (sermo 7,3). Er stellt die funktionale Deutung in den Vordergrund, entgegen der ontologischen (Engel als Seinsmächte). Die Frage, wann die Engel erschaffen worden waren, fand er in der Formulierung des Schöpfungsberichts „Gott schuf Himmel und Erde“ beantwortet. Er meinte, dass die Engel parallel zur Schöpfung der Erde miterschaffen worden seien [sie wachsen mit dem Geschaffenen mit!, vgl. De Genesi ad litteram]. – Der Fall der bösen Engel kommt aus ihrem Hochmut, ihrem Aus-sich-selbst-sein-Wollen: „Die wahre Ursache der Glückseligkeit der guten Engel liegt darin, dass sie dem anhängen, der das höchste Wesen ist. Die Ursache der Unseligkeit der bösen Engel aber liegt in ihrer Abkehr von jenem Wesen und in ihrer Hinkehr zum eigenen Wesen, das nicht das Sein aus sich selbst hat. ... Sie wollten also ihre Kraft nicht bei ihm bewahren. Während sie in höherem Maße das Sein hätten, wenn sie dem anhingen, der im höchsten Grade das Sein besitzt, haben sie ihm sich selbst vorgezogen und damit das, was geringeren Grades ist. Das ist der erste Mangel, die erste Verarmung, das Grundgebrechen jener Natur... (De Civitate Dei 12,6). Selbsterhaltung/Selbstherstellung/Autopoiesis ist also die Ursache für die bösen Mächte! Von großem Einfluss war die Engellehre des (PSEUDO-) DIONYSIUS AREOPAGITA (5./6. Jhd.). Er verband die Bibel mit dem Neuplatonimsus (eines Proklos oder Porphyrios) und stellte sich Engelshierarchien vor, die von Gott bis zur Kirche herunterreichen, und er systematisierte dies: Drei Hierarchieebenen mit jeweils drei Stufen (Auf der ersten Stufe, ganz nah bei Gott: die heiligsten Throne – Cherubime – Seraphime; auf der zweiten Stufe: Gewalten – Herrschaften – Mächte; auf der dritten Stufe: Engel – Erzengel – Fürstentümer, vgl. De coelesti Hierarchia 6,1-7,1). Über jede dieser Stufen wusste er etwas zu sagen. Aus diesen Vorstellungen zog er eine doppelte Nutzanwendung: 1. Über die Engelsstufen kann man zu Gott aufsteigen („Mystische Theologie“) – so dachten es auch die Neuplatoniker. 2. Unter der himmlischen Hierarchie kommt die kirchliche (De Hierarchia ecclesistica), aufgeteilt in Bischöfe – Priester – Liturgen (Diakone) bis hinunter zu den Mönchen , und der Weg zu den Engeln führt nur über die kirchlichen Hierarchiestufen. Die Bischöfe stehen den Engeln am nächsten; man kann sie selbst „Engel“ nennen. Damit hatte Dionysius den Neuplatonismus in die kirchliche Heilsvermittlung eingebunden. (Davon inspiriert: Der Dadaist HUGO BALL, BYZANTINISCHES CHRISTENTUM, 1923, neu Frankfurt 1979, dort S. 196: „Apotheose des Klerus“. Vgl. meinen Beitrag Hugo Ball und der Weimarer Katholizismus, in: B. Wacker (Hg.), Dionysius DADA Areopagita, Paderborn 1996, 183-206). 26 • • • • Im Mittelalter treffen wir bei dem irischen Theologen JOHANNES SCOTUS ERIUGENA (9. Jhd., in Franken wirkend) auf eine andere Übernahme des Neuplatonismus in die Engellehre: Die Engel entstehen im Geist des Menschen, und die Menschen im Geist des Engels. „Wenn du die wechselseitige Verbindung und Einheit der geistigen und vernünftigen Naturen aufmerksam betrachtest, so wirst du in der Tat finden, daß sowohl das Wesen des Engels in dem menschlichen Wesen, als auch das menschliche in dem des Engels begründet ist. In jedem entsteht nämlich, was der reine Geist auf das Vollkommenste erkennt, und wird Eines mit ihm. ... Denn der Engel entsteht im Menschen durch den Geist des Engels, der im Menschen ist, und der Mensch entsteht im Engel durch den im Engel gegründeten Geist des Menschen. Wer nämlich ... das reine Denken vollzieht, wird in dem, was er denkt. Die geistige und vernünftige Engelnatur ist also in der geistigen und vernünftigen Engelnatur ebenso geworden wie die menschliche in der des Engels durch gegenseitige Erkenntnis, in der der Mensch den Engel und der Engel den Menschen denkt. Dies ist auch gar nicht wunderbar; denn auch wir selbst werden, indem wir uns miteinander unterreden, gegenseitig ineinander hervorgebracht. Indem ich nämlich denke, was du denkst, werde ich dein Geist und bin auf unaussprechliche Weise in dir geworden. Ebenso: wenn du in reinem Denken nachvollziehst, was ich durchaus denke, wirst du mein Geist, und aus den beiden Geistwesen wird eines, welches aus dem, was wir beide lauter und unverweilt denken, gebildet ist. ... In diesem Sinne des gegenseitigen Erkennens wird also ganz sachgemäß gesagt, daß der Engel im Menschen und der Mensch im Engel geschaffen wurde" (De divisione naturae, zit. nach W.-U. Klünker, Einführung zu Thomas von Aquin, Vom Wesen der Engel, Stuttgart 1989, 10). – Demnach gehen Engel und Menschen im Vollzug des Denkens (auch: des Tuns, des Handelns?) wechselseitig auseinander hervor. Das KIRCHLICHE LEHRAMT sah sich im Hochmittelalter einem neuaufkommenden Neo-Gnostizismus bzw. Dualismus (neben Gott gibt es eine böse, satanische Macht, die ihm gleichberechtigt ist; so Katharer, Bogumilen u.a.) gegenüber und definiert dagegen auf dem IV. LATERANKONZIL (1215): "Wir glauben fest und bekennen ... , dass Gott der eine Ursprung aller Dinge ist, der Schöpfer der sichtbaren und der unsichtbaren, der geistigen und der körperlichen. Er hat in seiner allmächtigen Kraft zu Anfang der Zeit in gleicher Weise beide Ordnungen der Schöpfung aus dem Nichts geschaffen, die geistige und körperliche, d.h. die Engelwelt und die irdische Welt und dann die Menschenwelt, die gewissenmaßen beide umfasst, da sie aus Geist und Körper besteht. Denn der Teufel und die anderen bösen Geister sind von Gott ihrer Natur nach gut geschaffen, aber sie sind durch sich selbst schlecht geworden" (De fide catholica, DH 800). In der Hochscholastik hat THOMAS VON AQUIN (1225-1274) in einem theol. Bravourstück die Lehre von den Engeln und Dämonen neu durchdacht, dabei auf Aristoteles aufbauend. Die Engel sind "getrennte Substanzen", d.h. Geister ohne Materialität und ohne Zusammensetzung; sie bilden deshalb keine Individuen und Arten, sondern jeder eine eigene Gattung (genus); sie stehen in der Seinsordnung notwendig zwischen Gott und den Menschen. Sie erkennen nicht durch die Sinne, sondern unmittelbar durch ihr Wesen die Ideen; sie sind nicht an einem bestimmten Ort, lassen sich aber durch ihr Wirken eingrenzen usw. (vgl. Summa theologica I, qu. 50-64; Th. v. Aquin, Vom Wesen der Engel De substantiis seperatis, Stuttgart 1989 [unvollendet]). Die Engellehre des Thomas scheint einem ontologischen Vollständigkeitsbedürfnis zu entspringen; über die Bedeutung der Engel im Leben ist bei ihm wenig zu erfahren (sie sind eben "getrennte Substanzen"). Ihm gegenüber hat der Spätscholastiker DUNS SCOTUS (1265-1308) die Schutz- und Hilfsfunktion der Engel wieder stärker herausgearbeitet. – Zur scholastischen Engellehre s. unten 7. Im Raum der REFORMATION trat die Bedeutung der Engel in den Hintergrund. Gründe dafür sind das starke solus Christus (gegen die bunte katholische Heiligen- und Engelwelt) und die Konzentration des Glaubens auf das Subjekt (woraus man ersehen kann, dass die Engel in den Kategorien der