John Rawls: Die Kooperation zwischen den Weltanschauungen und der übergreifende Konsens »Indem wir eine politische Gerechtigkeitskonzeption so anlegen, dass ein übergreifender Konsens über sie möglich ist, passen wir sie nicht der existierenden Unvernunft an, sondern dem Faktum eines vernünftigen Pluralismus.« (John Rawls: Politischer Liberalismus (1993), Frankfurt/Main 1998, S. 232) »Der langjährige Harvard-Professor John Rawls – geboren 1921 in Baltimore im USBundesstaat Maryland und 2002 gestorben – antwortet mit Eine Theorie der Ge- rechtigkeit primär auf die Herausforderung der sozialen Ungleichheit, die die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder verunsichert, also letztlich auch auf den Krieg der Ideologien. In vielen Ländern breiten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diktatorische Regime aus, die die demokratische Welt bedrohen. Demokratien, so regelmäßig die Vorwürfe von Linken bis Rechten, dienen allein der Herrschaft des Kapitals und kleiner Eliten, können die Bedürfnisse der Mehrheit der Bürger nicht befriedigen oder verwirklichen nicht das Gemeinwohl. Nach dem Zusammenbruch der faschistischen Regime enthüllt die kommunistische Welt ihr totalitäres, unmenschliches Antlitz, gelingt es Diktaturen jedweder Couleur keinesfalls, Gemeinwohl und Bürgerinteresse miteinander in Einklang zu bringen, geschweige denn, die Herrschaft des Kapitals auch nur einzudämmen. Doch vor dem Hintergrund von Bürgerrechtsbewegungen, einem so vergnügungssüchtigen wie geistlosen Konsumzwang und dem Drama des Vietnamkriegs gerät das westliche Modell der modernen Demokratie in den Sechzigerjahren erneut massiv in die Kritik: Demokratien sollen einerseits die soziale Ungleichheit verschärfen, andererseits drohen sie dadurch ihre Stabilität zu verlieren. Formulierte die Kritik an der Demokratie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts primär antidemokratische Forderungen, wurde ihr in der zweiten eher vorgehalten, die Verhältnisse, die sie schaffe, seien längst nicht demokratisch genug. Geht es also – wie die Kritik an der westlichen Welt der Sechzigerjahre unterstellt – in den Demokratien ungerecht zu, weil sie die soziale Ungleichheit nicht abzubauen vermögen? Was aber bedeutet überhaupt Gerechtigkeit? 1 Wie schon in einem frühen Aufsatz aus dem Jahr 1958, der wesentliche Vorarbeiten zu seiner späteren Theorie leistet, als auch im letzten zusammen-fassenden Neuentwurf aus dem Jahr 2001 antwortet Rawls darauf mit dem so markanten wie wegweisenden Titel Gerechtigkeit als Fairness: Fair verhält man sich, wenn man Vorteile und Freiheiten, die man genießt, auch den Mitbürgern zugesteht; wenn man Rechte eben nur unter der Voraussetzung beansprucht, auch die dazu nötigen Pflichten zu erfüllen. Rawls beschreibt den Grundgedanken der Fairness folgendermaßen: ›Nehmen mehrere Menschen an einem gegenseitig nutzbringenden gemeinsamen Unternehmen nach gewissen Regeln teil und beschränken damit ihre Freiheit, so haben diejenigen, die sich diesen Beschränkungen unterwerfen, einen Anspruch auf entsprechende Unterwerfung bei denen, die davon Vorteile haben.‹1 Fairness beruht also primär auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Mit dieser Reziprozität entwickelt Rawls seinen Leitgedanken, der zweifellos auch zum Leitgedanken des Weltethos-Diskurses zählt, wenn beispielsweise die Goldene Regel an eine zentrale Stelle der Erklärung der Menschenpflichten rückt.«2 »Ergreift das Modell der Gerechtigkeit als Fairness [...] nicht Partei für die moderne westliche Lebensform, die es offen favorisiert? [...] In der Tat sieht sich Rawls nicht zuletzt durch den sich wandelnden Zeitgeist in den folgenden Jahrzehnten gezwungen, seine Ideen dramatisch zu verändern. Er erkennt, dass Eine Theorie der Gerechtigkeit im Krieg der Weltanschauungen einen unhaltbaren Anspruch entwickelt. So begann er in den achtziger Jahren mit einer grundlegenden Revision seiner Theorie in mehreren Aufsätzen, die er 1992 auf Deutsch in dem Sammelband Die Idee des politischen Liberalismus erschienen sind. In der ausgearbeiteten und strukturierten Form einer Vorlesungsreihe veröffentlichte John Rawls 1993 in den USA dieses neue Konzept unter dem programmatischen Titel Political Liberalism.«3 »›Die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness [...] achtet so weit wie möglich die Ansprüche derjenigen, die in Übereinstimmung mit den Vorschriften ihrer Religion wünschen, von der modernen Welt Abstand zu halten, vorausgesetzt nur, dass sie 1 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt/Main 1979, S. 378 Hans-Martin Schönherr-Mann, Miteinander leben lernen, München 2008, S. 296ff 3 Ebd., S. 304 2 2 ihrerseits die Grundsätze der politischen Gerechtigkeitskonzeption anerkennen.‹4 Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption gestaltet daher den Rahmen des vernünftigen Pluralismus bzw. fragt danach, welche Weltanschauungen sich kooperationsbereit und somit vernünftig verhalten. Können aber die Bürger wirklich gleichzeitig ihren Weltanschauungen folgen und sich auf eine gerechte politische Ordnung einlassen? Wäre das die Lösung des Problems, wie wir lernen, miteinander zu leben? Als Antwort entwickelt der politische Liberalismus ein Ideal, das nicht mehr bis in die Konzeption des Guten, also in den Bereich der Weltanschauungen reicht, sondern sich auf der politischen Ebene der Gerechtigkeitskonzeption ansiedelt: Vernünftige umfassende Lehren sollen sich nicht nur damit zufrieden geben, andere zu tolerieren, sondern selber einen übergreifenden Konsens wünschen – der leitende Begriff in Rawls’ Spätwerk. Aus eigener Einsicht heraus erachten sie einen übergreifenden Konsens für notwendig, gerecht und gut. Sowohl vernünftige Weltanschauungen als auch der politische Liberalismus verstehen dann den übergreifenden Konsens nicht als notwendiges Übel, sondern als eine positive moralische Chance, um die pluralistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren.«5 4 5 John Rawls, Politischer Liberalismus (1993), Frankfurt/Main 1998, S. 298 Schönherr-Mann, Miteinander leben lernen, S. 309 3