Es ist eine sehr große Ehre für mich hier zu stehen und ich bin Ihnen

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PROF. DR. JOSEPH O`LEARY
ALLTÄGLICHKEIT UND LETZTGÜLTIGKEIT.
DIALEKTISCHE UMKEHRUNGEN BEI HEGEL UND HEIDEGGER UND IM BUDDHISMUS
Es ist eine sehr große Ehre für mich hier zu stehen und ich bin Ihnen sehr dankbar
dafür. Besonders muss ich Professor Jean Greisch, meinem hochgeschätzen Freund,
danken für seine Einladung und für die sorgfältige Arbeit die er geleistet hat, um den
Text dieses Vortrags zu verbessern.
Als ich siebzehn Jahre alt war, las ich zum erstenmal einen deutschen Philosophen.
Er hiess Romano Guardini und sein Thema war „Das Ende der Neuzeit“. So war sein
Name mir schon bekannt, noch ehe ich von Kant, Hegel oder Schleiermacher gehört hatte.
Sehr begeistert von den Ideen und der Stimme dieses Autors, begann ich meinen
Mitschülern zu verkündigen: „Wissen Sie es nicht? Wir leben in der Epoche des
Massenmenschen!“ Trotz dieser jugendlichen Naivität, hat das Buch etwas in meinem
Kopf hinterlassen, nämlich die Einsicht dass das Christentum nicht mehr etwas
Selbstverständliches bedeutet in unserer heutigen Kultur, und dass auf das Fragen und der
Dialog angewiesen sind.
Im Wintersemester 1937/38, ein Jahr vor der Aufhebung seines Lehrstuhls, hielt
Romano Guardini hier an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität eine öffentliche
Vorlesung über das Thema: „Der Tod des Buddha. Die buddhistische Sinndeutung des
Daseins und ihre Bedeutung für das Verständnis des Christentums“. Die in diesem
Untertitel angezeigte Fragestellung ist heute aktueller als je.
Alltäglichkeit als philosophisches Thema
Was bedeutet „Alltäglichkeit“?
Scheinbar etwas Dürftiges und Banales, das uns scheibchenweise und
bruchstückhaft zugeteilt wird, wie in Philip Larkins Gedicht ‘Days’:
What are days for?
Days are where we live.
They come, they wake us
Time and time over.
They are to be happy in:
Where can we live but days?
Ah, solving that question
Brings the priest and the doctor
In their long coats
Running over the fields.
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RINGVORLESUNG “PHILOSOPHIE UND/ALS LEBENSWEISHEIT” WS 2011/2012
(Wozu dienen die Tage?
Tage sind, dort wo wir leben.
Sie kommen, sie wecken uns auf,
wieder und wieder.
In ihnen sollte man sein Glück finden:
Denn wo anders sollen wir leben, wenn nicht in Tagen?
Ach, um diese Frage zu lösen
eilen Priester und Ärzte
in ihren langen Röcken herbei,
querfeldein.)
Können wir uns damit begnügen, die kleinen Schubfächer unseres Alltags mit
irgendetwas Befriedigendem zu füllen, ja, unser Bestes zu tun um „Tief und tausendfach
zu leben“ (Hermann Hesse)?
Wenn einer dieser so gut wie möglich ausgefüllten Tage uns als der letzte in einer
langen Reihe erscheint, dürfen wir uns dann schulterzuckend mit dem Gedanken trösten,
dass ihre letztendliche Bedeutungslosigkeit uns nicht daran hinderte, die schnell
verfließenden Tage voll auszukosten? Ein Epikuräer würde von einer homeopathischen
Behandlung der Unzulänglichkeiten unseres Lebens sprechen.
Die christliche Überlieferung bringt diesbezüglich zwei Kategorien ins Spiel: die Idee
der Gnade, und das Schema: Tod und Auferstehung.
Jeder Tag wird als Gabe oder als Geschenk des Schöpfers an den Menschen
verstanden, als Gnadenerweis, der zum Lob und zur Ehre des Schöpfers gelebt werden
soll. Jeder Tag soll aufgeopfert werden durch die Teilnahme an Christi Tod und
Auferstehung. Die zwei Einstellungen, Dankbarkeit und Opfer, vereinigen sich in der
Eucharistie. Diese zwei sind eins: „Gott loben und ihm dankbar sein“ (weil er das Opfer,
das „rechte Osterlamm“ uns selbst dargebracht hat). „Wenn wir wüssten, wie gütig Gott
ist“, schrieb der alte, leidende Guardini in seinem Tagebuch, „könnten wir unser Leben
lang nur voll Freude sein.“
Die paulinische Dialektik, als eine Kunst aus dem Negativen etwas Positives, aus der
menschlichen Schwachheit die Kraft Gottes, entstehen zu lassen ist ein Herzstück der
christlichen Lebensweise. Anstatt uns unmittelbar und ausschließlich in dieses Paradox
zu vertiefen, wie das Karl Barth in seiner dialektischen Theologie getan hat, sollten wir
heute unser christliches Denken in weitere philosophische und interreligiöse Horizonte
hineinstellen. Die philosophische Würde des Alltags als besonderes Phänomen und als
Gegenstand einer kritischen Reflexion ist insbesondere im Existentialismus und in der
Phänomenologie betrieben worden (obgleich bereits Heraklit, einer der ersten
Philosophen, in dem von Aristoteles überlieferten Rätselwort: „Auch hier, in meiner
Backstube, sind Götter anwesend“ darauf verwiesen hat).
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Hegel bezeichnet die Philosophie im Gegensatz zum sensus communis, als die
„verkehrte Welt“ (zitiert von Heidegger, GA 9:103). Dieser Umkehrung folgend, könnte
der Philosoph versuchen, durch die dialektische Auflösung der oberflächlichen
Alltagswirklichkeit ein tieferes Verständnis des Lebens und der Wirklichkeit zu
gewinnen.
