Die Frage nach dem Sinn des Lebens Der Versuch

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Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Der Versuch einer Klärung unter
dem analytischen Blickwinkel
der angelsächsischen Tradition
Je soussigné, Paul François Letsch, né le 28 février 1974 à Luxembourg,
déclare avoir réalisé ce travail par mes propres moyens.
….................................................
(30 septembre 2014)
Paul Letsch
Avenue du Paepedelle 33a
1160 Bruxelles
Belgique
Professeur-candidat de philosophie au Lycée classique de Diekirch
Travail de candidature:
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Der Versuch einer Klärung unter dem analytischen
Blickwinkel der angelsächsischen Tradition
Lieu d'affectation depuis le 1er septembre 2009
en tant que professeur détaché par le Ministère de l'Éducation nationale:
École Européenne de Bruxelles III
Boulevard du Triomphe 135
1050 Bruxelles
Belgique
Zusammenfassung:
In dieser Abhandlung ergründe ich die Bedeutung des Ausdrucks 'der Sinn des
Lebens' mit Hilfe der analytischen Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts aus dem
angelsächsischen Sprachraum. Die angelsächsisch-analytische Philosophie hat
ihrerseits unterschiedliche Lösungsansätze zur Sinnfrage, die auch außerhalb dieses
Sprach- und Zeitraumes stehen, untersucht. Diese Arbeit beinhaltet eine Aufteilung der
Lösungsansätze in Kategorien, die einer zusätzlichen Verständnistiefe des Ausdrucks
nützlich sind. Die unterschiedlichen philosophischen Aspekte, wie der normative
Bezug, das Perspektivenproblem, der Bewertungsmaßstab für Sinnhaftigkeit, der
unendliche Regress, der Bezug zur Teleologie u. a., die in dem Bedeutungsfeld des
Ausdrucks enthalten sind, werden an sich und untereinander auf ihre Stichhaltigkeit
geprüft. Hierfür wird der Schwerpunkt der Quellenaufarbeitung auf Autoren gelegt, die
ausschlaggebend für diesen Kontext innerhalb der angelsächsisch-analytischen
Philosophie sind: Bertrand Russell, Antony Flew, Kurt Baier, Ronald W. Hepburn, Paul
Edwards und Thaddeus Metz. Daraufhin nutze ich die Ergebnisse dieser Analyse zur
Erschaffung
eines
denkerischen
Ausblicks,
in
dem
die
allgemeinen
Rechtfertigungskriterien möglicher Theorien zur Sinnfrage zusammengetragen
werden. Diese Abhandlung strebt also eine Klärung dessen an, was mit dem Ausdruck
'der Sinn des Lebens' gemeint ist, und zeigt die Möglichkeit auf, dass die Frage in
einem nichtreligiösen, nichtteleologischen und intersubjektiven Rahmen nicht nur
gestellt werden darf, sondern erst hierin an Klarheit und Gültigkeit dazugewinnt.
"stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele
und gehe an ihnen zu Grunde" 1
1 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, Sommer-Herbst 1873, 29/54, in: G. Colli / M. Montinari (Hgg.):
Kritische Gesamtausgabe, 3/4, 1967 ff., S. 259. Zitiert in: Gerhardt, Volker: Sinn des Lebens, in: J. Ritter / K.
Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel: Schwabe & Co. 1995, Sp. 817.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teil 1: Überblick der historischen Lösungsansätze zur Sinnfrage . . . . . . . . . . 15
2. Supranaturalistische und naturalistische Lösungsansätze . . . . . . . . . . 17
2.1 Der Supranaturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.2 Der im engeren Sinne theistische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.3 Eine mögliche Herleitung der theistischen Lösung anhand Tolstois Beichte . 22
2.4 Der naturalistische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
3. Objektivismus und Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.1 Objektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2 Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.3 Dazwischenliegende Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4. Das Leben als sinnlos betrachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4.1 Im Pessimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
4.2 Im Nihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
4.3 Im Existentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Teil 2: Analyse relevanter Begriffe und Begriffsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
5. Die angelsächsisch-analytische Philosophie nimmt sich des Themas an . . . 53
6. Der Sinn vom 'Sinn des Lebens' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
6.1 Der Begriff 'Sinn' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
6.2 Der Begriff 'Zweck' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6.3 Sinnhaftigkeit in Bezug auf das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
6.4 Die Unterscheidung zwischen einer Warum-Frage und einer Wie-Frage . 70
7. Die wesentlichen philosophischen Aspekte der Sinnfrage . . . . . . . . . . . 74
7.1 Rationalität, Emotionalität und moralistischer Fehlschluss . . . . . . . . 75
7.2 Normativer und eudämonistischer Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . 83
7.3 Sinnlosigkeit und Absurdität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
7.4 Die Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
7.5 Der Bewertungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
7.6 Wert, intrinsischer Wert und das Lohnenswerte . . . . . . . . . . . . . 104
7.7 Der unendliche Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
7.8 Tod und Immortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
7.9 Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Teil 3: Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
8. Denkerischer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
9. Schlussfolgerung und weiterführende Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
10. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
1. Einleitung
Wenn ich meine Schüler zu Beginn eines neuen zweijährigen Philosophieunterrichts in
der Sekundarschule2 frage, was sie sich eigentlich unter Philosophie vorstellen und welche
Fragen sie mit diesem Fach in Verbindung setzen, so kehren einige Fragen, wenn auch
unterschiedlich formuliert, besonders oft wieder: Gibt es (einen) Gott? Was ist richtig oder
falsch? Was ist der Sinn des Lebens? Die Philosophie beinhaltet ein geradezu
unüberschaubares Themenspektrum, denn alles kann irgendwie auf eine philosophische
Ebene gehoben werden. Es sicherlich auch nicht falsch, die Sinnfrage in direkte
Beziehung mit der allgemeinen philosophischen Tätigkeit zu setzen. Ob akademisch oder
nicht, und falls nicht bereits religiösen Vorstellungen vorbehalten, die Sinnfrage bildet
einen thematischen Gegenstand, der als authentisch philosophisch angesehen wird,
abgesehen davon, wie man die Beschäftigung mit dieser Frage beurteilt, und ob es
überhaupt einen Zweck hat, sie zu stellen. Was sowohl ihre Wichtigkeit im Leben
insgesamt als auch ihre Relevanz im Alltag angeht, so gibt es ganz unterschiedliche
Vorgehensweisen, wie man sich ihr gegenüber zu verhalten hat: Soll man sie ignorieren,
soll man sie den philosophischen Gelehrten überlassen, soll man sie den Religionen
überlassen, soll jeder sie sich selbst beantworten und dann danach leben oder auch nicht?
Was soll man mit ihr tun? Löst die Sinnfrage nicht auch im Allgemeinen ein etwas
herablassendes Grinsen aus, wenn sie in irgendeinem halbwegs intellektuellen Gespräch
auftaucht, so als würde man mit ihr in die Esoterik eintauchen? Das könne doch jeder nur
mit sich selbst ausmachen, ein vernünftiges Nachdenken könne man hierüber nicht
anstellen. Ist das wirklich so? Sind die Frage selbst und eine mögliche Beantwortung auf
sie so illusorisch und aussichtslos, dass sogar die Philosophie sie nicht oder nicht mehr
als Untersuchungsgegenstand annehmen sollte?
Auf den ersten Blick scheint es, als würde nur stiefmütterlich und ohne gebührende
Strenge über die Sinnfrage diskutiert werden. Auch wenn sich Thaddeus Metz,
ein wichtiger Experte in Sachen Sinnfrage, nur auf die angelsächsische Fachliteratur
beschränkt, so ist seine Behauptung doch aussagekräftig, dass der Sinn des Lebens
wenig Aufmerksamkeit erhalte, obwohl es sich um eine wichtige Frage handele. 3
Der Diskussion fehle der Entwicklungsgrad, der z. B. in der Ethik bestehe. 4 Metz gibt
zwei Gründe an, warum so wenig Interesse vorhanden sei: Zum einen wären wir bisher
nicht in der Lage gewesen, eine klare Analyse der Sinnfrage durchzuführen und
zum anderen würden kantianische und utilitaristische Auffassungen die normativen
2 Das bezieht sich auf den Philosophieunterricht an einer Europäischen Sekundarschule, für meinen Fall die EEB3 in
Brüssel. An diesen Schulen müssen Schüler für die letzten zwei Jahre vor dem Abitur zwischen einem
zweistündigen Pflichtkurs und einem vierstündigen Leistungskurs in Philosophie wählen.
3 Vgl. Metz, Thaddeus: Recent Works on the Meaning of Life, in: Ethics 112 (Juli 2002), S. 781+782. Im Durchschnitt
nur 5 Schriften pro Jahr zu diesem Thema.
4 Vgl. ebd., S. 782.
9
Kategorien kolonisieren, indem die Frage in die Begriffsfelder von Glück und Ethik
aufgespalten wird, so dass man den Eindruck erhält, es handele sich bei der Sinnfrage
um eine Art Niemandsland.5 Doch der Nutzen, ihr einen gebührenden Platz in der Welt
der akademischen Philosophie einzuräumen, scheint eindeutig:
"Beyond the academic world, Western people clearly have a growing interest
in issues of life's meaning. Psychics, televangelists, and self-help gurus are
extensively addressing them, but academic philosophers are not. […] This results
from a lack of philosophical resources."6
Es kann durchaus bezweifelt werden, dass jemals eine einheitliche und vernünftige
Antwort auf die Sinnfrage gefunden wird. Doch der Umstand allein, dass eine Frage
keine Aussicht auf eine eindeutige Antwort vermuten lässt, macht sie nicht zwingend
sinnlos. John Wisdom zum Beispiel fragt sich, ob die Unbeantwortbarkeit einer Frage sie
an sich bereits absurd macht und verneint dies: 7
"this does not render the question senseless nor make it impossible for us to move
towards an answer".8
Auch ich sehe einen Sinn darin, den Prozess der Beantwortung anzugehen, ohne jedoch
den Anspruch erheben zu wollen, dass mögliche Lösungen von definitiver Natur seien.
Jedem
Wissenserwerb
wird
seit
dem
Stand
der
Wissenschaftstheorie
des 20. Jahrhunderts eine definitive Antwort abgesprochen.
