Das Neutrino‐Experiment Borexino Botschafter aus dem Sonnenkern Blick in das Herz der Sonne Was sind Neutrinos? Neutrinos aus der Sonne Neutrinos gehören zu den sogenannten Elementarteilchen, die nach heutigem Wissensstand „elementar“, d.h. unteilbar sind. Das Standardmodell der Teilchenphysik kennt 12 Arten: 6 Quarks, aus denen Protonen und Neutronen, die Bestandteile der Atomkerne, aufgebaut sind, und 6 Leptonen, zu denen das Elektron, seine schwereren „Geschwister“ Myon und Tauon sowie die Neutrinos gehören. Es gibt drei Arten von Neutrinos, die jeweils den übrigen geladenen Leptonen zugeordnet sind (elektronisches, myonisches und tauonisches Neutrino). Ein Leben auf der Erde ist ohne die Sonne nicht denkbar, sie spendet Licht und Wärme. Die Energie dafür entsteht im Sonnenkern, einem gigantischen Fusionsreaktor: Bei etwa 15 Millionen Grad verschmelzen hier in einem komplizierten Reaktionszyklus je vier Protonen zu einem Heliumkern, wobei auch Neutrinos entstehen. In jeder Sekunde werden 4 Millionen Tonnen Materie in Energie (E = mc2) umgewandelt, und die Strahlungsleistung an der leuchtenden Oberfläche (Photosphäre) beträgt etwa 63 Megawatt pro Quadratmeter; bis zum Abstand der Erde verdünnt sich diese Leistung auf die bekannte „Solarkonstante“ von 1370 Watt pro Quadratmeter. Gegenüber dieser Photonenflut nehmen sich die Neutrinos bescheiden aus, aber immerhin durchdringen in jeder Sekunde jeden Quadratzentimeter unseres Körpers ca. 70 Milliarden dieser Teilchen, was die Sonne für uns zur hellsten natürlichen Neutrinoquelle macht. Neutrinos haben bemerkenswerte Eigenschaften: Sie sind elektrisch neutral (Name) und spüren von den vier Grundkräften der Physik (Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Wechselwirkung) nur die schwache Wechselwirkung und die Gravitation. Letztere spielt keine Rolle, da die Neutrinomasse verschwindend klein ist (mind. einige 100.000mal kleiner als die Masse des bereits sehr leichten Elektrons). Die schwache Wechselwirkung wirkt wie der Name schon sagt nur sehr „schwach“. Dies führt dazu, dass Neutrinos Materie nahezu ungestört durchdringen können, was sie zu einer geradezu geisterhaften Erscheinung macht. Selbst in Blei hätte ein Neutrinostrahl eine Reichweite von Lichtjahren! Einige Daten zur Sonne Die wohl ungewöhnlichste Eigenschaft ist die Fähigkeit der drei Arten von Neutrinos, sich ineinander umwandeln zu können (Neutrino‐Oszillationen). Ein elektronisches Neutrino, das von der Sonne startet, kann so als myonisches Neutrino auf der Erde ankommen. Das gelingt aber nur, wenn Neutrinos eine (wenn auch sehr kleine) Masse besitzen. Nach mehr als 50 Jahren, in denen das Neutrino als masselos galt, war die Beobachtung der Neutrino‐Oszillationen der erste indirekte Beweis für die Neutrinomasse. Natürliche Neutrinoquellen: 1. Teilchenbeschleuniger: Mit großen Beschleunigern (z. B. am CERN) lassen sich heute sehr intensive Neutrinostrahlen herstellen. 