Warum ich Buddhist bin und weshalb Sex, Steaks und

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Leseprobe aus:
Stephen T. Asma
Warum ich Buddhist bin und weshalb Sex,
Steaks und Whisky dazugehören
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Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Inhalt
Dank 11
Einführung 13
Ein Chicago-Buddhismus 15
«Angeborener» und «erlernter» Buddhismus 16
Der Dharma in unserer Konsumkultur 18
Die Musik hören lernen 19
1
Eine höhere Seinsstufe für meine kleine Seele:
Die Entdeckung des Transzendenten 23
Vor den Pforten der Wahrnehmung 26
Die transzendente Verlockung 33
Der neue ist der alte Boss 36
Die ethische Leistungsgesellschaft 39
Der Buddha aß Fleisch 42
Zen-Buddhismus oder die Faszination des Hier und Jetzt 44
2
Den Everest der Begierden erklimmen:
Buddhismus und Eros 49
Die Chemie der romantischen Sehnsucht 50
Eine neue Art der Meditation 55
Die Vier Edlen Wahrheiten 60
Seinen Frieden mit dem Körper machen 64
Die kulturelle Trennung von Partnerschaft und Leidenschaft 66
Machtpolitik und der Krieg der Geschlechter 69
Unsere erste Bindung 73
Der Buddhismus und das gebrochene Herz 76
3
Sich im Nicht-Selbst üben:
Buddhismus und Elternsein 79
Ein künstlerischer Buddhismus 83
Das Lotus-Sutra, die Sechs Vollkommenheiten
und die Realität moderner Elternschaft 87
Elterliches Leid und unrealistische Erwartungen 92
Weisheit: Familie geht über Religion 94
Eine rückschrittliche soziale Karte? 100
Die Äonen-Perspektive 105
4
Wissenschaft ist Mystizismus – auch ohne faulen Zauber 109
Kontra magisches Denken 110
Die gefürchtete Quantenmystik 114
Zurück zur Realität: Das buddhistische Bild vom Bewusstsein 120
Keine Ketzer weit und breit 129
Auch Roboter brauchen Erleuchtung 132
Die Wissenschaft des Karmas und der Wiedergeburt? 134
5
Jack Kerouac, Haiku, Charlie Parker
und die Suche des Künstlers 141
Die Leere zwischen den Pinselstrichen 143
Das Leben selbst ist ein Kunstwerk 146
Buddha trägt Barett:
Amerikanische Künstler entdecken den Dharma 147
Der fromme Jack 150
«Verrückte Weisheit» und künstlerisches Bewusstsein 156
Bewusstsein und Mitgefühl 157
Der Buddhismus und die Außenseiter 159
Kritischer und kreativer Buddhismus 161
Die Wahrheit in der Kunst 164
6
Arbeit: Wohlstand und Wert 167
Mobber am Arbeitsplatz kaltstellen 170
Und dann wäre da noch die Arbeit selbst 176
Das liebe Geld 178
Die Seifenblase des Vergessens 181
Wie man achtsam zu Ruhm und Vermögen kommt 185
Das Zen der Berufung: Vergessen Sie die Groupies
und konzentrieren Sie sich auf das, was Sie können 188
7
Dharma und das globale Dorf 197
Der kulturelle Buddhismus 199
Die vier großen Angriffe auf den Buddhismus 204
Power-Buddhismus 206
Der fünfte Angriff:
Missionarische Opportunisten in Kriegsgebieten 211
Chinas Tsunamis und ihr Einfluss auf
buddhistische Traditionen 214
Wo wird der Buddhismus im Kampf
der Kulturen seinen Platz finden? 217
Die Musik 221
Dank
Wie bei all meinen Büchern schulde ich meiner Familie auch bei
diesem großen Dank für ihre Unterstützung – meinen Eltern Ed
und Carol, meinen Brüdern Dave und Dan und dem ganzen,
­großen Asma-Clan.
