Reaktionsfolgen und Quasistationarität

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Prof. Dr. H.-H. Kohler, WS 2004/05
A.5
PC1 Kapitel A.5- Reaktionsfolge
A.5-1
Reaktionsfolgen: Quasistationarität bei reaktivem Zwischenprodukt
A.5.1 Allgemeines
Wenn das Produkt einer Reaktion R1 Edukt einer anderen Reaktion R2 ist, so
spricht man von einer Folgereaktion oder besser einer Reaktionsfolge. Als
Beispiel betrachten wir die Folge zweier Teilreaktionen einfacher Art:
(1)
( R1)
A+B
( R 2)
AB
AB
C+D
R1 sei reversibel, R2 irreversibel. Die beiden Teilreaktionen können zu der irreversiblen Gesamtreaktion
(2)
(R )
A+B
C+D
aufaddiert werden. Da der Stoff AB in der Gesamtreaktionsgleichung nicht mehr
in Erscheinung tritt, stellt er ein Zwischenprodukt der Reaktionsfolge dar. Offensichtlich ist R eine komplexe Reaktion im Sinne von Abschnitt A.1.
Eine Reaktionsfolge kann im Prinzip aus beliebig vielen reversiblen oder irreversiblen Teilreaktionen bestehen. Nur in einfachen Fällen ist es möglich, die Konzentrationsänderungen mathematisch geschlossen zu behandeln.
Ein besonders einfacher Fall soll hier, ausgehend von den Reaktionsgleichungen
(1), genauer untersucht werden. Wir machen die stark vereinfachende Zusatzannahme, dass die Rückreaktion von R1 und/oder die Reaktion R2 so schnell
sind, dass das in der Hinreaktion von R1 gebildete Zwischenprodukt AB praktisch sofort wieder verbraucht wird. AB ist damit ein so genanntes reaktives
Zwischenprodukt, und es gilt
(3a)
c AB » 0
Da c AB nahezu Null ist, ist es auch nahezu konstant. Man spricht von der
Quasistationarität des reaktiven Zwischenproduktes. Daher kann man auch die
Zeitableitung von c AB näherungsweise gleich Null setzen:
(3b)
d c AB
=0
dt
Quasistationaritätsnäherung für das reaktive
Zwischenprodukt
Es ist wichtig, dass man Gln.(3a,b) als Näherungsgleichungen versteht. Gl.(3a)
darf nicht so interpretiert werden, dass c AB im strengen Sinn Null ist. Dann
könnten die Produkte C und D gar nicht gebildet werden. Richtiger gelesen bedeutet Gl.(3a): c AB ist sehr klein gegenüber den interessierenden Konzentrationsänderungen der Stoffe A, B, C oder D, es ist also nur "quasi Null".1 Bei einer
irreversiblen Reaktion der Art (R) ist die Größenordnung der interessierenden
Konzentrationsänderungen typischerweise durch die Anfangskonzentration eines
1
"Quasistationär" für sich heißt cAB konstant. Für das reaktive Zwischenprodukt gilt zusätzlich, dass "konstant" gleich Null ist, s. Gl.(3a).
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der Edukte, z. B. von A, gegeben. Dann kann man Gl.(3a) spezialisieren zur
Forderung:
c AB
(3c)
c A (0)
Wir gehen zu einem Beispiel über:
A.5.2
Beispiel: Hydrolytische Rohrzuckerspaltung in saurer wässriger Lösung2
A.5.2.1 Allgemeine Form der kinetischen Gleichungen
Die Gesamtreaktion der hydrolytischen Rohrzuckerspaltung lautet (R = Rohrzucker = Saccharose, G = Glucose, F = Fructose):
(4a)
(R)
R
+ H2O
®
G+ F
Die Reaktion ist im Sauren H -katalysiert. Im Detail gilt, ähnlich wie in Gl.(1) angenommen:
k +1
(4b)
( R1)
R+H
RH
k 1
(4c)
( R 2)
RH
H2O
k2
G+F+H
R1 und R2 sind Reaktionen einfacher Art. Das H -Ion lagert sich an den Sauerstoff der glykosidischen Bindung des Rohrzuckers an und bildet so den
protonierten Rohrzucker RH .