Subjektivität schlecht zu erfassen sind). Luther hat aber noch mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen... Die spätere protestantische Theologie hat bis auf wenige Ausnahmen schnell Anschluss an den neuzeitlichen Rationalismus gewonnen und schloss damit die Existenz der Engel als "unmöglich/erledigt" (so D.F. Strauss, 19. Jhd., später ebenso Bultmann) aus (vgl. ART. ENGEL KIRCHENGESCHICHTLICH/DOGMATISCH, RGG4 1999, 1281-1285). – In der Volksfrömmigkeit blieben die Engel aber immer präsent. In charismatischen/evangelikalen/kath. fundamentalistischen Gruppen (Bsp. "Engelwerk") erlebt die Engelverehrung heute ihr revival, s.o. 5.1.1. Ich halte fest: nach kirchlicher Tradition • ist die Existenz von Engeln unzweifelhaft (man muss nicht an sie glauben, es gibt sie) • sind sie Gott untergeordnet, zum Lob Gottes und zum Dienst an den Menschen bestimmt • sind sie (in der Liturgie) mit den Menschen im Lobpreis Gottes verbunden • gibt es gute und schlechte, gefallene Engel; dies hängt von ihrem Willen ab • können Engel in eine hierarchische Wirklichkeitsauffassung eingepasst und insofern zur Begründung von irdischer (kirchlicher) Macht herangezogen werden • hängt die Existenz der Engel irgendwie auch vom Denken (Tun?) der Menschen ab. 27 6. Theologie der Mächte und Gewalten bei William Stringfellow und Walter Wink Thomas ZEILINGER (s.o. Lit. zu 5.) hat in Deutschland die Theologie der "principalities and powers" der Amerikaner W. Stringfellow und W. Wink bekannt gemacht und gründlich reflektiert. Sein Buch bezeugt eindrücklich die Relevanz des Themas für das christliche Wirklichkeitsverständnis. Er zeigt auch, dass die Rede von Mächten und Gewalten nicht einem vorwissenschaftlichen Weltbild angehört, sondern an gegenwärtige wissenschaftliche Diskurse anschlussfähig ist und diese bereichert. Im Folgenden beschränke ich mich auf eine kurze Wiedergabe der Ansätze Stringfellows und Winks. LIT.: TH. RUSTER, REZENSION ZU ZEILINGER, TH.: ZWISCHEN-RÄUME ... IN: THEOL. REVUE 97 (2001) 42F. 6.1 Die Mächte und Gewalten im Verständnis William Stringfellows Biographisches: Der Anglikaner Stringfellow (=St.; 1928-1985; zum Folgenden vgl. ZEILINGER aaO. 35-70; alle Zitate aus Schriften von St.) schlug sowohl den Priesterberuf wie die Karriere eines ökumenischen Berufsdelegierten aus, um nach dem Studium des Rechts eine Rechtsanwaltskanzlei in East Harlem, einem schwarzen Ghetto, zu eröffnen. Dort entwickelte sich sein Verständnis der Mächte und Gewalten: "Langsam lernte ich etwas, das die Leute, die zum Ghetto gehören, von vornherein wissen, daß nämlich die Macht und der Zweck des Todes in Institutionen und Strukturen, Verfahrensweisen und politischen Strukturen verkörpert sind – die Gasgesellschaft oder das Sozialamt, die Mafia oder die Polizei, das Wohnungsamt oder die Sozialarbeitsbürokratie ... In der Weisheit der Leute aus den Nachbarschaften East Harlems werden solche Gewalten als dämonische Mächte identifiziert, wegen der unaufhörlichen und erbarmungslosen Entmenschlichung, die sie bewirken" (38). Obwohl kein Fachtheologe, war er in der theologischen Szene der USA hoch angesehen, seine Schriften kursierten im Untergrund. Im April 1962 eingeladen zu einer Podiumsdiskussion mit Karl Barth (!), sagte dieser über ihn: "You should listen to this man" (36). St. engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung und in der Kritik am Vietnamkrieg. 1972, nach dem Flächenbombardement in Kambodscha, forderte er ein impeachment-Verfahren gegen Präsident Nixon. Die Titel seiner Bücher sprechen für sich: "Dissenter in a Great society" (1966); "En Ethic for Christians and other Aliens in a Strange Land" (1973); "Greive not the Holy Spirit" (1977, unvollendet). Nach einer schweren Schilddrüsenerkrankung zog sich St. auf eine Insel bei Rhode Island (von ihm 'Eschaton' benannt) zurück, setzte jedoch bis zu seinem Tod seine politisch-theologische Arbeit fort. Annäherung an die Wirklichkeit der Mächte: Für St. sind die Mächte nichts Geheimnisvolles oder Wunderbares, sie sind der modernen Welt gut vertraut, wenn sie sie auch mit anderen Namen bezeichnet. Z.B. als Image einer Person, das ihr Bild in der Öffentlichkeit objektiviert und dem sie sich unterwirft (Bsp. Marilyn Monroe), oder auch in Institutionen wie Unternehmen, Bürokratien, Regierungen, die die Menschen zu ihren Zwecken in Besitz nehmen, oder auch in der Gewalt von Ideologien (Kommunismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch scheinbar positive Größen wie Humanismus, Demokratie oder Rationalismus), die dazu neigen, sich zu verabsolutieren und sich alles andere unterzuordnen. Die Mächte als Geschöpfe Gottes: Obwohl Menschen bei der Erzeugung der Mächte eine Rolle spielen, sind sie nach St.s Auffassung "nicht von Menschen gemacht oder eingerichtet, sondern, wie die Menschen und die ganze Schöpfung, von Gott geschaffen zu seinem eigenen Gefallen" (46). Sie sind nicht einfach Projektionen von Gedanken, sondern "Geschöpfe mit ihrem eigenen Namen, Identitäten, Integritäten" (ebd.). Dies zeigt sich schon daran, dass Menschen sie nicht vollständig erklären und beherrschen können. Exkurs: St.s "naive" Bibellektüre: St. geht von einer grundsätzlichen Diastase von biblischem Glauben und Religion aus (s. Barth). Religiöse Zugänge führen nicht zu Gott, allein das Wort Gottes in der Bibel zeugt von ihm. Man muss alle Ideen, Hypothesen, Spekulationen über Gott aufgeben und sich der Bibel "mit einer gewissen Naivität" nähern und bekennen, "daß Gott ... unabhängig von irgendjemandes Intelligenz, Bedürfnis, Emotion, Verstand oder Interpretationen lebt" (47). Gott ist der ganz Andere. "Diese Wertschätzung für die Bibel entstammt einer andauernden Erfahrung mit der Bibel, einem alltäglichen Umgang mit der Bibel, einer persönlichen Versenkung in die biblischen Geschichte, einer anschaulichen Identifikation mit dem biblischen Drama, einer wiederkehrenden Begegnung mit dem Wort, einer bekennenden Beziehung mit dem lebendigen Wort" (47). Der "Sündenfall" der Mächte und seine Folgen: Genauso wie die Menschen haben die Mächte den Sündenfall hinter sich, und zwar unabhängig von den Menschen. Es wäre Selbstüberschätzung zu meinen, die Menschen hätten den Fall der Mächte mitverursacht; sie können ja nicht über sie herrschen. Die Mächte beanspruchten Unabhängigkeit von Gott, dem Ursprung allen Seins, und von den Menschen. Sie stellen nun ihr eigenes Überleben über alle anderen Zwecke und Werte, sie betreiben ausschließlich Selbsterhaltung (so wie der Vietnamkrieg irgendwann nur noch geführt wurde, um das Pentagon nicht ins Unrecht zu setzen). Die Folge ist: Die Mächte, die den Menschen dienen sollen, nehmen nun diese in ihren Dienst. Die Schöpfungsordnung ist verkehrt und verwirrt: Die Menschen dienen der Selbsterhaltung der Mächte. Der Tod als höchste Macht: Der Tod ist, abgesehen von Gott, die größte Macht auf Erden. Auch die Mächte sind ihm unterworfen (dem entspricht die traditionelle Rede vom Teufel als dem obersten der bösen