Den Alltag philosophisch betrachten zu wollen, scheint eine unmögliche Aufgabe zu
sein, weil unsere Alltagserfahrung so viele unterschiedliche Gesichter zeigt. Ein
Philosoph, der eine Besinnung über das Alltägliche in Gang setzen will, sieht sich
genötigt, auf moderne Romanschriftsteller wie Marcel Proust, Franz Kafka, James Joyce
und Virginia Woolf zurückzugreifen, die ihrerseits, mit denkerischer Radikalität und ganz
neuen Sichtweisen, den Alltag in den Blick genommen haben und sich kritisch mit ihm
auseinandergesetzt haben. In diesem Zusammenhang kann man auch auf Guardinis
Auslegung von Rilkes Duineser Elegien denken. Die Frage nach der „Eigentlichkeit“ des
Lebens stellt sich im modernen Roman wie in der Existenzphilosophie, und sie hat einige
allgemein anerkannte Antworten zu Tage gefördert: Ein echtes Leben zu führen, heißt
unter anderem auch, sich der Angst vor dem Tod nicht zu versperren, und dennoch eine
gewisse Gelassenheit zu pflegen; seine Existenz in den Griff zu nehmen in der
individuellen Entschlossenheit, ohne doch die Verantwortlichkeit dem Mitmenschen
gegenüber zu vergessen. Diesbezüglich gibt es eine große Spannbreite möglicher
Antworten, wie ein Vergleich der konkreten Anweisungen, Empfehlungen und Maximen
bei Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger und Sartre zeigt!
Der Buddhismus, mehr noch als die abendländischen Philosophen, bietet uns eine
allgemeingültige Analyse und Bewertung des alltäglichen Lebens an, weil er den
Anspruch erhebt, die unabänderlichen Gesetze des menschlichen Daseins aufgedeckt zu
haben. Dort wo der Buddhismus sich kritisch mit der Alltagswirklichkeit
auseinandersetzt, bedient er sich nicht nur eines analytischen, sondern auch eines
dialektischen Verfahrens, das zu durch und durch negativen Ergebnissen zu führen
scheint. Der Weisheit letzter Schluss scheint die reine Leerheit zu sein. Aber diese
Leerheit ist das hauptsächliche Kennzeichen der nirvanischen Erlösung; sie trägt so die
Züge einer frohen Botschaft. Dies ist zwar ein Paradox, aber kein übernatürliches
Wunder, denn die Wirklichkeit der Leere auch wenn sie die Logik übersteigt, ist kein
Feind der Logik; sie erweist sich und bestätigt sich mithilfe gründlicher dialektischer
Untersuchungen. Auch hier finden wir Ansätze zu einer Rettung des weltlichen Alltags
und seiner Konventionen aufgrund einer dialektischen Umkehrung.
Das Christentum, Hegel, die Existenzphilosophie und der Buddhismus, sie alle
versuchen das Leiden und das Unbefriedigende zu meistern, indem sie sich auf ein
Denken einlassen, dem es gelingt, die negativen Aspekte unseres Daseins radikal zu
erfassen. Die Anstrengung des begrifflichen Denkens hat einen Perspektivenwechsel zur
Folge, eine Art von „Aufhebung“, die aus der Negativität etwas Positives entstehen lässt.
Auch dort wo Heil und Erlösung einer höheren Instanz, Gott oder der Gnade
zugeschrieben werden, gibt es viele Gründe zu dialektischen Gedankenbewegungen.
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Die Botschaft des Mahāyāna
In diesem Beitrag zur Ringvorlesung über das Verhältnis von Philosophie und
Lebensweisheit versuche ich zu erklären wie das buddhistische Denken die Konventionen
des alltäglichen Lebens zur Letztgültigkeit des nirvāna in Beziehung setzt. Das Schema
der „zweifachen Wahrheit“ schreibt unserem alltäglichen Leben nur eine konventionelle
Wirklichkeit zu. Die höchste, unaussprechliche Wahrheit des nirvāna, oder der Leere,
scheint zunächst diese alltäglichen Konventionen zu zertrümmern. Doch wir werden
sehen, dass eine gewisse dialektische Beziehung zwischen dem Konventionellen und dem
Höchsten ein Wesensbestandteil der buddhistischen Wahrheit ist. Die praktische Folge ist,
dass wir unseren Alltag in einem bewusst und dialektisch durchgeführten Spiel zwischen
dem Konventionellen und Höchsten betrachten und bestehen sollen.
Im Mahāyāna – dem Buddhismus des großen Fahrzeugs, der sich auf neue, am Anfang
unserer Zeitrechnung entstandene Sutren stützt – erscheint die Leere, sunyatā, als das
erste Grundwort. Im Sutra des Herzens, eine der wichtigsten Schriften des MahāyānaKanons, welche die Botschaft der Sutren der Vollkommenheit der Weisheit knapp
zusammenfasst, lesen wir:
„Avalokitesvara Bodhisattva [der bodhisattva des Mitleids, sehr geliebt in Ost-Asian
unter den Namen Kuan-yin und Kannon], in tiefste Weisheit versenkt, erkannte, dass die
fünf Skandhas leer sind und verwandelte damit alles Leid und allen Schmerz. Sariputra!
Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nichts anderes als Form. Form ist
identisch mit Leere und Leere ist identisch mit Form. Und so ist es auch mit Empfindung,
Wahrnehmung, geistiger Formkraft und Bewusstsein. [d.h. die andere vier Skandhas]
Sariputra! Alle Dinge sind in Wahrheit leer. Nichts entsteht und nichts vergeht. Nichts ist
unrein, nichts ist rein. Nichts vermehrt sich und nichts verringert sich. Es gibt in der
Leere keine Form, keine Empfindung, Wahrnehmung, geistige Formkraft und kein
Bewusstsein, keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper oder Geist; es gibt nichts zu
sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder zu denken, keine Unwissenheit und auch
kein Ende der Unwissenheit, kein Altern und keinen Tod, noch deren Aufhebung, kein
Leiden und keine Ursache des Leidens, kein Auslöschen und keinen Weg der Erlösung,
keine Erkenntnis und auch kein Erreichen [d.h. die vier Edlen Wahrheiten des
Buddhismus werden selbst als leer erklärt]. Weil es nichts zu erreichen gibt, leben
Bodhisattvas die Vollkommenheit der Weisheit und ihr Geist ist unbeschwert und frei
von Angst. Befreit von allen Verwirrungen, allen Träumen und Vorstellungen,
verwirklichen sie vollständiges Nirvāna.“
Kann man indessen nur in der Flucht vor der Alltagswirklichkeit Befreiung finden?