Dieses Buch ist auf Initiative meines Lektors Greg Brandenburgh entstanden, und ich möchte ihm für die Gelegenheit danken, meine Ideen noch präziser zu formulieren. Caroline Pincus
half mir, die Gliederung des Buches zu verbessern. Die Mängel,
die es jetzt noch hat, habe allein ich zu verantworten.
Ich danke Steve Kapelke, Hochschulleiter des Columbia College; meiner Fakultätsvorsitzenden Lisa Brock sowie Dechantin
Cheryl Johnson-Odim und Deborah Holdstein. Und ein Kompliment an meine übrigen Freunde am Columbia College, darunter
Sara Livingston, Garnet Kilberg Cohen, Kate Hamerton, Teresa
Prados-Torreira, Micki Leventhal, Oscar Valdez, Krista Macewko
und Baheej Khleif. Ein besonderer Dank geht an meine wunderbaren Kollegen aus dem Lesekreis, Tom Greif und Rami Gabriel.
Unsere zahlreichen Lesungen und Diskussionen haben indirekt
geholfen, dieses Buch Gestalt annehmen zu lassen. Und die gewonnenen Freundschaften sind ohnehin von unermesslichem
Wert.
Andere verdienen ebenfalls Dank: Alex Kafka, Kendrick Frazier, Raja Halwani, Gianofer Fields, Pei Lun, Michael Shermer,
Donna Seaman, Jim Graham, Jim Krantz, Harold Henderson,
Doctor Swing und die unschätzbare Academy of Fists.
Schließlich möchte ich noch meine größte Liebe erwähnen:
meinen Sohn Julien. Tom Wolfe hat einmal über einen Sohn geschrieben, der
die schreckliche Entdeckung machte, die Männer früher oder später in Bezug auf ihre Väter machen, nämlich
11
dass der Mann vor ihm kein alternder Vater war, sondern
ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie er selbst, ein kleiner Junge, der groß geworden war und nun selbst ein Kind
hatte und so gut er konnte und aus Pflichtgefühl und vielleicht auch aus Liebe eine Rolle annahm, die «Vater» hieß,
damit sein Kind etwas Mythisches und unendlich Wichtiges hatte: einen Beschützer, der all die chaotischen und katastrophalen Möglichkeiten des Lebens im Auge behalten
würde.
Mein Sohn wird das erst in vielen Jahren entdecken, und bis dahin, hoffe ich, dass das Mythische schön das Seinige tun wird.
Einführung
Warum ich Buddhist bin. Wenn ich dieses Buch in einer Buchhandlung sehen würde, wäre ich vielleicht versucht zu denken:
«Mir doch egal. Von dem hab ich noch nie was gehört.» Mög­
licherweise würden die Leute neugieriger reagieren, wenn ich
Richard Gere oder Tina Turner heißen würde. Aber auch dann
würde man wahrscheinlich erst wissen wollen, warum man selbst
Buddhist werden oder sich für den Buddhismus erwärmen sollte.
Warum sollte sich überhaupt jemand für den Buddhismus interessieren? Wie können wir von den Lehren eines indischen Philosophen aus dem sechsten Jahrhundert profitieren? Dies sind die Fragen, die sich im Titel dieses Buchs andeuten. Dies sind die Fragen,
die ich beantworten möchte. Der Titel dieses Buchs spielt auf Ber­
trand Russells berühmtes polemisches Werk Warum ich kein Christ
bin an. Ob positiv oder negativ, Lob- oder Abgesang – derartige
Bücher unternehmen den Versuch, die Essenz oder die Kern­
gedanken einer Weltanschauung zu skizzieren. Sie sind breit angelegt und doch – hoffentlich – zielgenau. Ausnahmen von meinen
Verallgemeinerungen werden unvermeidbar sein, und dem Eingeweihten wird das Fehlen seiner eigenen buddhistischen Lieblingsgeschichten, -denker oder -texte sauer aufstoßen. Nichtsdesto­
trotz sollte, unabhängig von den Mängeln seines Formats, ein
solches Buch idealerweise zwei Zielsetzungen erfüllen: zunächst
dem Neuling fremde Ideen vermitteln und zum Zweiten dem
­alten ­Hasen neue Denkanstöße geben.