Engel); sie sterben auch (Images, Ideologien, Nationen etc. gehen zuende). Da der Tod sie beherrscht, arbeiten sie ihm alle 28 zu. St. nennt sie "die Minstranten des Todes in dieser Welt" (50). Gewalt ist die Form, die die Herrschaft des Todes gewöhnlich annimmt. Dabei versteht St. den Tod in einem weiten Sinn: nicht nur das Sterben am Ende des Lebens, sondern jede Minderung von Leben und Lebendigkeit (wie die Unternehmen, die von ihren Mitarbeitern vollständige Hingabe fordern, bis hin zum Verzicht auf Kinder). Die Strategien der Mächte: Weil es entscheidend um den Kampf um den menschlichen Geist geht, spielt der verbale Faktor die Hauptrolle. St. nennt Verleugnung der Wahrheit; Doppeldeutigkeit und Überbetonung; Überwachung und Belästigung; Übertreibung und Täuschung; Zerteilung und Demoralisierung (vgl. 52). All dies erläutert er an Beispielen aus der amerikanischen Politik und Ökonomie. Die Rivalität der Mächte: Ihre Zahl (und ihr Name: Mk 5,9) ist Legion, denn sie sind viele (Nationen, Ideologien, Bürokratien, Systeme jeder Art...). So sind die Menschen zwischen vielen Mächten hin- und her gerissen, manchmal scheint es, als habe sich eine ganze Gruppe gegen sie verbündet. Aber die Mächte liegen auch untereinander im Streit, kämpfen sie doch letztlich alle nur um das eigene Überleben (Bsp.: Machtkampf im Stalin-Regime; vgl. den Film The inner circle). Jede hat ein unstillbares Bedürfnis nach Verehrung und Anerkennung, entsprechend "der Anmaßung eines jeden Götzen, der wahre Gott zu sein" (53). – Für St. war zu seiner Zeit der Staat an der Spitze der Hierarchie der Mächte; aber diese Hierarchie kann nach den Umständen auch fluktuieren, je nach dem Stand ihres Kampfes. Die Unversöhnbarkeit der Mächte: Menschen können aus eigener Kraft der Todesverfallenheit durch die Mächte nicht entkommen, sie können sie nicht in ihre ursprüngliche Schöpfungsintention zurückführen. St. sieht nur den Gegensatz: gute Geschöpfe Gottes – Todesmächte nach dem Fall und dazwischen keine Abstufungen und Vermittlungen. Jesus Christus, der Sieger über die Mächte – der Zusammenstoß der Mächte mit Jesus: Christus ist das Ereignis der Souveränität Gottes über die Mächte in der Welt (inkarnatorisch). Die Mächte haben gegen Jesus gekämpft, aber er ist nicht unterlegen (Kindermord zu Betlehem; Versuchung in der Wüste; Dämonen; die drei Weisen aus dem Morgenland sind für St. ein Vorgeschmack davon, dass die Mächte Jesus dienen). Sein Tod hat die Mächte besiegt (sie haben sich, so sagt St., an ihm erschöpft, weil er sich ihrer Macht unterworfen hat und dieser damit ihren widergöttlichen Charakter genommen hat). Die Auferstehung beglaubigt und bekräftigt das. Im Glauben können Menschen an der Souveränität Gottes über die Mächte Anteil bekommen. – St. unterstreicht die Naherwartung (imminence) des zweiten Kommens Christi. Wenn das Kommen Christi als Richter zu jeder Zeit als unmittelbar bevorstehend erwartet wird, braucht man sich den Mächten nicht mehr zu unterwerfen. "Wir leben in der Naherwartung des Eschatons. Das ist, für den Rest der Zeit, der einzige Weg, menschlich zu leben" (60). Die Kirche als Ort der Freiheit und als Institution: Die Kirche ist der einzige Ort der Freiheit von der Vergötzung der Mächte des Todes, denn sie ist der Ort des Glaubens an den Sieg Christi über die Mächte. Aber die 'real existierende(n) Kirche(n)' sind zur Institution wie andere auch geworden und betreiben auch nur das eigene Überleben, sie werden ihrer Berufung nicht gerecht. Dennoch kann inmitten des 'Chaos von Babylon' die Kirche als 'Jerusalem-Ereignis' immer wieder Wirklichkeit werden, in manchen Feiern, manchen Bewegungen, manchen Menschen. Wahre Kirche existiert nur episodisch, und doch nimmt sie die Anwaltschaft für die Erneuerung der ganzen Schöpfung wahr. Das Leben der Christen: Christen müssen nichts Besonderes tun, sie haben keine letzten und richtigen Antworten, sie leben und arbeiten wie andere auch. Aber sie können im Vertrauen auf den Sieg über die Mächte leben, ihre Aufgabe ist, "innerhalb des Sieges all dessen, was Gott getan hat, zu leben" (63). Sie sind auf den Tod/den Sieg Christi getauft und können Nein sagen zur Macht des Todes (St. unterstreicht, dass sie nicht die Freiheit haben, zwischen gut und böse bzw. den Christus und den Mächten zu wählen, Gott hat sie gewählt und der Gewalt der Mächte entzogen). Ihr eigentliches Handeln ist der Gottesdienst: Gott loben für sein Tun, und für die Welt Fürbitte halten. Im Gottesdienst "feiern wir die Gabe des Lebens als solche, in dem wir an Gottes Bestätigung des Lebens im Angesicht des Todes teilhaben", was wir aber im Gottesdienst feiern, ist das, "was wir mit unserem täglichen Leben bestätigen und wofür wir darin arbeiten" (69). Die besonderen Gaben und Aufgaben der Christen sind der Widerstand (unter der Nazi-Tyrannei war Widerstand die "einzig mögliche Lebensweise", aber nach St. hat der "Geist der Achsenmächte" den Krieg gewonnen und lebt im USImperialismus weiter, Widerstand ist weiter nötig. Kirche als Ganze muss im Widerstand sein; in den USA sollte sie z.B. auf ihre Steuerprivilegien verzichten, um Steuerboykott üben zu können) und die Unterscheidung der Geister: Christen können besser als andere die dämonischen Folgen des Selbsterhaltungsstrebens von Systemen erkennen (wie es die Kirchen in den USA z.B. nicht tun, wenn sie die Machthaber nur nach moralischen Maßstäben kritisieren). St. plädiert für die Erneuerung des Exorzismus öffentliche, politische Zurückweisung der Macht des Bösen (er selbst führte einen öffentlichen Exorzismus zu Nixons zweiter Amtseinführung wegen des Vietnamkrieges durch). Zusammenfassung: St.s Aktualisierung des biblischen Wirklichkeitsverständnisses: (Zeilinger resümiert mit S. Hauerwas, ebd. 70 u. 364, ich paraphrasiere:) Es ist bemerkenswert, dass St. das Apokalyptische nicht entmythologisiert. Er betrachtet das Apokalyptische nicht als eine extravagante Weise über Dinge zu reden, die man besser mit den modernen Sozialwissenschaften ausdrücken kann. Er wollte die biblische Sprache nicht übersetzen, sondern zeigen, dass mit ihrer Hilfe die Welt, so wie sie ist, besser verstanden werden kann und wir nicht mehr von ihrer Weise, Gutes zu tun, verführt werden müssen. 