Das zweite Glied des Chiasmus, „Form selbst ist Leere; Leere selbst ist Form“ weist uns
in eine andere Richtung, und verspricht eine Wiederherstellung der samsarischen Welt in
der Tonalität der Leerheit. Diese dialektische Umkehrung ist das Zentrum der
Philosophie des Mahāyāna. Avalokitesvara, der Bodhisattva des Mitleids, lehrt uns die
Nichtigkeit, Gebrechlichkeit, Konventionsgebundenheit des Alltags tief zu erfahren, um
gerade in ihr die nirvanische Leere zu kosten.
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„Die Form selbst ist Leere“: Jede Gegebenheit, auch die handfesteste, deckt bei
näherem Zusehen ihre Wesenslosigkeit auf. Eine solche Behauptung mag abstrakt und
akademisch klingen; indessen hat sie tiefe Spuren nicht nur im Denken des fernöstlichen
Kulturkreises sondern auch in seiner alltäglichen Lebensführung hinterlassen. Die reinste
und radikalste Erklärung dieses Wirklichkeitsverständnisses verdanken wir der
Madhyamaka-Schule, der sogenannten „zentralen Philosophie des Buddhismus“. Ihr
Gründer ist Nāgārjuna (2-3. Jht). Weiterentwickelt wurde sie vom größten seiner
Kommentatoren, Candrakirti (7. Jht) und in der komplexen Scholastik der tibetischen
Gelugpa-Schule. In den letzten Jahrzehnten hat gerade diese Schule eine
unwiderstehliche Anziehungskraft auf westliche philosophische Denker ausgeübt.
Die alte buddhistische Ontologie des abhängigen Entstehens (pratitya samutpāda)
wird in der Madhyamaka-Schule noch radikalisiert. Wenn alle Phänomene nur in
Abhängigkeit zu anderen entstehen, kann kein Element der Wirklichkeit ein Eigenwesen
(svabhāva) besitzen; seine letzte Wirklichkeit kann nur die Leere sein. Die alltägliche
Welt, die des samsāra, im Gegensatz zum nirvāna, hat nur eine provisorische und
konventionelle Existenz.
Die Auffassung der konventionellen Wirklichkeit (samvrti-satya) ist der vielleicht
faszinierendste Aspekt im Denken des Madhyamaka. Um nur seinen epistemologischen
Aspekt zu erwähnen: Erkenntnismittel (pramāna) und Erkenntnisobjekt (prameya)
bedingen sich gegenseitig, so dass beide unbeständig sind. Wahrnehmung und
Schlussfolgern sind die wichtigsten Erkenntnismittel. Doch sie geben uns keinen Zugriff
auf die letzte Wirklichkeit. Ihre Geltung bzw. Beständigkeit ist rein konventionell. Auf
der Ebene der höchsten Wirklichkeit der Leere oder des Nirvāna haben sie keine Geltung
und auch keine Anwendungsmöglichkeit mehr.
Die Argumentationskette der prasangika-Denker des Madhyamaka (die Candrakirti
treu bleiben in ihrer Verleugnung aller pramāna, die einen mehr als konventionellen
Status beanspruchen) besteht in einer Reihe von reductiones ad absurdum. Sie weisen
nach, dass jeder Anspruch auf substantielle Existenz irgendeines Begriffes oder
irgendeiner Gegebenheit zu logischen Inkonsequenzen und Antinomien führt. Nur
dasjenige, was diese unerbittliche Prüfung besteht kann als letzte Wahrheit oder
Wirklichkeit anerkannt werden, und dies ist nur die Leerheit selbst. Man könnte versucht
sein, ein solches Denken als einen Skeptizismus, der in einen Nihilismus mündet, zu
charakterisieren, und in der Tat wurde es häufig so im Abendland missverstanden. Doch
dieser Verdacht wird hinfällig, wenn man die spirituelle Tiefe der buddhistischen Leere
anerkennt, die gleichbedeutend mit Erlösung (moksa) ist.
Der wohl interessanteste Aspekt dieses Denkens ist dass es die konventionelle Welt
nicht schlechthin transzendiert und hinter sich lässt, sondern sie in einen Ort verwandelt,
wo die nirvanische Weisheit der Leere sich verwirklicht. Je tiefer die Einsicht in die
Flüchtigkeit und Nichtigkeit des samsarisches Lebens und Denkens, desto näher kommen
wir der höchsten Wirklichkeit des Nirvāna als letzte Wahrheit des Samsāra. Unsere
konventionelle Alltäglichkeit bleibt die Methode, die uns ans Ziel führt und mittels derer
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der mitleidvolle Lehrer andere zu diesem Ziel führen möchte: „Bei der Verkündigung des
Dharma haben sich die Buddhas auf die zwei Wahrheiten gestützt: Die eine ist die
weltliche, ‚verhüllende Wahrheit‘ (samvrtisatya; konventionelle Wahrheit), die andere ist
die ‚Wahrheit im höchsten Sinne’ (paramārthasatya). Diejenigen, die den Unterschied
der beiden Wahrheiten nicht erkennen, erkennen auch nicht die tiefe Wahrheit (tattva) in
der Lehre Buddhas... Ohne sich auf das Konventionelle zu stützen, kann der höchste Sinn
nicht gelehrt werden. Ohne dass der höchste Sinn erkannt wurde, kann das nirvāna nicht
erlangt werden (Nāgārjuna, Stanzen, 24, 8 und 10). Der höchste Sinn, oder die
letztgültige Wirklichkeit ist das Einzige, das die Prüfung der analytischen Kritik bestehen
kann. Alle anderen Phänomene oder Vorstellungen erweisen sich als rein
konventionell. Sie sind nur brauchbar als geeignete Mittel (upāya) um die Weisheit der
Leere mitzuteilen, aber sie sind jeder wesentlich Existenz oder Identität bar.
