- 51 - 8 Rotations- und Schwingungsenergien Moleküle können neben der bisher behandelten translatorischen Energie auch Rotations- und Schwingungsenergie aufnehmen. Im Gegensatz zum translatorischen Fall wollen wir uns hierbei nur mit den mittleren Energien beschäftigen, da die Verteilung der Rotations- bzw. Schwingungsenergie nicht von so großem Interesse ist. Einfluss der Quantenmechanik Die klassische Mechanik versagt bei der Beschreibung der Eigenschaften kleiner Teilchen. An ihrer Stelle ist die Quantenmechanik zu verwenden. Unsere bisherige Untersuchung der translatorischen Bewegung von Teilchen wurde mit Hilfe der klassischen Mechanik durchgeführt. Ist das korrekt? Behandelt man die Bewegung eines Teilchens, das man sich als Massenpunkt vorstellen kann, in einem Behälter ("Teilchen im Kasten") mit Hilfe der Quantenmechanik, so findet man, dass für dieses Teilchen nur bestimmte Translationsenergien erlaubt sind. Die Translationsenergie ist gequantelt. Die Abstände der Energieniveaus sind jedoch im Verhältnis zur Translationsenergie von kT (genauer eigentlich 3/2 kT; den Vorfaktor lässt man bei verbalen Argumentationen meist weg) so gering, dass man keinen Fehler macht, wenn man die möglichen Translationsenergien als kontinuierlich betrachtet. Das ist nun bei der Rotations- und Schwingungsenergie nur noch teilweise der Fall. Rotationsenergie Wir betrachten ein zweiatomiges Molekül, wie CO. Die quantenmechanische Behandlung dieses Moleküls als Rotator ergibt folgende Energieniveaus (8.1) wobei J eine ganze Zahl (Rotationsquantenzahl) 0,1,2, . . . und I das Trägheitsmoment (8.2) um eine Querachse durch den Schwerpunkt des Moleküls ist. i läuft über alle Atome des Moleküls und ri ist der Abstand des entsprechenden Atoms zur Drehachse. Für das CO-Molekül findet man bei einem Kernabstand von 0,1128 nm 14,5@10-47 kg m2. Die Energiedifferenz zwischen den Zuständen J = 0 und 1 beträgt daher (8.3) Das ist deutlich weniger als kT = 4,1@10-21 J bei 298 K, aber nicht mehr so viel geringer wie im translatorischen Fall. Man wird daher abgesehen von Sonderfällen die Rotationsenergie als kontinuierlich betrachten dürfen. Eine Ausnahme davon sind molekularer Wasserstoff und entsprechende Isotope bei sehr tiefen Temperaturen. Diese Gase kann man wegen des niedrig liegenden Siedepunkts von 20 K sehr weit abkühlen. Dann ist kT sehr klein. Weiterhin ist das Trägheitsmoment von H2 sehr klein, so dass der Energieabstand zwischen J = 0 und den nächst höheren Niveaus groß wird. Wasserstoff kann daher bei sehr niedrigen Temperaturen keine Rotationsenergie aufnehmen und die Molwärme weist nicht mehr den für zweiatomige Moleküle üblichen Wert auf. Eine detailliertere Diskussion erfolgt erst in der Statistischen Thermodynamik in der PC III. Zum Abschluss soll noch das Berechnungsverfahren für die Trägheitsmomente zweiatomiger Moleküle mit verschiedenen Atomen beschrieben werden. In Gl. (8.2) ist der Abstand zur Rotationsachse zu verwenden, die durch den Schwerpunkt des Moleküls geht. Die gesamte Berechnung mit den Abständen zum Schwerpunkt und die eigentliche Berechnung des TrägAbb. 39 Zur Berechnung der redu- heitsmoments kann in einer Gleichung zusammengefasst werzierten Masse - 52 den. Es gilt (8.4) Dies ergibt (8.5) und daher (8.6) oder (8.7) wobei : die bereits in Gl. (6.3.19) eingeführte reduzierte Masse ist. Schwingungsenergie Für ein zweiatomiges Molekül, bei dem die rücktreibende Kraft auf die Atome proportional zur ihrer Auslenkung aus der Gleichgewichtslage ist, ergibt die Quantenmechanik folgende Energieniveaus (8.8) wobei < die klassische Schwingungsfrequenz des Moleküls bedeutet und die Schwingungsquantenzahl n die Werte 0, 1, 2, . . . annehmen kann. Die mit der Änderung von n = 0 auf 1 verbundene Energieänderung erhält man am einfachsten wie folgt. In der Infrarotspektroskopie (IR-Spektroskopie) bestrahlt man die Moleküle mit infrarotem Licht und misst die Lichtabsorption. Eine Absorption findet für den Übergang von n = 0 nach 1 bei der Frequenz <L (8.9) d. h. bei <L = < statt. Typische IR-Absorptionen liegen bei 5 :m und die entsprechende Energieänderung beträgt (8.10) Die Energieabstände der Schwingungsniveaus sind also größer als kT und die Moleküle befinden sich daher i. a. im Schwingungsgrundzustand mit n = 0. Eine Anregung von Schwingungen ist nur möglich bei & sehr hohen Temperaturen und/oder bei & Molekülen mit sehr langwelligen Schwingungen Letzteres beobachtet man z. B. bei schwach gebundenen Assoziaten großer Moleküle. Mittlere Rotationsenergie Wir wollen ein zweiatomiges Molekül wie N2 betrachten. Die Anschauung bzw. wenige Zeilen Vektorrechnung zeigen, dass man die Bewegungsenergie des Moleküls bei festem A/A-Abstand als Summe der Translationsenergie des Schwerpunkts und der Rotationsenergie des Moleküls um den Schwerpunkt darstellen kann. Abb. 40 Bewegungsenergie eines zweiatomigen Moleküls (8.11) - 53 Für die Schwerpunktsenergie gelten die in den vorangehenden Kapiteln entwickelten Gesetze. Für die Rotationsenergie betrachten wir die in Abb. 41 angedeuteten Stöße mit einem anderen Teilchen. Ein zentraler Stoß entsprechend I oder II ändert nur die Schwerpunktsenergie; das ist bereits abgehandelt worden. Ein Stoß des Typs III auf das untere oder obere Atom A ändert nun die Rotationsenergie und die Translationsenergie. Man kann sich leicht vorstellen (und schwieriger nachrechnen), dass aufgrund dieser Stöße jedes der Atome A eine Bewegungsenergie um den Schwerpunkt des Moleküls erhält, die im Mittel der Hälfte der durchschnittlichen Translationsenergie entspricht. Der Faktor ½ entsteht durch die Änderung der Abb. 41 Zur RotationsRotationsenergie und der Schwerpunktsenergie. Zusammen weisen daher energie nach einem Stoß die beiden A-Atome im Mittel die Rotationsenergie ½kT auf. Eine weitere Rotationsmöglichkeit besteht um die Achse parallel zum Vektor I. Diese wird durch Stöße entsprechend III, jedoch mit einer Richtung senkrecht zur Zeichenebene angeregt. Auch die Rotation um diese Achse wird im Mittel eine Energie von ½kT aufweisen. Wir stellen daher fest, dass ein zweiatomiges Molekül durch die Rotationsmöglichkeiten um zwei aufeinander senkrecht stehende Querachsen im Mittel eine Rotationsenergie von insgesamt 2@½kT aufweisen wird. Eine Erweiterung dieser Erkenntnis auf andere Bewegungsformen führt zum sog. Äquipartitionsprinzip. Jeder Bewegungsfreiheitsgrad eines Moleküls weist im Mittel die gleiche Energie von ½kT auf, wenn die Energieaufnahme kontinuierlich oder quasikontinuierlich möglich ist. Bezogen auf die Innere Energie im Ruhezustand beträgt daher die Innere Energie eines Mols eines zweiatomigen Moleküls im schwingungslosen Zustand (8.12) und die Molwärme (8.13) Warum kann keine Rotation um die dritte Achse (Figurenachse) angeregt werden? Offensichtlich ist das Trägheitsmoment sehr klein und die Energiedifferenzen gemäß Gl. (8.1) sehr groß. Die quantenmechanische Behandlung des Problems zeigt, dass die entsprechenden Zustände verschiedenen elektronischen Zuständen des Moleküls mit unterschiedlichen Verteilungen der Elektronen um die Figurenachse entsprechen, d. h. diese Zustände sind bereits in den elektronischen Anregungszuständen des Moleküls enthalten. Wegen der großen EnerAbb. 