Komplexe Zahlen in der Elektrotechnik Die klassischen Gesetzte der Elektrotechnik wie U =RI gelten genau genommen nur für den statischen Fall, wenn also keine zeitlichen Veränderungen auftreten. Im dynamischen Fall mit wechselnden Verhältnissen braucht man sogenannte Differentialgleichungen. Diese Gleichungen sind aber schwer zu lösen, oft sogar nur numerisch und schrittweise1. Dynamische Phänomene treten vor allem beim Betrieb mit Wechselstrom auf, genau genommen aber auch schon bei Einund Ausschaltprozessen2.Entspricht der Wechselstrom, wie meist üblich, einer Sinusschwingung sind die Differentialgleichungen relativ einfach und können mittels komplexen Funktionen gelöst werden, bei einfachen Schaltung sogar via Zeigerdiagramm3. Hinweis: In der Elektronik steht i meist für die Stromstärke zu einem gegebenen Zeitpunkt. Um Verwechslungen zu vermeiden wird deshalb für die imaginäre Zahl j anstelle von i verwendet. Hinweis: Bei periodischen Verhalten wird je nachdem die Frequenz f (Anzahl Umläufe pro Zeiteinheit), die Kreisfrequenz ω (überstrichener Winkel in Bogenmass pro Zeiteinheit) oder die Periodendauer T verwendet. ω=2 π f = 2π T Zeigerdiagramm und komplexe Zahlen Anstelle des Zeigerdiagramm zur Darstellung der Impedanz, kann man auch eine komplexe Zahl Z verwenden. In kartesischer Form entspricht Re(Z) dem Wirkwiderstand R und Im(Z) dem Blindwiderstand X, in polarer Darstellung die Länge r dem Scheinwiderstand Z und der Winkel φ der Phasenverschiebung. Einfachere Schaltungen lassen sich durchaus mittels Verkettung der einzelnen Zeiger lösen. So zeigt das Zeigerdiagramm links eine serielle Schaltung eines Widerstandes, einer Spule und eines Kondensators sowie den resultierenden Scheinwiderstand URLC. Bei komplexeren Schaltungen kommt man diesem Vorgehen aber schnell einmal an die Grenzen. Bauteile und Formeln Ein idealer Widerstand verhält sich bei Wechselstrom gleich wie bei Gleichstrom, erzeugt also weder Blindwiderstand noch Phasenverschiebung. Z =R Eine ideale Spule (ohne Eigenwiderstand) reagiert auf eine Änderung des Stroms mit einer entgegengesetzten proportionalen Spannung. Im Falle eines Sinusförmigen Wechselstroms, ist diese Spannung um 90° phasenverschoben (Die Spannung eilt dem Strom voraus). Meist hat die Spule aber einen Eigenwiderstand und somit eine Phasenverschiebung kleiner als 90°. Ein idealer Kondensator reagiert auf eine Änderung der Spannung mit einem entgegengesetzten proportionalem Strom. Im Falle eines Sinusförmigen Wechselstroms, ist dieser Strom um 90° phasenverschoben (Der Strom eilt der Spannung voraus). 1 Das heisst, man muss relative kleine Zeitschritte wählen und kann jeweils nur vom aktuellen Zeitpunkt ausgehend den nächsten berechnen. Die direkte Berechnung der Werte zu einem beliebigen Zeitpunkt ist nicht möglich. 2 In der Physik ändert sich nichts schlagartig. So springt bei einem Anschaltvorgang der Strom nicht sofort auf den Wert des statischen Systems, sondern wächst kontinuierlich an, ähnlich einem Fahrzeug, das beschleunigen muss, um eine Geschwindigkeit zu erreichen. 