Für eine Erneuerung der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Buddhismus
Ich bin davon überzeugt, dass, sofern wir uns wirklich mit diesem Denken
auseinandersetzen wollen, wir auf die tiefsten Quellen unseres eigenen abendländischen
Denkens zurückgreifen müssen. Aus westlicher Perspektive gesehen, sind Hegel, der
Meister des Begriffes, und Heidegger, das Denker des Phänomens, die wohl
interessantesten Gesprächspartner für eine solche Auseinandersetzung, weil jeder von
ihnen sich bemüht hat, auf seine Weise das Ganze des abendländischen Denkens in den
Blick und in den Begriff zu bekommen.
Manche unserer Zeitgenossen suchen im Buddhismus eine Bestätigung für ihre
Ansicht, dass die einzige heute noch gangbare Weise des Philosophierens ein auf alle
Letzbegründigungsansprüche verzichtendes pensiero debole ist. Eine solche resignierte
Auffassung geht an der wirklichen Bereicherung und an der Herausforderung vorbei, die
das buddhistische Erbe für die westliche Philosophie bedeutet. Sie verflacht und
trivialisiert sowohl den Buddhismus als das westliche Denken.
Die Art und Weise, wie der Zen-Buddhismus die Alltäglichkeit und die letztgültige
Wirklichkeit miteinander verbindet, ist ein Thema, das wir uns durch ein kritisches und
meditatives Denken, das in die Schule von Husserls und Heideggers Verständnis der
Phänomenologie gegangen ist, neu aneignen können. Auch die versteckte begriffliche
Untermauerung des Zen-Buddhismus, die wir in den Sutren und Philosophien des
indischen Mahāyāna finden können, kann in ihrer ganzen Tiefe nur verstanden werden,
wenn wir über ein subtiles analytisches und dialektisches begriffliches Instrumentarium
wie das Hegels verfügen.
In meinen eigenen Studien ziehe ich es vor, mich mit den indischen Quellen zu
beschäftigen, weil die indo-europäische Sprache und ihre Beherrschung der Logik und
der abstrakten Begrifflichkeit eine sichere Brücke zu westlichen Denkweisen darstellen.
Der Zen-Buddhismus, der dem Taoismus so vieles verdankt, verlangt, dass man sich im
chinesischen Denkraum bewegt. Er ist vielleicht die schönste Frucht der buddhistischen
Weisheit, eine dialektische Lebenskunst, in der man im Verhältnis von Sein und Nichts,
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vom Konventionellen und dem Letztgültigen, eine wachsame Offenheit für das
unmittelbar Wirkliche entdeckt. Doch um letzte Klarheit über die „Logik“ dieser Kunst
zu gewinnen ist es nötig, zu den indischen Quellen zurückzukehren.
Wir wissen nicht sehr viel über die Lebensführung der indischen Mönche und Laien
des indischen Mahāyāna, obgleich wir einige Hinweise aus den fantastischen
Erzählungen des Lotus und des Vimalakirti entnehmen können. Jedoch kann die
Auseinandersetzung mit ihren Gedanken unseren Alltag verwandeln.
Buddhistische Dialektik
Manche Philosophen, Dichter und insbesondere die Buddhisten entdecken in ihrer
Erfassung der Beschaffenheit der alltäglichen Existenz, wie stark das Sein vom Nichtsein
infiziert ist.
Eine verdrängte, von Verneinungen durchsetzte Angst hindert uns daran, unser Leben
voll und zufriedenstellend auszuleben. Nicht durch Verdrängung unserer Ängste, sondern
durch ein tieferes und schärferes Bewusstsein davon gelingt der Gesinnungswandel, der
unser Herz zu den echten menschlichen Stimmungen – Mitleid und vertrauensvolle
Hingabe – bekehren kann. Die Begegnung mit Alter, Krankheit und Tod, von denen der
junge Siddhartha behütet war, erweckte in ihm das Erlösungsbedürfnis. Im Mahāyāna
wird diese Befreiung nicht als Flucht vor dem qualvollen Bereich des samsāra verstanden
sondern als Einsicht in die Leere des samsāra die schon eine positive Bedeutung
beinhaltet.
Deshalb sind die Zen-Meister bestrebt, unsere Ängste zu schüren. Meister Yunmen
(864-949) ermahnt seine Jünger unaufhörlich, ihr kurzes Leben nicht zu verträumen:
„Beeilt euch! Beeilt euch! Die Zeit wartet auf niemanden, und das Ausatmen gibt noch
keine Gewähr dafür, dass ihr auch einatmen werdet! Oder steht euch ein zweiter Leib und
ein zweiter Geist zur Verfügung, als dass ihr den einen vergeuden könntet?“.
Dort wo eine solche Lebensweisheit direkt, in der Form eines memento mori,
formuliert wird, kann sie langweilig und entmutigend scheinen. Mann kann gut
verstehen, dass faule Mönche es nicht eilig hatten, dieser Aufforderung Folge zu leisten.
Die versprochene Erweckung schien ihnen bedrohlich und leidvoll, so dass sie nicht nur
ihre eigene Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen bezweifelten, sondern auch dessen
Wirklichkeit in Frage stellten. Die Panikstimmung angesichts der Flüchtigkeit der Zeit ist
eher dazu angetan, uns in Verzweiflung zu stürzen, als dazu, jeden Augenblick als
unendlich kostbar zu würdigen, und die Entschlossenheit, ihn voll auszunutzen zu
fördern, damit der Tod uns in der günstigsten Verfassung antrifft. Dieselbe
Entschlossenheit kann aber auch zu extremen Verhaltensweisen führen, wie die des
Milarepa, der seine verschlissenen Kleider noch weiter verschleißen lässt, denn wenn wir
heute Abend sterben sollten, ist es weiser zu meditieren anstatt unsere Zeit auf
Näharbeiten zu verschwenden.