Der Sinn des Lebens ist nicht nur ein authentisch philosophisches Thema, es stellt
vielleicht auch die grundsätzlichste Frage der Philosophie überhaupt dar. Oft lässt sie nach
umfassender Überlegung alle anderen als zweitrangig erscheinen. Albert Camus äußert
sich zum Beispiel prägnant in folgenden Worten:
"Il n'y a qu'un problème philosophique vraiment sérieux : c'est le suicide. Juger que la
vie vaut où ne vaut pas la peine d'être vécue, c'est répondre à la question
fondamentale de la philosophie."9
Über die Selbstmordthematik legt Camus Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens unmittelbar
als die Grundlage der Philosophie schlechthin fest. So behauptet auch Nicolai Hartmann,
der Sinn des Lebens sei …
"vielleicht die lebensmächtigste Frage. Darum ist alle spekulative Metaphysik vom
Sinnproblem beherrscht. Wo sie dieses nicht stellt und nicht in irgendeiner Weise zu
lösen sucht, da wird sie leicht von dem im Leben stehenden Menschen abgelehnt,
5 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 782.
6 Ebd., S. 811.
7 Vgl. Wisdom, John: The Meanings of the Questions of Life, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The
Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 221.
8 Ebd., S. 222.
9 Camus, Albert: Le mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde, (collection folio essais n°11), Paris: Gallimard 1985
(11942), S. 17.
10
sie mag im übrigen so tiefsinnig sein, wie sie will. Die Ablehnung einer sinnwidrigen
Welt darf vielleicht überhaupt als stärkste Triebfeder der Metaphysik gelten". 10
Diesbezüglich behauptet auch Elmer Klemke, dass die Beschäftigung mit der Sinnfrage
den wahrhaftigsten Ausdruck des Zustandes der menschlichen Existenz darstelle. 11
Wir sollten uns in der Philosophie also etwas eingehender mit diesem Thema
beschäftigen. Die intellektuelle menschliche Fähigkeit zur Sinngebung führt dazu,
dass letztendlich kein wichtiger Erfahrungsbereich des Menschen von diesem Thema
unberührt bleibt. Dies belegen die Aussagen zahlreicher Autoren. 12
Auch ich glaube, dass ein reflektierender Mensch ihr nicht wirklich ausweichen kann.
Sie stellt sich seinem Leben entgegen, besonders dann, wenn die geläufigen
Vorstellungen zur Sinnstiftung nicht mehr befriedigen. Vielen bekannt ist die Darstellung
dieser Unausweichlichkeit der Sinnfrage von Leo Tolstoi in seiner Beichte13. Mit hoher
emotioneller Intensität verkörpert Tolstoi den sinnsuchenden Menschen, der die Etappen
seines Lebens mit unterschiedlichen mehr oder weniger zufriedenstellenden
Überzeugungen durchläuft, um dann trotzdem auch nur feststellen zu müssen, dass er
der Sinnfrage nicht entkommen kann.14 All das, um den Pessimismus15 oder sogar
den bereits in Erwägung gezogenen Selbstmord 16 zu verhindern oder zu überwinden.
Die Sinnfrage dürfe keinesfalls als dumme Frage abgetan werden, 17 im Gegenteil.
Tolstoi zufolge kommt der Philosophie die Aufgabe zu, die Frage deutlich zu fassen. 18
Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch das Werk Søren Kierkegaards, dessen
Vehemenz in der Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens bekannt ist. 19 Die Religion spielt
bei ihm natürlich eine besondere Rolle. Religiöse Aspekte müssen in diesem Kontext
in Erwägung gezogen werden, auch wenn wir uns nicht mit der Frage befassen werden,
ob die Religion und der Glaube als solche gerechtfertigt werden können oder nicht.
Vielmehr gilt es, die Phänomene Religion und Glaube in ihren Funktionen
als gesamtgesellschaftliche und konzeptuelle Sinnstifter und die hieraus aufzuspaltenden
10 Nicolai Hartmann: Teleologisches Denken, 1951, S.57. Zitiert in: Gerhardt, Volker: Sinn des Lebens, in: Joachim
Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel: Schwabe & Co. 1995, Sp.
822.
11 Basierend auf einem Zitat von Viktor Frankl, vgl. Klemke, Elmer D.: Preface to the Second Edition, in: Klemke,
Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008
(11981), S. xi.
12 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 819. Er erwähnt R. Eucken, H. Gompertz, M. Scheler, P. Hoffmann,
H. Rickert, Th. Litt, N. Hartmann, K. Jaspers, R. Lauth und M. Müller.
13 Lew Tolstoi: Meine Beichte. Vgl. auch V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 817.
14 Auch wenn er sie im Folgenden auf eine eher zweifelhafte Art zu lösen versucht, indem er Zuflucht zur Religion
nehmen möchte, ohne ihr gänzlich verfallen zu wollen.
15 Vgl. Tolstoj, Lew: Meine Beichte, überarb. Übers. v. Alexis Markow, Berlin: Insel Verlag 2010 (11882), S. 29. Das
Leben sei ein "dummer Scherz".
16 Vgl. ebd., S. 28.
17 Vgl. ebd., S. 25.
18 Vgl. ebd., S. 41.
19 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 817.
11
philosophischen Konzepte aus gesunder Distanz zu untersuchen. Dass die Beschäftigung
mit und die Lösung zum Sinn des Lebens für den größten Teil der Menschheit
ein fundamentales Bedürfnis darstellt – vielleicht sogar in den allermeisten Fällen mehr
oder weniger unbewusst – wird eben gerade durch die Popularität der Religionen
unterstrichen. Die Belange des menschlichen Alltags bleiben somit nicht von der Sinnfrage
unbeeinflusst.20 Dementsprechend hat die Sinnfrage Folgen, die weit über
die akademische Philosophie hinausreichen. Die menschliche Fähigkeit, sich selbst von
außen zu betrachten, den Blickwinkel sub specie aeternitas einnehmen zu können,
kann in uns eine existentielle Angst auslösen, 21 die mit etwas Hoffnungsvollem
auszugleichen versucht wird. Auch wenn es wenig vernünftig erscheint und
dem moralistischen Fehlschluss unterliegt, so bleibt es doch eine menschliche Tatsache.
In den westlichen Religionen bildet unser Leben den Baustein eines göttlichen kosmischen
Schemas in Verbindung mit der Möglichkeit auf die Belohnung ewiger Glückseligkeit nach
dem Tod.22 Für sehr viele Menschen gibt es keine echte sinnstiftende Alternative hierzu.
Die Philosophie trägt jedoch die Verantwortung, diese Alternativen, wenn es sie denn gibt,
aufzufinden und sie zu untersuchen. Diese Absicht soll auch in dieser Arbeit verfolgt
werden.
Zur Rechtfertigung der Beschäftigung mit der Sinnhaftigkeit des Lebens darf ebenfalls
nicht unerwähnt bleiben, dass die Arbeit zweier der größten Philosophen überhaupt
undenkbar wäre, würde man sie der Sinnfrage berauben. Arthur Schopenhauer und
Friedrich Nietzsche machten die Redensart vom 'Sinn des Lebens' durch
ihre "Destruktionsprojekte traditioneller Sinnvorstellungen" 23 populär. Zur damaligen Zeit
wird die Anerkennung der Sinnfrage als rein subjektiver Maßstab bereits sichtbar. 24
Wir werden uns trotz der Bedeutsamkeit dieser und anderer großen Philosophen in
dieser Arbeit keinen vollständigen historischen Überblick über den in Frage kommenden
Ausdruck verschaffen. Mit den genannten Autoren möchte ich zu erkennen geben,
in welchem Maß die Sinnfrage als philosophisches Thema ernst zu nehmen ist.
Wie werde ich nun diese Arbeit durchführen und aufstellen? Zuerst möchte ich darauf
hinweisen, dass die Zielsetzung und Strukturierung dieser Arbeit leicht von dem abweicht,
was ich in der Beschreibung meines Themas beim Einreichen an die Kommission und
dem Experten dieser Kandidaturarbeit festgelegt habe. Zum einen schrieb ich,
20 Vgl. auch E. D. Klemke, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York:
Oxford University Press 32008 (11981), S. 2.
21 Vgl. Seachris, Joshua (2011): Meaning of Life: The Analytic Perspective, in: The Internet Encyclopedia of
Philosophy, http://www.iep.utm.edu/mean-ana/ (Stand: 27.09.2014), Kapitel: 2. The Human Context. Er bezieht sich
auf Nagel 1971, 1989, und Fischer 1993.
22 Vgl. Edwards, Paul: Life, meaning and value of, in: Paul Edwards (Hg.): The Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4,
New York: The Macmillan Company & The Free Press 1967, S. 467.
23 Vgl. Löffler, Winfried: Sinn, in: Petra Kolmer / Armin G. Wildfeuer (Hgg.): Neues Handbuch philosophischer
Grundbegriffe, Bd. 3, Freiburg/München: Karl Alber 2011, S. 1994.
24 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 817. Bezüglich der Frage nach dem Sinn des Lebens wird Nietzsche
u. a. durch E. von Hartmann beeinflusst, bei dem dies bereits für abgemacht gehalten wird.
12
dass ein wesentlicher Punkt dieser Abhandlung die "Klärung der Möglichkeit
einer Trennung zwischen religiösem und nichtreligiösem Gehalt bei der Behandlung" sei
und die "Frage, ob die Beantwortung der Sinnfrage immer auch eine teleologische
Sichtweise voraussetzen muss" und damit, ob "wir überhaupt auf eine nicht unvernünftige
Weise die Frage nach dem Sinn des Lebens in einem nichtreligiösen und vielleicht auch
nichtteleologischen Rahmen stellen dürfen". 25 Die unterschiedlichen konzeptuellen
Elemente, die ich in meiner Beschreibung des Themas erwähnt hatte, werden sehr wohl
von mir behandelt. Sie stellen jedoch lediglich einige von einer Reihe anderer theoretisch
zu erfassenden Elemente dar, die allesamt auf ihre Konsistenz und Kompatibilität
untereinander analysiert werden, und stellen somit keine exklusiven Aspekte dar. Es gibt
mehr Aspekte als von mir vor zwei Jahren vorausgesehen, die eine ähnlich große
Nützlichkeit aufweisen können, um dieses Thema so vollständig wie nur möglich
erschließen zu können. Außerdem hatte ich angekündigt, diese Abhandlung auf
einen nichtreligiösen Kontext zu beschränken. Dies möchte ich insofern durch
die neuerlangte Kenntnis revidieren, dass das Thema sehr von Aspekten durchwachsen
ist, die im direkten Zusammenhang mit Religion gesehen werden. Jedoch werde ich
keineswegs auf religiöse Auslegungen als solche eingehen, sondern lediglich diejenigen
Aspekte in Betracht ziehen, die zwar sehr wohl auch innerhalb religiöser Vorstellungen
Anwendung finden, gleichzeitig jedoch auch benötigt werden, um das Themenfeld
konzeptuell abdecken zu können, ohne dabei bestimmten religiösen Vorstellungen
verhaftet zu bleiben.26
Bei dieser Arbeit handelt es sich überwiegend, aber nicht ausschließlich, um
eine systemisch-kompilatorische Arbeit, da der größte Teil daraus besteht, die Ideen der
Literatur aufzusammeln und unter bestimmten Gesichtspunkten darzustellen. In einem
ersten Teil werde ich die wichtigsten Lösungsansätze zur Sinnfrage auf das Wesentliche
reduziert zusammenfassen, um dann in einem zweiten Teil die Ideen und Konzepte aus
dieser Zusammenfassung herauszuschälen und sie sowohl innerhalb der Konzepte selbst
als auch untereinander auf Konsistenz und Kohärenz zu prüfen. Hiermit versuche ich
die tiefere Natur der Redensart des 'Sinns des Lebens' theoretisch zu erfassen.