42 Zur Ver- gieunterschiede können sie i. a. nicht thermisch angeregt werden. teilung der RotaAlle Fälle mit anderen Molekülstrukturen sind sehr schnell abgehandelt. Für tionsenergie alle linearen mehratomigen Moleküle gibt es wie für die zweiatomigen zwei Rotationsfreiheitsgrade. Für alle nichtlinearen Moleküle gibt es drei Rotationsfreiheitsgrade. Molekülschwingungen und mittlere Schwingungsenergie Die zwei Atome eines zweiatomigen Moleküls weisen als einzelne Atome sechs Freiheitsgrade auf. Diese sechs Freiheitsgrade müssen auch nach der Bildung des Moleküls als Translations-, Rotationsund Schwingungsfreiheitsgrade erhalten bleiben. Da das Molekül drei Translations- und zwei Rotationsfreiheitsgrade aufweist, verbleibt noch ein Schwingungsfreiheitsgrad, welcher der Streckschwingung des Moleküls entspricht. Als nächstes wollen wir uns ein gewinkeltes dreiatomiges Molekül mit C2v-Symmetrie, z. B. H2O, ansehen: - 54 3 Translationsfreiheitsgrade 3 Rotationsfreiheitsgrade 3 Schwingungsfreiheitsgrade 9 Freiheitsgrade Um die vorhandenen 9 Freiheitsgrade zu erreichen, muss das Molekül also drei Schwingungsfreiheitsgrade aufweisen. Welchen Schwingungen entsprechen diese drei Schwingungsfreiheitsgrade? Ein dreiatomiges Molekül kann in unendlich vielen Formen schwingen. Alle diese Schwingungen lassen sich als Überlagerung von drei sog. Normalschwingungen beschreiben. Das korrekte Verfahren zur Bestimmung dieser Normalschwingungen übersteigt den Rahmen dieser Vorlesung. Im Fall des dreiatomigen Moleküls mit C2vSymmetrie kann man jedoch schnell einsehen, welches die drei Normalschwingungen sind (siehe Abb. 43). Bei jeder dieser Schwingungen bleibt der Schwerpunkt des Moleküls ortsfest und es erfolgt keine Rotation. Die Symmetrie des Moleküls schränkt die mögliche Auswahl der Schwingungen stark ein. Abb. 43 Normalschwingungen eines gewinkelten dreiatomigen Moleküls Weiterhin soll ein lineares dreiatomiges Molekül, z. B. CO2, betrachtet werden. Da dieses Molekül nur zwei Rotationsfreiheitsgrade aufweist, muss es vier Normalschwingungen geben. Neben den zwei Streckschwingungen gibt es zwei Deformationsschwingungen, die sich weder in der Symmetrie noch in der Schwingungsfrequenz unterscheiden. Ihr einziger Unterschied ist ihre Orientierung im Raum. Man bezeichnet sie als entartet. Beide müssen als Normalschwingungen angegeben werden, da sonst die Beschreibung einer Deformationsschwingung mit einer Bewegungsrichtung der Moleküle unter beispielsweise 45o zu denen in der Abb. nicht möglich wäre. Abb. 44 Normalschwingungen eines drei- Die bisherigen Erkenntnisse über die Freiheitsgrade atomigen linearen Moleküls und einiges weitere sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. - 55 - Molekültyp Translationsfreiheitsgrade Rotationsfreiheitsgrade Schwingungsfreiheitsgrade davon entartete Schwingungen Atom 3 0 0 0 zweiatomig 3 2 1 0 dreiatomig linear 3 2 4 2@1 dreiatomig nichtlinear 3 3 3 strukturabhängig N-atomig linear 3 2 3N - 5 2@(N - 2) N-atomig nichtlinear 3 3 3N - 6 strukturabhängig Schließlich soll noch die Schwingung eines zweiatomigen Moleküls mit Hilfe der klassischen Mechanik untersucht werden. Die durchgezeichnete Potenzialkurve in Abb. 45 zeigt, wie sich die Energie eines Moleküls mit dem Abstand r der Atome ändert. Das Minimum entspricht der Gleichgewichtslage des Moleküls. Bringt man die Atome näher zusammen, so steigt die Energie schnell an, da sich die Elektronen ins Gehege kommen. Zieht man sie gegen die Bindungskräfte auseinander, so steigt die Energie zuerst auch an. Bei einem weiteren Auseinanderziehen wird schließlich die Bindung gelöst und es entAbb. 45 Potenzialkurve eines zweiatomigen Moleküls stehen die getrennten Atome. Die Energie dieses Zustandes wird üblicherweise Null gesetzt, d. h. man bezieht alle energetischen Angaben auf diesen Zustand. Diese Setzung beruht nicht auf einer Messung, sondern ist willkürlich. Bei einer thermisch angeregten Schwingung bewegt sich der Atomabstand i. a. in der Nähe des Gleichgewichtsabstands, d. h. um das Minimum herum. Die mathematische Beschreibung der Schwingung lässt sich nur dann in einfacher Weise durchführen, wenn das Potenzial einer Parabel entspricht. Dieses parabolische Potenzial entsteht, wenn die rücktreibende Kraft proportional zur Auslenkung aus der Gleichgewichtslage ist. (8.14) D wird als Kraftkonstante bezeichnet. Die potentielle Energie erhält man aus dieser Gleichung durch Integration (8.15) Mit der Auslenkung aus der Gleichgewichtslage (8.16) lassen sich diese Gleichungen kürzer schreiben - 56 (8.17) (8.18) Die gestrichelt eingezeichnete Parabel schmiegt sich im Minimum an die Potenzialkurve an und darf für nicht allzu große Auslenkungen für die folgende Rechnung verwandt werden. Die Schwingung der Atome erfolgt so, dass der Schwerpunkt des Moleküls erhalten bleibt (siehe Abb. 39). Dementsprechend bleibt Gl. (8.5) auch gültig. Differenziation ergibt (8.19) wobei L = dr/dt die Geschwindigkeit eines der Atome bezogen auf das andere, d. h. die Relativgeschwindigkeit, darstellt. Gl. (8.19) erlaubt die Berechnung der kinetische Energie. (8.20) Analog zur Herleitung von Gl. (8.7) findet man (8.21) Die Differenzialgleichung für die Berechnung des Schwingungsvorgangs erhält man am einfachsten aus der Gleichung für die gesamte Schwingungsenergie des Moleküls. (8.22) Ableitung nach der Zeit ergibt (8.23) und daher (8.24) Wie man durch Einsetzen feststellen kann, ist die Lösung dieser Schwingungsgleichung (8.25) d. h. eine sinusförmige Auslenkung als Funktion der Zeit ("Sinusschwingung"). Diese Lösung gilt wohlgemerkt nur für ein parabolisches Potenzial. )ro stellt die Amplitude der Schwingung dar. Schließlich werden die potentielle und kinetische Energie mit der jetzt gefundenen Lösung berechnet. (8.26) (8.27) d. h. die potentielle und die kinetische Energie stimmen im zeitlichen Mittel überein. Die Summe der beiden Terme muss entsprechend Gl. (8.22) einen konstanten Wert aufweisen - 57 (8.28) welcher der potentiellen Energie bei der maximalen Auslenkung entspricht. Bei Zusammenstößen mit anderen Molekülen "sehen" diese natürlich nur die in gkin steckende Bewegungsenergie, d. h. dieser Bewegungsfreiheitsgrad alleine muss im Mittel die Energie ½kT aufweisen, und die Summe der Energien muss den doppelten Wert aufweisen. Diese Überlegung gilt allgemein auch für komplexere Moleküle: jede Normalschwingung weist & bei genügend hoher Temperatur & im Mittel die Energie 2@½kT auf. In anderer Formulierung: jeder Schwingungsfreiheitsgrad ist bei der Berechnung der mittleren Energie doppelt zu zählen. Dies erlaubt eine nähere Begründung der in Gl. (I 9.1.2.1) formulierten Dulong-Petitschen Regel. Ein Mol eines Elements enthält NA Atome, die nach Abzug von sechs Freiheitsgraden für die Translation und die Rotation des Festkörpers 3@NA - 6 Bewegungsfreiheitsgrade in Form von Normalschwingungen aufweisen müssen. Das ergibt bei Temperaturen, bei denen die Schwingungsenergie als kontinuierlich angesehen werden darf, eine mittlere Energie von 3RT. - 58 - 9 Boltzmannscher Energieverteilungssatz Der Boltzmannsche Energieverteilungssatz & auch kurz als Boltzmannverteilung oder Boltzmannscher e-Satz bezeichnet & beschreibt die Wahrscheinlichkeit der Besetzung von quantenmechanischen Zuständen unterschiedlicher Energie bei einer vorgegebenen Temperatur. Im Prinzip haben wir das bei der MGV schon die ganze Zeit untersucht. Bis auf Gl. (6.2.9) haben wir aber immer die Geschwindigkeiten untersucht und nicht die Energien. Zusätzlich muss noch diskutiert werden, gefasst quantenmechanische Zustände in einem bestimmten Energieintervall liegen. Obwohl die MGV (6.2.1), (6.2.3) und (6.2.10) für die skalaren Geschwindigkeiten sehr ähnlich sind, ist doch die weitere Diskussion für den eindimensionalen Fall deutlich