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Die buddhistische Auffassung von der Leere akzeptiert das Nichts im Herzen des
Seins und sie entdeckt dabei, dass die Phänomene in ihrer Zerbrechlichkeit und
gegenseitigen Abhängigkeit zum Fahrzeug einer neuen Freiheit werden können. Wenn
wir uns das samvrti als wesenlosen Schein in einem dualistischen Gegensatz zur
wesenhaften Wirklichkeit der Leere vorstellen, übersehen wir die enge gegenseitige
Abhängigkeit Alltägliches und Höchstes. Das Alltägliche als rein konventionell zu
erkennen bedeutet schon, dessen Leere zu erfassen, und damit zur Weisheit der Leere
vorzustoßen. Diese Weisheit entsteht durch eine kritische Reflexion über das Alltägliche,
oder die Selbst-Reflexion des Konventionellen. Das positive Ergebnis einer solchen
Besinnung ist die Einsicht in die leere tathatā oder „Diesheit“ der Phänomene. Dies kann
keine selbstzufriedene Selbst-Behauptung des trügerischen svabhāva sein. Es ist das Sein,
das vollständig mit der Leere identifiziert oder ein Moment der Leere wird (wenn wir uns
diesen Hegelschen Ausdruck erlauben können). Wir kennen die Leere nur insofern sie
sich in den voneinander abhängigen Phänomenen verkörpert, und wir erfassen diese in
ihrer Diesheit nur, wenn wir sie als selbst-negierend oder selbst-zerstörend verstehen.
Wenn wir diese Grundeinsicht sowohl phänomenologisch wie begrifflich vertiefen,
entdecken wir, dass die brüchige Welt des samsāra, das Reich des Leidens und der
Unbeständigkeit, sich nicht vom nirvāna, dem Reich der glückseligen Leere
unterscheidet. Dies genau war die Einsicht, in der Nāgārjunas Denken gipfelte: „Es gibt
keinen Unterschied zwischen samsāra und nirvāna. Es gibt keinen Unterschied zwischen
nirvāna und samsāra. Die Grenze des nirvāna ist die Grenze des samsāra. Man kann
zwischen beiden auch nicht den geringsten Abstand finden“ (Stanzen 25:19-20). In seiner
Darstellung des Denkens Nāgārjunas ist Jay Westerhoff äußerst gewissenhaft diesen
Analysen des illusionären Charakters der Substanz (svabhāva) nachgegangen, aber er hat
uns wenig zu sagen über die soteriologischen Konsequenzen dieses Gedankens. Die
Entdeckung der Leere selbst ist das glückselige nirvāna, das Zur-Ruhe-kommen aller
Verstehensbemühungen und aller Begriffskonstruktionen (25:24).
Die Begrifflichkeit spielt jedoch eine Rolle an der konventionellen Ebene. Wenn die
Leerheit eine Disziplin der Enthaltung bedeutet, „ein geistiges Fasten“, wie eine
chinesische Formel lautet, zwingt sie Nāgārjuna keineswegs, von jeder Argumentation
Abstand zu nehmen. Der Buddha hat sich geweigert, vierzehn metaphysische Fragen zu
beantworten. Die buddhistische Scholastik hat indessen gezeigt, dass die metaphysische
Neugier des menschlichen Geistes unausrottbar ist. Darum behandelt Nāgārjuna die
metaphysische Fragen in einem Stil der dem Verfahren Kants in seiner transzendentalen
Dialektik vergleichbar ist. Kant beweist kontradiktorische Thesen um die Grenzen der
Vernunft aufzuzeigen, jedoch ohne die Kategorien von Substanz, Raum, Zeit in Frage zu
stellen, die in diesen Beweisführungen vorausgesetzt werden. Nāgārjuna dagegen zeigt,
dass Kategorien wie Zeit, Raum und Selbst von Anfang an widersprüchlich sind. Auch
der Tathāgata beugt sich dieser universellen Substanzlosigkeit, so dass er nicht als „ewig,
nicht-ewig, beide, keine“, oder als „ein Ende habend, nicht-habend, beide, keine“
(Nāgārjuna, Stanzen, 22, 12) verstanden werden kann.
Die Angst und das Nichts
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Am Anfang seiner kühnen und umstrittenen Vorlesung von 1929: Was ist
Metaphysik?, unterstreicht Heidegger, dass das metaphysische Fragen den Einsatz des
ganzen Daseins des Fragenden erfordert, so zwar „dass der Fragende – als ein solcher –
in der Frage mit da, d.h. in die Frage gestellt ist“ (GA 9:103).
Voltaires Pangloss dagegen, bei seiner Landung in Lissabon zur Zeit des großen
Erdbebens lässt sich nicht aus der Fassung bringen und er begnügt sich damit, eine
metaphysische Frage zu stellen: „Was mag wohl der zureichende Grund dieses
Phänomens sein?“ Es ist der Mangel an existentieller Betroffenheit, der hier den
Philosophen lächerlich macht. Heidegger würde vermutlich sagen, dass Pangloss sich viel
länger mit dem Phänomen „Erdbeben“ hätte befassen müssen, und auch die damit
verbundene Angst an sich herankommen hätte lassen müssen. Aber nicht, wie bei
Voltaire, um das Denken in seine Schranken zu verweisen und zu demütigen, sondern
weil die Angst der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit ist, also ein
ontologischer Offenbarungsfaktor ist, eine bisher ungeahnte Dimension des Seins
aufdeckt. Wir erfahren und begreifen dass Seiende in ihrer Ganzheit verschwinden
können, und dass das Nichts sich uns als das wahre Antlitz des Seins offenbart. Das
Nichts, schreibt Heidegger, ist „wesentlich abweisend. Die Abweisung von sich ist aber
als solche die entgleitenlassende Verweisung auf das versinkende Seiende im Ganzen“
(GA 9:114).