13
Der dritte mögliche Zweck eines so persönlichen Buchs ist zu
zeigen, wie man theoretische Unterweisungen in der Praxis anwendet. Jeder weiß, dass es nicht dasselbe ist, von etwas zu reden bzw. zu lesen und es dann selbst zu tun. Jeder wird ein wenig
anders damit umgehen. Aber ein Vorzug solcher Bücher ist, dass
sie dem Leser ein (wenn auch höchst mangelhaftes) Muster anbieten, wie sich die abstrakten Lehren des Buddhismus in konkrete,
brauchbare Lebensstrategien übersetzen lassen.
Anscheinend wirke ich als Buddhist merkwürdig. Wann immer ich erwähne, dass ich es bin, reagieren die Leute ungläubig.
Offenbar sollte ich kleiner sein, gedämpfter sprechen und mich
mit Hippiegirlanden behängen. Viele Abendländer, die sich dem
Buddhismus zugewandt haben, sind auffallend humorlose Konsumenten von braunem Reis und sehen so aus, als würden sie
beim Aufwachen jeden Morgen nein zum Leben sagen. Kurzum,
sie sind masochistische Persönlichkeiten. Aber dieser Umstand
sollte nicht gegen den Buddhismus verwendet werden. Menschen dieses Schlags würden auch jede andere Religion auf dieselbe freudlose Weise praktizieren. Ich zähle nicht zu diesen bierernsten Buddhisten. Ich bin kein Mönch und gehöre auch keinem
Tempel an. Ich habe den Buddhismus bei einigen wunderbaren
Gelehrten und Praktizierenden studiert und ihn selbst viele Jahre
lang in den Vereinigten Staaten und Asien unterrichtet – und dennoch halte ich Gurus für Spinner. Ich trinke wahrscheinlich zu
viel, und ich kann mich nicht im Mindesten für sexuelle Enthaltsamkeit erwärmen. Ich mag Baseball, und ich esse Fleisch. Wenn
jemand wie ich Buddhist sein kann … dann, glauben Sie mir,
können Sie das auch.
14
Ein Chicago-Buddhismus
In einem meiner früheren Bücher habe ich erwähnt, dass es eines meiner erklärten Ziele sei, «Kalifornien aus dem Buddhismus
zu verbannen». Natürlich habe ich mich damit bei einigen Kaliforniern in die Nesseln gesetzt, und es hat mir anscheinend auch
die Zuneigung diverser miesepetriger Zyniker eingetragen. Aber
täuschen Sie sich nicht – ich mag Kalifornien und die Kalifornier.
Nur wird leider mittlerweile das Klischee ihrer arglosen, sonnigen
Begeisterung für absolut alles unvermeidlich mit östlicher Spiritualität assoziiert. Beatniks und Hippies waren schon immer vom
Buddhismus fasziniert. Aber Hollywoodstars und Künstler aus
San Francisco haben ihm noch einmal eine ganz neue Dimension
der Leichtgläubigkeit verpasst.
Ich habe versucht, ein Gegengewicht zu diesen Hippie-Assoziationen anzubieten, indem ich einen «Chicago-Buddhismus der
Arbeiterklasse» vorschlug. Der Dichter Carl Sandburg hat Chicago
bekanntermaßen als die «Stadt der breiten Schultern» bezeichnet.
Er nannte sie «stürmisch, rüde, lärmerfüllt». Und trotzdem hielt
er den Kritikern der Stadt spöttisch entgegen: «Kommt und zeigt
mir eine andere Stadt, die hoch erhobenen Hauptes singt und so
stolz ist zu leben und derb und stark und durchtrieben.»
Natürlich hat der Ruf nach einem Chicago-Buddhismus nicht
viel mit geographischen Gegebenheiten zu tun, sondern eher mit
einer geistigen Haltung und Einstellung. Ich will meinen Lesern
vermitteln, dass man keine Hippiewerte verinnerlichen muss, um
Buddhist zu werden. Und natürlich ist dies auch ein Weckruf für
all jene Körnerfresser, die glauben, dass ihnen schon allein ihre
Gebetsketten und New-Age-CDs einen guten Draht zum Dharma
sichern.
