Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM Die Streßinkontinenz der Frau Ein Beitrag zu Diagnostik und Therapie Armin Rost, Peter Krafft und Reiner Pust Aus der Urologischen Klinik und Poliklinik (Direktor: Professor Dr. med. Wilhelm Brosig) des Klinikums Steglitz der Freien Universität Berlin Bei der Streßinkontinenz der Frau handelt es sich um einen unwillkürlichen, spontanen Harnabgang unter besonderen Belastungen. Dieses Krankheitsbild wird sowohl in der Praxis als auch der Klinik beobachtet. Der Blasenverschluß wird bei der Frau durch das multifaktorielle Zusammenspiel eines Verschlußmechanismus, bestehend aus dem Sphinktersystem und dem periurethralen Stützapparat (Spatium vesico- und urethrovaginale) gewährleistet. Normalerweise öffnet sich der Verschlußapparat der weiblichen Harnblase nur bei der Miktion; liegt eine Insuffizienz vor, kommt es bei Anstrengungen, wie Husten, Niesen oder Lachen, aber auch beim Heben von Lasten, die mit einer intraabdominalen Druckerhöhung einhergehen, zum unfreiwilligen, spontanen Urinabgang — der Streßinkontinenz. Ursächlich stehen geburtstraumatische oder durch Operationen hervorgerufene Schädigungen des periurethralen Stützapparates, insbesondere des Tractus pubovesicale im Vordergrund. Ferner spielen die konstitutionelle Gewebsschwäche, die Hypoplasie oder involutionsbedingte Atrophie des Sphinkters eine Rolle. Röntgenkinematographische Studien zeigten, daß es beim Übergang von liegender in stehende Position und bei intraabdominaler Druckerhöhung (Stress) zu Abweichungen der Lagebeziehung zwischen Urethra, Blasenhals, Blasenboden und Symphyse, im Sinne einer Distanzvergrößerung Symphyse - Urethra kommt. Der Blasenhals deszendiert, was mit einer Trichterbildung im Blasenausgangsbereich einhergeht. Normalerweise bleibt bei kontinenten Frauen in Ruhe und beim Pressen der Winkel von 110 Grad zwischen hinterer Urethralwand und Blasenboden erhalten. Bei der Miktion entsteht ein geradliniger Übergang zwischen Trigonumebene und Harnröhre. Bei Inkontinenz ist dieser hintere urethrovesikale Winkel bei Belastung schon von vorneherein gestreckt. Der überdehnte periurethrale Halteapparat ist in Ruhe gerade noch in der Lage, den Blasenverschluß zu garantieren, bei Belastung reicht seine Haltekraft jedoch nicht mehr aus, die Kontinenz zu gewährleisten (Abbildung 1). Andere Autoren bringen die Streßinkontinenz mit der Länge der weiblichen Harnröhre in Zusammenhang. Normalerweise liegt sie bei kontinenten Frauen durch- der Streßinkontinenz Die Frau — der unwillkürliche, unkontrollierte Harnabgang — ist für die betroffenen Patientinnen eine erhebliche Belastung. Die Behandlungsmöglichkeiten sind abhängig vom Grad der Inkontinenz und teilweise auch vom Alter der Patientin. Wenn die konservative Behandlung nicht zum Erfolg führt, kommen verschiedene operative Methoden in Frage, wobei sich nach unseren Erfahrungen die Methode von MarshallMarchetti-Krantz am besten bewährt. schnittlich bei 3,8 Zentimetern. Bei Streßinkontinenten wurden Durchschnittswerte von 2,3 Zentimetern gemessen. Die kritische Harnröhrenlänge, gemessen in stehender Position, bei welcher der Übergang von Kontinenz zu Inkontinenz erfolgt, liegt bei drei Zentimetern. Weitere wesentliche Faktoren für die Kontinenz sind: Intravesikaler Druck, Zustand des Harnröhrenepithels, Ausbildung der subepithelialen Venenplexus, Muskeltonus sowie Quantität und Qualität des