einfacher als für die anderen. Wir schreiben daher zuerst die eindimensionale MGV (6.2.1) (9.1) wobei L anstelle von Lx verwandt wurde, als Funktion der kinetischen Energie (9.2) um. Für das Differenzial gilt (9.3) Daher folgt (9.4) wobei alle bei einer Temperatur konstanten Größen im Faktor K zusammengefasst wurden. Gefasst quantenmechanische Niveaus liegen nun in einem Energieintervall dg? Gemäß der Quantenmechanik sind die Energieniveaus eines Teilchens der Masse m mit einer eindimensionalen Bewegungsmöglichkeit auf einer Äquipotenziallinie der Länge a (9.5) wobei die Translationsquantenzahl n die Werte 1, 2, 3, . . annehmen kann. Diese Abhängigkeit ist in Abb. 46 "umgekehrt" aufgetragen (9.6) wobei n als kontinuierlich angenommen wurde. Für die Differenziale gilt (9.7) Zu jeder ganzen Zahl n gehört ein quantenmechanischer Zustand, d. h. die Zahl der quantenmechanischen Zustände Abb. 46 Translationsquantenzahl als in einem gegebenen g-Intervall & die sog. Zustandsdichte & Funktion der Zustandsdichte nimmt mit ab. dn wird jetzt in Gl. (9.4) eingeführt (9.8) dn wird jetzt 1 gesetzt, d. h. wir fragen nach der Zahl der Teilchen Ng in einem Zustand mit der Energie g (9.9) - 59 Im Prinzip ist das schon die Gleichung mit dem berühmten Boltzmannfaktor exp(-g/kT). Üblicherweise wird die Gleichung jedoch zur besseren Handhabbarkeit noch etwas zurechtgemacht. Wir vergleichen die Besetzungen N1 und N2 zweier Zustände mit den Energien g1 bzw. g2. Für jeden dieser Zustände gilt Gl. (9.9). Durch Division entsteht (9.10) Abb. 47 Energieschema Schließlich kann man als Zustand g1 den energetisch tiefsten Zustand & den sog. Grundzustand & mit der Energie g = 0 wählen. (9.11) wobei N die Besetzung des Zustands mit der Energie g ist. Aufpassen muss man für den Fall, dass der Grundzustand nicht der Energie g = 0 entspricht. Dann ist für g die Energiedifferenz zum Grundzustand einzusetzen (siehe folgendes Beispiel). Die Boltzmannverteilung wurde hier für ein spezielles System hergeleitet. Ihre Gültigkeit ist jedoch nicht auf dieses System eingeschränkt, sondern sehr allgemein. Dementsprechend gibt es auch Herleitungen der Boltzmannverteilung, die sehr allgemeingültig sind (siehe PC III, Kap. 4). Abb. 48 Boltzmannverteilung Die Boltzmannverteilung versagt nur bei Systemen, bei denen sie eine relativ große Wahrscheinlichkeit der Besetzung einzelner Niveaus voraussagt, z. B. bei den freien Elektronen in einem Metall. Hier sind Verteilungen zu verwenden, die aus der Fermi-Dirac- bzw. Bose-Einstein-Statistik entstehen. Als Beispiel für eine Anwendung der Boltzmannverteilung wollen wir die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass bei 25 oC in einem CO2-Molekül der Schwingungszustand n = 1 der asymmetrischen Streckschwingung angeregt ist. Aus IR-spektroskopischen Untersuchungen weiß man, dass die Wellenzahl der Absorption für diese Schwingung bei 2350 cm&1 liegt. Das entspricht einer Wellenlänge von 4,26 :m und einer Frequenz von 7,05@1013 Hz. Die Energiedifferenz zum Grundzustand (g 0!) entspricht (9.12) und daher (9.13) Obwohl das Verhältnis g/kT nur etwa 11 beträgt, ergibt sich durch die exponentielle Abhängigkeit in der Boltzmannverteilung eine sehr geringe Besetzungswahrscheinlichkeit. Die Besetzung der Schwingungszustände mit n = 2 und höher wird verschwindend klein. Bei n = 2 wird )g doppelt so groß und das vorige Ergebnis ist zu quadrieren. - 60 - Reaktionskinetik 10 Grundlagen In der Reaktionskinetik wird die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen untersucht. Im Gegensatz zur der in der PC I abgehandelten Thermodynamik, die besser als Thermostatik bezeichnet werden sollte, wird hier wie in den vorangehenden Kapiteln die Dynamik von Prozessen untersucht. Für die Berechnung von Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten werden wir auf die kinetische Gastheorie zurückgreifen. Die Thermodynamik kann nur einige Zutaten bei Gleichgewichtsreaktionen und bei Überlegungen zur Triebkraft und Aktivierungsenergie von Reaktionen liefern. Im folgenden werden einige Begriffe eingeführt. Reaktionsgeschwindigkeit Die wichtigste Größe der Reaktionskinetik ist die Reaktionsgeschwindigkeit (RG). Sie soll jetzt definiert werden. Sie beschreibt die zeitlichen Änderungen der Drücke der einzelnen Reaktanden bei Gasreaktionen bzw. der Konzentrationen bei Reaktionen in Lösungen. Die Definition der RG sollte so erfolgen, dass ihr Wert bei einer gegebenen Reaktion unabhängig von der Wahl des Reaktanden ist, dessen zeitliche Änderung untersucht wird. So sind für die Reaktion (10.1) dcA/dt, dcB/dt und dcC/dt von der Größe und vom Vorzeichen her verschieden. In der PC I, Kap. 5.4, wurde der Umsatz > mit Hilfe des Differenzials (10.2) so definiert, dass er von der Wahl des Reaktanden i unabhängig ist. Die zeitliche Änderung von > ist daher ein gutes Maß für die RG, wenn zusätzlich noch durch das Volumen geteilt wird, um die RG unabhängig von der Gesamtmenge der Reaktanden zu machen. Die Reaktionsgeschwindigkeit L wird daher wie folgt definiert: (10.3) wobei die <i die vorzeichenbehafteten stöchiometrischen Koeffizienten darstellen. Das Volumen sollte bei der Reaktion konstant gehalten werden, da sonst auch ohne Umsatz eine & u. U. auch negative! & RG entstehen könnte. Die so definierte RG wird sowohl in der flüssigen Phase als auch in der Gasphase verwandt. Zusätzlich benutzt man in der Gasphase die Druck- und die Teilchendichteänderungen. Es gilt (10.4) und (10.5) Die mit diesen Größen definierten RG (10.6) und (10.7) unterscheiden sich & obwohl mit gleicher Bezeichnung eingeführt & durch die Faktoren RT bzw. NA von - 61 der Definition gemäß Gl. (10.3). Elementarreaktion Unter einer Elementarreaktion versteht man einen nicht mehr weiter aufgliederbaren Schritt einer Reaktion. Auch Reaktionen mit einfach aussehenden Reaktionsgleichungen verlaufen häufig über mehrere Zwischenprodukte und Elementarreaktionen. Die Erkenntnisse über Elementarreaktionen haben im Lauf der Zeit durch empfindlichere und schnellere Untersuchungsmethoden stark zugenommen, so dass viele früher als elementar angenommenen Reaktionen später weiter aufgegliedert werden konnten. Reaktionsmechanismus Unter dem Reaktionsmechanismus einer Reaktion versteht man die Abfolge der Elementarreaktionen. Das Ziel der Reaktionskinetik ist die Aufklärung des Reaktionsmechanismus und die Bestimmung der Geschwindigkeiten der Elementarreaktionen. Geschwindigkeitsgleichung Die Geschwindigkeit L von Elementarreaktionen und komplexen Gesamtreaktionen ist abhängig von den Konzentrationen (Drücken, Teilchendichten) der Reaktanden und einigen äußeren Parametern, wie Temperatur, Druck und elektromagnetischen Feldern. Allgemein gilt daher (10.8) Werden die Temperatur und mögliche andere äußere Parameter konstant gehalten, so verbleibt (10.9) wobei die in dieser Gleichung dann auftretenden "Konstanten" von der Temperatur abhängen. Reaktionsgeschwindigkeitskonstante Gl. (10.9) bzw. (10.8) lassen sich meist so umschreiben, dass die Temperaturabhängigkeit in einer temperaturabhängigen Größe zusammengefasst werden kann, die vor die restliche Funktion gezogen werden kann. (10.10) so dass in der verbleibenden Funktion nur noch die Konzentrationen selbst stehen. k wird als Reaktionsgeschwindigkeitskonstante (RGK) bezeichnet. Sie hängt nicht mehr von den Konzentrationen ab und gestattet so die kompakte Beschreibung der Messungen. Von den äußeren Parametern, wie der Temperatur, hängt sie natürlich ab. Reaktionsordnung Häufig lässt sich