Diese Herangehensweise sollte im günstigen Fall Ergebnisse hervorbringen, die dem
entsprechen, was T. Metz im Stanford Encyclopedia of Philosophy für die analytische
Philosophie vorgibt:
"When the topic of the meaning of life comes up, people often pose one of two
questions: “So, what is the meaning of life?” and “What are you talking about?”
25 Am 20. September 2012 an Joëlle Colling, Angestellte des Ministère de l'enseignement supérieur in Luxemburg und
verantwortlich für die Verwaltung der "Travaux de candidatures", eingereichte Zusammenfassung zur Anfrage auf
Erlaubnis für das Thema dieser Arbeit, unter dem Titel: Travail de candidature axé sur la spécialité disciplinaire du
candidat / Résumé descriptif destiné à la commission des travaux de candidature.
26 So wie z. B. die Idee der Unsterblichkeit, die auch bis zu einem gewissen Grad unter einer nichtreligiösen
Sichtweise behandelt werden kann, beispielsweise dadurch, dass man durch die Zeugung von Nachwuchs den
eigenen individuellen Tod 'genetisch' überwinden möchte und sich somit potentiell in die unabsehbare Zukunft
projiziert.
13
The literature can be divided in terms of which question it seeks to answer." 27
In einem dritten Schritt werde ich versuchen, eine eigenständige persönliche
Stellungnahme hinsichtlich des untersuchten Stoffes zu entwickeln, auch wenn ich mich
bereits im zweiten Teil zunehmend über das rein analytische Arbeiten hinauswage.
Ich werde also am Ende dieser Arbeit, wenn auch nur kurz, eine eigene Idee in Form eines
Instruments aufzustellen versuchen, das die Theorien zur Sinnhaftigkeit des Lebens auf
ihre Validität nach denjenigen Kriterien überprüfen soll, die sich aus der analytischen
Arbeit ergeben haben. Hierdurch versuche ich meinen Beitrag zur wissenschaftlichen
Entwicklung dieses Themas zu leisten. Trotzdem möchte ich durch Vorsicht motivierte
Bescheidenheit walten lassen und keine hohen Ansprüche erheben, denn die tatsächliche
Relevanz dieser Stellungnahme kann ich beim Umfang dieser Arbeit nicht wirklich
beurteilen. Dies wäre in einer anderen umfangreicheren Arbeit klarzustellen.
Weiterhin habe ich mich auf die angelsächsisch-analytische Philosophie beschränkt, um
dieses Vorhaben anzugehen. Natürlich musste ich mein Thema auf ein überschaubares
Maß reduzieren, gleichzeitig musste ich mir einen Überblick verschaffen. Im 5. Kapitel
erkläre ich, warum die einschlägige angelsächsisch-analytische Literatur dafür am
geeignetsten schien. Außerdem ist sie es, die mir die Thematik aus einer nichtreligiösen
Optik am besten zu untersuchen scheint, und es ist vor allem diese Seite der Frage,
die mich bei ihrer konzeptuellen Aufarbeitung interessiert. Es war durchaus
eine pragmatische aber auch sinnvolle Entscheidung. 28 Allerdings werde ich auch oft
Autoren und Texte außerhalb des angelsächsischen Bereiches erwähnen, um an manchen
Stellen einen Kontext bereitzustellen, der der Rechtfertigung und Erklärung
der Argumentation meiner Arbeit dient. Nicht zuletzt greifen auch die behandelten
angelsächsischen Autoren auf sie zurück, um auf deren Basis ihre eigenen Überlegungen
aufzustellen. Sie können somit nicht außer Acht gelassen werden. Ich möchte ebenfalls
vorausschicken, dass diese Arbeit nicht die Absicht verfolgt, die gesamte angelsächsischanalytische Philosophie historisch zu erfassen oder zu erklären. Es geht überwiegend
darum, dass diejenigen Autoren, die die für mich interessanten Aspekte der Sinnfrage
bereitstellen, aus dieser philosophischen Strömung stammen.
Ferner sei noch erwähnt, dass ich einen bestimmten Teil des Kontextes nicht bearbeiten
werde, dessen Ausschluss jedoch meines Erachtens nicht den Anspruch dieser Arbeit
gefährdet: das Konzept des sogenannten 'Sinns der Geschichte', obwohl es
evidenterweise in engem Zusammenhang mit dem Inhalt dieser Arbeit steht.
Und schlussendlich möchte ich noch festlegen, so wie bereits in meiner eingereichten
Themenbeschreibung für die Kandidatur erwähnt wurde, dass ich für die Autoren
27 Metz, Thaddeus (15.05.2007): The Meaning of Life, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of
Philosophy. Fall 2008 Edition, http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/life-meaning/ (Stand: 27.09.2014),
Kapitel: introduction.
28 Wie ich später in Kapitel 5 belegen möchte.
14
Bertrand Russell, Antony Flew, Kurt Baier, Ronald W. Hepburn und Paul Edwards, die ich
als Literaturkernbereich für diese Abhandlung angegeben hatte, den Anspruch
auf Vollständigkeit der Lektüre erhebe, wenn die eindeutige Relevanz für unser Thema
gegeben ist. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass das Material von Russell und
Edwards, wenn auch wichtig und deutlich vorhanden, weniger Anwendung in meiner Arbeit
findet als vorausgeahnt. Dagegen haben sich andere Autoren als wichtiger erwiesen
als zunächst gedacht, so z. B. Thaddeus Metz, dessen Forschungsergebnisse oft
ihren Niederschlag in dieser Arbeit finden.
Teil 1:
Überblick der historischen Lösungsansätze zur
Sinnfrage
Wie kann man auf die Frage, was der Sinn des Lebens sei, antworten? Etwas das allen
Ansätzen zur Sinnfrage zugrunde liegt, ist der Versuch, die grundlegende metaphysische
Struktur einer bedeutungsvollen Existenz in so wenig Prinzipien wie nur möglich
aufzuzeigen.29 Insgesamt können wir die unterschiedlichen historischen Lösungsansätze
in zwei Gegensatzpaare (Supranaturalismus/Naturalismus und Objektivismus/
Subjektivismus) plus einer Kategorie der Aberkennung eines Lebenssinns (Nihilismus,
Pessimismus, gewisse Formen des Existentialismus) aufteilen. Alle Lösungsansätze
zur Sinnfrage können mehr oder weniger leicht einer dieser fünf Gruppen zugeordnet
werden.
Positive Lösungsansätze
(→ es gibt einen Sinn des Lebens)
Supranaturalismus
Naturalismus
Objektivismus
Subjektivismus
Negativer Lösungsansatz
(→ es gibt keinen Sinn des Lebens)
Nihilismus, Pessimismus ...
Thaddeus Metz verfährt in seinem Artikel über den Sinn des Lebens in der Stanford
Encyclopedia of Philosophy30 oder in seinem Übersichtsartikel in Ethics31 ähnlich, wobei
ich spezifischere Ansätze des Supranaturalismus im Folgenden nur oberflächlich
erwähnen werde und mich aus Gründen ihrer Popularität auf eine im engeren Sinne
theistische Vorstellung konzentrieren möchte, nämlich die Vorstellung der Existenz und
29 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 783. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007),
Kapitel: 2. Supernaturalism.
30 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007).
31 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002).
15
Einflussnahme eines monotheistischen Gottes. Im Prinzip stimmt Elmer Klemke insofern
mit der Vorgehensweise von Metz überein, als dass er das Gegensatzpaar
theistische/nichttheistische Ansätze aufstellt und diesem noch die Bedeutung
des Ausdrucks selbst als Kategorie dazustellt 32 (anders als Klemke führt Metz
die linguistische Begriffsanalyse außerhalb der eigentlichen historischen Lösungsansätze
durch). 'Theistisch' kann als 'supranaturalistisch' und 'nichttheistisch' als 'naturalistisch'
verstanden werden, jedoch glaube ich, dass die Formulierung von Metz präziser gewählt
ist, da es stimmiger scheint, den Theismus lediglich als eine Untermenge
des Supranaturalismus anzusehen. Metz und Klemke haben sich bei meiner Lektüre als
Autoren herauskristallisiert, die gut über die themenbezogene Forschungslage Bescheid
wissen, wobei Klemke jedoch wiederum auf die Vollständigkeit der Bibliographie
des Überblicksartikels von Metz in Ethics verweist.33
Interessanterweise zieht Metz für die positiven 34 Lösungsansätze nicht genau das von mir
hier aufgestellte 2x2 Gruppierungsquadrat in Erwägung, sondern spaltet
seinen Naturalismus einfach in Objektivismus und Subjektivismus auf. 35 Dies kann jedoch
dann als problematisch gelten, wenn eine gewisse Form des Objektivismus als
theistischer Ansatz gesehen wird, was bereits in seinem eigenen Artikel angedeutet wird,
wenn er behauptet, dass Robert Nozicks naturalistische Theorie "sympathisch" zum
Supranaturalismus stünde.36 Ich bin jedoch dann mit der Aufteilung von Metz
einverstanden, wenn allgemeine Einigung darüber besteht, dass der in Frage kommende
Objektivismus ein ausschließlich naturalistischer Objektivismus ist. Aus diesem Grund wird
auch mein Kapitel über den Naturalismus kurz ausfallen, da die meisten Aspekte
des Naturalismus eben gerade unter den Standpunkten des (naturalistischen)
Objektivismus und des Subjektivismus behandelt werden können (siehe Kapitel 3).
So möchte z. B. auch Joshua Seachris mögliche Missverständnisse vermeiden, indem er
auf präzise Weise von "Objective Naturalism" und "Subjective Naturalism" redet. 37
32 Vgl. E. D. Klemke, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader (2008), S. 3.
33 Vgl. S. M. Cahn: Preface to the Third Edition, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of
Life. A Reader (2008), S. ix: "A comprehensive bibliography of contemporary books and articles on the meaning of
life can be found in the survey article on the subject by Thaddeus Metz in Ethics, 112:4 (2002)."