3 In beiden Fällen müssen sich die Bauteile zudem bezüglich Spannung, Strom und Frequenz linear verhalten. Komplexe Zahlen in der Elektrotechnik 1/4 Jörg Mäder (23.01.2014) Übersicht Spule Differentialgleichungen Wechselstrom 4 6 u (t)= L⋅i ' (t ) Kondensator 5 i(t )=C⋅u ' (t ) u (t)=ω L I 0 cos (ω t) i(t )=ω C U 0 cos (ω t ) Impedanz ideal (ohne Eigenwiderstand7) Z = jω L Verhalten bei ω → ∞ Isolator Kurzschluss Verhalten bei ω → 0 Kurzschluss Isolator Z =−j 1 1 = ω C jω C Berechnungen Da eine komplexe Zahl die Situation eines Zeigers vollständig wiedergeben kann, kann man wieder mit den bekannten Regeln aus der Gleichstromelektronik arbeiten. Widerstand (W), Kondensator (C) und Spule (L) können also auf die gleiche Art behandelt werden und werden daher öfters mit Z in Formeln notiert. 2 Bauteile n Bauteile Seriell Z s=Z 1 +Z 2 Z s=Z 1 + Z 2 +...+ Z n Parallel Z Z Z p= 1 2 Z 1 +Z 2 Z p= 1 1 1 1 + +...+ Z1 Z2 Zn Bei komplexeren Schaltungen geht man ebenfalls wie gewohnt von Innen nach Aussen vor, wobei immer Schaltungen des gleichen Typs (rein seriell oder rein parallel) zusammengefasst werden. Beispiel Zuerst berechnet man R2 & C3 parallel, anschliessend seriell mit R1 und dann parallel mit C4. → Z 23= Z R2 Z C3 Z R2 + Z C3 1 =−500 j ω C1 1 Z R2=200 Z C2=− j =−100 j ω C2 Z R1=100 → Z 123 =Z R1+ Z 13 → Z tot = Z C1=− j Z 123 Z C4 =87.66∢−72.40 °=26.51−83.56 j Z 123 + Z C4 Tipp: Die einzelnen Bauteile (R, C & L) nicht separat sondern gemeinsam durchnummerieren. Dadurch werden Verwechslungen vermieden. Bei Zwischenergebnisse entweder die Nummern kombinieren (siehe Beispiel oben) oder die nächsthöhere zuordnen. Am besten kreist man die entsprechenden Teile in der Skizze ein und beschriftet diesen entsprechend. 4 5 6 7 Differentialgleichungen werden in einem eigenen Kapitel behandelt. Zu lesen als: Die Spannung zum Zeitpunkt t ist mit Faktor L proportional zur Änderung des Stroms zum Zeitpunkt t. Sinusförmiger Wechselstrom: i (t )=I 0 sin (ω t ) Um den Eigen- oder Innenwiderstand zu berücksichtigen, addiert man diesen in Serie zum Bauteil. Komplexe Zahlen in der Elektrotechnik 2/4 Jörg Mäder (23.01.2014) Frequenzabhängigkeit Das Bild rechts zeigt den Effekt der Frequenz auf die Impedanz der innen gezeigten Schaltung als parametrische Grafik, wobei die Frequenz als Parameter verwendet wird. Bei 0Hz (Gleichstrom) hat der Kondensator keinen Einfluss (Isolator), bei sehr hoher Frequenz (ω nahe bei ∞) schliesst er den 10Ω Widerstand kurz. Bei etwas unter 10Hz ist der Scheinwiderstand maximal. Übertragungsfunktion Die Schaltung rechts ist als Spannungsteiler für Gleichstrom bekannt. Durch richtige Wahl der beiden Widerstände R1 und R2 kann die Eingangsspannung UE in einen beliebige kleinere Spannung UA verwandelt werden. Bei Wechselstrom verhalten sich, wie oben gezeigt, Spule und Kondensator analog wie Widerstände, sofern man mit Impedanzen, also komplexen Zahlen, rechnet. Man kann dadurch in der Schaltung des Spannungsteilers auch Spulen und Kondensatoren einsetzen8. Die Ausgangsspannung hängt nun aber nicht nur von den beiden Bausteinen Z1 und Z2 ab, sondern auch von der Kreisfrequenz ω. Die Funktion, die diese Abhängigkeit