Der Beobachter im Gehirn

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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Auf dem Weg nach innen.
 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft . .
Das Jahrzehnt des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Was kann ein Mensch wann lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vom Gehirn zum Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen.
Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung
für die Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neurobiologische Anmerkungen zum
Konstruktivismus-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hirnentwicklung und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hirnentwicklung oder die Suche nach Kohärenz
Determinanten der Hirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Beobachter im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Im Grunde nichts Neues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neugier als Verpflichtung
Warum der Mensch unentwegt weiterforschen muß . . . . .
Für und wider die Natur
Was weiß die Wissenschaft, und was darf sie wissen? . . . .
Die Architektur des Gehirns als Modell für komplexe
Stadtstrukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neurobiologische Anmerkungen zum Wesen und zur
Notwendigkeit von Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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
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
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
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


Das Jahrzehnt des Gehirns
Der amerikanische Senat hat die neunziger Jahre zur decade of the
brain, zum Jahrzehnt des Gehirns, erklärt. Etwa zur selben Zeit
wurde das weltumspannende »human science frontier program« beschlossen, in dem die Förderung der Neurowissenschaften ebenfalls
beträchtlichen Raum einnimmt. Die Beweggründe für diese gezielte
Intensivierung der Hirnforschung sind ebenso vielfältig wie die
möglichen Folgen der erhofften Ergebnisse. Zunächst drängen medizinische Gründe. Die Geistes- und Gemütskrankheiten, so die
Schizophrenie und die Depression, entbehren bisher jeglicher kausaler Erklärung und Therapie. Obgleich sich die Hinweise mehren,
daß diese Erkrankungen auf fehlerhaften Funktionen des Gehirns
beruhen, also strukturelle und biochemische Ursachen haben, die
zum Teil sogar genetisch bedingt sind, ist es bisher nicht gelungen,
die Störungen einzugrenzen. Bei einer Gruppe anderer Erkrankungen sind Ort und Art der pathologischen Prozesse bekannt, es fehlen
jedoch wirksame Therapien. Dies gilt für die multiple Sklerose ebenso wie für eine Vielzahl degenerativer Erkrankungen des Zentralnervensystems. Die Alzheimersche Erkrankung, die wegen der steigenden Lebenserwartung immer bedrohlicher wird, gehört hierzu.
Diesen ungelösten Fragen stehen Erfolge bei Krankheiten gegenüber, die hoffen lassen, daß eine langfristig angelegte Grundlagenforschung schließlich zur Entwicklung kausaler Therapieverfahren
führen wird. Wir wissen, daß wesentliche Fortschritte bei der Behandlung von Epilepsien, Schmerzsyndromen, Angstzuständen und
der Parkinsonschen Erkrankung auf der Analyse zellulärer und biochemischer Prozesse im Gehirn beruhen. Und selbst die schwierige
Lage der Hirnverletzten und Schlaganfallpatienten könnte sich als
weniger ausweglos erweisen, als es zunächst scheinen mag. Man
entdeckte natürliche Substanzen, die das Wachstum von Nervenzellen kontrollieren. Mit ihnen lassen sich selbst nach Abschluß der
Hirnentwicklung regenerative Wachstumsvorgänge stimulieren.
Außerdem zeigte sich, daß auch Nervenzellen transplantierbar sind
und unter ganz bestimmten Bedingungen die Funktion zerstörter
Zellen übernehmen können.
Die Untersuchung der Hirnentwicklung brachte die überraschende und klinisch bedeutsame Erkenntnis, daß die strukturelle
Reifung des Gehirns höherer Säugetiere einschließlich des Men
schen bei der Geburt noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern
sich bis in die Pubertät fortsetzt. Während dieser Zeit erfährt die
Verschaltung verschiedener Hirnzentren noch eine tiefgreifende
Überformung. Die Grundverschaltung des Gehirns ist zwar genetisch festgelegt, doch werden zunächst Verbindungen im Überschuß angelegt. Während der postnatalen Entwicklung erfolgt dann
eine Auswahl der Verbindungen, die den funktionellen Anforderungen am besten entsprechen. Unpassende Verbindungen werden
unwiderruflich zerstört.
Aufregend ist, daß das heranwachsende Gehirn die Kriterien für
diesen Selektionsvorgang zum Teil aus der Interaktion mit seiner
Umwelt gewinnt. Wenn etwa die Augen während der ersten Lebensjahre wegen einer Hornhauttrübung nicht benutzt werden
können, werden die für den normalen Sehvorgang in der Hirnrinde
erforderlichen Verbindungen nicht optimiert. Die Patienten bleiben
blind, selbst wenn im Auge durch Hornhauttransplantation normale optische Bedingungen hergestellt werden. Das Gehirn hat gleichsam versäumt, die Strukturen auszubilden, die für die Interpretation von Signalen aus den Augen erforderlich sind. Ähnliches
scheint für alle kognitiven Funktionen zu gelten, so auch für den
Spracherwerb. Ein Beispiel dafür ist das Unvermögen des Japaners,
den Unterschied zwischen R und L zu hören. Diese Laute kommen
in seinem Sprachraum nicht vor. Entsprechend hat das Gehirn die
entsprechenden kognitiven Strukturen nicht optimiert. Japanische
Kinder, die in anderen Sprachräumen aufwachsen, »lernen« diese
Unterschiede natürlich mühelos. Das provoziert die spannende Frage, ob wir nicht alle für bestimmte kognitive Bereiche empfindungslos sind, weil wir während unserer Entwicklung keine einschlägigen Erfahrungen sammeln konnten. Vielleicht ist das einer
der Gründe, warum wir zwar alle lesen, schreiben und rechnen
können, nicht aber komponieren, malen und tanzen.