2. Kernreaktoren: Bei der Kernspaltung in Rekatoren werden ebenfalls Neutrinos freigesetzt Wie kann man Neutrinos nachweisen? Der Borexino‐Detektor Borexino ist ein internationales Projekt unter italienischer Federführung. Beteiligt sind Forschungszentren aus sechs verschiedenen Ländern mit circa 100 Physikern, Ingenieuren und Technikern. Die Arbeiten des MPIK konzentrierten sich vor allem auf hochreine Materialien. Mit Borexino ist man erstmals in der Lage, auch den niederenergetischen Anteil der solaren Neutrinos in Echtzeit zu beobachten. Zur Abschirmung der störenden kosmischen Strahlung befindet sich der Detektor in einem Untergrundlabor (LNGS) unter dem Gran‐Sasso‐Massiv in den italienischen Abruzzen. Kugel aus rostfreiem Stahl, Durchmesser: 13,7 m 4 Dünne Nylonschicht (Barriere für Radon-Gas) 5 Ballon aus Nylon, Durchmesser: 8,5 m Da Neutrinos neben der vernachlässigbaren Gravitation nur der schwachen Kraft unterliegen und daher Materie fast ungehindert durchdringen, sind Stöße mit Elektronen oder Kernreaktionen sehr selten und eine Messung prinzipiell schwierig. Voraussetzungen für den Nachweis sind daher: Tragseile KohlenwasserstoffKohlenwasserstoff-Schicht Pseudocumol) 3 (Pseudocumol) Nachweis von Myonen: 200 Photovervielfacher (nach außen gerichtet) 2.200 Photovervielfacher (nach innen gerichtet) 300 Tonnen 6 Flüssigszintillator • Große Detektoren und/oder viele Neutrinos: Je mehr Materie man zum Nachweis verwenden kann und je mehr Neutrinos diese durchfliegen, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine Reaktion. • Gute Abschirmungen: Auch von außen in den Detektor eindringende radioaktive Strahlung stört die Messung empfindlich, weshalb eine gute Abschirmung nötig ist. Um kosmische Strahlung zu unterdrücken, werden Neutrinoexperimente meist unter Tage aufgebaut. Erste Resultate Gestein Der Detektor ist wie eine Zwiebel schalen‐ förmig aufgebaut, um störende Strahlung abzuschirmen. Dabei nimmt die Reinheit jeder Schale von außen nach innen zu. Als Vergleich: Die Radioaktivität eines Menschen beträgt ~25 Bq (Zerfälle pro Sekunde) pro kg. 1 Gebirgsmassiv: Schirmt kosmische Strahlung ab. Enthält aber radioaktive Stoffe (Uran, Thorium). 2 Hochreines Wasser (< 1 μBq/kg): Schirmt Radioaktivität des Umgebungsgesteins ab. 3 Pseudocumol mit Zusatz zum Löschen von Fluoreszenz, dient hier zur Abschirmung. Darin: Dünne Nylonschicht als Barriere gegen radioaktives Edelgas Radon aus Umgebungsmaterialien. 5 Innerer Nylonballon (< 0,5 μBq/m2) trennt äußere Pseudocumolschicht vom eigentlichen Szintillator. 6 Szintillator‐Flüssigkeit (Pseudocumol + Leuchtstoff), Reinheit: < 0,1 nBq/kg. Funktionsweise des Szintillators 2 Wasser-Ummantelung Stahlplatten zur Abschirmung 1 4 Szintillator 7 • Saubere Materialien: Da ein Neutrinosignal oft nicht von einem radioaktiven Zerfall unterschieden werden kann, stören selbst kleinste radioaktive Verunreinigungen, wie sie überall vorkommen, die Messung erheblich. Berechnetes Spektrum der Sonnenneutrinos aus verschiedenen Fusionsprozessen (farbige Flächen und Linien) für den Ort der Erde. (Doppel‐logarithmische Darstellung: Jede große Skalen‐ einheit auf einer der beiden Achse entspricht einem Faktor 10). OS Künstliche Neutrinoquellen: Photosphäre RI N 3. Radioaktive β‐Zerfälle (z. B. in der Erdkruste): Bei jedem β‐Zerfall eines Atomkerns entsteht neben einem Elektron (Positron) ein Neutrino (Antineutrino). 5. Die Erdatmosphäre: Energiereiche kosmische Strahlung trifft ständig auf die Erdatmosphäre und erzeugt dort ebenfalls Neutrinos. Korona UT NE 2. Supernovae: Manche Sterne beenden ihr Leben in einer ungeheuren Explosion und erzeugen dabei eine riesige Anzahl von Neutrinos. Bislang wurden vor allem Neutrinos mit höheren Energien nachgewiesen, während ein großer Teil der solaren Neutrinos weniger energiereich ist (blaue Linien und roter Bereich im Spektrum). Für diesen Teil des Spektrums wurde u. a. das Borexino‐Experiment entwickelt, was einen genaueren Blick in das Sonnenzentrum erlaubt. Protuberanzen Neutrinos stammen aus verschiedenen natürlichen Quellen und können auch künstlich erzeugt werden. 