Anstatt diese Erfahrung zu erleben und zu bedenken, sucht Pangloss nach Gründen für
den Zusammenbruch der Seienden, und er klammert sich an der Sicherheitsgürtel eines
dürftigen Rationalismus. Er weigert sich, ein Da-sein zu werden, das sich der vollen
Wirklichkeit des Seins aussetzt, eine Ausgesetztheit, die in der „Hineingehaltenheit in das
Nichts“ (115) besteht. Er zieht es vor, die Phänomene als unbeteiligter Zuschauer zu
beobachten und sie mithilfe der begrifflichen Schemata der Theodizee in Kontrolle zu
bekommen. Das erste, was Heidegger vermutlich über das alltägliches Leben sagen
würde ist, dass es gelebt werden muss.
Heidegger zufolge ist durch die Begegnung mit dem Nichts „das Dasein je schon über
das Seiende im Ganzen hinaus“ (GA 9:115). Die Begegnung mit dem Leid (dukkha) im
Buddhismus ermöglicht eine analoge Transzendierung der unbeständigen samsāra-Welt,
eine Befreiung sowohl von der Anhänglichkeit an das vermeintliche substantielle Wesen
als auch von einer nihilistischen Verzweiflung. Das buddhistische Bewusstsein des
unbeständigen, leidvollen, nicht-selbsthaften Charakter aller Phänomene stürzt die
menschliche Existenz mitten in die Erfahrung des Nichts hinein. Die ganze Welt ist ein
brennendes Haus. In buddhistischer Sicht müsste Pangloss das Erdbeben als Beweis der
Vergänglichkeit aller Dinge annehmen. Im Gegensatz zum Festklammern am
Theoretischen bei Pangloss, würden die Zen-Meister den Fragenden selbst in Frage
stellen, indem sie ihn fragen, warum er sich überhaupt eine solche Frage stellt, warum sie
ihn umtreibt. Gewiss, es ist nicht leicht die Homologien zwischen dem beweglichen
Denken Heideggers und den alten buddhistischen Traditionen auszubeuten. Beide müssen
neu gedacht werden, in der Strenge einer disziplinierten phänomenologischen
Besinnung.
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Die Einstellung Heideggers nach der „Kehre“ scheint sehr weit von der
Angstbestimmtheit seines früheren Denkens entfernt zu sein. Doch diese neue
Besinnlichkeit neutralisiert nicht das Bewusstsein der Sterblichkeit; sie verschärft es
sogar in gewisser Weise: „Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des
Seins in sich. Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins.“ (7:180), Das
„Gebirg“ (dort, wo etwas geborgen wird) lässt das Wort „Gebirge“ anklingen: Erst der
Tod offenbart uns die abgründige und majestätische Landschaft des Seins.
Ähnlich wie bei Heidegger das Nichts sich in den „Schleier des Seins“ (GA 9:312)
verwandelt, verwandelt sich im Mahāyāna das nichtende Nichts, das alles substantielle
Wesen als vergänglich, leidvoll und selbstlos entlarvt, in eine huldvolle Leere. Hin und
her geworfen zwischen Sein und Nichts, dieses fürchtend, sich klammernd an jenes,
erfahren wir eine Umkehrung, aufgrund derer wir diese Lage transzendieren und uns in
der Freiheit der Leere neu verstehen können. „Reduziert“ von der Leere, ohne vom
Nichts vernichtet zu sein, können die Menschen nun ihre konventionelle und funktionale
Existenz geniessen. Unser ständig wechselndes Sein oder Selbst gehört völlig diesem
konventionellen Stoff des samsāra an. Dennoch ist der Alltag der Ort, wo die nirvanische
Einsicht stattfindet. Beim späten Heidegger dagegen wird das Thema des Nichts in
gewisser Weise domestiziert. Im Licht der als Ereignis verstandenen „Wahrheit des
Seyns“ erscheint das Nichts letztendlich nur als Entzug des Seins.
Dialektische Befreiung
Als Philosophen fühlen wir uns verpflichtet, einen ontologischen Grund der
Umkehrung zu finden, die sowohl Heidegger wie auch der Buddhismus erlebt haben.
Beide entdeckten dass die Wirklichkeit sich als huldvoll erweist. Können wir uns mit der
Anerkennung dieser Umkehrung als Gabe, und zwar als Wunder zufrieden geben,
nämlich mit dem „Wunder aller Wunder, dass Seiendes ist“ (GA 9:307)? In diesem Fall
wäre die Beziehung zwischen Nichts und Sein derjenigen vergleichbar, die Paulus
zwischen Sünde und Rechtfertigung herstellt. Das Ringen mit dem Nichts wäre nur dazu
da, um die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die uns von der Erfahrung einer
unerklärlichen Erlösung fernhalten.
Im Madhymaka-Denken wird die volle Erfahrung der Unbeständigkeit als Pforte zur
befreienden Weisheit der Leere verstanden. Anstatt eine unerklärliche Erfahrung zu
postulieren, können wir uns fragen, ob diese Umkehrung nicht einer streng dialektischen
Notwendigkeit entspricht. Wenn wir uns weigern, hier auf alle dialektisch-begrifflichen
Verstehensmethoden zu verzichten, befinden wir uns dann in der lächerlichen Lage eines
Pangloss? Es scheint mir dass wir sowohl die Möglichkeiten als die Grenzen eines
solchen Denkansatzes klären müssen.
Hegel und Heidegger erstreben einen Durchbruch zu einem freien Verhältnis zum
Sein. Die Freiheit des besinnlichen Denkens bei Heidegger, das aufhört, die Phänomene
den metaphysischen Gründen und Prinzipien („causa sive ratio“) zu unterwerfen, ist
vielleicht nicht so entfernt als es zunächst scheinen mag von der Freiheit des Begriffs, bei
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Hegel, die ihrerseits die enge Form der „vormaligen Metaphysik“ im Rahmen einer
kritischen „Wissenschaft der Logik“ überwindet und auflöst, wie Michael Theunissen
überzeugend nachgewiesen hat. Durch seinen „Schritt zurück“ zum Begriff zum
ursprünglichen „Andenken“ an die Wahrheit des Seins hat Heidegger vielleicht
paradoxerweise einen Raum eröffnet für eine lebendigere wurzelhaftere Entfaltung der
Macht des Begriffes.
„Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für
das menschliche Dasein... Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts“ (GA
9:115). Ist in diesem Spiel mit den Begriffen von Sein und Nichts nicht noch ein ferner
Nachklang der Hegelschen Dialektik vernehmbar? Die Sprache der existentiellen
Phänomenologie hat sich nicht gänzlich gegenüber logische Strukturen immunisiert.
Auch Hegels Logik hat einige existentielle Züge. Er schreibt: „Denn Schein nennen wir
das Sein, das unmittelbar an ihm selbst ein Nichtsein ist“ (Phänomenologie des Geistes,
Hoffmeister, S.110). In Hegels Sprache und in seinem Denken finden sich noch viele
andere, Zeugnisse einer solchen gegenseitigen Durchdringung von Sein und Nichts.
Was Heidegger explizit über Hegels Verständnis des Nichts sagt, scheint nur die
Identität von Sein und Nichts als leere Vorstellungen am Anfang der Logik zu betreffen.
Später deckt Hegel indessen reichere und interessantere Beziehungen zwischen Sein und
Nichtsein auf. In der Reflexionslogik wird das Sein, das anfangs als eine unmittelbare
Gegebenheit verstanden wurde, als von einer negativen Bewegung der Reflexion
Gesetztes entlarvt. Sein subsistiert jetzt nur noch als Schein. Der Schein ist „das Sein nur
als Moment, oder das Sein affiziert vom Nichtsein… Der Schein ist ein Nichts – nicht
etwas die seine eigene Wirklichkeit hat, sondern nur die Illusion von Sein“ (G.
DiGiovanni, Hegel-Studien 8 (1973):146). In diesem Stadium der Logik handelt es sich
um eine kritische Darstellung des Phänomenbegriffs im griechischen Skeptizismus und
im Idealismus eines Leibniz, Kants und Fichtes. Noch später, im letzten Stadium der
Logik, wo Hegel die dynamische Struktur des Begriffes entfaltet, bleibt das Sein
durchgedrungen von der negativen Bewegung des Denkens: „Das Wesen ist die erste
Negation des Seins, das dadurch zum Schein geworden ist; der Begriff ist die zweite oder
die Negation dieser Negation, also das wiederhergestellte Sein, aber als die unendliche
Vermittlung und Negativität desselben in sich selbst.“ (Wissenschaft der Logik, Lasson,
II, S.235).
Können wir die vielfältigen Beziehungen zwischen dem Sein und dem Nichts in der
buddhistischen Dialektik in eine logische Ordnung einfügen, ähnlich derjenigen, die
Hegel enthüllt hat? Die Weisheit der Leere mündet in der Erfassung der Diesheit, tathatā,
die irgendwie Hegels Wiederherstellung der Unmittelbarkeit des Seins ähnelt. Gewiss ist
es nicht leicht, Hegelsche Denkformen zu verwenden, um das Madhyamaka zu erhellen,
weil die Macht des Negativen bei Hegel immer konstruktiv bleibt, während im
Madhyamaka eine nicht-implikative Negation (pratasja-pratisedha) das Spiel des
Gedankens beherrscht. illusorische Anhaftungen und eigensinnige Fixierungen werden
abgebaut, ohne dass irgendetwas positiv behauptet würde.
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T.R.V. Murti behauptet, dass bei Nāgārjuna die konventionelle Wirklichkeit vom
Standpunkt der absoluten Wirklichkeit aus betrachtet durch und durch irrig sei, während
Hegels Verständnis der Arbeit des Begriffes die volle Wahrheit des „Scheins“ in seiner
Ganzheit bewahrt (The Central Philosophy of Buddhism, London, 1960, S.301-306). Die
Dialektik des Madhyamaka vollzieht sich dagegen durch Verneinung der Ansichten, und
nicht durch deren Addition. Man kann aber auch Hegels Logik als kritisch-dialektische
Dekonstruktion der metaphysischen Denkkategorien verstanden. Die Rolle, die Hegel der
Negation in seinem Denken zuweist, bringt ihn in die Nähe buddhistischer Dialektik, in
der jedes Ding, jedes Bewusstseinselement, die Negation seiner selbst ist: Die Existenz
wird selbst eine negative, sich selbst verzehrende Macht, in einer Weise, die an den
Nihilismus grenzt.
Es ist dieser Arbeit der Negation in Bezug auf die logische Determination des Denkens
zu verdanken, dass das freie Denken sich in der Form des Begriffs oder der Idee
verwirklicht. Im Madhyamaka gehört das Denken überhaupt der konventionellen Ebene
an und die höchste Wirklichkeit wird als Auflösung aller begrifflichen Unterschiede
vorgestellt. Wie im Fall Heideggers bleibt es meines Erachtens sehr verheißungsvoll,
zwischen Hegel und den Buddhismus einen „liebenden Streit um die Sache“ anzufachen.
Anmerkungen zu Heideggers Dialektik
Wenn wir uns bemühen, die ontologische Lage der Menschen nicht nur
phänomenologisch, sondern auch begrifflich zu erfassen, bedeutet das notwendigerweise
einen Verrat an der Reinheit des phänomenologischen Ansatzes? In Was ist Metaphysik?
beginnt auch Heidegger damit, Sein und Nichts zusammenzudenken, als Phänomene, die
aufs engste aufeinander bezogen sind. Diese dialektischer Denkbewegung, die Heidegger
in die Nachbarschaft Hegels rückt, wird in der späteren ‘Einleitung’ und im ‘Nachwort’
der Antrittsvorlesung fortgesetzt. Auch in späteren Texten Heideggers finden wir quasidialektische Denkbewegungen. In Zeit und Sein (1962) erinnert eine sich
selbstaufhebende Sprache an die Diktion der negativen Theologie und noch mehr an die
des Madhyamaka, des Zen und des Taoismus, besonders in der abschließenden
Behauptung: „Ein Hindernis dieser Art bleibt auch das Sagen vom Ereignis in der Weise
eines Vortrags. Er har nur in Aussagesätze gesprochen“ (GA 14:30). Auch Nāgārjuna
leugnet dass er Sätze darbietet; Sätze können nur dem Bereich konventioneller Wahrheit
angehören.