elastischen Gewebes der Harnröhrenwand. Die Streßinkontinenz wird in drei Schweregrade eingeteilt: Grad I: Harnträufeln bei Husten und Niesen Grad II: Harnträufeln bei Gehen und Laufen (geringe Steigerung) Grad 111: Harnträufeln auch im Ruhezustand (absolute Inkontinenz) Um Fehlindikationen zum operativen Eingreifen zu vermeiden, und damit Mißerfolgen vorzubeugen, ist eine subtile Differentialdiagnostik gegenüber Inkontinenzen auf der Grundlage einer chronisch unspezifischen Urethritis, Trigonitis, Zystitis, Reizblase, eines Karunkels, Tumors, einer Überlaufblase oder ei- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 15 vom 10. April 1975 1047 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Streßinkontinenz ner neurogenen Ätiologie äußerst wichtig. Darüber hinaus sollte auch die Enuresis diurna bei psychiatrischen Patienten ausgeschlossen werden. Diagnostik Zur Diagnostik gehören eine genaue Anamnese, die körperliche Untersuchung mit neurologischem Status, eine Harnanalyse mit Kultur und Antibiogramm. Schließlich ist eine Urethro-Zystoskopie unerläßlich. Weitere diagnostische Maßnahmen sind in Urogramm und urethro-zystographischen Röntgenuntersuchungen, sowohl im anterior-posterioren als auch im seitlichen Strahlengang zu sehen. Die Länge der Harnröhre kann mit einem graduierten Ballonkatheter gemessen werden. Die Diagnose Streßinkontinenz stellt man mit dem Preßversuch: Die Blase der Patientin in Steinschnittlagerung*) wird mit 250 Kubikzentimeter Kochsalzlösung gefüllt; danach wird sie zum Husten und Pressen aufgefordert. Hustensynchroner Harnabgang ist für eine Streßinkontinenz beweisend. Abschließend erfolgt die Kontinenzprüfung beim Treppensteigen. Zur Vervollständigung der Diagnostik sollten zystomanometrische und Sphinkterdruckmessungen vorgenommen werden. Therapie Abbildung 1: Gestreckter vesiko-urethraler Winkel und verkürzte Harnröhre bei Belastung, als Ausgangssituation für die Streßinkontinenz Steht die Diagnose „Streßinkontinenz" fest, stehen verschiedene therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung: Konservative Behandlungsmethoden Zuerst sei die Beckenbodengymnastik genannt; durch sie wird die quergestreifte Muskulatur des Urogenitaldiaphragma trainiert, um einen auxiliaren muskulären Harnröhrenverschluß zu erreichen. Zusätzlich kann eine unterstützende hormonelle Therapie mit Androgenen (zum Beispiel Proviron® 20 Milligramm täglich oral oder Testoviron® Depot 250 Milligramm monatlich intramuskulär) versucht werden, die eine Sphinktertonisierung bewirkt. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, temporär Abbildung 2: Zustand nach operativer Rekonstruktion des normalen vesikourethralen Winkels und Normalisierung der Harnröhrenlänge 1048 Heft 15 vom 10. April 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT *) Steinschnitt-Lage: Rückenlage mit gespreizten und im Hüft- und Kniegelenk gebeugten Beinen Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Streßinkontinenz den Blasenhals mit einem Pessar zu elevieren. Neuerdings wird über unterschiedliche Erfolge durch Elektrostimulation des Beckenbodens berichtet. Operative Behandlungsmethoden In der Literatur wird eine Vielzahl von Operationsverfahren mitgeteilt, aus denen sich einige Standardmethoden herauskristallisiert haben. Nach Ausschluß eines Genitaldeszensus stehen folgende therapeutische Prinzipien zur Verfügung: Unterpolsterungsmethoden Im Bereich