Gl. (10.10) in der Form (10.11) eines Produkts darstellen. Die Exponenten entsprechen in einigen Fällen, aber nicht immer den stöchiometrischen Koeffizienten. Bei kompliziert zusammengesetzten Reaktionen gilt diese Übereinstimmung fast nie. Die Summe der Exponenten (10.12) wird als Reaktionsordnung bezeichnet. Molekularität einer Reaktion Bei Elementarreaktionen treffen häufig zwei Teilchen aufeinander und reagieren miteinander. Derartige - 62 Elementarreaktionen bezeichnet man als bimolekular. Die Geschwindigkeitsgleichung (siehe Kap. 6.4 bzw. 14.1) ist dann von der Form (10.13) d. h. bimolekulare Reaktionen sind grundsätzlich 2. Ordnung. Die Umkehrung dieser Aussage gilt natürlich nicht, da eine zusammengesetzte Reaktionen 2. Ordnung aus mehreren Elementarreaktionen mit verschiedenen Reaktionsordnungen bestehen kann. Elementarreaktionen können auch unimolekular (seltener als "monomolekular" bezeichnet) sein; z. B. kann ein Teilchen zerfallen oder sich in ein Isomer umwandeln. Die Geschwindigkeitsgleichung ist dann von der Form (10.14) Trimolekulare Reaktionen sind selten. - 63 - 11 Experimentelle Untersuchungsmethoden Die vollständige Untersuchung einer chemischen Reaktion umfasst einerseits die Aufklärung des Reaktionsmechanismus. Insbesondere ist hier festzustellen, welche Zwischenprodukte auftreten und wie diese miteinander reagieren. Die hierfür anwendbaren Methoden hängen von der zu untersuchenden Reaktion ab: & Einsatz von Radikalfängern, & Verwendung isotopenmarkierter Verbindungen, & stereochemische Untersuchungen, & Untersuchung von Nebenprodukten, & Untersuchungen bei unterschiedlichen Temperaturen, & Untersuchung in unterschiedlichen Lösungsmitteln, & Untersuchung in schwerem oder sauerstoffmarkiertem Wasser Ein allgemeingültiges Verfahren für diese Untersuchung gibt es nicht. Andererseits interessiert die Geschwindigkeit der Reaktion, d. h. die RGK. Bei zusammengesetzten Reaktionen gilt dieses auch für die einzelnen Elementarreaktionen. Oft lassen sich aus diesen Messungen auch Rückschlüsse auf den Reaktionsmechanismus ziehen. Eine Reaktion gilt als aufgeklärt, wenn der Reaktionsmechanismus und die Geschwindigkeitsgleichungen mit ihren RGK für die einzelnen Elementarreaktionen bekannt sind. Die folgende Beschreibung experimenteller Methoden befasst sich nur mit der Untersuchung der Reaktionsgeschwindigkeiten. Für diese Untersuchungen muss die Konzentration bzw. der Partialdruck eines Reaktanden in Abhängigkeit von der Zeit bestimmt werden. Die Konzentrationen aller anderen Reaktanden ergeben sich dann aus den Bilanzgleichungen. Der einfachste Zugang zu diesen Bilanzgleichungen erfolgt über die Umsatzdefinition (11.1) wobei i und j zwei Reaktanden darstellen. Integration ergibt (11.2) was man auch ohne diesen Formalismus einsieht. Daher gilt auch (11.3) wobei das Reaktionsvolumen & wie bereits bemerkt & konstant gehalten werden sollte. Entsprechend gilt für die Gasphase (11.4) wobei die Temperatur und das Volumen konstant gehalten werden sollten. 11.1 Langsame Reaktionen Das klassische Verfahren zur Untersuchung der Kinetik einer chemischen Reaktion besteht darin, bekannte Stoffmengen der Reaktanden miteinander zu mischen und diese Mischung eine bestimmte Zeit reagieren zu lassen. Danach wird entweder der gesamte Ansatz einer Analyse unterzogen, wobei dann mehrere Ansätze für die Untersuchung nach verschiedenen Reaktionszeiten vorzubereiten sind, oder es werden Proben für die Analyse zu verschiedenen Zeitpunkten gezogen. Eine Reaktion soll als langsam bezeichnet werden, wenn die Zeit für die Herstellung der Mischung, die Probennahme und die Analyse sehr viel kleiner als die Halbwertszeit der Reaktion ist. Die Bestimmung - 64 des zu der Konzentrationsmessung gehörigen Zeitpunkts ist dann unproblematisch. Als Analysenverfahren kommen alle erdenkbaren Methoden in Frage: & Klassische Analysenverfahren (Gravimetrie, Titration) & Spektroskopische Verfahren (UV-, IR-, NMR-, ESR-Spektroskopie) & Messung des Drehwinkels bei optisch aktiven Reaktanden & Elektrochemische Verfahren & pH-Bestimmung & Messung des Brechungsindex & Messung der Dichte Bei einigen dieser Verfahren entfällt die Probennahme und es kann direkt in der Reaktionsmischung mehr oder weniger kontinuierlich gemessen werden. Das ist z. B. bei den meisten spektroskopischen Methoden der Fall; die klassischen Analysenverfahren erlauben diese kontinuierliche Messung nicht. Das Ergebnis dieser Messungen ist eine Tabelle der Konzentrationen eines Reaktanden zu verschiedenen Zeiten. Die Bilanzgleichungen erlauben dann die Bestimmung der Konzentrationen aller Reaktanden zu diesen Zeiten. 11.2 Schnelle Reaktionen Bei schnellen Reaktion entsteht die Schwierigkeit, dass während der Mischung der Reaktanden bzw. während der Analyse ein deutlicher Umsatz stattfindet, d. h. der Zeitpunkt der Konzentrationsbestimmung unsicher wird. In derartigen Fällen ist daher anders vorzugehen. Einige der Analysenverfahren & UV-Spektroskopie, elektrochemische Verfahren (z. B. Messung der elektrischen Leitfähigkeit) & sind so schnell (<< 1 ms), dass hierdurch im Vergleich zur Zeit für die Mischung der Reaktanden kein Problem entsteht. Eine schnelle Mischung der Reaktanden erreicht man mit der nebenstehend dargestellten Strömungsapparatur. Die gelösten Reaktanden A und B werden aus den Spritzen durch die gemeinsam bewegten Stempel kontinuierlich in die Mischkammer gespritzt. Durch eine besondere Formgebung und hohe Einspritzgeschwindigkeiten erreicht man hier eine Durchmischung in weniger als 1 ms. Die Reaktionsmischung strömt dann durch ein Rohr Abb. 49 Strömungsapparatur und wird dort spektroskopisch untersucht. Messungen in unterschiedlichen Abständen zur Mischkammer entsprechen unterschiedlichen Reaktionszeiten. Eine Schwierigkeit entsteht durch die meist ungleichmäßige Strömung in dem Rohr (Turbulenz, Ausbildung des parabolischen Profils). Mit einem etwas anderen Verfahren kann diese Schwierigkeit umgangen werden und dieses Verfahren führt auch zur schnellsten Methode. Man misst direkt hinter der Mischkammer. In dem Auslaufrohr befindet sich jetzt ein beweglicher Stempel, der durch die Reaktionslösung nach rechts verschoben wird und schließlich hart an einem Anschlag im Auslaufrohr abgebremst wird. Die Zufuhr der Reaktionslösungen wird dadurch unterbunden und die Reaktion kann in Abhängigkeit von der Zeit untersucht werden. In derartigen stopped-flow-Apparaturen können Reaktionen mit einer Zeitauflösung bis herab zu 1 ms untersucht werden. 