zum Titelthema Die tiefste Intimität mit dem Leben Wir leben in einer postmodernen Welt, in der das Wort „Gott“ oft eine Art Verkrampfung, Ablehnung oder unangenehme Erinnerungen auslöst. Viele rational-wissenschaftlich geprägte Menschen glauben, religiöse Werte schon längst hinter sich gelassen zu haben. Andere sehen in Religionen nur Glaubenskonstrukte oder Systeme, die ihre Macht erhalten wollen. Aber wo ist denn der Raum für die tiefste Liebe, die eine fundamentale Sehnsucht der Menschen nach einer höheren Erkenntnis ist, die wir alle in uns tragen? Und wie nennen wir ihn? Ganz egal, ob heiligen Raum, mystische Tiefendimension oder eben Gott, dieser Raum braucht in unserer Gesellschaft wieder einen Platz. SPIRITUELLES AUSTROCKNEN Wenn die säkuläre Welt zunimmt und die spirituelle Welt austrocknet, hat das Konsequenzen. Wenn wir das Gefühl verlieren, dass wir in einem sehr feinen Netz eingewoben sind, das wir Leben nennen, und wenn wir die Fähigkeit verlieren, dieses Netz in uns und durch uns wahrzunehmen, dann beginnen wir als separates Teilchen einer Kultur zu handeln. Wir werden leicht von einer rationalen Sinnlosigkeit erfasst, wenn wir als getrennte Partikelchen in der Welt in Angst oder Arroganz leben und glauben, über den Naturgesetzen zu stehen, die doch durch uns wirken und uns in diesem Augenblick erschaffen. Es gibt dann keine Instanz mehr, der sich das „Ich“ hingeben kann. Das führt nicht nur zu einer Ego-Gesellschaft, sondern auch zu einer nichtnachhaltigen Kultur, wie wir sie ja überall in der Welt sehen. Wenn in unserer Gesellschaft spirituelle Intelligenz als anerkannte Entwicklungslinie eingeführt wäre, würden weniger Menschen als Ansammlung getrennter „Ichs“ sich fürchten, das zu verlieren, was sie haben, und dann würden nicht so viele Menschen ihre Intimität mit dem Göttlichen heimlich pflegen. Was meine ich mit Intimität? Wir verstehen meistens unter Intimität das Kennen von uns nahestehenden Menschen, eine körperliche und emotionale Nähe oder sogar eine intellektuelle Gemeinsamkeit. Doch was ist das eigentliche Wesen von Intimität? Warum sehnen sich so viele Menschen danach und warum bleibt diese Sehnsucht oft unerfüllt? Was ist die tiefste Intimität, die wir erfahren können? 18 OFFEN UND PRÄSENT SEIN Viele Menschen sagen, dass Intimität etwas ist, das mit der Zeit wächst. Etwas, wofür wir uns länger kennen müssen. Entspricht das auch der Erfahrung? Ja und nein. Intimität hat nichts mit Zeit zu tun, sondern mit der Fähigkeit, offen zu sein, das Leben in sich aufzunehmen und dem Leben mit Mut und Liebe zu begegnen. Die meisten Menschen müssen sich einfach JA 10-11/2012 erst einlassen, um „intim“ mit anderen Menschen, mit dem Leben, zu werden. Was sie damit wirklich sagen, ist: „Wir brauchen Zeit, um unser Misstrauen, unsere Angst und Nichtpräsenz zu überwinden und uns dem Augenblick zu öffnen.“ Es braucht Tiefe, um sich zu öffnen, nicht Zeit. Wach zu sein heißt auch, ohne Schutz offen zu sein. Der tiefe Bewusstseinsraum zu sein, der alle Strukturen des Lebens in sich trägt und somit tiefer in der Natur des Lebens und der Wirklichkeit verankert ist. Intimität ist der Grundzustand meiner Wirklichkeit und nicht etwas, das ich mit manchen Menschen erreichen kann oder nicht. DU DA DRAUSSEN UND ICH HIER DRINNEN Wenn wir sagen, wir lieben uns, heißt das, dass wir die Hüllen unserer Konditionierungen stückweise fallen lassen und