29 6.2 Mächte und Gewalten im Verständnis Walter Winks Der New Yorker Exeget W. Wink (=W.; zum Folgenden ZEILINGER aaO. 71-108; alle Zitate von W.) hat, angeregt durch St. ("Kap. 3 von 'Free in Obedience' [Werk von St.] veränderte mein Leben", 41), in den 80er Jahren das Nachdenken über die Mächte und Gewalten mit einer Trilogie über die 'Powers' wieder aufgenommen. W. ist stark beeinflusst von der Tiefenpsychologie C.G. Jungs und der Prozessphilosophie A.N. Whiteheads. Gegenüber der Ausschließlichkeit St.s suchte er einen mittleren Weg: "Mächte und Gewalten sind gewöhnlich schlecht, aber sie schaffen auch Gutes; deshalb sind sie eine Mischung von gut und böse und brauchen ein bißchen Reform hier und ein bißchen Zurechtweisung da, aber sie dürfen keinesfalls dämonisiert oder als unheilbar böse abgeschrieben werden" (42). Die Mächte und Gewalten sind innen und außen: Es erweist sich als unmöglich, das mit den Mächten und Gewalten Gemeinte in moderne, materielle Kategorien zu übersetzen; es bleibt immer ein gewisser Rest. Das liegt daran, dass die Mächte sich auf die äußeren Aspekte (politische Systeme, Organisationen, Vorsitzende etc.) und die inneren Aspekte (Spiritualität, innerer Geist, treibende Kraft, Archetyp) von Manifestationen der Macht beziehen. Dem entspricht, dass sie im NT als himmlisch und irdisch, göttlich und menschlich, spirituell und politisch, unsichtbar und strukturell gezeichnet werden. Das mythologische Weltbild der Bibel und das ganzheitliche Weltbild: Das Weltbild der Bibel war mythologisch (Himmel und Erde als zwei räumliche Dimensionen, in denen sich das gleiche Geschehen ereignet – wie im Himmel so auf Erden), deswegen ist es heute "einfach unverständlich" (72). "Irgendwie ist der Verstehensschlüssel ... verlorengegangen" (73). Dieser kann aber nicht durch ein materialistisches oder ein spiritualistisches Weltbild wiedergewonnen werden, sondern nur durch ein ganzheitliches: jeder äußeren Wirklichkeit entspricht eine innere, und beide können nicht aufeinander zurückgeführt werden, sie sind zu unterscheiden. Diesem Weltbild entsprechend ist der Himmel nicht mehr das Jenseits, sondern das Inseits der Dinge, ihre – theologisch gesprochen – verborgene Beziehung zu Gott, ihre innere geistliche Wirklichkeit. Die Wahrheit der Projektionen und Imaginationen: Mythische Bilder sind nicht nur Personifizierungen oder Hypostasierungen äußerer Verhältnisse, sondern Ausdruck unsichtbarer Realitäten, wie sie C.G. Jung in den Archetypen (kollektives Unterbewusste) entdeckt hatte. Die 'Geister' der Dinge sind nicht bloß intrapsychischen Ursprungs, sondern eigene Wirklichkeiten, die nicht anders als in der Form von Bildern und Imaginationen beschrieben werden können. "Die Imagination arbeitet, als wäre sie fähig, das Übersinnliche sinnlich wahrzunehmen" (77). [In diesem Punkt hat er m.E. Recht.] Die Götter und der Gott der Bibel: Die Götter des Polytheismus sind Ausdruck dieser inneren Realitäten, und die Mythen erzählen das wirkliche innere Drama unserer Realität. Der Gott der Bibel hebt diese Wahrheiten nicht auf, er ist "die Dynamik, die auf ihre Synthese drängt", "das System der Systeme, die Mutter von allem, das Leben des Lebens" (78f). Gott ist der Geist mit dem Universum als Körper, er existiert nicht außerhalb des Universums (kein Theismus/kein Monotheismus, sondern Henotheismus). Götzen entstehen nur, wenn ein Subsystem die Würde beansprucht, die dem Ganzen zukommt. Im systemischen Denken W.s wirken unsere inneren geistigen Kräfte am Geist des Ganzen mit. Es ist "genauso wahr zu sagen, daß die Götter uns erschaffen, als wie zu sagen, daß wir die Götter erschaffen" (79 – das hat W. von Whitehead). Die Mächte keine Personen: Obwohl sie oft wie Personen begegnen (in Träumen etc. – so wie auch Computerviren oft personifiziert werden), möchte W. sie nicht als Personen bezeichnen, denn sie haben keinen Körper, keine Form, sie sind ja nur eine spirituelle Realität. [Mir ist nicht mehr klar, ob er die frühere Behauptung, die Mächte bezeichneten die innere und äußere Seite der Macht, noch aufrechterhält.] Die Mächte: geschaffen und gefallen: von St. übernimmt W. , dass die Mächte Geschöpfe sind, die wie die Menschen den Fall hinter sich haben. Der Fall der Mächte besteht darin, dass sie sich in den Dienst des "Systems der Beherrschung" (domination system) stellen. Der Geist dieses Systems besteht in der Annahme, dass das Böse Priorität vor dem Guten hat und deshalb beherrscht werden muss (wie im babylonischen Schöpfungsmythos). Und dafür braucht es Macht, es herrscht jetzt die Ideologie: "'Macht macht es richtig' ... Das Leben ist ein Kampf. Jede Form der Ordnung ist dem Chaos vorzuziehen. ... Die Welt ist ein Schauplatz des fortdauernden Streites, in dem der Preis an den Starken geht. Friede durch Krieg, Sicherheit durch Stärke" (85); das ist übrigens genau die Ideologie des amerikanischen und zugleich des männlichen Herrschaftssystems. W. glaubt, dass diese Kultur der Gewalt nicht mit der Natur des Menschen gegeben sei, sondern sich erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Gesellschaft ergeben habe. Die Erlösung: Jesus hat die "androkratischen Werte durch partnerschaftliche" ersetzt, er hat der Kultur der Herrschaft die Kultur der Gewaltlosigkeit entgegengestellt. Seine aktive Gewaltlosigkeit führte ihn ans Kreuz, dadurch hat er das Gottesbild revidiert: Gott ist nicht auf der Seite der Macht, er ist kein Rivale für das menschliche Machtstreben. Damit werden die Menschen aus dem Gefängnis ihres Hasses gegen Gott befreit. Das "Christus-Prinzip" kann zum "Archetypen der Menschheit" werden für die, die sich zu ihm hingezogen fühlen. Dadurch verändern sich die Mächte, werden aus ihrem Dienst am Herrschaftssystem befreit. Das Ego, die Spiritualität der Macht und des Kampfes, muss sterben, muss von der Illusion befreit werden, es sei das Zentrum der Welt, um einem neuen, von außen geschenkten Ich Platz zu machen. "Das Ego muß völlig umorientiert werden mit Gott im Zentrum, aber dies ist unmöglich für das Ego von selbst zu erreichen" (89). W. 30 findet diesen gleichen Gedanken auch bei C.G. Jung und in dem "beinahe universalen" (90) Mythos von Tod und Wiedergeburt, aber Jesus hat diesen Mythos geschichtlich realisiert. Das christliche Tun und der Zugang zur spirituellen Dimension: Die Aufgabe der Christen liegt auf der spirituellen Ebene. Sie sollen den Geist der Macht verändern, denn ein rein äußerlicher, struktureller Wandel genügt nicht. Dazu brauchen sie Zugang zur spirituellen Dimension: durch Imagination, Träume (vielleicht einen "Massen-Traum, der anfängt, sich in der Welt zu ereignen", 91), durch das Gebet. "Was die Kirche am besten tun kann, obwohl sie es allzu selten tut, ist, ein ungerechtes System zu delegitimieren und ein spirituelles Gegenklima zu schaffen" (93 – sie hat z.B. keine Rezepte und Mittel gegen die Obdachlosigkeit, aber sie kann "ein beständiges Verlangen danach schaffen, daß Obdachlosigkeit ausgemerzt wird"). Eigentliches Ziel der Christen ist aber die Feindesliebe, die auf der spirituellen Ebene ansetzen muss: Wir können den Feind nur lieben, wenn wir den Feind in uns selbst lieben, unseren Schatten, und das können wir, weil Gott uns liebt, wie wir sind, mit unserem Schatten. Satan, Dämonen, Besessenheit, Engel: Alle diese Phänomene interpretiert W. als innere Wirklichkeiten, die eine positive und negative Rolle für die Selbstwerdung spielen, sowohl bei Individuen wie bei Gemeinden oder der Gesellschaft. Satan kann der Ausdruck des individuellen oder kollektiven Willens zur Macht sein, also der Geist des Herrschaftssystems und der Gewalt, er kann aber auch den inneren Schatten symbolisieren, den wir annehmen müssen, um uns selbst und andere lieben zu können (dann