des Blasenhalses wird durch körpereigenes oder alloplastisches Material ein Widerlager gebildet, um bei erhöhtem Intraabdominaldruck den Blasenverschluß zu erreichen. Hierzu gehört die Diaphragmaplastik, eine Modifikation der vorderen Kolporrhapie, bei der paraurethrale Anteile des Diaphragma urogenitale mit tiefgreifenden Nähten unterhalb der Harnröhre gerafft werden. In diese Kategorie sind außerdem die Bulbokavernosus-Fettlappenplasti k, die Rollenplastik und die unterstützenden Methoden mit alloplastischem Material einzureihen. Die vesikovaginale Uterusinterposition ist nur noch von historischem Interesse. Suspensinosplastiken Diese meist kombinierten abdomino-vaginalen Verfahren gehen im Prinzip alle auf die Methode von Goebell, Stoeckel und Frangenheim zurück und wurden vielfach modifiziert. Meist wurden Faszienstreifen aus der Obliquusaponeurose oder Rektusscheide gebildet, paraurethral nach unten gezogen und von einer Kolpotomie aus vereinigt. Auch frei transplantierte Faszienstreifen aus der Fascia lata des Oberschenkels und xenogen transplantiertes Sehnengewebe wurden angewandt. Abbildung 3: Schematisierter Operationssitus bei der Urethro-Zystopexie nach Marshall-Marchetti-Krantz Das Problem bei diesen Methoden liegt im Faszienzug: Zu geringer Zug bringt keinen Erfolg, während eine Überkorrigierung zu Harnverhaltung und Restharnbildung führen kann. Einen weiteren Fortschritt brachte das von Zoedler verwandte grobmaschige, monofile Nylonnetzband, das ohne besondere Spannung angelegt wird und mit Granulationsgewebe durchsetzt, ein festes Widerlager bildet. Bei diesem Vorgehen kann es aber zu Fremdkörperund Abstoßungsreaktionen kommen; vereinzelt wurde bei zu starkem Zug das Harnröhrenlumen vom Band durchschnitten. In unserer Klinik wenden wir meist die Suspensionsplastik nach Marshall-Marchetti-Krantz an. Bei dieser Operation wird auf relativ „physiologische" Weise, durch leichten Zugang und einfaches operatives Vorgehen, die Elevation des Blasenausgangs, und damit die Rekonstruktion des hinteren vesikourethralen Winkels erreicht. Die Harnröhrenlänge wird normalisiert (Abbildung 2). Bei dieser Methode ist man unabhängig von körpereigenen oder Fremdmaterialien. Das alleinige abdominale Vorgehen verhindert eine Wundkontamination mit Vaginalkeimen, belastet die Patientin wenig und ist mit einer geringen Komplikationsrate verbunden. Vor der Operation wird durch digito-vaginale Elevation des Blasenbodens und Streckung der Harnröhre — ohne diese jedoch zu komprimieren — bei gefüllter Blase die prospektive Kontinenz geprüft. Operatives Vorgehen Nach sterilem Einlegen eines 22 Charree-Foley-Katheters werden in Steinschnitt-Lage von einer suprapubischen Querinzision, nach Auseinanderdrängen der Rektusbäuche, der Blasenhals und die proximale Urethra freigelegt. Von vaginal her wird durch Zeige- und DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 15 vom 10. April 1975 1049 Zur Fortbildung Aktuelle Medizin StreBinkontinenz KOMPENDIUM Mittelfinger des Assistenten der Blasenausgang eleviert und das paraurethrale Gewebe bilateral mit vier Chromic-Catgut-Nähten Nr. 1 am Periost des Schambeins fixiert. Zwei die Blasenmuskulatur fassende Nähte werden transrektal gestochen und an der Rektusscheide angeheftet. Anschließend wird die Vagina für drei Tage tamponiert. Der Dauerkatheter wird sieben Tage belassen (Abbildung 3). Wann wird ein neues Hörgerät nötig? Die