34 Ansätze, die die Existenz irgendeines Lebenssinns bejahen, also bei Ausschluss der
Lebenssinnaberkennungsposition, wie z. B. beim Nihilismus.
35 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 792.
36 Frei übersetzt aus: T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 799.
37 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: c. A Meaningful Life : Current Views.
16
2. Supranaturalistische und naturalistische Lösungsansätze
2.1 Der Supranaturalismus
Hier übernehme ich ziemlich genau die zusammenfassende Darstellung von T. Metz, 38
demzufolge sich der Supranaturalismus im Wesentlichen dadurch kennzeichnen lässt,
dass gewisse Beziehungen zu einem rein spirituellen Reich bestehen und dass es zu
versuchen gilt, diese Beziehungen zu bestimmen oder zu deuten. 39 Wenn umgekehrt
die Überzeugung herrscht, dass es zum einen weder einen Gott noch eine andere
spirituelle oder transzendente übergeordnete Entität gibt oder zum anderen nicht
die richtige Beziehung zu dieser Entität aufgestellt werden kann, dann ist es
dem Supranaturalismus nicht möglich, einen Lebenssinn liefern zu können. 40
Der Supranaturalismus lässt sich in zwei Kategorien aufteilen: Theorien, bei denen Gott im
Mittelpunkt steht, und Theorien, bei denen die Seele im Mittelpunkt steht. 41
Die sogenannten gottzentrierten Theorien ("God-Centered Theories") 42 sind als
die theistischen Theorien im engeren Sinne zu verstehen. Diese Vorstellungen basieren
darauf, dass eine bestimmte Beziehung zu Gott einen ausreichenden und notwendigen
Grund darbietet, um dem Leben Bedeutung zu geben und so den Sinn des Lebens
auszumachen. Die möglichen Uneinigkeiten dieser Theorien beziehen sich überwiegend
darauf, wie diese 'richtige' Beziehung zu bestimmen ist oder wie sie gelebt werden soll. 43
T. Metz zufolge wäre die traditionelle Antwort hierauf, den uns von Gott aufgetragenen
Zweck zu erfüllen ("purpose theory"). 44
Bei den seelenzentrierten Theorien ("Soul-Centered Theories") 45 hängen Bedeutung und
Sinn des menschlichen Daseins vom Zustand ab, in dem sich die Seele des Menschen
befindet. Hierbei muss 'Seele' als eine unsterbliche spirituelle Substanz verstanden
werden. Diese Theorien können mit den Vorstellungen eines Gottes verbunden werden,
also mit dem Gehalt der Gott-zentrierten Theorien (so wie es in der monotheistischen
Tradition der Fall ist), müssen es aber nicht zwingend. 46 Die Existenz einer menschlichen
Seele (üblicherweise in Verbindung mit einer theistischen Vorstellung) kann z. B. als
Argument zugunsten der erwünschten Herstellung einer absoluten Gerechtigkeit geltend
38 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002). Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007).
39 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 783. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007),
Kapitel: 2. Supernaturalism.
40 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2. Supernaturalism.
41 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 784+788.
42 Vgl. ebd., S. 784.
43 Vgl. ebd.
44 Vgl. ebd. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2.1 God-Centered Views.
45 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 788.
46 Vgl. ebd. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2.1 God-Centered Views.
17
gemacht werden, die hier auf Erden nicht zu verwirklichen scheint. 47 Die ausschließlich
seelenzentrierten Theorien als solche, also ohne Verbindung zu einer gottzentrierten
Vorstellung, werden in dieser Arbeit nicht thematisiert. Es gleitet meines Erachtens zu sehr
in ein esoterisches Themenfeld ab und ist für mich nicht von Interesse.
Ob gottzentriert oder seelenzentriert, was dem Supranaturalismus gemein ist, ist die Idee
der Existenz einer versteckten Dimension hinter den sinnlich erfassbaren Erscheinungen,
also der Existenz einer transzendenten und immateriellen Welt, die uns üblicherweise nur
mittelbar zugänglich ist.48 Diese andere Welt befriedigt das menschliche Bedürfnis,
den Lauf der Ding als mehr oder weniger vorherbestimmt und die Zukunft als eine nicht
willkürliche zu denken,49 etwas das ein gewisses Maß an Sicherheit und vielleicht auch
irgendwie Kontrolle beschert. Gleichzeitig wird das Bedürfnis in uns geweckt,
eine Offenbarung dieser versteckten Welt stattfinden zu lassen, wodurch die gesamte
Mystik der Religionen ihre Daseinsberechtigung bekommt. Kurt Baier befasst sich mit
diesem Aspekt der versteckten Dimension unter dem Stichwort des "versteckten Sinns"
("hidden meaning")50 und weist die möglichen konzeptuellen Ungereimtheiten auf,
die diese Vorstellung mit sich bringt.51 Wir wenden uns dieser Kritik im 7. Kapitel zu.
2.2 Der im engeren Sinne theistische Ansatz
Die geläufigste Vorstellung des Theismus (und damit auch die geläufigste Vorstellung
des Supranaturalismus)52, ist diejenige, die von den westlichen Religionen vorgebracht
wird, und besteht im Groben in der Annahme, dass das menschliche Leben ein Teil
eines von Gott geordneten kosmischen Plans sei und dem Menschen die Belohnung der
(ewigen) Glückseligkeit, in welcher Form auch immer, nach seinem Tod in Aussicht gestellt
werde. In dieser monotheistischen Tradition wird Gott als eine allwissende, allmächtige
und allgütige spirituelle Entität verstanden, die ebenfalls als Grundlage des physikalischen
Universums dient.53 Diese Vorstellung gilt gleichsam als eine offenbar – wie es
ihre Popularität auf der Welt zeigt – sehr überzeugende Antwort auf die Frage nach
dem Sinn des Lebens.54
47
48
49
50
51
52
53
54
Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2.2 Soul-Centered Views.
Z. B. innerhalb der Offenbarung eines Propheten.
Vgl. Baier, Kurt E. M.: Threats of Futility. Is Life Worth Living? in: Free Inquiry 8/3 (1988), S. 47 Abschn. 2 u. 5.
Was man auch mit "versteckter Bedeutung" übersetzen kann, aber ich habe mich bewusst für 'Sinn' entschieden, da
ich glaube, dass im deutschen Sprachgebrauch das Wort 'Sinn' die gemeinte Idee auf adäquatere Weise wiedergibt.
Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 47 Abschn. 2 bis S. 48 Abschn. 7.
Da der Theismus die geläufigste Vorstellung des Supranaturalismus ist und Theismus wird als eine Teilmenge des
Supranaturalismus verstanden, jedoch als deren wichtigste und am weitesten verbreitete.
Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2. Supernaturalism.
Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467.
18
Wie bereits unter 2.1 erwähnt wurde, wird der Theismus üblicherweise mit einer Theorie
des Zwecks in Verbindung gebracht, und damit mit einer von Gott aufgestellten Finalität.
Somit wirkt auch stets eine teleologische Grundannahme innerhalb des Theismus. 55
Für die Menschen gilt es, diesen Zweck in Erfahrung zu bringen und ihn zu erfüllen. 56
So ist Ronald W. Hepburn zufolge der Theist im Wesentlichen zuerst einmal ein Mensch,
der sich den Absichten eines anderen Wesens unterordnet. 57 Vielleicht ist die Behauptung
zu vorsichtig formuliert, dass diese Verbindung zwischen Theismus und einer Theorie
des Zwecks nur "üblicherweise" besteht, denn ohne eine Theorie des Zwecks untergräbt
man dem Theismus jeglichen Anspruch auf die Erfüllung eines Lebenssinns. 58 Welchen
Sinn kann ein Gott bieten, der seinen kosmischen Plan nicht gleichzeitig auch mit einem
Endzweck belegt, an dem die Menschen mitwirken können und den sie zu erfüllen haben,
wollen diese denn die Gunst ihres Schöpfers erlangen? Hierbei gilt im Allgemeinen,
dass die Bedeutsamkeit eines Lebens erhöht werden kann, je besser man diesen Zweck
auf freiwillige und vorsätzliche Weise hier auf Erden erfüllt. 59 Paul Edwards äußert sich zu
diesem Punkt in folgenden Worten:
"If a superhuman being has a plan in which I am included, this fact will make (or help
to make) my life meaningful in the terrestrial sense only if I know the plan and
approve of it and of my place in it, so that working toward the realization of the plan
gives direction to my actions."60
Diesen Zweck genauestens zu bestimmen bietet wiederum ausgiebigen Raum für
Spekulationen. Einer der prominentesten Kritiker der "purpose theory" insgesamt ist wohl
Bertrand Russell, dessen Gegenargumente später unter 3.2, 7.8 und 7.9 behandelt
werden.61 Auch Russell sieht die Immanenz einer Zwecktheorie im Theismus, so wie
außerdem noch in zwei weiteren metaphysischen Entwürfen, nämlich dem Pantheismus
und dem Emergentismus62. Sie übt, laut Russell, eine große Anziehungskraft auf uns aus,
da sogar viele Wissenschaftler an einem kosmischen Zweck festhalten würden, obwohl
eine offensichtliche Inkompatibilität zwischen Wissenschaft und Zwecktheorie bestünde. 63
Russell sieht die gemeinsame Grundlage dieser Vorstellung darin, Evolution 64 als etwas
55 Dies wird von Hepburn bestätigt, vgl. Hepburn, Ronald W.: Questions about the Meaning of Life, in: Religious
Studies 1/2 (April 1966), S. 125. Vgl. auch Pojman, Louis P.: Religion Gives Meaning to Life, in: Klemke, Elmer
D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S.
27.
56 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 125.
57 Vgl. ebd., S. 127.
58 Siehe Kapitel 7.
59 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 784. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007),
Kapitel: 2.1 God-Centered Views.
60 P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 472f. Hier jedoch entnommen aus: Klemke, Elmer D. / Cahn,
Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 126.
61 Vgl. Russell, Bertrand: Religion and Science, (The Home University Library of Modern Knowledge 178), London:
Oxford University Press 1960 (ND) (11935), S. 190-222.
62 Ich übersetze "emergent [theory]" mit Emergentismus. Vgl. B. Russell: Religion and Science (1960), S. 191.
63 Russell schrieb dies 1935, jedoch gehe ich davon aus, dass es heute auch noch so ist. Vgl. B. Russell: Religion and
Science (1960), S. 190.
64 Hier nicht zu verwechseln mit der Evolutionstheorie Darwins, dessen revolutionäre Idee eben gerade die war, dass
19
anzusehen, das eine Richtung zu einem übergeordneten moralischen Wert vorgibt und
das uns Menschen als Grund und Daseinsberechtigung des gesamten langen
Entwicklungsprozesses erscheint.65 Somit gelänge es, eine Antwort auf das 'Warum' zu
geben, im Gegensatz zur Wissenschaft, die sich nur um das 'Wie' kümmern könne.