ist er 'Lucifer'). Dämonen sind Ausdruck abgespaltener Persönlichkeitsanteile, es kann aber auch kollektive Besessenheit wie im Nazismus geben: der Dämon war dann die "tatsächliche Spiritualität des Nazismus" (101), die innere Wirklichkeit von SS, Hitlerjugend und Rassenwahn. Engel repräsentieren oder verkörpern den Geist einer Person oder Gruppe, so kann es auch Engel der Gemeinde oder Nationenengel geben. – W. meint, dass die Welt heute auf dem Weg ist zu einer ganzheitlichen, integrativen, spirtuellen Sicht der Wirklichkeit; das biete die Chance, kollektive Unheilszusammenhänge aufzudecken und christliches Heil an den Mächten und Gewalten zu bezeugen. [Meine Frage ist: Ist das nicht alles nur Psychologie? Und musste W. nicht dahin kommen, weil er sich von der Bibel distanzierte, ihr Weltbild historisierte? Und weil er dann konsequent nicht mehr Gott von den Göttern unterschied, und dann wieder konsequent Gott zum Inbegriff des Systems der Welt, zum System der Systeme machte? Hat er nicht Gott mit dem Himmel verwechselt? das Jenseits der Welt mit ihrem Inseits vertauscht? Darum jetzt noch ein kurzer Abschnitt zum Verständnis des Himmels) 6.3 Der Himmel als Ort der Mächte und Gewalten (Ich halte mich wieder an ZEILINGER, aaO. 187-218, der wichtige theologische Posititonen zum Thema Himmel referiert. Die überzeugendste ist die von M. WELKER in UNIVERSALITÄT GOTTES UND RELATIVITÄT DER WELT, 1981.) Der Himmel gehört zur Welt, zur Schöpfung: Gott schuf Himmel und Erde, Unsichtbares und Sichtbares. Aber der Himmel ist ein besonderer Teil der Welt. Wie der natürliche Himmel steht auch der Begriff Himmel für die uns relativ unzugänglichen, unverfügbaren Kräfte und Bereiche: Blitz, Donner, Regen, Sonne kommen vom natürlichen Himmel, dieser ist auch unbegreiflich weit und hoch; dementsprechend steht der Himmel symbolisch für die uns relativ unzugänglichen kulturellen und sozialen Kräfte, die unser Leben beeinflussen (z.B. die Zukunft als Feld des Möglichen und Grund der Offenheit der Schöpfung: 'Der Himmel mag wissen, was daraus wird'). WELKER: "Der Himmel ist der Bereich der Wirklichkeit, der es erlaubt, die Mächte und Kräfte, die unser Leben bestimmen, die aber nicht in unserer unmittelbaren Wahrnehmung und Kontrolle stehen, in ihrer Komplexität versinnlicht und plastisch zu erfassen, sie zu durchdenken oder wenigstens zu dechiffrieren" (aaO. 193). Der Himmel ist der Erde gegenüber relativ transzendent. Da die Mächte und Gewalten genau solche Kräfte sind, die uns relativ, aber nicht völlig unzugänglich sind, die unser Leben bestimmen, die wir aber nicht völlig bestimmen können, ist ihr Ort der Himmel. Da nun die Mächte und Gewalten aufgrund ihrer Macht leicht für Götter gehalten werden können, liegt die Verwechslung Gottes mit dem Himmel in der Religion so nahe. Was Wink das System der Systeme nennt, ist nichts anderes als der Himmel – das übergreifende Integral aller irdischen Systeme, Inbegriff des Gesamts der Welt. Gott als System der Systeme wäre der Dynamik der Mächte ausgeliefert. Aber davon ist Gott zu unterscheiden, es gilt: "Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen" (1 Kön 8,27). Und darin liegt die Bedingung der Möglichkeit, dass Gott auch über die Mächte noch gebieten kann bzw. der Grund für die Unterscheidung von Gott und Göttern. Aber wenn es nun heißt: Vater unser im Himmel, dann bedeutet das, dass Gott den Himmel, den Ort der Mächte und Gewalten, als Ort seiner innergeschöpflichen Gegenwart gewählt hat. So ist Gott bei uns: im relativ, aber nicht absolut unzugänglichen Raum des Himmels. Über Gott können wir nicht bestimmen, aber er ist doch unseren Bitten zugänglich, da er im Himmel ist. Und so macht Gott auch die himmlischen Gestalten der Engel zu seinen Mittlern und Boten. Vom Himmel her handelt Gott am Menschen, die Engel sind bei ihm – sie vertreten sowohl die Schöpfung bei Gott (und loben ihn) wie auch Gott bei den Menschen. Der Himmel ist Zwischenbereich zwischen Welt und Gott, der Ort der "wechselseitigen Einwohnung der Welt in Gott und Gottes in der Welt" (J. MOLTMANN, aaO. 197). Der Himmel besagt sowohl die Nähe wie das bleibende Gegenüber von Gott und Schöpfung. Und ganz exakt heißt es auch, dass Jesus in den Himmel aufgenommen wurde. Er wirkt so, dass er seine Macht bei den Mächten und Gewalten geltend macht und sie zum Guten und nicht zum Schlechten bestimmt. Der Sieg Christi über die dämonischen Mächte musste zu seiner Aufnahme in den Himmel führen. 31 7. Zusammenfassung: Was sind Engel-Dämonen-Mächte-Gewalten? 7.1 Umrisse einer Theologie der Mächte und Gewalten Ich versuche Kap. 5 und 6 zusammenzufassen: 1. Unter Engeln, Dämonen, Mächten und Gewalten können wir systemische Eigendynamiken verstehen, also Auswirkungen des Selbsterhaltungswillens von (psychischen oder sozialen) Systemen. Sie lassen sich auf allen Ebenen des Daseins antreffen: personal (z.B. als psychische Zwangsmechanismen), in Beziehungen zwischen Personen (der Lehrer sagt: Beteilige dich mehr; der Schüler zieht sich auf diesen Druck hin immer mehr zurück; s. auch Verhaltensmuster in Partnerschaften), in Gruppen und Familien (Eltern streiten sich, das Kind wird krank, um Anlass zu gemeinsamer Sorge zu bieten), in Institutionen und Organisationen (die stets so handeln, dass ihre Fortsetzung gesichert ist, z.B.: die Kritik am Chef schweißt die Mitarbeiter zusammen), bei Nationen und politischen Gebilden (z.B.: zum Heimat- und Nationalgefühl gehört immer die Abgrenzung gegen die andere Seite), in Ideologien und Weltanschauungen (Rassismus, Faschismus, Kapitalismus etc., wie bei Stringfellow dargestellt), in abstrakten Funktionssystemen (z.B. Geldwirtschaft). NB: Eine vollständige Erklärung dieser Zusammenhänge ließe sich nur durch eine Reformulierung der Systemtheorie auf das Phänomen der Mächte und Gewalten hin erreichen. 2. Diese Mächte sind unsichtbar und in der Regel schwer zu erkennen, denn sie entziehen sich dem Bewusstsein der Beteiligten, sonst könnten sie gar nicht wirksam werden. 3. Sie üben eine wirkliche Macht aus, die um so größer ist, je mehr sie unerkannt bleiben (Gegenbeispiel Familientherapie: die Aufdeckung der systemischen Strukturen hilft). Das heißt aber umgekehrt: Ihre Macht ist begrenzt, denn sie kann erkannt und dadurch gebannt werden. Die Unentrinnbarkeit ist nur scheinbar. 4. Sie sind Wesen zwischen Gott und Mensch. Gott hat sie geschaffen, denn wenn er die Welt erschaffen hat, dann hat er auch den Selbsterhaltungswillen aller Geschöpfe geschaffen und die systemischen Strukturen, die sich daraus ergeben. Die Schöpfungserzählung drückt das durch die Rede von 'Himmel und Erde' sowie durch den Hinweis auf das Unterscheiden als schöpferische Handlung aus: Durch Unterscheidung von System und Umwelt/Selbst- und Fremdreferenz entstehen Systeme, die versuchen, sich gegen die Umwelt stabil zu erhalten. Als gute Geschöpfe Gottes sollen sie den Menschen dienen. Luther hat gesehen, dass die Mächte nur in der Kraft Gottes wirken können, auch wenn sie zum Bösen wirken, vgl. oben 3.3.4. Aber auch die Menschen haben sie erschaffen, denn sie entstehen infolge menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns (hier hat die theologische Rede von den Menschen als Miterschaffern, Cocreatores ihren Platz). Auch die Menschen erschaffen sie zu ihrem Dienst. 