Für die direktionalen Reaktionsgeschwindigkeiten (s. Kapitel A.4) machen wir die
(durch experimentelle Untersuchungen gedeckten) Ansätze:
(5a)
v
1
k 1cR cH
v
1
k 1cRH
v2
k2 cRH
Die Hinreaktion von R1 ist also von 2., die Rückreaktion von R1 wie auch die
Reaktion R2 von 1. Ordnung. Die Wasserkonzentration ist als konstante Größe
in k 2 eingearbeitet. Die Netto-Reaktionsgeschwindigkeit der Reaktion R1 ist
v1 v 1 v 1 .
Da insgesamt 2 Teilreaktionen einfacher Art vorliegen, ist das kinetische Verhalten des Reaktionssystems - unter Beachtung der allgemeinen stöchiometrischen
2
Diese Reaktion wird auch als Rohrzucker-Inversion bezeichnet, da sich bei der Reaktion das
Vorzeichen der optischen Drehung ändert. Wenn man bei 20°C mit einer reinen Rohrzuckerlö20 .
sung beginnt, ändert sich die optische Drehung von [ D ] 66 auf [ D ]
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Beziehung der Gl.(A.4-2d) - durch die differentiellen Ansätze zweier (kinetisch
unabhängiger) Komponenten vollständig beschreibbar3.
Wählen wir als entsprechende "kinetische Leitsubstanzen" R und RH , so lauten
die differentiellen Ansätze unter Beachtung von Gl.(5a):
dc RH
(5b)
v1 v 2 (k 1 c H c R k 1 c RH ) k2 c RH
dt
dc R
(5c)
v1
(k 1 c H c R k 1 c RH )
dt
Durch die Vorzeichen der v i wird berücksichtigt, dass R Edukt der Reaktion R1,
RH hingegen Produkt von R1 und Edukt von R2 ist.
Die Zeitableitungen der übrigen Stoffe sind durch die Stöchiometrie der Teilreaktionen R1 und R2 mit den Zeitableitungen der Konzentrationen der Leitsubstanzen verknüpft:
(5d)
dcH
dt
v1
(5e)
dcG
dt
dcF
dt
dcRH
dt
v2
dcRH
dt
v2
dcR
dt
Integration dieser Gleichungen über der Zeit liefert mit den Anfangswerten
cH (0) , cG (0) und cF (0) unter Verwendung der Abkürzung c c c(0) sofort
(6a)
cH
(6b)
cG
cRH
cF
cRH
cR
Dies besagt, dass die stöchiometrischen Kopplungen zwischen den differentiellen Änderungen - Gln.(5d,e) – genauso gut für endliche Konzentrationsänderungen gelten. Mit Hilfe von Gl.(6a) kann man c H auf der rechten Seite der
Gln.(5b,c) eliminieren ( cH = cH(0) + cRH(0) - cRH ). Es verbleibt ein System aus
zwei gekoppelten nichtlinearen Differentialgleichungen erster Ordnung für die
Variablen cRH und cR 4. Aufgrund der Nichtlinearität besteht im Allgemeinen
keine Aussicht, das System geschlossen zu lösen, es kann nur numerisch gelöst
werden.
3
Komponente = Stoff- oder Teilchensorte. Bei n miteinander gekoppelten Reaktionen ist ein
Satz von n Komponenten kinetisch unabhängig, wenn aus den Konzentrationsänderungen dieser Komponenten eindeutig auf die Nettoreaktionsgeschwindigkeiten v1, v 2 .... vn geschlossen werden kann. Im Hinblick auf das Gleichungspaar (5b) und (5c) verlangt dies, dass die
rechten Seiten dieser Gleichungen linear voneinander unabhängig sein müssen. (Informieren
Sie sich gegebenenfalls über den mathematischen Begriff der linearen Unabhängigkeit.)
4
Es handelt sich um ein Differentialgleichungssystem 2. Ordnung. Es gilt: Ordnung eines Systems gekoppelter Dgln = Summe der Ordnungen der einzelnen Dgln. In der Regel führt eine
komplexe Reaktion auf ein Dgl.-System, dessen Ordnung mit der Anzahl der gekoppelten Reaktionen einfacher Art übereinstimmt. Eine einfache Reaktion für sich liefert demnach immer
eine Dgl. erster Ordnung! (Vergl. Dgln. in Kapiteln A.2 bis A.4.)