15
«Angeborener» und «erlernter» Buddhismus
Wie viele westliche Buddhisten habe ich die fundamentalen Lehren des Dharma begriffen, indem ich einschlägige Bücher las. Die
meisten westlichen Buddhisten entstammen monotheistischen
Familien, und wir haben unseren Buddhismus eher über das gedruckte Wort denn im Tempel oder Wat oder Schrein entdeckt.
Religionen sind wie Sprachen – jeder hat eine Muttersprache, die
er ohne bewussten Aufwand erlernt und wie den Sauerstoff aus
der Luft eingesogen hat. Aber wenn wir Glück haben, können wir
uns eine zweite Sprache aneignen, indem wir ihre Grammatik studieren und uns ihr Vokabular einprägen, bis wir uns in einer völlig
neuen Sphäre wie zu Hause fühlen. Für Westler ist der Buddhismus zum Teil wegen seines exotischen Charakters so anziehend.
Vom Christentum zum Islam überzutreten oder umgekehrt ist
ein Einschnitt, aber nicht so dramatisch, wie zum Buddhismus zu
konvertieren. Die metaphysischen Grundsätze von Islam, Christentum und Judentum ähneln einander überraschend, selbst wenn
ihr unterschiedlicher Umgang mit dem Thema Messias bzw. Propheten eine Chronik des Blutvergießens nach sich zog. Aber die
metaphysischen Ideen des Buddhismus haben nichts mit dem
westlichen Monotheismus gemein, und das östliche Glaubenssystem übt eine unleugbare Anziehungskraft auf unkonventionelle
westliche Geister aus. Für meine Generation bestand der Zauber
des Buddhismus unter anderem auch darin, dass er unseren Eltern
Rätsel aufgab und sie irritierte. Zum Glück gibt es bessere Gründe
dafür, Buddhist zu werden, als seine Eltern ärgern zu wollen – ansonsten wäre dies ein sehr dünnes Buch geworden. Und es wird sicher lustig zu beobachten, wie unsere Kinder über den Buddhismus, den wir uns in zweiter Instanz angeeignet haben, gähnen,
um vielleicht ihrerseits zu rebellieren, indem sie sich kopfüber in
den Monotheismus ihrer Großelterngeneration stürzen.
Aus Büchern zu lernen stellte jedoch nur die erste Phase mei16
ner Annäherung an den Buddhismus dar. In der Folge hatte ich
das große Glück, die Dharma-Traditionen in Thailand, Laos,
Kambodscha, Vietnam und China studieren zu können. In diesen Ländern ist der Buddhismus die religiöse «Muttersprache» der
Menschen. Wie ich mein Christentum haben sie ihren Buddhismus mit der Muttermilch in sich aufgenommen und sind mit ihm
durch eine fast unbewusste kulturelle Vertrautheit verbunden. Der
Buddhismus ist keine exotische Religion für sie. Ihm haftet nicht
die Anziehungskraft des Unkonventionellen an. Und sie lernen
ihn nicht aus Büchern, sondern absorbieren ihn im alltäglichen
Leben. Sie sind Buddhisten von klein auf.
Der Buddhismus besitzt bei diesen beiden Anhängergruppen –
den geborenen und den «adoptierten» – zwei ganz verschiedene
Gesichter. Westler neigen dazu, die psychologischen Aspekte dieser Religion hervorzuheben, und legen besonderes Gewicht auf
die Meditation. Im Gegensatz dazu meditieren geborene Buddhisten in der Laienbevölkerung nur selten und grübeln ebenso wenig
über Psychologie nach; stattdessen pflegen sie die praktischen und
rituellen Seiten ihrer Religion.