Operationsergebnisse unserer Klinik decken sich mit den in der Literatur mitgeteilten Erfolgsraten von etwa 85 Prozent funktioneller Heilungen. ln einem Fall entwickelte sich postoperativ eine Periostitis des Schambeins. Zur Vermeidung dieser Komplikationsmöglichkeit kann die Vesiko-Urethropexie mit rasch polymerisierenden Cyanoacrylat-Gewebeklebern ausgeführt werden. Die Urethro-Zystopexie nach Marshaii-Marchetti-Krantz wird von uns aus folgenden Gründen bevorzugt: ..,.. Physiologische Methode der Elevation des Blasenausgangs, der Rekonstruktion des hinteren vesiko-urethralen Winkels und der Normalisierung der Harnröhrenlänge. ..,.. Einfacher Zugang, leichte technische Durchführbarkeit. ..,.. Geringe Patientenbelastung. ..,.. Unabhängigkeit von allo- und autoplastischen Transplantaten. ""' Geringe Komplikationsrate. ..,.. Retropubisches Verfahren zeigt gute Ergebnisse. ..,.. Der alleinige abdominale Zugang verhindert eine Wundinfektion durch Vaginalkeime. Literatur bei den Verfassern Anschrift der Verfasser : Dr. med. Armin Rost Dr. med . Peter Krafft Dr. med. Reiner Pust 1 Berlin 45 Hindenburgdamm 30 1050 Birgit Schirmer, Erhard Kurz, Hans Rudolf Nitze Aus der Hals-Nasen-Ohren-Klinik (Chefarzt : Privatdozent Dr. med. Hans Rudolf Nitze) im Städtischen Krankenhaus Berlin-Neukölln Bei 80 Prozent aller Schwerhörigen kann nur ein Hörgerät helfen. Die Länge des Intervalls zwischen zwei Anpassungen wird nach unseren Untersuchungen in erster Linie von der Abnutzung der Hörapparate und erst in zweiter Linie von der Progr edienz der Schwerhö rigkeit begrenzt Eine Kontrolle der Hörgerätefunktion sollte nach drei bis fünf Jahren vorgenommen werden, wobei ke ineswegs immer ein neuer Apparat angepaßt werden muß. Ein Viertel der Patienten hatte mit dem alten Gerät noch nach sieben Jahren einen guten Hörgewinn. Die Indikation zur Erstanpassung eines Hörgerätes wird heute nach weitgehend festgelegten Kriterien gestellt. Hierzu gehört die Einschränkung des sogenannten sozialen Gehörs auf beiden Ohren (beispielsweise bei der Presbyakusis), so daß normale Umgangssprache (Zahlen) nicht weiter als in einer Entfernung von sechs Metern verstanden wird. Alle Träger von Hörgeräten benötigen praktisch ihre Hörhilfe für den Rest ihres Lebens, also über Jahre und Jahrzehnte. Das macht aber von Zeit zu Zeit einen Ersatz des Gerätes notwendig. Der günstigste Zeitpunkt für eine Zweitanpassung ist allerdings noch umstritten : Das empfohlene Intervall reicht von drei , meist fünf bis zu acht Jahren. Der Zweitanpassunastermin hängt vor allem von zwei Faktoren ab: ..,.. dem individuellen Fortschreiten der Schwerhörigkeit, Heft 15 vom 10. April1975 DEUTSCHES ARZTEBLATT ..,.. der Haltbarkeit der Hörgeräte. Ein Hinauszögern des Hörgerätewechsels kann zu einer sozialen Benachteiligung der Schwerhörigen führen, während ein zu häufiger und zu früher Wechsel von den Kostenträgern erhebliche, aber unnötige Aufwendungen erfordert. Um den günstigsten Zweitanpassungstermin bestimmen zu können, sahen wir uns die audiologischen Daten von 571 Patienten , die in den Jahren 1965 und 66, 1968 und 69 sowie 1971 bis 1973 zur Zweitanpassung eines Hörgeräts zu uns kamen, an. Die Untersuchten waren durchschnittlich 70 Jahre alt und trugen ihr Hörgerät seit sechs bis sieben Jahren (Darstellung 1). Das Fortschreiten der Schwerhörigkeit Das Hörvermögen dieser Schwerhörigen wurde durch mehrere Parameter charakterisiert: r>