5. Gott und die Menschen können die Systeme verschieden codieren (s.o. 6.3: der Himmel als Begegnungsraum von Gott und Mensch in der Welt). Der Staat z.B. kann von Menschen als Mittel für das gerechte und menschliche Zusammenleben eingerichtet werden (Code: Gemeinwohl/Beteiligung aller an der Macht), aber auch als Machtinstrument (Code: Machtkampf der Starken gegen die Schwachen). Die Geldwirtschaft kann auf leichten Tausch der Güter, auf den Wohlstand aller hin codiert werden, aber auch auf die Vermehrung des Reichtums der einen zu Lasten der anderen. Gott codiert die Systeme durch seine Tora! Durch die Gebote der Tora übt er seinen Einfluss auf Familie, Recht, Staat, Wirtschaft usw. aus (und ist dabei auf die Mithilfe der Menschen angewiesen). Darum hängen Engel und Tora in der Bibel so eng zusammen. Vielleicht können wir jetzt verstehen, was Engel in der Bibel sind: die konkreten Auswirkungen von Torabestimmten Systemen, jeweils im Gegensatz zu ihrer menschlichen Codierung. Vgl. die Stellen oben 5.1.2: Gen 3: Engel hüten den Weg zum Baum des Lebens, der Tora. Gen 24: Ein Engel sorgt durch das Institut der Brautwerbung dafür, dass die Abrahamsverheißung weiter gehen kann. Ex 23: Ein Engel führt in das gelobte Land, er steht für die Tora, die Bedingung für das gute Leben im Lande ist. Num 22: Der Engel und Bileams Eselin: Gott codiert das Institut der Feindverfluchung um. 1 Kön 19: Ein Engel stärkt den zu Tode erschöpften Elia in der Wüste, kurz vor der neuen Offenbarung Gottes am Horeb (=Gabe des Gesetzes). Tobit 4 u. 5: Nachdem Tobit Tobias in der Tora unterwiesen hat, erscheint der Engel Rafael. Lk 1: Nachdem der Engel Gabriel erschienen ist, loben Maria ('Magnifikat') und Zacharias ('Benediktus') die Segnungen der Erwählung 32 Israels und der Tora. Mt 18: Die Engel schützen die Kinder und die Schwachen genau wie die Tora. Mk 16/Mt 28/Lk 24/Joh 20: Der Engel der Auferstehung erklärt den Sieg des Lebens über den Tod, genau wie es Dtn 30 für die Tora verheißen ist. – Wo nach Gottes Gesetz gelebt wird, sind wir "von guten Mächten wunderbar geborgen", erscheinen Engel. Tora-bestimmtes Leben entfaltet eine eigene systemische Wirkung, die nicht nur aus dem Handeln der Menschen kommt. – Nur an den Stellen der Bibel, bei denen die Tora keine direkte Rolle spielen kann (nämlich im Verhältnis zwischen den Völkern, da ist die Tora nicht Gesetz), müssen die Engel direkt kämpferisch eingreifen, können sie nicht über das System der Tora wirken, vgl. Dan und Offb. 6. Der "Fall" der Mächte und Gewalten ereignet sich dann, wenn die Codierung der Systeme (Institutionen etc.) auf Selbsterhaltung hin sich verselbstständigt und sich gegen die Menschen richtet, denen sie dienen sollen. Die Mächte werden dann autonom, unabhängig von Gott und den Menschen, s.o. Stringfellow, aber auch schon Augustinus, oben 5.1.3. 7. Die Mächte können als Personen oder doch mindestens personal erscheinen, und das aus zwei Gründen: a) Sie haben ihr Sein aus dem Handeln von Personen, nämlich von Gott und den Menschen. Ihre Personalität ist abgeleitet, geliehen. b) Sie begegnen wie Personen – verlockend, verführerisch, überredend, zwingend, aber doch niemals wie eine unentrinnbare Gewalt oder Schicksalsmacht. Die Rede von der Personalität der Engel hält daran fest, dass sie eben keine anonyme Gewalt, kein Schicksal sind, dass sie beeinflussbar sind. – Im biblischen Sprachgebrauch sieht man: Die Mächte sind um so personaler, je mehr sie den Menschen dienen und die Begegnung mit ihnen in Freiheit geschieht (vgl. Tobias; Maria: Mir geschehe nach deinem Wort). Dann sind es Engel. Als Dämonen (deren Name 'Legion' ist, also zerrissene, vervielfältigte Persönlichkeiten) oder Mächte und Gewalten erscheinen sie, wenn sie als anonyme Strukturen und Schicksalsgewalten auftreten (s.o. 5.1.2: Reiche, Throne, Herrschaften, Fürstentümer) und ihnen gegenüber scheinbar keine Freiheit mehr bleibt. Dazu ZEILINGER aaO. 219-267; B. J. CLARET, GEHEIMNIS DES BÖSEN. ZUR DISKUSSION UM DEN TEUFEL, Innsbruck 1997, 337-359. 7.2 Eine Relecture der klassischen katholischen Lehre von den reinen Geistern Die neuscholastische Dogmatik enthält einen Traktat von den "reinen Geistern", den ich ganz kurz referiere, um zu überprüfen, ob die oben vorgetragene Interpretation einen Anhalt in der Tradition hat. Zum Folgenden: F. DIEKAMP, KATHOLISCHE DOGMATIK NACH DEN GRUNDSÄTZEN DES HL. THOMAS, Münster 3-51921, Bd. II, § 1218. Bemerkungen in [ ] von mir. Es wird gelehrt: § 12 Dasein und Ursprung der Engel. Es gibt Engel. Sie sind reine Geister und persönliche Wesen. Sie übertreffen die Menschen an Vollkommenheit und Macht. Sie sind von Gott geschaffen aus dem Nichts. Theologische Gründe für ihr Dasein: 1. Sie passen in die Stufenfolge der Vollkommenheit [das kommt von Ps.Dionysius Areopagita], 2. Gott muss würdiger gelobt werden können als nur durch Menschen [das ist biblisch gedacht]. § 13 Die rein geistige Natur, die Zahl und die Unterschiede der Engel. Sie sind rein geistig, bloße Formen ohne Materie. Sie sind unsichtbar [das gehört, wie gesagt, zu ihrem Wesen]. Ihre Zahl ist überaus groß [jedes wirkliche oder mögliche psychische oder soziale System hat einen Engel]. Sie sind untereinander nicht gleich. Jeder Engel ist eine eigene Spezies, weil sie sich durch die Materie nicht unterscheiden können. [Das alles passt zu obiger Deutung. – Es gibt Versuche, so die Dogmatik, ihre Zahl zur Zahl der Menschen in ein Verhältnis zu setzen. Der Text versteht aber nicht, dass die Engel auch Geschöpfe des Menschen sind. Darum führen diese Versuche zu nichts.] § 14 Die natürlichen Eigenschaften und Kräfte der Engel. Sie sind unsterblich [die Gattung der Mächte und Gewalten vergeht nie?!] und unveränderlich [sie können sich aus sich selbst nicht verändern, aber verändert werden?!]. Sie sind definitiv im Raum, wenn auch nicht genau lokalisierbar; Thomas: Sie sind durch ihre Tätigkeit, nicht durch ihre Ausdehnung im Raum [das passt]. Sie sind nicht ewig wie Gott, ihre Tätigkeit findet in einem Nacheinander statt. Ihre Erkenntnis ist sehr vollkommen, aber in Bezug auf Gott und die Zukunft begrenzt; die geheimen Gedanken kennen sie nicht [vor dem System bleiben die Menschen Geheimnis]. Sie haben eine Sprache [s. Stringfellow!] und einen freien Willen. Sie haben eine außerordentliche Festigkeit in ihren Beschlüssen, es steht ihnen eine sehr große Macht zu Gebote [das stimmt genau]. § 15 Der Urstand der Engel und ihre Prüfung. Gott hat sie von Anfang an in die übernatürliche Ordnung [=Ordnung der Tora] erhoben, sie sollen an der übernatürlichen Gerechtigkeit mitwirken. Alle Engel hatten eine sittliche Prüfung zu bestehen [sonst könnten sie ja nicht an der Gerechtigkeit teilnehmen; auch sie sind gebotsfähig, haben sich an der Alternative 'Selbsterhaltung – freies Dasein für andere' zu entscheiden. Je nach ihrer Entscheidung wird über ihr ewiges Geschick entschieden: entweder Beseligung [sie dienen der Gerechtigkeit] oder Verdammnis [sie werden zu todbringenden Mächten, selbst dem Tod unterworfen]. 