Man beachte: Die Ordnung von Differentialgleichungen hat mit der kinetischen Ordnung einer
Reaktion (Reaktionsordnung) nichts zu tun (verschiedene Begriffe!).
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Stellt RH jedoch ein reaktives Zwischenprodukt dar, so kann das Reaktionsgeschehen in guter Näherung durch eine einfache geschlossen lösbare Differentialgleichung erster Ordnung beschrieben werden. Dies ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
+
A.5.2.2 RH als reaktives Zwischenprodukt - Quasistationaritätsnäherung
Da R eine sehr schwache Base (bzw. RH eine starke Säure) ist, wird RH
durch die Rückreaktion von R1 sehr schnell wieder abgebaut. Folglich wird RH
nur in sehr geringer Konzentration vorliegen, es ist also ein reaktives Zwischenprodukt wie in Abschnitt A.5.1 definiert. Aus der Quasistationaritätsnäherung der
Gln.(3a,b) wird hier:
(7a)
cRH » 0
(7b)
dc RH
dt
0
bzw.
c RH
0
Damit wird aus Gl.(5b)5
(7c)
v1
v2
k
1 c Hc R
( k2
k 1) c RH
0
und die Gln.(6a,b) vereinfachen sich zu
(7d)
cH
(7e)
cG
0
cF
cR
Gl.(7d) bringt zum Ausdruck, dass sich die H -Konzentration durch die Reaktion
praktisch nicht ändert6. Also gilt die Näherung:
(7f)
cH
cH(0)
Weiter erhält man aus Gl.(7c), indem man nach c RH auflöst und Gl.(7f) berücksichtigt7:
k 1
(7g)
c RH
c (0) c R
k 1 k2 H
Setzt man dies, wiederum unter Berücksichtigung von Gl.(7f), in Gl.(5c) ein, erhält man
dc R
kc H (0) c R
(8a)
dt
~
k
5
Angesichts der Gln.(5b) und (7c) kann man die Quasistationaritätsnäherung dcRH / d t 0
auch (und am richtigsten) damit rechtfertigen, dass dcRH / d t sehr viel kleiner ist als v1 . Das in
Reaktion 1 netto gebildete Zwischenprodukt reichert sich also nicht erst an, sondern geht wegen seiner hohen Reaktivität direkt in die Reaktion 2 ein. Daher v1 = v 2 (s. Gl.(7c)).
6
Die Beziehungen von Gln.(7d,e) erhält man auch aus der Stöchiometrie der Gesamtreaktionsgleichung (4a), wenn man diese als Reaktion einfacher Art interpretiert.
7
Bei der Behandlung von RH als reaktivem Zwischenprodukt haben wir vorausgesetzt, dass
c RH sehr klein ist gegenüber cR und cH(0) . Nach Gl.(7g) muss daher gelten:
k1 cH (0), k1 cR
k 1 k 2 . Diese Ungleichungen werden vom Reaktionssystem bei realistischen Werten von cH (0) und cR bestens erfüllt.
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Dabei ist k gegeben durch
(8b)
k 1 k2
k 1 k2
k
Im Endeffekt führt Gl.(7a) also auf eine einfache Kinetik quasi-erster Ordnung
(vergl. Gl.(A.2-2) und den dortigen Kommentar zur Quasiordnung)8. Die Lösung
von Gl.(8a) lautet (s. Kapitel A.2)
(8c)
cR
cR (0) e
kt
cR (0) e
k cH(0) t
Graphische Darstellung von Gl.(8c):
cR
t
0,00
1
k cH (0)
0,0
Aus Gl.(7e) folgt für die Produktkonzentrationen mit Gl.(8c) bei cG (0) = cF (0)
(analog zur einfachen Reaktion 1. Ordnung, s. Gl.(A.2-10)):
(8d)
cG
cF
cR (0)
cR
cR (0)(1
e
kt
)
Kommentare:
Halbwertszeiten:
Bei 25°C findet man für k den Wert 0,65 h 1 mol 1 l . Für die Halbwertszeit folgt
(s. Gl.(A.2-8b)): t1/ 2 ln2 / k ln2 /(k cH(0)) . Somit bei pH = 5: Dt1/ 2 » 12a (a
= annum = Jahr), bei pH = 0: t1/ 2 1 h . Aus dem Vergleich der Halbwertszeiten erkennt man den starken Einfluss der H -Katalysatorkonzentration auf die
Reaktionsgeschwindigkeit.