beschreibt, nennt man Übertragungsfunktion. Analog zum Spannungsteiler basiert sie auf dem Verhältnis von Impedanz über den Abgreifpunkten von UA zur Gesamten. f (ω)= U A Z1 = U E Z tot Typische Anwendung sind Hoch- und Tiefpassfilter, bei denen Z1 respektive Z2 durch einen Kondensator ersetzt werden. Tiefpassfilter: Ist der Kondensator über dem Ausgang montiert (Z1), erzeugt dieser bei sehr hohen Frequenzen kleine Impedanzen, so dass Z1 im Vergleich zur Gesamtimpedanz sehr klein ist und somit nur eine kleine Ausgangsspannung gemessen wird. Hohe Frequenzen werden also gedämpft und somit heraus gefiltert. Bei tiefen Frequenzen wirkt der Kondensator als Isolator mit hoher Impedanz und somit bleibt ein grosser Teil der Spannung erhalten. Tiefe Frequenzen passieren entsprechend den Filter. Hochpassfilter: Funktioniert analog wie der Tiefpassfilter, wobei der Kondensator bei Z2 montiert wird, einfach mit umgekehrter Argumentation. Ein Audiosignal ist natürlich aus mehr als nur einer Frequenz zusammengesetzt, von daher funktioniert die einfache komplexe Mathematik nicht direkt. Da aber ein Audiosignal meistens die Summe aus einzelnen reinen Sinusschwingung ist9, funktioniert die oben verwendete Argumentation weitgehend doch. 8 Oder auch ganze Schaltungen aus diesen. 9 Im Gegensatz zu einem Geräusch, das viel chaotischer strukturiert ist. Komplexe Zahlen in der Elektrotechnik 3/4 Jörg Mäder (23.01.2014) Frequenzabhängige Dämpfung Die beiden Filter sollten die entsprechenden Frequenzen nicht nur ein bisschen dämpfen sondern um Grössenordnungen abschwächen, so dass der Eindruck entsteht, sie seinen komplett ausgefiltert worden. Um das Verhalten des Filters grafische aufzuzeigen wäre also die direkte Darstellung der Übertragungsfunktion ungeeignet. Meist wird deshalb der Logarithmus des ScheinU widerstand10 multipliziert mit 20 dargestellt. (Dezibel [db]). Der Faktor 20 besteht 20 lg A aus Faktor 10 für das Dezi in Dezibel und 2 für das Quadrat der Spannung bei der UE Leistungsberechnung ( log (a2 )=2 log (a) ). ∣ ∣ Das Bild links zeigt die entsprechende Grafik eines Hochpassfilters. Der Widerstand über UA misst 20Ω, der Kondensator hat 3mF. Oberhalb von 10Hz wird das Signal nicht gedämpft, unterhalb hingegen schon. Da auch bei der Frequenz sehr grosse Wertbereiche dargestellt werden müssen, ist horizontale Achse meist logarithmisch11. Die Abbildung rechts zeigt einen Tiefpassfilter, wobei die Y-Achse hier direkt als Dämpfungsfaktor angegeben ist (logarithmisch) und nicht etwa in dB. Hohe Frequenzen (ab 1Hz) werden gedämpft, bei 50Hz schon etwas mit einem Faktor 10. Hinweis: Die Schaltung, für die eine Übertragungsfunktion berechnet wird, kann auch komplexer sein. Entscheidend ist das Verhältnis der Impedanzen über Ausgang und Eingang. Ein etwas komplizierteres Beispiel mit 2 Widerständen (je 1MΩ) und einem Kondensator (250nF) 10 Nicht vergessen: bei komplexen Zahlen steht |x| für die Länge des Vektors. 11 Man beachte das zyklische enger werden der vertikalen Linien (Stichwort Skala eines Rechenschiebers) Komplexe Zahlen in der Elektrotechnik 4/4 Jörg Mäder (23.01.2014)