33 § 16 Die Seligkeit der Engel im Himmel, ihre Aufgaben und die ihnen gebührende Verehrung. Die einmal gewonnene Seligkeit der Engel ist unverlierbar [hat der Engel Israels nicht aber im Zusammenhang der Intifada seine Seligkeit verloren?!], sie steigert sich nur akzidentiell durch die Freude über die Geretteten (Eph 3,10; Lk 15,10). Ihre Aufgaben sind: Anbetung und Lob Gottes und Ausbreitung des Reiches Gottes sowie Sorge für die Menschen (als Schutzengel, Gemeindeengel, Völkerengel) [das alles schreibt die Bibel der Tora zu]. Die Verehrung der Engel ist gut und nützlich, aber es dürfen ihnen keine göttlichen Ehren erwiesen werden [hier liegt der entscheidende Vorbehalt gegen den Götzendienst]. § 17 Die bösen Geister, ihre Sünde und ihr Sturz. Es "kann nur eine voreingenommene und gewalttätige Schriftdeutung das Dasein und die Persönlichkeit der bösen Engel leugnen" (66) [Das ist einfach richtig]. Die Sünde der Engel bestand in ihrer Hoffart (superbia), sie wollten es Gott in seiner Unabhängigkeit und Herrschaft gleichtun; sie waren nur auf ihre natürliche Vollendung bedacht bzw. erstrebten das übernatürliche Endziel als etwas ihnen Zustehendes. [Das ist es, was Stringfellow in anderen Worten beschreibt!] Ihre Strafe: Verfinsterung und Verblendung der Erkenntnis, die Geneigtheit zum sittlich Falschen, vollständige Verhärtung und Verstocktheit des Willens, "im Sinne sowohl der Unbußfertigkeit als auch der Absicht, stets böse zu handeln" (68) [ungefähr das, was das heutige Geldsystem mit den von ihm ergriffenen Menschen wirkt]. Die Mächte erleiden, indem sie böse handeln, selbst höllische Qualen. Nur die Gnade könnte sie retten, aber die enthält Gott ihnen vor [vgl. dazu Stringfellows Rigorismus hinsichtlich der 'Unversöhnbarkeit der Mächte' und auch schon Luther, oben 3.3.4 und 3.3.5]. Eine Allversöhnung (Apokatastasis) der gefallenen Engel ist ausgeschlossen. [Über diese Frage ist aber theologisch immer wieder gestritten worden. Die Lehre des Origenes von der Apokatastasis ist zwar kirchlich verurteilt worden, findet aber immer wieder Anhänger, z.B. in unserem Jahrhundert H. U. von Balthasar. Vgl dazu auch meinen Beitrag "AUFERSTEHUNG DES FLEISCHES" – EINE HANDLUNGSANWEISUNG FÜR CHRISTEN IN EINER GOTTFEINDLICHEN WELT?, in: Kirche und Schule 27 (2000) 111 (bei mir erhältlich)]. § 18 Zustand und Wirksamkeit der bösen Geister vor dem Weltgericht. Bis zum Weltgericht ist die Luft zwischen Himmel und Erde voll von feindlichen Geistern (vgl. Eph 2,2; 1 Petr 5,8). Der Teufel besitzt infolge der Sünde Adams eine Herrschaft über die ganze Menschheit (Joh 12,31; 14,30: Fürst dieser Welt; 2 Kor 4,4: Gott dieser Weltzeit). Diese Herrschaft hat ihm Christus entrissen (Mt 12,29; Kol 1,13; Kol 2,15; Hebr 2,14; 1 Kor 15,26). Durch Zulassung Gottes darf der Teufel seine Macht noch vielfach betätigen [vgl. Offb 12; – hier liegt ja das ganze Problem der Theodizee; vgl. aber Stringfellows Überlegungen zum Sieg Christi und zur Aufgabe der Kirche und der Christen], nämlich durch: Versuchungen (mit List und Verschlagenheit, Reizung des sinnlichen Begehrens, auch Nötigung ist nicht ausgeschlossen [man denke an die Werbung, die Propagierung einer egozentrischen Kultur etc.], durch Verursachung physischer Übel [da fällt unserem Dogmatiker nur der Dämon Asmodäus aus dem Buch Tobit ein, zu denken ist aber auch an: Altlasten, Kriegsfolgen, Verkehrsfolgen, Erderwärmung, CO²-Ausstoss usw.) sowie durch Besessenheit [die Besesssenheit durch das Nazi-Regime hat Diekamp noch nicht kennengelernt, er hätte sie hier anführen können]. Die neuscholastische Engel- und Dämonenlehre ist eine seltsame Mischung aus einer Ontologie der Wirklichkeitsebenen, die sich letztendlich vom Neuplatonismus herschreibt und über Dionysius Areopagita in das Christentum eingedrungen ist, und biblischen Wurzeln. Der biblische Duktus gewinnt aber je länger je mehr die Oberhand. Die eigentümliche Zeit- und Kontextlosigkeit dieser Lehre entspringt ihrer Formierung durch Thomas von Aquin (s.o. 5.1.3 zur Hochscholastik/Thomas von Aquin: Engel als getrennte Substanzen), sie läßt sich aber durch die Verbindung mit Phänomenen unserer Gegenwart leicht auflösen. Es ist ja, als wenn Stringfellow nur diese Dogmatik gelesen und sie auf die Verhältnisse in East Harlem (vgl. oben 6.1) adaptiert hätte. Die Mächte- und Gewaltenlehre der Zukunft braucht nur die Begriffe und Kategorien dieser alten Theologie mit einer systemtheoretischen Reflexion der Gegenwart zu verbinden, um die "Himmelslehre" vorlegen zu können, die unsere Zeit so dringend benötigt. Theologische Himmelslehre wird die neue Form der Theologie der Befreiung sein. 34 8. Der neue Mensch Wir haben aus der biblischen Urgeschichte gelernt (vgl. oben 2.4): Der Mensch ist a) ein gutes Geschöpf Gottes, b) ein Sünder, c) ein neues Geschöpf (in Christus, das gilt für Christen). Das sind die Eckdaten der theologischen Anthropologie. Wie können sie nun genauer verstehen: a) Der Mensch ist ein gutes Geschöpf Gottes, d.h. er verdankt sein Leben und Sein ganz und gar Gott. Er lebt nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Lebensmacht Gottes (vgl. oben 2.2: Luther, Kl. Katechismus). Darum ist schon Schöpfung Rechtfertigung (vgl. oben 2.2). Als gute Geschöpfe sind die Menschen dazu berufen, den Geist des Dasein aus Rechtfertigung überall zu verbreiten. Aus der Natur, die dem Gesetz der Selbsterhaltung folgt, soll ein Garten werden, der dem Gesetz des geschenkten Daseins folgt (vgl. oben 2.2 zu 'Das Wasser wimmle..' und 'Lasset uns den Menschen machen'). Dieses "Gesetz des Geistes des Lebens" (Röm 8,1) ist die Tora. b) Der Mensch ist ein Sünder. Wenn er das Gesetz Gottes verwirft, weil er aus eigener und nicht aus fremder Kraft leben will, dann fällt er auf den Zustand der Natur zurück. Er, der Freiheit von Gott wollte, ist dem Zwang zur Selbsterhaltung unterworfen. Und nicht nur er, auch alle Werke (Systeme, Lebensordnungen), die er schafft. Im Wissen um die von Gott ermöglichte und in der Sünde verlorene Freiheit (vom Selbst-Sein-Müssen) haben Paulus, Augustinus und Luther (vgl. oben 3.1 bis 3.3) die Zwanghaftigkeit des Daseins unter der Sünde eindrücklich aufgezeigt. Alles wird für den Sünder zum Zwang, weil er mit allem, was er tut und denkt, seiner Selbsterhaltung dienen muss. Sogar das gute Gesetz Gottes ist davon nicht ausgenommen (Röm 7, vgl. 3.1). Stringfellow hat diese Erfahrung für die Lebenswelt der Moderne weitergeführt, die infolge ihrer hohen systemischen Ausdifferenzierung die Menschen der Gewalt der selbstgeschaffenen Institutionen, Ideologien etc. unterwirft (vgl. 6.1). In den späten Schriften des Neuen Testaments