In „Grundsätze des Denkens“ (1957), wo er zeigt, dass die höchsten Denkgesetze, wie
die Sätze der Identität, des Nicht-Widerspruches, des ausgeschlossenen Dritten, im
deutschen Idealismus dynamisch und beweglich werden, spricht Heidegger sehr
wohlwollend über die Hegelsche Dialektik: „Das Denken wird wissentlich dialektisch“
(GA 11:128; GA 79:82), nicht nur bei Fichte, Schelling, und Hegel, sondern auch bei
Hölderlin und Novalis. Unsere Gegenwart wird immer noch angesprochen von diesem
geschichtlichen Ereignis, „dass das Denken in die Dimension der Dialektik eingegangen
ist“ (GA 11:130; GA 79:84). „Durch die Dialektik gewinnt das Denken jenen Bezirk,
innerhalb dessen es sich selber vollständig denken kann“ (11:131; 79:85). Das Denken
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kommt zum ersten Mal zu sich selbst, und setzt „eine gründlichere Maßgabe“ (11:131;
79:86) für die Denkgesetze.
„Wenn das Denken, von einer Sache angesprochen, dieser nachgeht, kann es ihm
geschehen, dass es sich unterwegs wandelt“ (GA11:33; 79:115). Diese Bemerkung am
Anfang von „Der Satz der Identität“ fasst Heideggers Ringen mit den Axiomen des
Denkens zusammen, das mit Der Satz vom Grund anfängt. Nur die „Sache selbst“ hat die
Macht, das Denken zu verwandeln. Wie übt sie diese Macht aus? Vielleicht, indem sie
das dialektische Potential des Denkens selbst entfaltet. Wiederum gibt es hier gewisse
Affinitäten mit dem Hegelianismus. Das Denken sucht „auf den Weg zu achten, weniger
auf den Inhalt“ (11:33; 79:115). Inwiefern unterscheidet sich dieses Achten auf den Weg
vom Selbstbewusstsein des Denkens im deutschen Idealismus? Für Heidegger kann
wissenschaftliches Denken nicht den Platz des Ursprungs der Gesetze des Denkens
erreiche; es ist ein Ort, der für uns dunkel ist (GA 11: 137-8). Die glänzende scholastische
Selbstevidenz der Gesetze des Denkens ist trügerisch; wir müssen zurückdenken zu ihrem
dunklen Grund. „Durch die Dialektik gewinnt das Denken jenen Bezirk, innerhalb dessen
es sich selber vollständig Denken kann. Dadurch kommt das Denken erst zu sich selbst.“
(GA 11:131; 79:85). Es kommt in einer noch radikaleren Art und Weise zu sich selbst,
wenn es Hegel als Sprungbrett benutzt, um über ihn hinauszuspringen und auf dem
Boden des Taoismus zu landen. Was die dunklen Ursprünge des Denkens anbelangt
zitiert Heidegger Hölderlin: „Es reiche aber, Des dunkeln Lichtes voll, Mir einer den
duftenden Becher“ und anschließend Laozi: „Wer seine Helle kennt, sich in sein Dunkel
hüllt“ (138). Dadurch, dass er einen taoistischen Text zitiert, deutet Heidegger an, dass im
fernöstlichen Denken ein ähnlich dialektisches Bewusstsein gefunden werden kann wie in
seinem eigenen Denken. Der zitierte Text bezieht sich auf die Untrennbarkeit von Ying
und Yang, Sein und Nichts, Leben und Tod, nicht so sehr als eine rein logische Dialektik,
sondern als gegenseitige Durchdringung aller Pole. Heidegger bietet uns hier eine
phänomenologische Wende der „Grundsätze des Denkens“ an, die er nun spielerisch als
Sprünge (Sätze) zum dunklen Grund hin präsentiert.
Der für Heideggers Denkstil typische Chiasmus („Das Wesen der Sprache ist die
Sprache des Wesens“, usw.) vollzieht solche Umkehrungen ständig. Je mehr man sich in
die Sache selbst vertieft, umso mehr vollzieht sich eine Umkehr des Denkens deren
literarische Gestalt die des Chiasmus ist. Diese dialektische Drehung wird von einem
Denken vollzogen, das sich selbst der metaphysischen Logik entwunden hat und sich
vollständig den Phänomenen zugewandt hat. Aber die überraschende Art und Weise, wie
Heidegger die Phänomene „meditativ-besinnlich“ betrachtet, enthält immer noch einen
Restbestand an logisch-dialektischen Denkbewegungen. Es ist eher eine Einweg-Logik
als eine kumulative Dialektik, und in dieser Beziehung kann sie in der Tat mit der
Einweg-Logik des Laozi verglichen werden.
In „Das Wesen der Sprache“ bezeichnet Heidegger „Weg“ als „ein Urwort der
Sprache, das sich dem sinnenden Menschen zuspricht.’ Heidegger bezieht sich auf das
Tao, „das Leitwort im dichtenden Denken des Laotse,“ das die Übersetzer aufgrund ihres
oberflächlichen Verständnisses der „Metaphern“ sich nicht trauten mit „Weg“ zu
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übersetzen und stattdessen Begriffe wie „Vernunft“, „Geist“, „Raison“, „Sinn“ oder
„Logos“ bevorzugten. Heidegger zufolge wären wir gut beraten, das Tao eher als „der
alles be-wëgende Weg“ zu verstehen. Erst wenn wir uns der Eigentümlichkeit eines
solchen „Weges“ bewusst geworden sind, haben wir die richtige Grundlage gewonnen,
um über so etwas wie „Grund“, „Logos“ und Sinn zu sprechen, was nur dann gelingt,
wenn „wir diese Namen in ihr Ungesprochenes zurückkehren lassen und dieses Lassen
vermögen“ (GA 12:187). Das grundlegenden „Gesetz des Denkens“ wäre in diesem Fall
dieser ursprüngliche Weg selbst. Wiederum vollzieht sich eine dialektische Umdrehung,
und drängt sich ein Chiasmus auf: „Der Weg des Denkens ist das Denken des Weges.“
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