11.3 Sehr schnelle Reaktionen Reaktionen, die eine Zeitauflösung von weniger als 1 ms benötigen, können mit den vorgehend beschriebenen Verfahren nicht untersucht werden, da eine mechanische Durchmischung in weniger als 1 ms nicht möglich ist. Von Eigen, der 1967 den Nobelpreis dafür erhielt, wurden mehrere Verfahren entwickelt, die Zeitauflösungen bis in den :s-Bereich erlauben. Bei diesen Verfahren liegt die Mischung bereits im Gleichgewicht vor! Das Gleichgewicht darf jedoch nicht vollständig auf einer Seite liegen. Das Gleichgewicht wird nun durch einen Eingriff von außen - 65 gestört und es wird die Einstellung des neuen Gleichgewichtszustands beobachtet. Dies hat zur Bezeichnung "Relaxationsverfahren" für diese Methode geführt. Ein berühmtes Beispiel ist die Untersuchung der Dissoziations- bzw. Assoziationsgeschwindigkeit einer schwachen Säure (11.3.1) in wässriger Lösung. Der Eingriff von außen besteht z. B. darin, die Temperatur der Lösung in sehr kurzer Zeit zu erhöhen. Dies erreichte man früher durch Zufuhr elektrischer Energie in Form einer Entladung eines Kondensators durch die mit dem Elektrolyten gefüllte Zelle. Heute lässt sich das auch durch Absorption eines sehr kurzen Laserpulses in der mit einem Farbstoff angefärbten Lösung erreichen. Die Reaktionslösung befindet sich danach auf einer etwas höheren Temperatur als zu Beginn und es setzt eine Dissoziation der Säure entsprechend der jetzt höheren Dissoziationskonstante ein. Der zeitliche Anstieg der Dissoziation wird durch die Messung der elektrischen Leitfähigkeit oder durch UV-spektroskopische Messungen bei gefärbten Reaktanden verfolgt. Die Auswertung wird in Kap. 12.3 diskutiert. Auch für Gasreaktionen lässt sich das Relaxationsverfahren einsetzen. In einem Stahlrohr sind zwei Kammern durch eine Berstscheibe getrennt. Eine Berstscheibe ist eine mehr oder weniger dicke Metall- oder Kunststofffolie, die bei einem bestimmten Druckunterschied reißt. Auf der einen Seite wird das zu untersuchende Gas bei einem erhöhten Druck vorgelegt. Die andere Seite ist evakuiert oder mit einem Gas unter vermindertem Druck gefüllt. Bei einer bestimmten Druckdifferenz zerreißt die Abb. 50 Stoßrohr Berstscheibe und das zu untersuchende Gas expandiert mit Schallgeschwindigkeit. Durch die Druck- und Temperaturänderungen im Gas ergeben sich Gleichgewichtsverschiebungen. Diese werden meist mit spektroskopischen Methoden, z. B. UV-Spektroskopie mit einem Lichtstrahl quer zur Rohrachse, untersucht. Die Relaxationsverfahren erlauben heute Zeitauflösungen bis hinab zu einigen 10-10 s. Neben dem Temperatursprungverfahren gibt es für Lösungen das Druck- und das Feldsprungverfahren. Ein Feldsprung (Änderung des elektrischen Feldes) ergibt in nicht leitfähigen Lösungen auch eine Änderung der Gleichgewichtskonstante durch eine Verschiebung zu den polareren Reaktanden hin. Schließlich stehen heute mit der Lasertechnik Verfahren zur Verfügung, mit denen man viele Prozesse nach einer Anregung eines Moleküls im fs-Bereich (1 Femtosekunde × 10-15 s) untersuchen kann. 11.4 Molekularstrahlverfahren Die bisher beschriebenen Verfahren erlauben die Bestimmung der Geschwindigkeit einer Reaktion, d. h. einer makroskopischen Eigenschaft einer Reaktion. Für viele Zwecke, insbesondere zum Vergleich mit Theorien für die RGK, ist es wichtig, detaillierte Kenntnisse über den mikroskopischen Ablauf einer Reaktion zu gewinnen. Solche detaillierteren Kenntnisse sind z. B. die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion in Abhängigkeit von der Relativgeschwindigkeit der Teilchen. Mit welchen kinetischen Energien werden die Produkte gebildet und unter welchen Winkeln verlassen sie den Reaktionsort? Wie wirken sich die Rotationsenergien und die Schwingungsenergien der Reaktanden aus? Die meisten dieser Fragen lassen sich mit Molekularstrahlexperimenten beantworten (siehe Abb. 51). Von den Reaktanden A und B werden möglichst mononergetische Molekularstrahlen erzeugt. Dazu durchlaufen die verdampften Substanzen eine Düse, in der die Quergeschwindigkeiten der Moleküle in eine Translation in Strahlrichtung umgesetzt werden. Blenden entfernen Teilchen, die noch zu große Querkomponenten der Geschwindigkeit aufweisen. U. U. werden auch noch Geschwindigkeitsselektoren (siehe Kap. 6.2) eingebaut. Im Zentrum der Apparatur treffen die Molekularstrahlen unter 90° aufeinander. Ein Großteil der Teilchen fliegt ohne Zusammenstoß weiter und wird abgepumpt. Der Rest - 66 der Teilchen erleidet Stöße. Diese können elastisch sein, d. h. die Teilchen ändern nur ihren Impuls und ihre kine tische Energie. Sie können inelastisch sein, d. h. die Teilchen nehmen z. B. Schwingungsenergie auf. Schließlich kann der Stoß reaktiv sein, d. h. es läuft wirklich eine Reaktion ab. Die Teilchen fliegen dann zur Außenwand der Apparatur und werden dort mit einem beweglichen Detektor nachgewiesen. Einfache Detektoren weisen nur die Teilchen nach; kompliziertere messen massenselektiv oder energieselektiv. Man gewinnt so sehr detaillierte Kenntnisse über die Reaktion. Abb. 51 Molekularstrahlapparatur 11.5 Bestimmung der Reaktionsordnung Zur Bestimmung der Reaktionsordnung bezüglich einzelner Reaktanden gibt es zwei einfache Verfahren. Anfangsreaktionsgeschwindigkeit Die RG wird bei verschiedenen Anfangskonzentrationen direkt nach der Mischung der Reaktanden bestimmt. Die Konzentrationen zum Zeitpunkt der Mischung werden als bekannt vorausgesetzt. Weiterhin erfolgt eine Konzentrationsmessung zu einem etwas späteren Zeitpunkt. Dieser Zeitpunkt ist so zu wählen, dass sich einerseits die Konzentrationen noch nicht wesentlich verändert haben, andererseits aber eine gut messbare Konzentrationsänderung stattgefunden hat. Das ist die Schwierigkeit der direkten Bestimmung der RG! Diese Messung wird für verschiedene Anfangskonzentrationen wiederholt. Es ist jetzt die RG (11.5.1) z. B. für mehrere Werte von c1 bei konstanten Konzentrationen der anderen Reaktanden bekannt. Logarithmieren der Gleichung ergibt (11.5.2) wobei alle konstanten Größen in kN zusammengezogen worden sind. Durch Auftragung von ln L gegen ln c1 findet man aus der Steigung die Reaktionsordnung bezüglich des Reaktanden 1. Das Verfahren wird dann für die anderen Reaktanden wiederholt. Isoliermethode Bei der Isoliermethode wird einer der Reaktanden mit einer sehr geringen (unterstöchiometrischen) Konzentration im Verhältnis zu den anderen vorgelegt. Das bewirkt, dass beim Ablauf der Reaktion die anderen Konzentrationen im wesentlichen konstant bleiben. Man darf daher wie gerade zuvor in Gl. (11.5.1), wenn Reaktand 1 unterstöchiometrisch vorliegt, die Konzentrationen aller anderen Reaktanden in k' zusammenziehen. (11.5.3) Die Auswertung mit dieser vereinfachten Geschwindigkeitsgleichung wird in den nächsten Kapiteln besprochen. - 67 - 12 Formale Kinetik Die Geschwindigkeitsgleichungen für Elementarreaktionen sind i. a. sehr einfach (siehe Gl. (10.13) und (10.14)). Die formale Kinetik beschäftigt sich damit, komplizierte Reaktionen durch Kopplung der Differenzialgleichungen (DGl) der Elementarreaktionen zu beschreiben und diese DGls zu integrieren. Diese Integration ist notwendig, da die Messungen nur die Konzentrationen in Abhängigkeit von der Zeit ergeben und nicht die RG. Wir beginnen mit der einfachsten Geschwindigkeitsgleichung, der für die Reaktion 1. Ordnung. Als Konzentrationsmaß wird i. a. die Konzentration c verwandt. Die folgenden Gleichungen gelten aber in gleicher Weise für die Drücke und Teilchendichten bei Gasphasenreaktionen. 