lernen, für jemanden dieser Raum zu sein. Liebe ist die Fähigkeit, einen Menschen oder eine Situation ganz aufzunehmen und bis in die Quelle meiner Erfahrung durchzulassen. Dann habe ich dich erst wirklich erfahren. Alles andere heißt: ich wehre dich an einer bestimmten Schicht in mir ab. Deswegen musst du da draußen sein und ich hier drinnen. Du darfst nicht in mein Wohnzimmer, sondern musst im Flur stehen bleiben. Doch die meisten Menschen wollen sich lieber in ihr Gewand des „Selbst“ kleiden, um nicht in der Freiheit des Lichts und der Weite des Kosmos zu stehen. Denn das würde eine Welt bedeuten, in der sie keine Haltegriffe mehr auf der Reise des Lebens hätten. Und das kann Angst machen, wenn ich all die Konzepte und liebgewonnenen Eigenschaften meines Selbst hinter mir lasse und mich dem öffne, was ich nicht kenne. Ohne Haltegriffe zu fahren heißt, ganz wach sein zu müssen, denn sonst werfen mich die Kurven und Bodenwellen um. KENN ICH DICH ODER NUR MEIN BILD VON DIR? Viele Paare beginnen, sich zu kennen. Aber genau das ist das Valium ihrer Wachheit. Sie meinen, sich zu kennen, und erleben sich nur noch in den Bildern, die sie voneinander haben, statt in der Radikalität des Augenblicks, der alle Bilder transzendiert und uns wirklich ganz wach miteinander sein lässt. Das Feuer der Präsenz ist zutiefst intim mit allem, was im Jetzt stattfindet. Das ist zugegebenermaßen eine ziemlich radikale Sache und nicht das gemütliche Sofa unserer Gewohnheiten. Menschen werden ja schnell zu den Gewohnheiten ihrer Partner. Es heißt, wenn ich dich einmal kenne, dann kann ich mich ganz auf dich einlassen. Aber das stimmt nicht. Wenn ich meine Ängste und Schutzmechanismen dem Leben gegenüber langsam ablegen kann, fühle ich wieder meine ureigenste Offenheit dem Leben gegenüber. Und dann kann ich mich einlassen, auf das Leben und auf dich. Das ist die Konsequenz einer Entspannung in die Begegnung, also ein tiefer, natürlicher Zustand. Und nicht etwas, das wir uns langsam erarbeiten müssen. Wenn wir unsere Partner, Kinder, Freunde oder Arbeitskollegen kennen, sind wir nicht mehr wach. Wache Menschen machen die direkte Erfahrung dessen, was ist, und nicht die wiederholte Erfahrung ihrer inneren Bilder, die sie von der Welt haben. Für die meisten von uns braucht es dafür eine lebenslange Praxis, denn das ist eine extrem hohe Entwicklung auf spiritueller Ebene. Dann sehen wir, dass unsere spirituelle Reise im Prinzip nur die Erkenntnis unserer ureigensten Intimität mit dem Leben ist. Was für eine Erkenntnis … Intimität ist die Nacktheit vor dem Leben, die Nacktheit vor Gott, radikale Präsenz, Liebe und die Fähigkeit, ganz in der Gegenwart zu sein. In der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft in sich trägt. Ein tiefer, mystischer Moment, der die Bewegungen der Welt genau so anerkennt wie die Stille des Augenblicks. MUT, SICH ZU OUTEN Viele Menschen sind sich ihrer spirituellen Suche oder Sehnsucht gar nicht bewusst oder trauen sich nicht, sie zu äußern und zu leben. Wie viele Menschen gibt es, die sich nie erlauben würden, ihre Meditationserfahrungen mit ihren Chefs und Kollegen zu teilen? Wie viele Menschen beten oder meditieren sogar im engsten Kreis ihrer Familie oder Freunde heimlich? Das sieht nur nach einer persönlichen Angelegenheit aus, kommt aber einer Verödung der spirituellen Kraft in der Gesellschaft gleich. Wenn wir unsere Kraft – in welchem Bereich des Lebens auch immer – zurückhalten, wird sich diese Seite in unserem Leben nicht weiter entfalten können. All die Menschen, die sich in der Öffentlichkeit nicht zu ihrer Spiritualität äußern können, tragen, ob sie wollen oder nicht, zu der Misere der postmodernen Welt bei. Sie stärken nur die Skepsis gegenüber diesen Dingen. Sektenbeauftragte und Supermarkt-Esoterik leben davon. „Was könnten bloß die anderen von mir denken?