Speziell für den Theismus gilt ferner, dass erwähnter kosmischer Zweck bewusst von
einem göttlichen Schöpfer erdacht wurde, er selbst jedoch außerhalb seiner Schöpfung
existiert.66 Russell lässt hierzu in einem Gespräch den einstigen Bischof von Birmingham
zu Wort kommen, der beteuert, dass die Komplexität der existierenden Phänomene nicht
als das Ergebnis blinder Naturkräfte gesehen und nicht ohne aufgestellten Zweck
vorausgesetzt werden könne.67
Mit dem Theismus können zwei metaphysische Anschauungsweisen in Verbindung
gebracht werden, die von Kurt Baier entworfen worden und die uns helfen, den Theismus
konzeptuell tiefgreifender erfassen zu können:
1) Die Vorstellung der "Welt als Bühne" ("The World as a Stage"). 68 Hierbei wird
das menschliche Leben als eine Art Bühnenauftritt gesehen, wobei die vom Menschen zu
spielende Rolle Bestandteil eines kosmischen Dramas ist, das von Gott geschrieben
wurde und von ihm orchestriert wird. Die Schauspieler spielen zwangsweise ihre Rolle
realistisch und authentisch, was die Vortrefflichkeit der Vorführung und seines Erschaffers
nur noch deutlicher hervorhebt. Der (einzige) Betrachter ist Gott selbst, der damit
den Genuss seiner eigenen Allmacht auskosten kann. Bei dieser Vorstellung wird jedem
Darsteller, also jedem Menschen, derselbe Lebenssinn zugewiesen. Dies befriedigt
unseren Wunsch, einer kollektiven positiven Bedeutung der menschlichen Existenz
beisteuern zu können, egal wie gut oder wie schlecht die Eigenschaften des Darstellers
unter anderen Umständen zu beurteilen wären. Der Vorteil dieser Vorstellung ist, das von
der Sinnhaftigkeit her positiv bewertete Leben, wenn es denn z. B. als ein 'Tal der Tränen'
empfunden wird, nicht als solches in seiner negativen irdischen Dimension verschleiern zu
müssen, ohne gleich die Sinnlosigkeit unsere Existenz heraufzubeschwören.
Die Negativität unseres Lebens bekommt damit eine für uns zu akzeptierende
Rechtfertigung. Auch die Bibel bedient sich dieser Art Anschauung, wenn auch nicht
ausschließlich, denn sie zieht ihre Anziehungskraft überwiegend auch aus dem folgenden
Punkt.
65
66
67
68
sie ohne in die Zukunft gerichtete Finalität auskommt. Selektion und Mutation werden als 'blinde' Eigenschaften des
Lebens in der Natur verstanden. Vielleicht könnte man hier auch die Entwicklung des Lebens im Allgmeinen sagen,
anstelle von Evolution, so wie Russell es benutzt. Vgl. B. Russell: Religion and Science (1960), S. 190.
Vgl. B. Russell: Religion and Science (1960), S. 190.
Vgl. ebd., S. 191.
Vgl. ebd., S. 192. Dasselbe Argument wird auch z. B. vom Kreationismus vorgebracht und ist ein Hilfsargument in
vielen grundlegenden religiösen Rechtfertigungen. Eigentlich handelt es sich meines Erachtens um einen
moralistischen Fehlschluss, siehe auch weiter unten, am Ende von Kapitel 2.2.
Für den gesamten Punkt 1, vgl. Baier, Kurt E. M.: Problems of Life & Death. A Humanist Perspective, (Prometheus
Lecture Series), Amherst (New York): Prometheus Books 1997, S. 50-53.
20
2) Die Vorstellung des "irdischen Lebens als Test" ("Earthly Life a Test"). 69 Sie kann
sozusagen als Erweiterung zur "Welt als Bühne" angesehen werden und besitzt eine noch
stärkere Anziehungskraft für viele Menschen, denn wenn das Leben als Test fungiert, um
nach dem Tod entweder ins Paradies oder in die Hölle zu gelangen, hat das Individuum
die Möglichkeit, dann ein besseres Leben zu erhoffen, wenn er diesen (moralischen) Test
besteht. Ein motivierender Reiz (oder Druck) wird somit geschaffen, aber gleichzeitig wird
auch die Gleichheit desselben Maßes an Lebenssinn für alle Menschen abgeschwächt.
Baiers metaphysische Entwürfe bringen zum Vorschein, dass die Religionen eine Welt
nach dem Tod konstruiert haben, die dem entspricht, was den Anhängern
dieser Religionen eigentlich als ideales irdisches Leben vorschwärmt. So ist es auch
zu verstehen, dass der Sinn des Lebens im Theismus der Ankunft einer übergeordneten
Welt entspricht, die die Anwesenheit der guten idealen Elemente unseres irdischen
Lebens und die Abwesenheit der schlechten Elemente unseres irdischen Lebens
gewährleistet.70 Auf die gleiche Weise ist es zu verstehen, wenn wir den Sinn des Lebens
mit dem Wunsch versehen, dass unsere grundlegenden Werte bestehen bleiben und
das Böse vergolten werden sollen.71 Es gibt weitere Argumente anderer Autoren,
die diese Projektion menschlicher Wertigkeit ins Jenseits belegen. 72
Im Theismus wird gewährleistet, dass dem Menschen eine besondere Wichtigkeit
im Universum zukommt. Dies kommt bereits zur Geltung, wenn Baier davon spricht, dass
der theistische Mensch der Tendenz unterliegt, das gesamte Universum als eine Bühne
anzusehen, auf der er als Hauptdarsteller agiert. Auch R. W. Hepburn spricht von
dem Bedürfnis des Menschen, seiner sich andeutenden existenziellen Absurdität zu
entkommen, indem er eine Bedeutsamkeit aufbaut, die das Ausmaß des gesamten
physikalischen Daseins einnimmt:
"[Theological arguments] are chiefly concerned to heighten a sense of the
precariousness of all finite existence; a sense of instability that can be countered only
by the belief that underneath are the everlasting arms. Or, if there are no everlasting
arms, if there is no upholder, then there is nothing but vertigo, meaninglessness, and
despair."73
Der Mensch fühlt also besonders deshalb die Notwendigkeit, eine Verbindung zu einer
übergeordneten Macht herzustellen, um die Gewissheit zu erhalten, sich selbst durch
dieses kosmische Schauspiel als Mittelpunkt der gesamten Existenz wahrnehmen und
damit seine Bedeutsamkeit steigern zu können.74
69
70
71
72
73
Für den gesamten Punkt 2, vgl. ebd., S. 55-56.
Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 48 Abschn. 5.
Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 125.
Sie werden im Verlauf dieser Arbeit aufgezeigt.
Hepburn, Ronald W.: Christianity and Paradox, (Critical Studies in Twentieth-Century Theology), London: C. A.
Watts 1958, S. 179. Hepburn redet eigentlich vom kosmologischen Argument, also vom scholastischen
kosmologischen Gottesbeweis, aber die Sinnfrage wird direkt in Bezug gestellt von Hepburn.
74 Vgl. ebd., S. 152-153.
21
Wir können auf ähnliche Weise den Theismus zusammenfassend so eingrenzen,
wie E. Klemke es mit dem Begriff "transcendentalism" tut. 75 Dieser besteht aus
drei Komponenten, wobei eine aus der anderen hergeleitet werden kann:
1) Die Voraussetzung der Existenz eines transzendenten 76 Wesens und unserer
Beziehung zu ihm,77
2) ohne diese Voraussetzung besteht kein Lebenssinn,
3) ohne Lebenssinn ist das Leben nicht lebenswert. 78
Und somit darf den Theisten zufolge Punkt 1 nicht ausgeschlossen werden, um nicht
der Gefahr von Punkt 3 ausgesetzt zu sein. Damit wird allerdings auch deutlich, wie im
Theismus versucht wird, den Anspruch einer menschlichen Vorstellung zur objektiven
Wirklichkeit zu erheben, um lediglich menschliche Wünsche erfüllen zu können, womit
ein moralistischer Fehlschluss79 begangen wird. Für E. Klemke ist die gesamte Bewegung
des religiösen Glaubens eine Maßnahme des Menschen, einen Sinn dort zu schaffen,
wo wir keinen vorfinden können, nämlich außerhalb unseres eigenen Geistes. 80
2.3 Eine mögliche Herleitung der theistischen Lösung anhand Tolstois Beichte
Ich glaube, den theistischen Grundgedanken auf eine leicht nachvollziehbare Art und
Weise rekonstruieren zu können, wenn wir uns als repräsentatives Beispiel einen kleinen
Exkurs über ein weniger akademisch-philosophisches als vielmehr literarisches und
populär-philosophisches Werk erlauben. Einer der bekanntesten Texte (neben
dem biblischen Buch Kohelet)81, der eine Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens
beinhaltet, ist Leo Tolstois Werk Meine Beichte82. Tolstoi macht eine Reihe sowohl
konkreter als auch intellektueller Erfahrungen, die ihn an der Sinnhaftigkeit seines Lebens
zweifeln lassen.83 Hierdurch entwickelt er folgende Überlegung:
Ihm zufolge können die Menschen im Allgemeinen auf vier unterschiedliche Weisen auf
die Sinnfrage reagieren:84
- mit Ignoranz (welche man jedoch nicht mehr zurückerlangen könne, wenn man sich
die Sinnlosigkeit des Lebens erst einmal vergegenwärtigt habe; sie steht also nur
75 Vgl. E. D. Klemke: Living Without Appeal (2008), S. 188.
76 Es ist passender hier 'transzendent' zu benutzen, obwohl er "transcendental" verwendet. Ich glaube, dass
'transzendental' zu sehr mit dem Gehalt der Kantschen Philosophie belegt ist.
77 Siehe auch: P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 472.
78 Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass ein konzeptueller Unterschied zwischen 'keinen Lebenssinn haben' und 'das
Leben als nicht lebenswert ansehen' besteht.
79 Fehlschluss, der begangen wird, wenn man von einem Soll-Zustand auf einen Ist-Zustand schließt.
80 Vgl. E. D. Klemke: Living Without Appeal (2008), S. 188.
81 Siehe Prediger Salomo, in: Strzysch, Marianne / Weiß, Joachim (Hgg.): Der Brockhaus in fünfzehn Bänden, Bd. 11,
Leipzig/Mannheim: F. A. Brockhaus 1998.