12.1 Reaktion 1. Ordnung In der Geschwindigkeitsgleichung für die Reaktion 1. Ordnung (12.1.1) wird L durch die zeitliche Konzentrationsänderung ersetzt (12.1.2) Die Konzentration bezieht sich auf ein oder das Edukt; daher das Minuszeichen. Die so entstandene gewöhnliche DGl ist jetzt zu integrieren. Bei dieser DGl lassen sich die Variablen trennen (12.1.3) Diese Gleichung wird unbestimmt & die bestimmte Integration ist auch möglich & über die Zeit integriert. (12.1.4) Das linke Integral wird durch Einführung der formal neuen Integrationsvariablen c transformiert. (12.1.5) d. h. auf der linken Seite entsteht (12.1.6) Man sieht, dass sich die Rechnung bis zu diesem Schritt abkürzen lässt. Dazu werden in Gl. (12.1.2) die beiden Variablen samt Differenzialen auf verschiedene Seiten der Gleichung gebracht ("Trennung der Variablen") (12.1.7) und links über c und rechts über t integriert, was so direkt nicht in Ordnung ist! Dadurch entsteht wie zuvor (12.1.8) Diese Integration nach Chemikerart soll zukünftig immer angewandt werden. Die Ausführung der Integration ergibt (12.1.9) Die unbekannte Konstante C wird aus der Anfangsbedingung - 68 (12.1.10) bestimmt: (12.1.11) Daher gilt (12.1.12) Durch Exponentiation lässt sich dies auch in der Form (12.1.13) schreiben. Die Halbwertszeit J, d. h. die Zeit nach der die Konzentration auf die Hälfte abgefallen ist, gewinnt man aus Gl. (12.1.12) (12.1.14) (12.1.15) Die Halbwertszeit hängt bei einer Reaktion 1. Ordnung nicht von der Konzentration ab. Abb. 52 Konzentrationsverlauf bei einer Reaktion 1. Ordnung Zur Bestimmung der RGK trägt man nach Gl. (12.1.12) ln c gegen t auf (korrekt an und für sich ln c/co). Die Steigung der entstehenden Geraden ergibt die negative RGK. Der radioaktive Zerfall folgt streng einem Zeitgesetz 1. Ordnung. Üblicherweise wird dann die Konzentration durch die Teilchenzahl ersetzt. Die mit einem Zähler messbare Aktivität entspricht bis auf einen konstanten Faktor, da der Zähler nicht alle Zerfälle detektiert, der Reaktionsgeschwindigkeit, die beim radioaktiven Zerfall meist als Zerfallsrate bezeichnet wird. Abb. 53 Logarithmische Darstellung des Konzentrationsverlaufs (12.1.16) 12.2 Reaktion 2. Ordnung Reaktionen 2. Ordnung werden sehr häufig beobachtet, da bimolekulare Reaktionen immer zu einer Reaktion 2. Ordnung führen. Reagieren zwei identische Teilchen im Elementarschritt miteinander (Dimerisierung) (12.2.1) so gilt (12.2.2) Reagieren unterschiedliche Teilchen miteinander - 69 (12.2.3) so gilt (12.2.4) Für den Fall gilt zu allen Zeiten auch und daher (12.2.5) Abgesehen vom Faktor ½, der in Gl. (12.2.2) in k einbezogen werden kann, sind Gl. (12.2.2) und (12.2.5) identisch und dürfen daher gemeinsam behandelt werden. Trennung der Variablen in Gl. (12.2.5) liefert (12.2.6) und daher (12.2.7) und mit der Anfangsbedingung ergibt sich (12.2.8) Die Auftragung der reziproken Konzentration gegen die Zeit ergibt in diesem Fall eine Gerade mit der Steigung k. Die Einheiten der RGK für die Reaktion 1. und 2. Ordnung sind unterschiedlich: s-1 für die Reaktion 1. Ordnung und dm3/mol s für die Reaktion 2. Ordnung. Es ist daher der Vorschlag gemacht worden, alle Konzentrationen in der Geschwindigkeitsgleichung auf der rechten Seite wie beim MWG durch die Standardkonzentration zu teilen, so dass die Einheit grundsätzlich mol/dm3 s wäre. Das hat sich bisher nicht durchgesetzt. Der Vergleich von Reaktionen 1. und 2. Ordnung bei gleicher Anfangsreaktionsgeschwindigkeit zeigt, dass die Reaktion 2. Ordnung zu späteren Zeiten wegen der quadratischen Abnahme der RG mit der Konzentration langsamer gegen Null geht. Häufig sind auch Reaktionen mit mehreren Elementarreaktionen 2. Ordnung. Ein bekanntes Beispiel ist die basische Esterverseifung (12.2.9) für die Abb. 54 Vergleich des zeitlichen Verlaufs der Reaktionen 1. und 2. Ordnung (12.2.10) gilt, obwohl sie über mehrere Elementarschritte läuft. Für die Elementarreaktion - 70 (12.2.11) mit ungleichen Konzentrationen ocA und ocB muss anders vorgegangen werden. Für die RG gilt Gl. (12.2.4), die auf eine unabhängige Variable umgestellt werden muss. Dazu wird die umsatzproportionale Konzentrationsdifferenz (12.2.12) eingeführt. Für das Differenzial von x gilt (12.2.13) und daher (12.2.14) Trennung der Variablen liefert (12.2.15) Das Integral wird mit Hilfe der Partialbruchzerlegung gelöst oder im Anhang 20.2 nachgesehen (12.2.16) Aus der Anfangsbedingung (12.2.17) folgt (12.2.18) und daher (12.2.19) oder (12.2.20) Die Auftragung des Ausdrucks auf der linken Seite gegen die Zeit sollte daher eine Gerade mit der Steigung (12.2.21) ergeben. Gl. (12.2.20) lässt sich nicht ohne weiteres für den Fall in Gl. (12.2.8) überführen. Das hängt damit zusammen, dass die Partialbruchzerlegung für diesen Fall nicht wie für den Fall ungleicher Konzentrationen durchgeführt werden darf. - 71 12.3 Gleichgewichtsreaktion Wir wollen eine Gleichgewichtsreaktion vom Typ (12.3.1) untersuchen. Die Hin- und Rückreaktion sollen 1. Ordnung sein; die entsprechenden RGK werden durch die Indizes unterschieden. Hier tritt das erste Mal eine Kombination von Elementarreaktionen auf. Im Prinzip muss man für jeden der Reaktanden eine Geschwindigkeitsgleichung formulieren und das ganze System von DGls lösen. Das ist aber hier unnötig, da (12.3.2) gilt und die Konzentrationen von A und B über die Bilanzgleichung direkt ineinander umgerechnet werden können. Wegen der Abreaktion von A zu B und der Bildung von A aus B gilt, wenn anfänglich nur A vorhanden ist (12.3.3) Trennung der Variablen und Integration ergibt (12.3.4) (12.3.5) Die Anfangsbedingung ergibt (12.3.6) und daher (12.3.7) oder (12.3.8) (12.3.9) Es ist jetzt günstiger, die Konzentration von B einzuführen. Mit der Annahme cB = 0 bei t = 0 folgt (12.3.10) Daher gilt für die linke Seite von Gl. (12.3.9) - 72 - (12.3.11) Eingesetzt in Gl. (12.3.9) folgt (12.3.12) oder (12.3.13) Die Konzentration von A ergibt sich aus Gl. (12.3.10). Die Konzentrationen streben für t = 4 gegen einen Grenzwert. Es gilt (12.3.14) und mit Gl. (12.3.10) Abb. 55 Zeitlicher Verlauf einer Gleichgewichtsreaktion (12.3.15) Daher gilt (12.3.16) Es folgt das MWG für diesen speziellen Fall. Fälle mit höheren Reaktionsordnungen für die Hin- und Rückreaktion führen zu erheblich langwierigeren Rechnungen, aber zu keinen grundsätzlich neuen Erkenntnissen. Wir wollen uns für den Fall einer Reaktion höherer Ordnung nur die Relaxation ins Gleichgewicht ansehen. Das Edukt A soll zum Produkt B gemäß (12.3.17) mit der RG-Gleichung (12.3.18) reagieren. Für das Gleichgewicht gilt (12.3.19) - 73 In die RG-Gleichung werden jetzt die Abweichungen vom Gleichgewicht eingeführt. (12.3.20) Daher gilt (12.3.21) Unter der Voraussetzung, dass die Abweichung vom Gleichgewicht klein ist, darf man die Klammern entwickeln und nach dem zweiten Glied abbrechen. (12.3.22) Im Gleichgewicht gilt gemäß Gl. (12.3.18) (12.3.23) d. h. die Terme 1 und 3 auf der rechten Seite von Gl. (12.3.22) heben sich heraus und es verbleibt (12.3.24) Mit der Bilanzgl. (11.3) folgt daraus (12.3.25) und daher (12.3.26) d. h. die Relaxation ins Gleichgewicht erfolgt & bei kleinen Abweichungen & immer in einer Reaktion erster Ordnung. Das ermöglicht eine einfache Auswertung aller Relaxationsexperimente. 12.4 Folgereaktion Darunter versteht man zwei aufeinander folgende Elementarreaktionen (12.4.1) Beide Reaktionen sollen 1. Ordnung sein; andernfalls wird die folgende Berechnung erheblich komplizierter. Die Geschwindigkeitsgleichungen für die drei Reaktanden sind: (12.4.2) Es entsteht ein gekoppeltes System von drei gewöhnlichen DGls 1. Ordnung. Die letzte DGl ist unwichtig, da die Konzentration von C auf keiner der rechten Seiten auftritt und die Konzentration nach Lösung des restlichen Systems aus einer Bilanzgleichung bestimmt werden kann. Das restliche - 74 System aus den beiden ersten DGls ist einfach zu integrieren, da die erste der beiden DGls nur cA enthält und daher direkt integriert werden kann. Das ist nichts anderes als die bereits bekannte Reaktion 1. Ordnung: (12.4.3) Aus der zweiten DGl wird damit (12.4.4) Es entsteht eine sog. lineare inhomogene DGl 1. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Das Lösungsverfahren wollen wir hier nicht weiter verfolgen. Die Lösung ist bei Annahme von cB = 0 für t = 0 (12.4.5) wie durch Einsetzen festgestellt werden kann. Die Konzentration von C wird schließlich mit Hilfe der Bilanzgleichung (12.4.6) bestimmt, die bei Annahme von cC = 0 für t = 0 gilt. Aus Abb. 56 erkennt man folgendes. A zerfällt in einer Reaktion 1. Ordnung. B ist ein Zwischenprodukt, das anfänglich mit hoher RG gebildet wird. Da A zerfällt, wird die Bildungsgeschwindigkeit von B im Lauf der Zeit kleiner und irgendwann überwiegt die Zerfallsgeschwindigkeit in C. Die Konzentration von B durchläuft daher ein Maximum, dessen Höhe vom Verhältnis k1/k2 (und ocA) abhängt. C zeigt eine sog. Induktionsperiode, d. h. seine Bildungsgeschwindigkeit ist zu Beginn klein und wächst im Lauf der Reaktion, da sein Vorläufer B eben erst aus A gebildet werden muss. Die Abb. 56 Zeitlicher Verlauf einer Folgereaktion Bildungsgeschwindigkeit von C wird & abgesehen von der Induktionsperiode & von der langsameren der beiden Reaktionen A 6 B und B 6 C bestimmt. Ist die erste Reaktion langsam, so wird kaum B gebildet, und es entsteht so viel C, wie in der langsameren ersten Reaktion zerfällt. Ist die zweite Reaktion langsam, so zerfällt A zu fast 100 % in B ohne Bildung von C. B setzt sich dann mit der langsameren Geschwindigkeit in C um. 12.5 Parallelreaktion Wir wollen hier den Zerfall einer Verbindung A in zwei parallelen Reaktionen 1. Ordnung in B und C betrachten. Die Zerfallsgeschwindigkeit von A ist (12.5.1) d. h. A zerfällt in einer normalen Reaktion 1. Ordnung, wobei die RGK der Summe der beiden einzelnen RGK entspricht. In der Gleichung (12.5.2) - 75 kann daher bei sehr unterschiedlichen RGK die kleinere auf der rechten Seite gestrichen werden, d. h. & im Gegensatz zum vorangehenden Beispiel & bestimmt hier die größere der beiden RGK die Zerfallsgeschwindigkeit von A. Man sagt auch, die Verbindung, die sich mit der größeren RGK bildet, sei kinetisch bevorzugt. Stellt sich zusätzlich zwischen B und C in einer langsamen Reaktion ein Gleichgewicht ein, so kann sich nach langer Zeit dann durchaus das andere Produkt bilden, falls dieses thermodynamisch stabiler ist. Im folgenden sollen einige komplexe, experimentell untersuchte Reaktionen mit mehreren Elementarreaktionen diskutiert werden. 12.6 Oxidation von Stickstoffmonoxid Die Kinetik der Oxidation von Stickstoffmonoxid in der Gasphase (12.6.1) verläuft nach den experimentellen Untersuchungen in einer Reaktion 3. Ordnung gemäß (12.6.2) Im Prinzip könnte hier eine trimolekulare Reaktion vorliegen. Nun zeigte das Experiment, dass die RGK mit zunehmender Temperatur abnimmt. Eine solche Abhängigkeit widerspricht der Erfahrung, die bei Elementarreaktionen eine Zunahme der RGK mit der Temperatur voraussagt (siehe dazu Kap. 14). Eine Möglichkeit für die Erklärung dieses Widerspruchs ist die folgende. Die Reaktion könnte in Wirklichkeit über die Elementarreaktionen (12.6.3) d. h. über eine einer Gleichgewichtsreaktion nachgelagerte Folgereaktion ablaufen. Weiterhin wird angenommen, dass sich das Gleichgewicht sehr schnell einstellt, d. h. wir brauchen dafür nicht die Kinetik zu bemühen, sondern dürfen das MWG verwenden. Die zweite Reaktion soll bimolekular verlaufen. Die entsprechenden Gleichungen sind (12.6.4) Der N2O2-Partialdruck in der letzten Gleichung wird jetzt mit Hilfe des MWGs eliminiert (12.6.5) Weiterhin gilt (12.6.6) sofern klein ist. Das ist z. B. dann der Fall, wenn selbst sehr klein ist und die Reaktion - 76 schon eine Weile gelaufen ist. Wir finden dann schließlich (12.6.7) Die funktionelle Abhängigkeit stimmt mit der experimentell beobachteten überein. Die experimentell bestimmte RGK setzt sich diesem Reaktionsmechanismus zufolge aus einem Produkt einer eigentlichen RGK und einer Gleichgewichtskonstante zusammen. Dimerisierungen verlaufen nun i. a. exotherm. Das entspricht nach der van't Hoffschen Reaktionsisobare einer Abnahme der Konstante des MWGs mit steigender Temperatur. Falls diese Abnahme die Zunahme von k2 überwiegt, ist das Problem geklärt. Noch einmal soll hier festgehalten werden: Der vorgestellte Reaktionsmechanismus erklärt die experimentellen Befunde. Er ist daher plausibel, aber keinesfalls nachgewiesen. Es gibt viele andere Mechanismen, welche die experimentellen Befunde ähnlich gut erklären können. Dieses Fehlen der Schlüssigkeit bei rein kinetischen Untersuchungen stellt ein großes Problem dar. 12.7 Kettenreaktion ohne Verzweigung, Bromwasserstoffbildung Die Bildung von Bromwasserstoff aus den Elementen nach (12.7.1) in der Gasphase wurde um 1900 von Bodenstein und Mitarbeitern untersucht. Es zeigte sich, dass alle experimentellen Beobachtungen mit der Geschwindigkeitsgleichung (12.7.2) beschrieben werden konnten. Die Beobachtung derartig komplizierter Reaktionsgeschwindigkeitsgleichungen ist der Grund für die vorsichtige Formulierung bei den Argumentationen zu den Gl. (10.10) und (10.11). kN hängt in diesem Fall kaum von der Temperatur ab. Später wurde von Christiansen, Herzfeld und Polanyi folgender Reaktionsmechanismus vorgeschlagen, der zu diesen Gleichungen führt: (12.7.3) Alle anderen Reaktionen, wie z. B. (12.7.4) oder (12.7.5) - 77 laufen zu langsam ab, da wegen k3 o k2 der Partialdruck von H sehr klein ist und die RGK auch nicht so groß sind, wie vielleicht erwartet, da die großen Reaktionsenergien nur über einen Dreierstoß mit einem weiteren Teilchen abgeführt werden können. Bromwasserstoff wird im Reaktionszyklus in den Schritten 2 und 3 gebildet. Beide Reaktionen zusammen ergeben gerade die Bruttoreaktion (12.7.1). Weiterhin zerfällt HBr in der Reaktion 4. (12.7.6) Neben den in Gl. (12.7.2) auftretenden Drücken enthält diese Geschwindigkeitsgleichung auch noch die Partialdrücke der Radikale H und Br, die daher noch bestimmt werden müssen. Ihre Bildungsgeschwindigkeiten sind (12.7.7) (12.7.8) Im Prinzip müsste man auch noch die restlichen Geschwindigkeitsgleichungen formulieren und das gekoppelte System von Differenzialgleichungen lösen. Man sieht leicht ein, dass das ohne weiteres nicht möglich sein wird. Folgende Idee hilft weiter. Die Partialdrücke der reaktiven Spezies H und Br werden sehr gering sein. Daher werden & abgesehen vom Reaktionsbeginn & auch die zeitlichen Ableitungen dieser Drücke fast Null sein. (12.7.9) Man bezeichnet diesen Schritt als die Annahme der Quasistationarität. In der Theorie der DGls bezeichnet man ein System von DGls als stationär, wenn keine zeitliche Abhängigkeit vorliegt. Dieses ist hier für die Partialdrücke von Br bzw. H quasi der Fall; daher die Bezeichnung. Die Annahme der Quasistationarität ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel bei der Lösung komplizierter kinetischer DGls. Wir setzen die rechten Seiten der Gl. (12.7.7) und (12.7.8) Null. (12.7.10) (12.7.11) Zur Bestimmung von pH und pBr kann man beispielsweise die beiden Gleichungen addieren. (12.7.12) Es gilt daher (12.7.13) Das entspricht einem aus den Reaktionen 1 und 5 gebildeten und immer eingestellten Gleichgewicht. Zur Berechnung von pH wird dieses Ergebnis in Gl. (12.7.11) eingesetzt. (12.7.14) - 78 - (12.7.15) (12.7.16) Im Prinzip könnte man jetzt die Partialdrücke der Radikale in Gl. (12.7.6) einsetzen. Es ist jedoch einfacher, vorher Gl. (12.7.11) davon abzuziehen. (12.7.17) und schließlich (12.7.18) Der vorgeschlagene Reaktionsmechanismus führt daher zur experimentell beobachteten Geschwindigkeitsgleichung. Der vorgeschlagene Mechanismus ist daher plausibel. Die entsprechende Iodwasserstoffreaktion (12.7.19) war und ist noch das Paradebeispiel für eine bimolekulare Reaktion. Eingehende Untersuchungen zeigten jedoch, dass dieses nicht zutrifft. Auch diese Reaktion verläuft ähnlich wie die HBr-Reaktion über Zwischenstufen mit Radikalen. 