“ Heißt übersetzt: „Ich möchte meiner eigenen Ablehnung dieser Dimension in mir nicht begegnen. Ich möchte meiner eigenen Scham vor der Intimität mit dem Leben nicht begegnen. Ich möchte mich nicht outen und das göttliche Feuer spüren. Ich möchte sicher in dem Kontext bleiben, den ich kenne, und werde nicht der Pionier werden, eine neue Welt im Angesicht der Göttlichkeit des Lebens und der Verbeugung des Egos vor einer größeren Kraft mit zu kreieren.“ © Nyul | Dreamstime.com zum Titelthema Wenn die Menschen z.B. in der Wirtschaft, an den Universitäten, in den Medien offener mit ihrer tiefsten Sehnsucht in der Welt wären, würden wir eine Renaissance der spirituellen Befreiung sehen, die nicht mehr an anachronistischen, traditionellen Konzepten festhängt. Doch dafür braucht es radikale Menschen, die die göttliche Tiefendimension wieder zu ihrer Priorität machen und zugleich für eine Spiritualität offen sind, die sich den Fragen unserer Zeit stellt und sich nicht vor intellektuellen Diskursen und wissenschaftlichen Bereichen fürchtet. Eine „moderne Mystik“, die sich mit der Wissenschaft verbündet und die Herausforderungen des Menschseins beleuchtet. SCHLECHTE ERFAHRUNGEN MIT DER HINGABE Wir machen Meditation und ein bisschen spirituelle Praxis zu einer Entspannungsmethode und zu einem Gymnastikersatz. Das passt in ein cooles, modernes Leben und wird auch immer mehr anerkannt. Aber zu Gott haben wir eine sehr vorsichtige, oft sogar ausgrenzende Beziehung entwickelt. Hier spricht offensichtlich auch eine Skepsis und Angst, die aus der Vergangenheit stammt: Wir haben als Menschheit die Manipulation und den Missbrauch gründlich satt, die in unserer Geschichte so oft mit der Hingabe an eine „Heiligkeit“ einhergingen, und wollen uns jetzt dieser Hingabe nicht mehr aussetzen, um uns zu schützen. Darum messen wir jetzt die Spiritualität an ihrer Pathologie und teilen damit den Fehler des Systems, indem wir auch jemand sind, der die Spiritualität in sich versteckt, weil sie nicht salonfähig einfach JA 10-11/2012 19 zum Titelthema ist, und bauen damit an genau diesem Salon mit. Eine Gesellschaft braucht immer eine Anbindung an das, was sie hervorbringt. Vergessen wir das, wird die Kultur in eine Krise schlittern. Wenn das kleine Teilchen glaubt, die Größe des Ganzen bestimmen zu können, ist das ein fataler Irrtum. 2012: JAHR DER KRISE ODER KREATIVITÄT? Die tiefe Intimität mit dem Leben ist das, was wirklich zählt. Sich mit dem zu verbinden, was uns alle hervorbringt, bis wir sehen, dass wir damit immer verbunden sind. Anstatt an Krisen zu denken und zu überlegen, wie ich mich schütze, kann ich mehr zu dem werden, was Veränderung und Kreativität schafft. Einige Menschen sind so mit den Prophezeiungen um 2012 beschäftigt, dass sie überlegen, wie sie sich vor einem Desaster schützen können. Doch genau damit tragen sie zum alten Bewusstsein bei, das eine Krise hervorbringt. Wir brauchen Menschen, die einen kreativen Beitrag zur Veränderung