Nun hängt natürlich nicht alles von der Umwelt ab. In der genetisch vorgegebenen Grundverschaltung des Gehirns ist bereits erhebliches »Wissen« über die Welt repräsentiert, in welche das werdende Gehirn hineingeboren wird. Dieses Wissen wurde im Laufe
der Entstehung der Arten in den Genen gespeichert und drückt
sich in den angeborenen Verhaltensmustern aus. Aufgrund dieses
Vorwissens ist das junge Gehirn in der Lage, selbst Fragen an die
Umwelt zu stellen und die Informationen abzurufen, die es für
seine Entwicklung benötigt. Postnatale Hirnentwicklung vollzieht

sich also auf der Basis eines Frage-und-Antwort-Spiels, wobei das
werdende Gehirn meist die Initiative hat. Von außerordentlicher
Brisanz wäre es schließlich, wenn sich herausstellte, daß auch die
kognitiven Fähigkeiten, die wir für unser soziales Verhalten benötigen, über einen solchen Dialog entwickelt werden müssen.
Die medizinischen Perspektiven der Hirnforschung sind aber
nicht die einzigen Gründe für ein wachsendes gesellschaftliches Interesse an den Neurowissenschaften. So zeigte sich, daß künstliche
»intelligente« Systeme, die »Elektronengehirne«, bei all jenen Problemen versagen, die von natürlichen Gehirnen mit besonderer Eleganz und Leichtigkeit gelöst werden. Der Grund ist, daß die bisher
entwickelten Rechner- und Expertensysteme nach gänzlich anderen
Prinzipien organisiert sind als ihre natürlichen Vorbilder. Zwar lassen sich gewisse Analogien zwischen den logischen Funktionen einzelner Nervenzellen und den Schaltelementen in Rechnern herstellen; die Architekturen, in welche diese logischen Elemente jeweils
eingebettet sind, unterscheiden sich jedoch radikal. Da sich die
Organisationsprinzipien unseres Gehirns offenbar weder durch
Selbsterkenntnis noch durch angestrengtes Nachdenken erschließen
lassen, richtet sich die Hoffnung auf die Neurowissenschaften.
Eine weitere Attraktion der Hirnforschung liegt darin, daß natürliche Gehirne als ideale Modelle für das Studium von Wechselwirkungen in komplexen, sich selbst organisierenden Systemen erkannt werden. In keiner anderen uns bekannten Struktur sind so
viele Einzelelemente zu einem funktionstüchtigen Ganzen verkoppelt. Das Nervensystem ist »lebender Beweis« dafür, daß komplexe,
stark vernetzte Systeme stabile Zustände einnehmen können und
zu zielgerichtetem Handeln fähig sind, obgleich sie einer übergeordneten Steuerzentrale entbehren. Die Hoffnung ist nun, daß ein
vertieftes Verständnis des Gehirns helfen wird, jene Regeln zu erkennen, die zur Stabilisierung und Selbstorganisation hochkomplexer, dynamischer Systeme beitragen. Diese Regeln sind deshalb von
erheblicher Bedeutung, da ähnliche Organisationsprobleme in Ökound Wirtschaftssystemen, aber auch in sozialen Systemen auftreten.
Während die Erforschung anderer Organe ausschließlich Domäne der Biowissenschaften ist, stellt das Gehirn auch für Psychologen, Linguisten, Psychiater, Neurologen, Verhaltensforscher und Informatiker eine faszinierende Herausforderung dar. Bis vor wenigen
Jahren entwickelten sich diese Wissensgebiete jedoch recht autonom. Besonders tief war natürlich die Trennung zwischen den Ver
haltenswissenschaften und den biologischen Disziplinen. Insbesondere in Deutschland gab es bis vor einigen Jahren kaum Kontakte
zwischen Psychologen und Neurobiologen. Jetzt aber erfolgt Annäherung der verschiedenen Wissensgebiete, wodurch die Hirnforschung in eine besonders erkenntnisträchtige Phase eingetreten ist.