12.8 Kettenreaktionen mit Verzweigung, Knallgasreaktion Im vorangehenden Beispiel wurden im Reaktionszyklus gerade so viele Radikale verbraucht, wie im Zyklus entstanden. Daher führte jedes entstehende Br-Radikal zu einer und nur einer Kette. Bei der zu besprechenden Knallgasreaktion entstehen jedoch mehr Radikale, als verbraucht werden. Es liegt eine Kettenreaktion mit Verzweigung vor, die zu einer erheblich heftigeren Reaktion führt (siehe auch Kap. 19). Bei der Knallgasreaktion (12.8.1) bei 500 oC und 0,01 bar lassen sich die experimentellen Ergebnisse durch folgenden Reaktionsmechanismus erklären. Es entstehen daher während eines Zyklus zwei neue Radikale, mit denen neue Reaktionsketten beginnen. - 79 - (12.8.2) 12.9 Lindemann-Mechanismus Bei der eingehenden Untersuchung vermeintlich unimolekularer Reaktionen stellte sich heraus, dass das einfache Bild des Zerfalls oder der Umwandlung eines Moleküls aus sich heraus nicht korrekt sein kann. Beim tatsächlich unimolekularen radioaktiven Zerfall hatte man festgestellt, 1) dass die Zerfallsgeschwindigkeit streng proportional zur Zahl der vorhandenen Teilchen ist, 2) dass sie unabhängig von der Temperatur ist, 3) dass sie unabhängig vom Aggregat- und Bindungszustand ist. Das spricht alles für folgendes Modell. Die beispielsweise zu emittierenden "-Teilchen werden im Kern von hohen Potenzialwänden gehalten. Nur wenige "-Teilchen schaffen es, durch Tunneln durch diese Potenzialwand den Zerfall zu bewirken. Dieses Tunneln erfolgt unabhängig von anderen Teilchen in der Umgebung. Bei den "chemischen" unimolekularen Reaktionen zeigte sich, dass 2) und 3) nie gelten und dass 1) bei einer Gasphasenreaktion nur innerhalb eines eingeschränkten Druckintervalls gilt. Insbesondere die Abhängigkeit von der Temperatur führte zu der Erkenntnis, dass der Zerfall durch Stöße mit anderen Teilchen eingeleitet werden muss. Lindemann schlug folgenden Reaktionsmechanismus ("LindemannMechanismus") vor. Im ersten Schritt entsteht durch dem Zusammenstoß ein sog. aktiviertes Molekül A*, in dem z. B. eine oder mehrere Schwingungen angeregt sind. Die Bildung des Produkts erfolgt erst im zweiten Reaktionsschritt. (12.9.1) Die Geschwindigkeitsgleichungen sind (12.9.2) (12.9.3) Wie im Kap. 12.7 nehmen wir jetzt Quasistationarität für die reaktive Spezies A* an. (12.9.4) und daher (12.9.5) - 80 Die Bildungsgeschwindigkeit von P wird daher (12.9.6) Es sind jetzt zwei Fälle zu unterscheiden. Bei großen Werten von pA & genauer & folgt (12.9.7) Unter diesen Bedingungen beobachtet man daher eine Reaktion 1. Ordnung, die aber keiner unimolekularen Reaktion entspricht. Die RGK ist ein Produkt mehrerer RGK elementarer Prozesse und kann daher von der Temperatur abhängen; insbesondere sollte k1 stark mit der Temperatur zunehmen. Bei niedrigen Drücken entsteht dagegen (12.9.8) d. h. die Reaktion wird 2. Ordnung. Ohne Gleichungen versteht man das Auftreten verschiedener Reaktionsordnungen wie folgt. Bei niedrigen Drücken wird wegen der quadratischen Abhängigkeit die Hinreaktion von Gl. 1 reaktionsgeschwindigkeitsbestimmend, d. h. die Reaktion verläuft 2. Ordnung. Bei großen Drücken wird dagegen Gl. 2 reaktionsgeschwindigkeitsbestimmend und bei eingestelltem Gleichgewicht 1. gilt pA % pA*. Zum Nachweis des Übergangs von der Reaktion 1. Ordnung in die 2. Ordnung wertet man die Reaktion als Reaktion 1. Ordnung in verschiedenen Druckbereichen aus, d. h. man setzt (12.9.9) Vergleich mit der vollständigen Gl. (12.9.6) ergibt (12.9.10) Bei großen Werten von pA ergibt sich korrekt (12.9.11) und bei kleinen (12.9.12) Abb. 59 zeigt eine doppeltlogarithmische Auftragung von k gegen p für die Reaktion (12.9.13) in der Gasphase. Umformung von Gl. (12.9.10) ergibt (12.9.14) Abb. 59 Ergebnis der Lindemann-Theorie d. h. man sollte bei dieser Darstellung bei hohen Drücken für log k/kN den Wert Null finden und bei niedrigen log pA - log kO. Das Experiment - 81 stimmt qualitativ mit diesem Verlauf überein. Eine quantitative Übereinstimmung fehlt, da Gl. (12.9.14) einen erheblich schärferen Übergang zwischen dem konstanten Bereich bei hohen Drücken und dem linearen Abfall bei tiefen Drücken voraussagt. Ein weiteres Problem entsteht beim Vergleich der experimentellen RGK bei sehr kleinen Drücken mit berechneten Werten. Bei sehr kleinen Drücken sollte die RG nur noch von der Aktivierungsgeschwindigkeit entsprechend Gl. (12.9.8) abhängen. Diese Aktivierungsgeschwindigkeit kann man "berechnen" (siehe Kap. 14.1), wobei die Aktivierungsenergie dem Experiment entnommen wird und der präexponentielle Faktor berechnet wird. Der Vergleich mit dem Experiment zeigt, dass bei vielen Reaktionen die RG mehr als 105-fach schneller verläuft, als von der Theorie vorhergesagt. Die heutige Theorie der unimolekularen Reaktion (siehe Kap. 14.4) kann diese Widersprüche aufklären. Korrekt wird dagegen vom Lindemann-Mechanismus vorausgesagt, dass die zur Aktivierung notwendigen Stöße nicht notwendigerweise vom Typ A + A sein müssen, sondern die Aktivierungen auch durch Stöße mit einem Inertgas erfolgen können, d. h. in Gegenwart eines Inertgases hängt die Aktivierungsgeschwindigkeit vom Gesamtdruck ab. - 82 - 13 Temperaturabhängigkeit der RGK Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten nehmen & abgesehen von wenigen Ausnahmen & stark mit der Temperatur zu. Als Daumenregel gilt: eine Temperaturerhöhung um 10 K ergibt die doppelte RGK. Eine Abnahme mit der Temperatur beobachtet man nur bei komplexen Reaktionen, wenn z. B. eine Gleichgewichtskonstante eine Rolle spielt (siehe Oxidation von NO (Kap. 12.6)) oder wenn ein oder mehrere Reaktanden an Oberflächen adsorbiert sind und die adsorbierte Menge mit der Temperatur stark abnimmt. Experimentell fand man, dass eine Auftragung des Logarithmus der RGK gegen die reziproke Temperatur (Arrhenius-Darstellung) über nicht allzu große Temperaturbereiche Geraden ergibt, d. h. die Temperaturabhängigkeit lässt sich in der Form (13.1) oder (13.2) darstellen. EA wird als Aktivierungsenergie und A als Häufigkeits-Faktor, Frequenz-Faktor oder präexponentieller Faktor bezeichnet. Eine nähere Diskussion dieser Größen erfolgt im nächsten Kapitel. Hier sei nur bemerkt, dass die Aktivierungsenergie die Energie darstellt, die beim Zusammenstoß der reagierenden Teilchen aufgebracht werden muss, um die Energiebarriere beim Kontakt der Teilchen zu überwinden und die Reaktion ablaufen zu lassen. Die Aktivierungsenergie liegt üblicherweise bei einigen 10 kJ/mol. Die Aktivierungsenergie für die obige Daumenregel beträgt: (13.3) (13.4) Sie kann bei sehr stabilen Reaktanden erheblich größer werden & Cyclopropan-Isomerisierung zu Propen: 270 kJ/mol & Tetramethylsilan-Zerfall: 330 kJ/mol Bei vielen Radikalreaktionen, z. B. C6H5CH2@ + Br@ 6 C6H5CH2Br, liegt sie bei Null oder fast Null, weil keine oder fast keine Barriere zu überwinden ist. Die Arrhenius-Darstellung 60 erlaubt die Bestimmung der Aktivierungsenergie und des Frequenzfaktors. Natürlich ist das auch mit Gl. (13.3) aus zwei Wertepaaren k,T bzw. oder aus Gl. (13.1) über eine lineare Regression möglich. Die starke Zunahme der RG mit der Temperatur ist der Grund für viele gewollte und ungewollte Explosionen bei exothermen Reaktionen. Üblicherweise wird bei der Auftragung nach Arrhenius die über Gl. (10.3), d. h. mit den Konzentrationen definierte RGK verwandt. Die mit den Drücken gemäß Gl. (10.6) definierte RGK ergibt wegen der Temperaturabhängigkeit des Zusammenhanges (siehe Gl. 10.4) einen geringfügig anderen Wert für EA. Abb. 60 Arrhenius-Darstellung