H -Katalyse spielt bei vielen Reaktionen der organischen Chemie und der Biochemie eine wichtige Rolle.
Gesamtschau:
Man kann Gl.(8a) relativ leicht aus einer Gesamtschau der Reaktion herleiten,
indem man die Bildungsrate von Glucose (oder Fruktose) bilanziert:
+
+
RH wird durch die Hinreaktion 1 mit der Rate v +1 = k +1 cRcH gebildet. Die H Konzentration ändert sich praktisch nicht, also vereinfacht sich dies zu
v +1 = k +1 cRcH(0) .
8
Die Quasistationarität des reaktiven Zwischenproduktes wird im Versuch "Reaktionskinetik"
des Grundlagenpraktikums eine wichtige Rolle spielen.
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Da sich RH+ nicht anreichert (reaktives Zwischenprodukt!), wird das gebildete
Zwischenprodukt mit derselben Rate v +1 gleich wieder verbraucht. Sei x 2 der
Anteil, der dabei in die Produktbildung geht. Dann gilt d cG / d t = v +1 x 2 , wobei
x 2 gegeben ist durch
x2 =
v2
k 2 cRH
k2
=
=
(v -1 + v 2 ) cRH k -1 + cRH k 2 k -1 + k 2
Mit den Ausdrücken für d cG / d t und v +1 führt das auf
k2
d cG / d t = k +1 cRcH(0)
k -1 + k 2
Da sich RH+ nicht anreichert, besteht die Beziehung d cG / d t = -d cR / d t . Damit
ergibt sich Gl.(8a)!
Varianten der Quasistationarität:
Neben der hier behandelten Quasistationarität des reaktiven Zwischenprodukts
gibt es verschiedene andere Quasistationaritätsnäherungen. Jede derartige Näherung hat zur Folge, dass eine Differentialgleichung in eine algebraische Gleichung umgewandelt wird (bei uns Ersatz von Gl.(5b) durch Gl.(7c)). Wie am Beispiel der Rohrzuckerspaltung gezeigt, ergeben sich daraus erhebliche Erleichterungen, nicht nur für den Rechengang, sondern auch für das Verständnis des
Reaktionsgeschehens.
A.5.3 Zusammenfassung
Die Konzentration eines reaktiven Zwischenproduktes ist vernachlässigbar klein
gegenüber den Konzentrationsänderungen der Edukt- und Produktstoffe der Gesamtreaktion, Gl.(3a) sowie Gln.(7d,e).
Entsprechend kann die zeitliche Änderung der Konzentration eines reaktiven
Zwischenproduktes gegenüber den Netto-Reaktionsgeschwindigkeiten der beteiligten Teilreaktionen vernachlässigt werden (Quasistationaritätsnäherung). Insbesondere kann die zeitliche Änderung der Konzentration des reaktiven Zwischenproduktes in seiner eigenen Stoffmengenbilanz gleich Null gesetzt werden
(Gl.(3b) und Gln.(7b,c)). Daher kann die Konzentration des Zwischenproduktes
auf algebraische Weise berechnet werden, Gln.(7c) und (7g).
Die kinetischen Ansätze einer aus zwei Teilreaktionen bestehenden Reaktionsfolge (Gln.(1) und (4b,c)) führen auf 2 gekoppelte Differentialgleichungen 1. Ordnung, Gln.(5b,c). Liegt ein reaktives Zwischenprodukt vor, kann das System mit
Hilfe der Quasistationaritätsnäherung auf eine einzige Differentialgleichung 1.
Ordnung reduziert werden, Gl.(8a).
Die im Beispiel betrachtete Rohrzucker-Inversion ist H+ -katalysiert. Die Reaktionsgeschwindigkeit ist daher stark vom pH-Wert abhängig.
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