In diesem Buch werde ich versuchen, einige interessante Abweichungen zwischen «angeborenem» und «erlerntem» Buddhismus herauszuarbeiten. Dies wird uns helfen, zahlreiche verwirrende und widersprüchliche Merkmale zu entschlüsseln, die sich
hinter dem Etikett «Buddhismus» verbergen. Wie ist es zum Beispiel möglich, dass friedfertige Mönche wie der Dalai Lama, aber
auch ausgezeichnete Kung-Fu-Meister ebenso wie japanische Kalligraphen, Mantren singende Mystiker, nüchterne Atheisten, asketische Vegetarier und skrupellose Fleischesser unter ein und
derselben Flagge des Buddhismus segeln? Ich werde versuchen,
diesen komplizierten Knoten ein wenig zu lockern, wo immer es
sinnvoll erscheint. Aber im Großen und Ganzen wird es mir um
die philosophischen Kernideen des Siddhartha Gautama Buddha
(um 563 bis um 483 v. Chr.) gehen.
17
Der Dharma in unserer Konsumkultur
Der Buddhismus verfügt über diverse Kernelemente, auf denen
seine Lebensanschauung aufbaut. Sie gehen nicht nur auf die charismatische Person Buddhas zurück, sondern haben sich mittels
Diskussion und Beweisführung als überprüf- und belegbare Wahrheiten herausgebildet. Als solche ließen sie sich von jedem bestätigen, der sich die Mühe machte, sie zu hinterfragen. In diesem
Sinne ist der Buddhismus kein System von Vorstellungen, das man
annimmt, indem man daran glaubt, sondern ein System aus Praktiken und Annahmen, die wir für uns prüfen und dann bei unserem Streben nach einem sinnvollen Leben anwenden können.
Ich werde Schritt für Schritt diese Kernelemente des Buddhismus (die man im Allgemeinen als den Dharma bezeichnet) darlegen, indem ich das Augenmerk auf einige Herausforderungen
unseres modernen Lebens lenke. Wie lässt sich der Buddhismus
am Arbeitsplatz anwenden? Inwiefern kann sich der Buddhismus
auf unser zunehmendes moralisches Dilemma in der Biotechnologie (Gentherapie, Stammzellenforschung, Psychopharmakologie, Nanotechnologie usw.) günstig auswirken? Inwiefern kann
der Buddhismus uns im «Krieg der Geschlechter» und bei der derzeit stattfindenden Neudefinition der Familie helfen? Inwiefern
kann der Buddhismus, der so großen Wert auf Konfliktbewältigung legt, zur Klärung von Fragen wie Staatenbildung, religiöse
Toleranz und Antiterrorkrieg beitragen? Und inwiefern kann der
Buddhismus unsere Lieblingsfreizeitbeschäftigungen – Unterhaltung und Konsum – in gemäßigtere Bahnen lenken? Die Weisheit
des Buddhismus gibt uns ein Ruder an die Hand, mit dem sich
selbst die schwierigsten Klippen des modernen Lebens umschiffen lassen.
Während ich an diesem Buch schrieb, ging eine Meldung durch
die Presse – dieselbe Meldung, die in den Vereinigten Staaten jedes Jahr um Thanksgiving die Medien füllt. Der auf den Feiertag
18
folgende Tag – der Black Friday – wird als Hochfest des Konsums
zelebriert. Die Verbraucher stehen schon die ganze Nacht vor den
Geschäften Schlange, und wenn sich die Türen öffnen, trampeln
die Kunden im Kaufrausch einander im Massenansturm auf die
heiß ersehnten Konsumartikel regelrecht nieder. Diesmal kam dabei ein Angestellter zu Tode. Als die Kunden dieses Geschäfts von
der Tragödie erfuhren, scherten sie sich nicht um die Bemühungen des Managements, den Laden zu schließen, und wollten weiter shoppen – sie weigerten sich einfach zu gehen. Aus dem Rest
des Landes wurden zahlreiche weniger folgenschwere Verletzungen vermeldet. Während die Medien und andere kulturelle Organe
über den Todesfall und die Verletzungen berichteten, stellte man
mit keiner Silbe die ideologische These dahinter – dass schrankenloser Konsum gesund für Amerika sei – in Frage oder übte
gar Kritik daran. Wenn noch jemand daran zweifeln sollte, ob der
Buddhismus uns Westlern etwas bieten kann, empfehle ich, sich
auf YouTube ein paar deprimierende Videos von Menschen anzusehen, die sich gegenseitig niedertrampeln, nur um einen Fernseher oder ein Videospiel zu ergattern.