82 L. Tolstoj: Meine Beichte (2010).
83 Wir versuchen, das rein Biographische aus dieser Wiedergabe so viel wie möglich auszuschließen.
84 Für den gesamten Abschnitt, vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 469. Vgl. auch Flew, Antony:
Tolstoi and the meaning of life, in: Ethics 73 (Jan. 1963), S. 113.
22
dem naiv Unschuldigen zur Verfügung, dem das Konzept der Absurdität fremd ist),
- mit Epikureismus (also sich ausschließlich um die Befriedigung seiner Lüste kümmern;
etwas, das den meisten Menschen jedoch aus Mangel an entsprechenden Möglichkeiten
verwehrt bliebe, auch wenn die meisten Menschen dies als Lösung sehen wollen,
und etwas, das ebenfalls eigentlich auch nur zu einer moralischen Stumpfsinnigkeit führe
oder diese zum Vorschein bringe),
- mit konsequenter Strenge (also dieses 'lächerliche Spiel', das das Leben darstellt,
beenden, sich selbst töten und somit den Tod dem Leben vorziehen; doch die meisten
Menschen seien nicht im Stande, die Kraft und sogar die hierzu benötigte Vernunft
aufzubringen; diese Option wird von Tolstoi zur Zeit des Verfassens dieser Passage
befürwortet, auch wenn er sich hierzu nicht überwinden kann),
- mit Schwäche und Resignation (d.h. die Wahrheit erkennen, und sich doch feige
an seinem Leben festklammern).
Tolstoi gibt zu, der zuletzt genannten Schwäche zu unterliegen. 85 Heutzutage würde
dieser Geisteszustand von Ärzten sicherlich als Depression diagnostiziert werden.
Doch wollen wir versuchen, der konzeptuellen Erfassung der Aussagen so gut wie möglich
gerecht zu werden und die psychologischen oder neurologischen Erklärungsmodelle
weitgehend auszuschließen, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, auch wenn
diese naturwissenschaftlichen Ansätze von mir als überaus sachbezogen wahrgenommen
werden.86 In seinem Text erfährt Tolstoi zunehmend Momente der Ratlosigkeit ("moments
of perplexity") und gerät in einen sogenannten "Stillstand des Lebens" ("arrest of life"), 87
indem er sein Dasein als solches in Frage stellt und ihm sein Leben nicht mehr lebenswert
erscheint.88 Er rutscht zunehmend in eine etwas extreme Form des Pessimismus, bei dem
er von der Idee seines eigenen Todes und dessen der Menschen, die ihm nahe stehen, als
vorzuziehender Option geradezu überwältigt wird. 89
Das Blatt wendet sich jedoch, denn im Laufe seiner weiteren Überlegungen überwindet er
diese deprimierende Stimmung, weil ihm allmählich bewusst wird, dass es trotz allem
einen Lebenssinn geben muss.90 Diese 'Offenbarung' wird durch die Beobachtung
des einfachen Volkes ausgelöst, das trotz schwerer Arbeit und mühseligen Lebens
zufriedener als die Mitglieder der gehobeneren Gesellschaftsklasse ist, die sich dem Spaß
und Müßiggang hingeben können.91 Obwohl das einfache Volk mit dem Gedanken
85 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 110.
86 Ich glaube jedoch auch, dass neurologischer und konzeptuell-philosophischer Sachverhalt in einem direkten
Zusammenhang stehen.
87 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 110. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and Immortality. A
Critical Analysis, Amherst (New York): Prometheus Books 1984, S. 156: Er zitiert Tolstoi. Es beginne mit
"moments of perplexity and arrest of life". Vgl. auch A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 111:
Gewöhnliche Begierden haben ihre Kraft verloren, dies hat ebenfalls zum "arrest of life" geführt.
88 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 156.
89 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 469.
90 Vgl. L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 75.
91 Vgl. ebd. Der historische Kontext sollte hier in Erwägung gezogen werden.
23
der Zwecklosigkeit des Lebens und der Eitelkeit des Menschen vertraut sei und – ihm
zufolge – diese rational nachvollziehen könne, 92 lebt es93. Darüber hinaus scheint es etwas
zu verstehen, das Tolstoi und vielen anderen seines Standes entgeht. Das einfache Volk
scheint also Tolstois existentiellem Stillstand nicht unterliegen zu müssen. 94 Er nimmt an,
dass es nicht so leben könnte, wenn es nicht in irgendeiner Art ein tieferes Verständnis
vom Sinn des Lebens hätte.95
Die Überzeugung wächst in ihm, dass der Sinn des Lebens im Glauben vorzufinden ist,
eben so wie das Volk es zeigt und vorlebt. Auf diese Weise findet Tolstoi zum Christentum
zurück, auch wenn es sich bei ihm um eine ganz eigentümliche Wiederannäherung an
den Glauben handelt.96 Er glaubt jetzt den Fehler seiner vorherigen Denkweise damit
erkannt zu haben, dass es sich bei der Lösung zur Sinnfrage nur um eine unbestimmte
Antwort handeln könne.97 Er bleibt mit seiner vorherigen Auffassung insofern
einverstanden, als dass es sich beim Glauben um eine Erkenntnis handelt, die nicht mit
den Mitteln der Theorie und der Vernunft, sozusagen mit erhöhter Präzision, erörtert
werden kann.98 Bei der Beschäftigung mit dieser Frage handele es sich nun mal um Ideen,
die nicht vereinbar mit der Vernunfterkenntnis sind. 99 Diese vermag nicht nur nichts
zur Lösung der Problematik beizutragen, im Gegenteil, sie verschlimmert
die Desorientierung:
"Wenn es nicht so entsetzlich wäre, so bliebe es immerhin lächerlich, mit welchem
Hochmut und mit welcher Selbstzufriedenheit wir, wie Kinder, die Uhr
auseinandernehmen, die Triebfeder herausreißen, daraus ein Spielzeug machen und
uns dann darüber wundern, daß die Uhr nicht mehr geht." 100
Nur der Glaube kann für ihn das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen
sicherstellen.101 Tolstoi behauptet weiter:
"[…] der Glaube ist die Erkenntnis des Sinns des menschlichen Lebens, dank
welchem der Mensch sich nicht vernichtet, sondern lebt. Der Glaube ist die Kraft
92 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 114. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and Immortality
(1984), S. 161.
93 Was hier bedeutet, dass es nicht das Bedürfnis empfindet, dem Leben ein Ende zu bereiten, und das Leben als
lebenswert wahrnimmt.
94 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 162.
95 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 114-115. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and Immortality
(1984), S. 162: Für Flew ist diese Annahme Tolstois unsinnig und falsch.
96 Er stellt sozusagen seine eigene Version des Glaubens auf, vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S.
468. Denn nachdem er die Erkenntnis erlangt hat, dass der Glaube die Antwort auf seine Lebenssinnkrise ist, gelingt
es ihm nicht, seine Neugierde zu zügeln und zu verhindern, die Frage zu stellen, worin dieser Glaube nun bestünde.
Vgl. hierzu L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 67. Er nähert sich also gerade nicht an den Glauben, so wie es das
einfache Volk tut. Vgl. hierzu auch A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 115-117.
97 Vgl. L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 64 f.
98 Vgl. ebd., S. 62 f.
99 Vgl. ebd., S. 69.
100 L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 69. Er redet von der Vernunft, der Wissenschaft und wie wir versuchen, die
Welt und das Leben hiermit zu entschlüsseln und am Ende doch das Wichtigste nicht zu verstehen.
101 Vgl. ebd., S. 66.
24
des Lebens"102,
und weiter:
"»Was bin ich?« - »Ein Teil des Unendlichen.« In diesen zwei Worten liegt die ganze
Aufgabe."103
Daraufhin entwickelt Tolstoi eine Mystik der Massen, indem er nur mit dem Glauben,
wie er vom Volk vorgelebt wird, der Sinnfrage einen Zugang verschafft. 104
Dementsprechend sagt er der Vernunft ab, auch und gerade weil der Widerspruch
zwischen Vernunft und Glaube unüberwindbar scheint, 105 obwohl bei der Lektüre
seines Buches und bei seiner eigentümlichen Art, die Religion 'weiterzuentwickeln', 106
festgestellt werden muss, dass er hierbei ja gerade rationale Zusammenhänge sucht.
Auf Tolstois Beichte wird oft in der einschlägigen Literatur verwiesen und dies aus gutem
Grund, denn dieses Werk verdeutlicht wesentliche Aspekte der theistischen Position,
die hier von Interesse sind. Nicht zu Unrecht benutzt Antony Flew diese Schrift
als Fallstudie zu seinen auf die Sinnfrage bezogenen Überlegungen. 107 Zwei dieser
Aspekte sind die Immortalität und das Herbeisehnen eines definitiven Glückszustandes.
Zum einen wird aus Tolstois Schrift deutlich, dass der Mensch oft nur dann
die Sinnhaftigkeit seines Lebens gelten lässt, wenn er den Tod als Grenze und Ende
seines Lebens in welcher Form auch immer überwinden kann (was kein Widerspruch
zu dem darstellt, dass er das Leben eventuell lieber beenden würde, denn er tut dies nur,
weil er sich der Unausweichlichkeit des Todes bewusst ist), 108 und wenn ihm Gewissheit
geboten werden kann, dass ein größerer Zweck hinter seinem doch scheinbar so kurzen
und gegenüber dem gesamten Universum so unbedeutenden Leben steckt. Der Glaube
an einen Gott, der den Zugang zu einem Jenseits verwaltet, indem er ihn an Bedingungen
knüpft, zu einem Jenseits, das diesseitige Ängste seiner Sterblichkeit
und Unbedeutsamkeit in eine epische ewige Rolle der eigenen Person umkehren lässt,
stellt sicherlich etwas sehr Schmeichelhaftes für die Psyche des Menschen dar.
Andererseits scheint es uns unmöglich zu sein, diesen kosmischen Zweck nicht mit einer
eudämonistischen Konnotation zu versehen. Denn dieser Zweck muss positiv sein,
102 Vgl. L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 67.
103 Ebd., S. 69.
104 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 163. Vgl. auch A. Flew: Tolstoi and the meaning of life
(1963), S. 115. Flew zitiert Tolstoi: "All that people sincerely believe in must be true; it may be differently expressed
but it cannot be a lie, and therefore if it presents itself to me as a lie, that only means I have not understood it". Für
Flew ist dies grotesk.
105 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 163. Vgl. auch A. Flew: Tolstoi and the meaning of life
(1963), S. 115.
106 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 117. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and Immortality
(1984), S. 164.
107 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 110.
108 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 155.