4. Die Sonne: Wie in allen Sternen enstehen bei der Kernfusion auch im Inneren der Sonne Neutrinos. Frühere Experimente (z. B. GALLEX) fanden ein signifikantes Defizit an solaren Neutrinos (Sonnenneutrino‐Problem). Inzwischen konnte diese Beobachtung durch die Umwandlung der anfänglichen Elektron‐ Neutrinos in andere, für diese Experimente nicht nachweisbare, Neutrinoarten erklärt werden (Neutrino‐Oszillationen). Sonnenkern Mittlere Entfernung: 150 Millionen km Durchmesser: 1,4 Millionen km (110 Erddurchmesser) Rotationsdauer: ca. 26 Tage Masse: 2∙1030 kg (333.000 Erdmassen) Zusammensetzung: 75% Wasserstoff, 23% Helium Temperatur: 5.550 Grad (Oberfläche) 15 Millionen Grad (Kern) Druck im Kern: 200 Milliarden Atmosphären Energieabstrahlung: 3,8 ∙1023 kW Alter: 4,57 Milliarden Jahre restl. Lebensdauer: ca. 5 Milliarden Jahre Wo entstehen Neutrinos? 1. Der „Urknall“: Die kosmologischen Neutrinos, die beim „Urknall“ erzeugt wurden, sind die häufigsten Teilchen im Kosmos. Das hohe Durchdringungsvermögen der Neutrinos macht sie zu idealen Sonden für die Verhältnisse im Sonnenkern. Während die im Kern erzeugte Strahlung ca. 100.000 Jahre braucht, um bis zur Oberfläche zu gelangen, erreichen uns die Neutrinos nahezu ungehindert. Dies gilt auch nachts, denn die Erde stellt für Neutrinos kein Hindernis dar. Die Energieverteilung (Spektrum) der solaren Neutrinos lässt sich heute mit guten theoretischen Modellen sehr genau vorhersagen (siehe Grafik unten). Wassercontainer aus rostfreiem Stahl, Durchmesser: 18 m Neutrinos, die an Elektronen streuen, übertragen Energie an die Pseudocumol‐ Moleküle, die wiederum den Leuchtstoff anregen, welcher dann Licht aussendet. Die Lichtblitze werden von empfindlichen Sensoren (Photovervielfachern) registriert. Am 16. Mai 2007 wurde der Detektor nach langjähriger Aufbauzeit in Betrieb genommen. Täglich werden seitdem ca. 50 solare Neutrinos registriert, wobei zur weiteren Unterdrückung von Hintergrund‐ ereignissen 7 lediglich die inneren ca. 100 t des Szintillators ausgewertet werden. Bereits im August 2007 konnten erste Daten zur Veröffentlichung eingereicht werden. Die Resultate, die gut mit den Vorhersagen des Sonnenmodells unter Berücksichtigung von Neutrino‐Oszillationen übereinstimmen, zeigen, dass mit Borexino tatsächlich niederenergetische Neutrinos in Echtzeit beobachtet werden können. Die Messungen laufen derweil kontinuierlich weiter und mit jedem Tag können wir unsere Modelle über die Prozesse im Herzen der Sonne genauer überprüfen. Ausblick In der Zukunft werden neben der Sonne auch andere Neutrinoquellen untersucht werden: • Geophysik: Antineutrinos aus dem radioaktivem Zerfall von Uran und Thorium ⇒ Beitrag zur geothermischen Energie? Vorteil: keine störenden Kernreaktoren in 800 km Umkreis um den Grand Sasso. • Astrophysik: Suche nach galaktischen Supernovae (etwa 3 pro Jahrhundert). Würden als „Neutrinoblitz“ (ca. 150 Neutrinos innerhalb von Sekunden) von Borexino gesehen. • Teilchenphysik: Experimente mit Reaktor‐ oder Beschleuniger‐ Neutrinos.