Die Musik hören lernen
Ich bin der Ansicht, dass der Buddhismus – obwohl er auf der
anderen Seite des Planeten entstand – auch für uns von Bedeutung ist und uns etwas zu sagen hat. Doch wahrer Buddhismus
ist nichts für Amateure – was heißt: Man kann ihn nicht eine Woche lang «testen» und ihn dann wieder verwerfen. Ich will damit
nicht sagen, dass wir alle unser Hab und Gut verkaufen und in
den thailändischen Dschungel ziehen sollen, um zu zeigen, wie
ernst es uns mit dem Buddhismus ist. Doch er ist auch keine Philosophie, die man nach Belieben an- und abstellen oder sich mühelos aneignen kann. Zu lernen, den Buddhismus in sein Leben
19
zu integrieren, kommt dem Erlernen eines Instruments nahe. Es
dauert eine Weile, bis man die Grundlagen beherrscht – Tonleitern, Akkorde und Fingersatz. Dann muss man täglich Melodien
und Läufe üben. Wiederholte Misserfolge und Frust werden sich
nicht vermeiden lassen, aber ganz langsam beginnt man doch,
tatsächlich Musik herauszuhören. Wir müssen keine Virtuosen
auf unserem Instrument werden oder buddhistische Weise, um
diese Kunstform schätzen zu lernen und in unser Leben zu integrieren; aber wir werden gar nichts erreichen, wenn wir uns nicht
bemühen.
Vom Buddha ist ein Gleichnis überliefert (Sedaka Sutta, SN
47.20), das zeigt, wie schwierig, anstrengend und fast widernatürlich es ist, den Zustand der Achtsamkeit im täglichen Leben zu erreichen. Stellt euch vor, sagt er, ihr kommt an einen Platz in der
Stadt, auf dem sich eine große Menschenmenge um eine Bühne
versammelt hat. Die Menge tobt, weil soeben eine wunderschöne
Frau die Bühne betreten hat und nun einen aufreizenden Tanz
darbietet. Natürlich werdet auch ihr die aufregende Vorstellung
sehen wollen, doch bevor ihr einen Blick darauf erhaschen könnt,
werdet ihr zur Seite gezogen. Man lässt euch wissen, dass ihr eine
Schüssel, die bis zum Rand mit Öl gefüllt ist, auf dem schmalen
Pfad zwischen Bühne und Menschenmenge auf dem Kopf balancieren müsst. Ein Mann mit gezogenem Schwert wird direkt hinter euch gehen und euch den Kopf abschlagen, wenn ihr auch nur
einen Tropfen verschüttet.
Im Anschluss an diese sonderbare Geschichte fragt uns der
Buddha, ob wir uns von der gefährlichen Ölschüssel ablenken lassen würden. Ganz offensichtlich müssen wir den Kopf hinhalten,
daher steht viel auf dem Spiel. Aber es ist genau diese intensive
Konzentration und Hingabe, die wir für die achtsame Meditation
(sati) brauchen. Die Bedrohung durch das Schwert ist eine künstliche Metapher, die für die drastische Neuausrichtung unserer
Werte und unseres Handelns steht – weg von Verlangen und eit20
ler Neugier hin zu Bewusstsein und Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment.