In Einzelfällen kann man jetzt für bestimmte Verhaltensleistungen von Tieren die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse über
die verschiedenen Ebenen hinweg bis hinunter zu den molekularen
Vorgängen fast lückenlos angeben. Ein besonders eindrucksvolles
Beispiel ist die Aufklärung von Lernmechanismen bei der Meeresschnecke Aplysia. Faszinierend ist besonders, daß die gleichen molekularen Abläufe auch in der Hirnrinde von Säugetieren gefunden
wurden, wo sie ebenfalls mit Lernvorgängen in Verbindung zu stehen scheinen. Ein weiterer Beweis, daß grundlegende und erfolgreiche »Erfindungen« in der Natur über die stammesgeschichtliche
Entwicklung der Arten hinweg beibehalten werden.
Auch Teilleistungen komplexer Gehirne konnten auf neuronaler
Ebene analysiert werden. Hierzu zählen die Vorverarbeitung von
Sinnessignalen, das Erkennen von Mustern, Lern- und Gedächtnisvorgänge und das Entwerfen von Handlungsfolgen. Mit Hilfe leistungsfähiger Rechenanlagen ließen sich zum Beispiel die Neuronengruppen orten, die eine Erinnerung an nur kurz sichtbare
Objekte ermöglichen und die sicherstellen, daß eine spätere Greifbewegung zu dem nun unsichtbaren Objekt dennoch zum Ziel
führt. Die entsprechenden Zellen werden aktiv, sobald das Objekt
erscheint, halten ihre Aktivität aufrecht, auch nachdem es wieder
verschwunden ist, und verstummen erst, wenn Minuten später die
Bewegung abläuft.
Den Hirnforschern wird es zunehmend möglich, auch für
menschliches Verhalten enge Beziehungen zwischen Struktur und
Funktion darzustellen. Ganz wesentlich war hierfür die Entwicklung bildgebender Verfahren. Dadurch lassen sich mentale Prozesse
wie das Aufrufen von Gedächtnisinhalten, das Vorstellen von Szenen, das stumme Sprechen und das Planen von Handlungen bestimmten Hirnregionen zuordnen. Psychologische Modelle über die
Struktur und Repräsentation kognitiver und mentaler Vorgänge
können auf diese Weise mit Abläufen im Gehirn in Verbindung
gebracht werden. So führt die Analyse von Gedächtnisleistungen
zu dem Schluß, daß es verschiedene Arten von Gedächtnis geben
müsse: ein prozedurales Gedächtnis, welches das Erlernen und Wie
deraufrufen motorischer Fertigkeiten, etwa Fahrradfahren, ermöglicht. Ein räumliches Gedächtnis, ohne das wir uns in einer bekannten Stadt nicht zurechtfinden könnten. Ein episodisches Gedächtnis, das uns erlaubt, eigene Erlebnisse zu erinnern, und schließlich
ein deklaratives Gedächtnis, das wir brauchen, um bekannte Objekte benennen zu können.
Neuropsychologische Untersuchungen haben nun tatsächlich gezeigt, daß diese verschiedenen Erinnerungsleistungen aufgrund von
Läsionen in unterschiedlichen Hirnregionen einzeln ausfallen können. Ein weiteres Beispiel liefert die Sprachforschung. Linguisten
kamen aufgrund sprachenanalytischer Untersuchungen zu dem
Schluß, daß es für die Repräsentation von Lexikon und Grammatik, für das Vokabular und das Regelwerk der Sprache verschiedene
funktionell unterscheidbare Module geben müsse. Diese sollten zudem für Erst- und Zweitsprachen unterschiedlich organisiert sein.
Neuropsychologen haben dies bestätigt und weitere unerwartete
Ergebnisse erzielt. So zeigte sich zum Beispiel, daß Eigennamen an
anderen Stellen gespeichert werden als funktionsbezogene Bezeichnungen und hier wiederum Begriffe für Lebewesen anders abgelegt
werden als Worte für unbelebte Objekte.
Die Konvergenz vormals getrennter Wissensbereiche findet in
zunehmendem Maße auch ihre institutionelle Verankerung in eigenen, interdisziplinär strukturierten Forschungseinrichtungen. In
den Vereinigten Staaten gibt es bereits zahlreiche Institute im Bereich der »neuroscience«. In Deutschland, sowohl in den alten wie
in den neuen Bundesländern, sind solche Einrichtungen jedoch
noch selten. Die Neurowissenschaften werden bei uns vorwiegend
von Lehrstühlen in den klassischen Disziplinen der Medizin und
Biologie vertreten, gelegentlich auch von biochemisch ausgerichteten Fachbereichen der Chemie. An psychologischen Instituten fehlen sie fast ganz. Dagegen haben sich an vielen physikalischen Instituten neuerdings Arbeitsgruppen konstituiert, die auf dem Teilgebiet »theoretische Neurobiologie« tätig werden. Hier mangelt es
jedoch meist an der Verbindung zur Biologie. Entsprechend verschlungen sind oft die Wege, über die Studenten den Zugang zur
Hirnforschung finden. Es scheint an der Zeit, darüber nachzudenken, ob wir das fächerübergreifende Unternehmen Hirnforschung
nicht durch einen eigenen Studiengang und durch multidisziplinäre
Hirnforschungsinstitute besser koordinieren sollten.
Die Tatsache, daß im Bereich der Hirnforschung immer häufiger
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