schaffen, die von ihrem „Ich“ so weit loslassen, dass sie alles im Blick behalten können. Erwachsene Menschen, die sich um die Welt kümmern und nicht nur um sich selbst. All die Menschen, die jetzt schon Lebensmittel einlagern, damit sie in einer Krise genug für sich haben, sagen damit in etwa: „Ich bin so in meinem eigenen Getrenntsein gefangen, dass ich meine Angst in den Vordergrund stelle, um meine getrennte Existenz zu sichern. Ich möchte keinen Beitrag zu einem Bewusstseinswandel leisten. Einem Bewusstseinswandel, der uns alle ernährt, ganz egal, ob die Welt mit ihrem Finanzsystem funktioniert oder nicht, weil ich weiß, dass die Kraft, die mich gerade hervorbringt, die höchste Intelligenz im Universum ist, die sich durch mich ausdrückt.“ Liebe ist nicht die Kraft, die einbunkert; sie ist die Kraft, die sieht, was sie geben kann. Und Intimität heißt, den Schutz fallen zu lassen und sich zu öffnen für Neues. Die alte Welt möchte sich schützen, die neue Welt möchte mehr Transparenz und Liebe auf dem Marktplatz des Lebens. Sie möchte eine höhere Intelligenz durch sich wirken sehen. Wer ist schon mit einer Kultur zufrieden, die den kleinsten gemeinsamen Nenner der Menschen fördert? Wir wollen eine Kultur des Sehens, Verstehens und letztendlich des Leuchtens schaffen. Des Leuchtens der Kraft des Lichtes in uns und um uns. 2012 ist das Jahr der Evolution, nicht der Regression. Ich hoffe, dass wir das auch so sehen und feiern können. GOTT LIEBT ÜBERRASCHUNGEN Wir müssen aber auch einen Schritt in diese Richtung gehen. Jeder Augenblick ist kostbar. Es gibt nichts, was nicht Sinn und Wert in der Wirklichkeit hat, in der wir leben. Aber dafür sollten wir uns dorthin begeben, wo wir einfach nicht wissen, wohin wir gehen. Gott ist nicht immer ein Freund, der die nächsten Schritte erklärt. Gott liebt Überraschungen. Deshalb ist die Natur Gottes niemals vorhersehbar. Sie kann nicht in der Unmittelbarkeit des Seins und des Handelns erkannt werden. Man kann sie nicht auf ein Konto laden und dort speichern. Sie wird sich immer verändern und zugleich immer hier sein. Es ist ein lebendiger Prozess des Seins und des Werdens. Die Welt braucht Menschen, die sich mit ihrer spirituellen Sehnsucht zeigen, weil sie die tiefste Sehnsucht in uns allen ist. Die Kraft wieder zu erkennen, die uns hervorbringt, und das Schattenspiel in eine Lichterfahrung zu verwandeln, ist die höchste Kunst, die wir in der Wirklichkeit vollbringen können. Die Schönheit von spirit in action, von Geist in Handlung, ist atemberaubend und viel zu groß, um in rationalen oder traditionellen Sichtweisen der Ausgrenzung hängen zu bleiben. Thomas Hübl Thomas Hübl ist ein moderner spiritueller Lehrer, dessen internationale Workshops, Trainings und Veranstaltungen Menschen in eine tiefere Ebene von Selbsterkenntnis und persönlicher Verantwortung führen. Er ist Initiator des beliebten Celebrate Life Festivals und der Synchronized Humanity Tour. 2008 gründete er die Academy of Inner Science, eine Plattform zur Erforschung der Zusammenhänge zwischen äußeren Wissenschaften und der inneren mystischen Erfahrung, mit Fokus auf die Herausforderungen, denen die Menschheit in der heutigen postmodernen Gesellschaft gegenübersteht. www.thomashuebl.com, www.innerscience.info, www.celebrate-life.info 20 Dieser Artikel wurde im Juli 2012 erstmals in der Zeitschrift VISIONEN veröffentlicht. einfach JA 10-11/2012