Der geübte Geist kann sich von Ablenkungen und Sehnsüchten unabhängig machen, aber normalerweise wird der Geist durch
Versuchung, Erregung und Zerstreuung auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Der Gedanke, den Blick auf eine schöne Frau (oder
einen schönen Mann) zu vermeiden, wenn wir uns ganz klar von
dieser Person angezogen fühlen, mag ziemlich puritanisch klingen. In dem Gleichnis geht es auch gar nicht darum, Schönheit
schlechtzumachen, sondern die Spannung zwischen natürlicher
Neigung und Disziplin aufzuzeigen. Es ist ganz natürlich, schöne
Menschen anzuschauen, und der Buddhismus fordert keineswegs
den Verzicht auf solche harmlosen Freuden. Ich vermute, allein
schon unsere Biologie sorgt dafür, dass wir einen raschen Blick
auf jede attraktive Erscheinung werfen – so ein Radarsystem hatte
wahrscheinlich seine evolutionären Vorzüge für unsere Vorfahren. Aber wenn ich gar nicht anders kann, als ein Model auf der
Straße anzustarren, dann habe ich einen Knopf überdreht. Ich
bin zum Sklaven meiner eigenen Lust geworden, anstatt der Herr
über sie zu sein. Ich bin ferngesteuert, anstatt selbst die Führung
zu übernehmen.
Natürlich ist dieses Beispiel des schweifenden Blicks ziemlich
banal. Jeder Ehemann, den ich kenne, ist ein wahrer Meister im
spontanen Erblinden, wenn er mit seiner wachsamen Gattin auf
der Straße anderen schönen Frauen begegnet. Und sollte er noch
nicht genug geübt haben, wird seine Frau sicher frohlockend als
Lehrerin einspringen, die ihn bei Bedarf einen Kopf kürzer macht.
Aber wie banal dieses Beispiel auch sein mag, wir erkennen doch
die psychologische Spannung zwischen Begierde und Disziplin.
Der Buddhismus versucht, uns eine zweite Natur zu vermitteln – eine Natur, die den alten genetischen und psychologischen Code überschreibt. Er verlangt niemals von uns, so zu tun,
als würde der alte Code nicht mehr existieren. Anders als andere
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Religionen hält er uns keine Menschen in realitätsferner Engelsgestalt vor Augen. Noch kanzelt er uns als schwache und gefallene Seelen ab, unfähig, uns zu bessern, es sein denn durch die
Gnade einer allmächtigen Gottheit. Der Buddhismus akzeptiert,
dass wir schädliche Anteile in uns tragen, aber auch, dass wir unseren Geist dahingehend disziplinieren können, uns von unserer
Neigung, Leiden zu verursachen, zu befreien. Der Nutzen dieses
Denkansatzes wird in unserer Gefühlswelt, im Sozialen und in unserem spirituellen Leben erkennbar. Einer der Hauptgründe dafür,
dass wir unsere anvisierten Ziele nicht erreichen, liegt zum Beispiel darin, dass unsere Begierden uns vom Weg abbringen. Unser eigenes Potenzial zu verwirklichen ist schon ein großer Schritt
hin zum Glück. Der Buddhismus unterstützt uns darin, realistische Ziele anzusteuern, und gibt uns Werkzeuge an die Hand, die
uns helfen, auf Kurs zu bleiben.
Diese zweite Natur der Achtsamkeit zu erlangen könnte letzten
Endes von ebensolcher Bedeutung sein, wie die Schüssel mit Öl
still zu halten; doch zum Glück dürfen wir alle einen zweiten Anlauf wagen, wenn wir den ersten Versuch in den Sand gesetzt haben. Was schöne Frauen und viele andere Versuchungen angeht,
habe ich das Öl bereits unzählige Male verschüttet. Aber ich habe
auch Kraft und Freiheit aus meiner Fähigkeit geschöpft, mein Tun
zu kontrollieren, bevor es mich kontrolliert.
Dieses Buch wird nicht mit gezücktem Schwert hinter Ihnen
stehen. Ich bin nicht zu Gericht über mich gesessen und will das
selbstverständlich auch nicht bei Ihnen tun. Ich plädiere für eine
sanfte, aber nachhaltige Umsetzung des Dharma – des Mittelweges
zwischen religiösem Fanatismus und spiritueller Gleichgültigkeit.
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