ist unter dem Druck des Römischen Imperiums bereits eine vergleichbare Erfahrung präsent, die in einer Theologie der "Mächte und Gewalten" artikuliert wurde (vgl. 5.1.2 zur 'biblischen Lehre von den Mächten und Gewalten'). c) Der Mensch ist eine neue Kreatur. Weil Gott dem in die Sünde (den Widerstand gegen Gott!) verstrickten Menschen treu bleibt (vgl. 2.3 zu Gen 3,20-24 'Eva, Mutter aller Lebendigen',und 2.4 zu Gen 6,5-9,17 'Sintflut'), gibt es Auswege aus der Gewalt der Sünde, des 'Fleisches', der Mächte und Gewalten. Menschen können im Glauben an Gott wieder das gute Geschöpf werden, als das Gott sie geschaffen hat. Aber vorher müssen sie die Macht der Sünde loswerden, die sie und ihre Welt bis in die tiefsten Fasern durchdringt: Sie müssen sich selbst und die Welt loswerden, um ein neues Geschöpf in einem neuen Himmel und einer neuen Erde (Offb 21,1) werden zu können. Zahlreiche Texte im Neuen Testament bezeugen die Erfahrung, dass Christen im Glauben an Jesus Christus solche neuen Menschen geworden sind. Diese Texte sollen uns Mut und Gewissheit geben, dass das möglich ist. Röm 6,6-11: "Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, damit der Sündenleib vernichtet wurde, auf dass wir nicht mehr der Sünde dienten. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. ... Denn mit seinem Sterben ist er [Christus] der Sünde gestorben ein für allemal, mit seinem Leben aber lebt er für Gott. So müsst auch ihr euch als solche betrachten, die für die Sünde tot sind, für Gott aber in Jesus Christus leben." 2 Kor 5,17f: "Also: wenn einer in Christus ist, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden. Das alles aber kommt von Gott her, der uns mit sich versöhnte durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung übertrug." Gal 2,19f: "Denn durch das Gesetz bin ich dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Mit Christus bin ich gekreuzigt. Ich lebe, doch nicht mehr [als] Ich, sondern Christus lebt in mir." Gal 5,24f: "Die, welche zu Jesus Christus gehören, haben das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Genüssen gekreuzigt. Wenn wir nun durch den Geist das Leben haben, so wollen wir auch im Geiste wandeln." Eph 2,10-22: Nachdem nun die Heiden, die einst von Gottes Volk "fern" waren, durch Christus mit Gott versöhnt worden sind, ist die "Scheidewand" und die "Feindschaft" [zwischen Juden und Heiden] niedergerissen. Das hat Christus getan, "um die beiden in ihm als Friedensstifter zu einem neuen Menschen umzuschaffen." 35 Offb 21,1f: "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen. ... Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich herabsteigen aus dem Himmel von Gott her, bereitet wie eine Braut..." Diese Texte zeigen: Christen (Heiden) werden dadurch neue Menschen, dass sie durch Christus mit Gottes Volk, mit Israel, verbunden worden sind und damit auch an der lebensschaffenden Kraft der Tora Anteil haben. (So auch ganz deutlich der 1 Petr, vgl. dazu TH. RUSTER, DER VERWECHSELBARE GOTT aaO. 37-43; 177-187; vgl. auch mein Vorlesungsskript Christologie: Jesus traut allen Menschen das Tun der Tora zu und erwartet deswegen das baldige Kommen des Gottesreiches). Schon Gen 32 (vgl. oben 5.1.2) zeigt: Israel ist das Volk, das den dunklen Mächten nicht unterliegen muss, denn mit Gottes Erwählung, dem Bund und dem Gesetz hat es die Mittel dagegen. Das muss dann auch gegenüber den Mächten und Gewalten gelten, die uns heute bedrängen, d.h. gegenüber den zerstörerischen Zwangsmechanismen der geldbestimmten Ökonomie (vgl. oben 1.1.3.1 und 1.1.3.2 und die dort angegebene Literatur). Ich sehe vier Torabestimmungen, mit deren Hilfe es gelingen kann, den Zwang des heutigen ökonomischen Systems zu überwinden: • Das Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20f; Lev 25,35-38): Der Zins ist die Wurzel des Wachstumszwangs und aller ökonomischen Verheerungen. An seine Stelle kann eine andere Form der Sicherung des Geldumlaufs treten (dazu H. CREUTZ, DAS GELDSYNDROM aaO. 407ff) • Regelungen zur Entschuldung (Dtn 15,1-11;Lev 25,1-7): Menschen oder Staaten durch Überschuldung in den Ruin zu treiben, ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Ein internationales "Insolvenzrecht" wird heute von allen vernünftigen Fachleuten gefordert. • Grundbesitz muss Gemeineigentum sein, er darf nicht dauerhaft in der Verfügung privater Kapitalinteressen bleiben (Lev 25,13-34). Spekulationen mit dem knappen Gut Grund und Boden treiben die Preise in die Höhe und führen zur Ungleichkeit der Lebenschancen – in den Innenstädten zuerst, aber auch bei dem fruchtbaren Land in den armen Regionen. • Es müssen die Produkte, nicht die Arbeit besteuert werden (Der 'Zehnte', Dtn 14,22-28). Besteuerung der Arbeit schafft Arbeitslosigkeit und sinnlose Massenproduktion sowie Massenabfall. Die Besteuerung der Produkte macht Arbeit billig und beseitigt Arbeitslosigkeit. In die Produkte kann ihr ökologischer Preis mit eingerechnet werden, sie bleiben länger erhalten, werden repariert (und schaffen damit wieder Arbeit). Diese Toragebote müssen natürlich für heute weiterentwickelt werden, so wie es die jüdische Halacha immer getan hat. Die Lebenskraft der Tora scheint darin zu bestehen, dass sie die Eigendynamik von menschengeschaffenen Systemen, sofern diese Macht über die Menschen gewinnt (vgl. 7.1), erkennt und verhindert. Das zeigt sich an diesen ökonomischen Bestimmungen, ließe sich aber auch für andere Bereiche aufzeigen. Insofern ist die Tora praktizierte Überwindung des Götzendienstes, denn jene autonom gewordenen Mächte und Gewalten sind das, was die Bibel Götzen nennt. Alle Tora-Gebote setzen das Erste Gebot sachlich voraus. – Dass es mit einer bloß mechanischen Anwendung der Toraregeln nicht getan ist, hat Paulus nachdrücklich aufgewiesen. Ohne den Glauben an die Rechtfertigung, d.h. ohne den ermöglichten Verzicht auf Selbstbehauptung und Selbsterhaltung, kann auch die Tora zu einem tödlichen System wie die anderen werden (und dasselbe gilt auch für die Kirche!). Kommt aber die Tora im Glauben zum Zuge, erscheinen Engel (vgl. 7.1 Punkt 5). Die torabestimmen Systeme entfalten dann eine gute Eigendynamik, so wie die von der Selbsterhaltung bestimmten eine zerstörerische entfalten. Nach jüdischer Überlieferung tritt beim Entzünden der Sabbatkerzen ein Engel ein (er wird auch der Duft des Sabbat, die Sabbatbraut oder die Königin Sabbat genannt): der Sabbat ist eine größere Wohltat als sich aus dem bloßen Verzicht auf Arbeit erwarten lässt. Ein doxologischer Schluss: Das Sanctus der Heilige Messe HEILIG, HEILIG, HEILIG GOTT, HERR ALLER MÄCHTE UND GEWALTEN. ERFÜLLT SIND HIMMEL UND ERDE VON DEINER HERRLICHKEIT [Jes 6,3: Wir stimmen in den Chor der Engel ein, wir haben sie auf unserer Seite] HOSANNA IN DER HÖHE. HOCHGELOBT SEI, DER DA KOMMT IM NAMEN DES HERRN. HOSANNA IN DER HÖHE. [Mt 21,8 par = Ps 118,26. Durch Jesus haben wir an dieser Herrlichkeit Anteil.] Ich danke allen für's Zuhören und Mitdenken. Viel Freude an der Theologie! 36