25
damit die gesamte Vorstellung gedanklich tragbar ist. Und wenn wir unser diesseitiges
Leben mit zu hohen eudämonistischen und moralischen Standards belegen, so dass es,
da diese Standards nicht zu erreichen sind, nur als 'Tal der Tränen' wahrgenommen
werden kann, dann benötigt der Theismus diese eudämonistische Dimension im Jenseits,
um dies auszugleichen und zu überbieten. 109 Ziehen wir außerdem K. Baiers Idee
des "Lebens als Test" in Erwägung und koppeln beides miteinander, so finden
die Menschen eine Möglichkeit, Lebensmotivation zu schöpfen. 110
Wir erkennen, dass wir dem moralistischen Fehlschluss nicht entkommen. Doch dieser
Fehlschluss wird nicht unbedingt immer als 'Fehl'-Schluss gesehen, also etwas das als
Fehler betrachtet wird. Auch dem Theismus positiv gesonnene Autoren argumentieren,
dass wir bestimmte Bedürfnisse von moralischer oder eudämonistischer Natur erfüllen
müssen, und über die Erfüllung dieser Bedürfnisse erlangt der Mensch diese offenbar
tiefere, nicht immer offensichtliche Ebene der theistischen Welt. Dem gläubigen 111
Theoretiker David Svenson zufolge kann diese Erfüllung nicht in "äußerlichen Zuständen"
gefunden werden,112 die "Essenz des Lebens" und das Glück müssten in einem
"moralischen Bewusstsein allein" gesucht werden und bei dieser Suche "spürt" man
die Gegenwart Gottes. Wie Tolstoi hofft er so, der Verzweiflung einer von Tod und Unglück
beherrschten Welt zu entkommen.113 Die vage Terminologie ist ebenfalls oft ähnlich.
Auch Tolstoi redet von einem "Bewusstsein des Lebens", die man braucht, um diese Art
der Erkenntnis zu erlangen.114
Ein weiterer fundamentaler Aspekt von Tolstois Beichte ist die Überwindung
der Vernunfterkenntnis. Von Tolstoi wird auf repräsentative und deutliche Weise
vorgebracht, dass die Vernunft bei der Ermittlung des Lebenssinns außer Acht gelassen
werden muss, wenn man Ergebnisse in diesem Sinne erzielen möchte. Seine Auffassung
betont die Schwierigkeit der Anwendung streng vernünftiger oder überhaupt ausdrückbarer
Argumente innerhalb der theistischen Anschauung. So wird auch Tolstoi von Flew
mit folgenden Worten zitiert, um wiederzugeben, wie dieser Glaube die rationale
Argumentation verbietet:
"All that people sincerely believe in must be true; it may be differently expressed but it
cannot be a lie, and therefore if it presents itself to me as a lie, that only means I have
not understood it".115
Dieselbe Problematik finden wir meines Erachtens immer in einem Diskurs wieder,
der ein Jenseits, eine Immaterialität oder im Allgemeinen religiöse Ideen beinhaltet.
109 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 50.
110 Vgl. ebd., S. 56. Ich verweise ebenfalls auf Kapitel 2.2 in dieser Arbeit, S. 21.
111 Dass er gläubig ist, entnehme ich den Aussagen seines Artikels.
112 Frei übersetzt aus: Swenson, David F.: The Dignity of Human Life, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.):
The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 20.
113 Frei übersetzt aus: ebd., S. 22-24.
114 Frei übersetzt aus A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 115.
115 A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 163: Für Flew ist dies grotesk.
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Seit Kant wissen wir, dass wissenschaftliche und religiöse Begriffe auseinander behandelt
gehören. So kann Kant zufolge z. B. Gott in einem wissenschaftlichen Rahmen nicht
thematisiert werden, da die empirische Komponente fehlt und sich unser Denkvermögen
in der metaphysischen Leere verliert, auch wenn in der praktischen Vernunft Gott
für moralische Urteile vorausgesetzt werden müsse. Damit drückt sich jedoch auch
die Nichtexklusivität des Anspruches der Wissenschaft auf Rationalität aus.
Der gläubige116 Theoretiker Emil Fackenheim redet z. B. in Bezug auf das Judentum
von einer nicht ausdrückbaren Bestätigung eines Sinns nach der "Begegnung" zwischen
Gott und Mensch.117 Die Frage nach dem Sinn des Lebens müsse überhaupt nicht mehr
beantwortet werden, wenn der Mensch mit Gott "in Kontakt" tritt. 118 Woraus dieser Sinn
dann bestünde, bleibt unklar, doch es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob diese
Unbestimmtheit nicht vielleicht bereits alles ist, was für die Sinnfrage überhaupt anerkannt
werden kann. Bei vernünftiger Vorgehensweise muss die letzte Aussage
als widersprüchlich angesehen werden, da weder die Antwort auf eine Frage noch
die Erklärung eines Sachverhaltes durch deren 'Unbestimmtheit' eine echte
Daseinsberechtigung erhält. Man kann sich natürlich dafür entscheiden, der Vernunft
die Legitimität zu einem bestimmten konzeptuellen Kontext abzusprechen. Ob dies
einen Sinn macht oder nicht wollen wir später sehen. Fackenheim unterstützt (vielleicht
eher ungewollt) diesen offensichtlichen Widerspruch, indem er behauptet, dass die
unausdrückliche Bestätigung des Sinns im Grunde Ausdrücklichkeit voraussetzt. 119
Wie wir bereits gesehen haben, redet Kurt Baier von einem "versteckten Sinn", 120 der der
sinnlichen Beobachtung vorenthalten bleibt. Meines Erachtens kann man die Bedeutung
dieses versteckten Sinns ebenfalls auf nichtrationale Aussagen im Allgemeinen ausweiten,
also wenn z. B. Zusammenhang und Konsistenz der Argumentation fehlen und
die Überzeugungskraft ausschließlich auf eine emotionale Empfindung oder
ein menschliches Bedürfnis zurückführbar ist. Baier bestätigt, dass bei Anwendung
der Möglichkeit der Existenz Gottes (also eines Teils einer möglichen "hidden meaning"Vorstellung) die wissenschaftliche Denkweise für den Kontext der Sinnfrage abgelehnt
werden muss.121
Für Antony Flew kann Tolstois Lösungsansatz zur Sinnfrage ebenfalls mit der Wette von
Blaise Pascal verglichen werden ...
"in that it does not really provide any evidence that the approved claims about God
116 Dass er gläubig ist, entnehme ich den Aussagen seines Artikels.
117 Vgl. Fackenheim, Emil L.: Judaism and the Meaning of Life, in: Klemke / Cahn (Hgg.): The Meaning of Life. A
Reader, New York 2008, S. 32.
118 Vgl. ebd.
119 Vgl. ebd., S. 32.
120 Vgl. Kapitel 2.1, S. 18. Vgl. auch K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 47 Abschn. 2 bis Abschn. 5.
121 Vgl. Baier, Kurt E. M.: The Meaning of Life. Inaugural Lecture delivered at the Canberra University College on 15
October 1957, Canberra: The Canberra University College 1957, S. 17.
27
and immortality are true. But what it does do is rather different. It urges that the truth
of these claims is presupposed by some desired and desirable way of life." 122
Damit bestätigt auch Flew die Grundlage des moralistischen Fehlschlusses:
"Tolstoy is sliding from the merely autobiographical: "there were no wishes the
fulfilment of which I could consider reasonable"; to the ostensibly objective conclusion
that suffering and mortality really must withdraw all reasonableness from every
attempt to satisfy any ordinary human desire." 123
Etwas das moralistisch fehlgeschlossen wird, schließt gleichzeitig Vernunfterkenntnis aus.
Im Theismus geht es nicht um die Erörterung von Tatsachen, die Sachlage ist klar.
Dies lassen wir uns von R. W. Hepburn bestätigen:
"One does not have to believe that philosophical arguments must be either cogent
and successful or else a worthless tissue of conceptual confusions. The arguments
[Argumente für die Existenz Gottes, besonders das kosmologische Argument] we
have looked at in these two chapters are of very dubious validity, and yet their very
persistence over the centuries, their deep psychological appeal to many of us, compel
one to realize that they also express something of permanent human importance,
whatever it is. What is expressed seems to me to have two principal facets---the
expression of wonderment and the expression of anxiety, both directed to highly
general features of our experience."124
2.4 Der naturalistische Ansatz
Der Supranaturalismus lässt sich im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Weisen
verneinen:
1) Durch die Überzeugung, dass es keinen Gott und/oder kein Jenseits, keine
Transzendenz oder irgendeine andere spirituelle Welt oder Entität gibt. 125
2) Durch die Überzeugung, dass der Supranaturalismus eigentlich überhaupt nicht
seinen eigentlichen Zweck erfüllt, nämlich einen Lebenssinn auf eine Weise, die vom
Menschen irgendwie nachvollziehbar ist, aufzuzeigen.
Letztere Überzeugung kann sich z. B. dadurch einstellen, dass sich
die supranaturalistischen Überlegungen der Vernunfterkenntnis oder der allgemeinen
philosophischen Argumentation entziehen und dies nicht akzeptiert wird. So wird z. B.
im Historischen Wörterbuch der Philosophie Ludwig Feuerbach zitiert, der diesen Umstand
auf den Punkt bringt:
122 A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 155.
123 Ebd., S. 158
124 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 184. Auch wenn er vom kosmologischen Gottesbeweis redet,
so ist dies hier anwendbar.
125 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2. Supernaturalism.
28
"Die Beziehung auf die Sphäre der Sinnlichkeit wird
Konstituens einer sinnvoll gestellten Sinnfrage. Sie muß
Ausgangslage gebunden bleiben und verlöre ohne sie
«Verliert nicht das Leben gerade durch das Jenseits, in
finden soll, allen Sinn, allen Zweck?»" 126
bei L. Feuerbach zum
an ihre anthropologische
auch ihren Gegenstand:
dem es erst seinen Sinn
Verneint man den Supranaturalismus, so bleiben dem Menschen zwei Möglichkeiten:
- die Sinnhaftigkeit des Lebens oder der Existenz an sich verneinen, oder
- die Sinnhaftigkeit im Diesseits suchen, in welcher Form auch immer.
Ersteres erschafft den Pessimismus oder Nihilismus, letzteres den Naturalismus. Den Sinn
des Lebens als Naturalist zu bejahen, bleibt ein schwieriges Unterfangen, weil man mit
der informellen Logik des zu benutzenden Wortschatzes zurechtkommen muss. 127
Für R. W. Hepburn vollzieht der Naturalist diesen Sprung, indem er die alte theistische
Terminologie entweder ganz ablehnt oder sie umformt. Bei beiden Vorgehensweisen
taucht er in die Komplexität der Sprache ein und bringt Dinge zum Vorschein, die auch für
den Nichtnaturalisten von Interesse sein könnten.128
Für T. Metz gibt es einen logischen Spielraum für eine sowohl nichtsupranaturalistische als
auch nichtnaturalistische Theorie,129 jedoch stellt man in der einschlägigen
angelsächsisch-analytischen Literatur fest, dass der Naturalismus als die einzig echte
Alternative130 zum Theismus angesehen wird. Auch Objektivismus und Subjektivismus
lassen sich jeweils auch entweder dem Theismus oder dem Naturalismus unterordnen.
Zunächst einmal lässt sich sagen, dass für den Naturalismus Begriffe wie 'Gott' oder
'Seele' keine notwendigen Bedingungen darstellen, um dem Leben oder der Existenz
allgemein Sinnhaftigkeit zuzusprechen. Hierfür reichen bestimmte Lebensweisen
in einer rein physikalischen Welt aus.131 Der Naturalismus sucht die Sinnhaftigkeit
in einer Welt, die von der Wissenschaft untersucht werden kann. 132 Ferner scheint bei
diesem Ansatz die Natur nicht nur die Grundlage für eine universale Moral zu liefern,
sondern auch denjenigen Wert, der benötigt wird, um Sinnhaftigkeit zu erschaffen, 133
ob diese Prinzipien jetzt objektiv im Universum vorzufinden sind (→ Objektivismus) oder
ob diese über den Umweg der Erschaffung durch unseren Geist entstehen, ohne hierbei
den Geist einer transzendenten immateriellen Substanz zuzuordnen (→ Subjektivismus).
126 Ludwig Feuerbach: Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkte der Anthropologie, 1846, in: W. Schuffenhauer
(Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 10, 1971, S. 282. Zitiert in: V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp.816.
127 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 125.
128 Vgl. ebd.
129 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 783. Es bestehe einen logisch möglichen Raum für
eine nicht supernaturalistische und nicht naturalistische Theorie, so z. B. Kants noumenale Rationalität als
Vorbedingung für ein sinnvolles Leben.
130 Was die positiven Lösungsansätze angeht.
131 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 783+792.
132 Vgl. ebd., S. 783. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3. Naturalism.
133 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 2.1 God-Centered Views.
29
Für viele der behandelten Autoren ist die Sinnhaftigkeit des Lebens sehr wohl möglich
außerhalb der "Wahrheit des Theismus" oder des Supranaturalismus, was das Ganze,
wie bereits erwähnt, nicht weniger schwierig macht. 134 Gandhi und Einstein scheinen
zum Beispiel ein sinnvolles Leben gelebt zu haben, ohne es mit Argumenten
des Supranaturalismus oder überhaupt mit der Anwesenheit eines spirituellen Reiches
rechtfertigen zu müssen.135 Aber wie lassen sich die Merkmale des sinnvollen Lebens
genau bestimmen? Immerhin besteht eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zum Theismus:
Zum einen die Suche nach einer Rechtfertigung, warum das Leben ist wie es ist, und
warum das Leben überhaupt ist. Es ist in der Tat schwierig, wenn nicht unmöglich,
als reflektierender Mensch der Tendenz zu widerstehen, diese Rechtfertigung auf welche
Art auch immer aufsuchen zu wollen. Zum anderen sein Leben bedeutsamer wahrnehmen
zu wollen, indem man versucht, es in einen größeren Rahmen zu stellen, ein Teil
von etwas Größerem zu sein als sein eigenes individuelles Leben, auch wenn
dieses Größere nicht notwendigerweise im Jenseits stattfindet. 136
Für den Naturalisten stellen sich folgende Fragen: 137
- In welchem Maß bildet der menschliche Geist selbst Sinnhaftigkeit? Gibt es
Sinnhaftigkeit außerhalb des menschlichen Geistes?
- Gibt es irgendwelche Maßstäbe oder zu erfüllende Anforderungen, die bei
allen Menschen unveränderlich sind?
Die Antworten bestimmen darüber, ob wir eher zum Objektivismus oder doch zum
Subjektivismus neigen. Um diese Fragen zu untersuchen, gehen wir zu einem neuen
Kapitel über. Hierbei werden Lösungsansätze dargestellt, die dem Naturalismus
untergeordnet werden können und ihn bilden. Aus diesem Grund erklärte ich in
meiner Einleitung, dass ich mit der Aufteilung von T. Metz einverstanden bin,
den Naturalismus in Objektivismus und Subjektivismus aufzuspalten und diese jenem
unterzuordnen und dies auch in der Entwicklung meiner Arbeit befolge. Ich möchte jedoch
klarstellen, dass es sich beim folgenden Objektivismus um einen nichttheistischen
Objektivismus handelt,138 was je nach Interpretation nicht unbedingt immer der Fall
sein muss.
134 Vgl. z. B. Bertrand Russells Vorstellungen oder Audi, Robert: Intrinsic Value and Meaningful Life, in:
Philosophical Papers 34/3 (Nov. 2005), S. 331.
135 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 809. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007),
Kapitel: 3. Naturalism.
136 Vgl. Nozick, Robert: Philosophy and the Meaning of Life, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The
Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 228.
137 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3. Naturalism.
138 Siehe S. 16.
30
3. Objektivismus und Subjektivismus
3.1 Objektivismus
Wie es der Name bereits andeutet, versucht der Objektivismus eine positive Sinnhaftigkeit
des Lebens zu erschließen, indem er bestimmte Eigenschaften unseres Lebens und
unserer Handlungen als Bestandteil der Natur und des gesamten Universums
zu bestimmen versucht, ohne dabei nur auf mentale Zustände oder rein subjektive
Ausrichtungen zurückzugreifen.139 T. Metz behauptet, der Objektivismus sei
zur gegenwärtigen Zeit die führende Konzeption in der einschlägigen angelsächsischanalytischen Philosophie.140 Jedoch habe man Schwierigkeiten, die objektivistischen
Theorien zur Orientierung von Verhaltensweisen umsetzen zu können, da sie entweder
zu unpräzise in ihrer Aussage sind oder die nachteilige Erfahrung mit sich bringen,
dass Einiges, was als intuitiv bedeutungsvoll wahrgenommen wird, nicht mit
den entsprechenden Theorien übereinstimmt.141
Metz stellt in seinen beiden Artikeln 142 zusammenfassend folgende Theorien vor, die wir
hier als kurzen Überblick verschiedener Ansätze nutzen, ohne dabei den Anspruch auf
Vollständigkeit für objektivistische Theorien erheben zu wollen:
- Die Kreativitätstheorie: Das Leben wird als bedeutungsvoll und damit als sinnvoll
angesehen, wenn man kreativ wirkt. 143 Es geht im Prinzip darum, die Welt mit Neuartigem
zu bereichern, und das wird nicht nur auf die Kunst sondern auf alle möglichen Gebiete
des Lebens bezogen. Natürlich stellt sich diesbezüglich auch gleich die Frage, woraus
Kreativität überhaupt besteht oder wie man sie bewerten soll, wenn sie zu unmoralischen
Zwecken verwendet wird. Aus diesem Grund fordern einige Theoretiker, die Aufstellung
moralischer Maßstäbe nicht auszublenden und das Konzept der Kreativität an die Moralität
des Wirkens zu kuppeln, um Klarheit und Konsistenz bei ihrer Bestimmung zu erlangen. 144
Ebenfalls muss bei dieser Theorie die Proportionalität einen Stellenwert erhalten, denn für
ihre Nachvollziehbarkeit muss gelten, dass ein Mehr an Kreativität ein Mehr
an Sinnhaftigkeit impliziert.
- Wenn man die menschliche Handlung oder Absicht mit einem moralischen Gehalt
in Verbindung setzen muss, um den Grad ihrer Bedeutung für die Sinnfrage bestimmen
zu können, dann ist es auch nur konsequent, gleich eine Moralitätstheorie aufzustellen. 145
Auch bei dieser Theorie gilt die Proportionalität: je moralischer man handelt, desto höher
139 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 796.
140 Vgl. ebd.
141 Vgl. ebd.
142 Vgl. ebd., S. 798. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism.
143 Kreativitätstheorie von Richard Taylor, vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 797.
144 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 798.
145 Vgl. ebd.
31
ist der Bedeutungsgehalt für unser Leben. 146 Was moralisch ist oder nicht kann dann
in unterschiedlichen philosophischen Gebieten diskutiert werden. Die Natur des Wertes
an sich kann z. B. in metaethischen Debatten geführt werden, was dann wiederum
einen Niederschlag im Objektivismus finden könnte. 147 Metz deutet darauf hin,
dass diesbezüglich das Bemessen der Sinnhaftigkeit auch anders herum gesehen werden
kann: So glaubt z. B. John Kekes, dass etwas Bedeutungsvolles (hier "meaningfulness")
für den Lebenssinn sogar aufgrund von Immoralität entstehen könne. 148 Aber warum dient
Kreativität oder Moralität überhaupt als Messlatte für Sinnhaftigkeit?
- Diese Frage versucht Robert Nozick zu beantworten, indem er behauptet,
dass die Gültigkeit der Moralität als Maßstab für Lebenssinn aus der Zielsetzung besteht,
Grenzen zu überwinden149 und Verbindungen untereinander herzustellen, 150 um sozusagen
das menschliche Dasein zu einer immer komplexeren organischen Einheit
zusammenwachsen zu lassen. Grundlegender als die Moral für den Lebenssinn ist, Nozick
zufolge, an der Entwicklung von etwas Größerem teilzunehmen. 151 Es ist unklar, ob Nozick
eine Tendenz zum Supranaturalismus aufzeigt, wenn er fordert, die Grenzen
des menschlichen Daseins zu "transzendieren".152
- Es gibt diesbezüglich ebenfalls denjenigen Utilitarismus, der nicht nur die Moral, sondern
auch den Lebenssinn thematisiert: Je mehr jemand einen Nutzen für die Gesellschaft
produzieren kann, desto bedeutungsvoller und sinnvoller ist sein Leben, egal ob man aus
der Handlung, die zum Nutzen führt, irgendein Lustgefühl oder Glücksgefühl erhält, 153
auch wenn die Lust an sich als Parameter für die Bestimmung des Nutzens berücksichtigt
werden muss.
- Ein anderes Beispiel einer objektivistischen Theorie ist die von Alan Gewirth. Für ihn ist
ein bedeutungsvolles Leben eines, das die Vernunft in besonderem Maße anwendet.
Im Grunde geht es ihm darum, das animalische Wesen des Menschen zu überwinden und
etwas anzustreben, das der Zielsetzung von Nozicks Theorie ähnlich kommt. 154
- Es kann noch ergänzt werden, dass man diejenigen Theoretiker Pluralisten nennt,
die sehr wohl den Objektivismus befürworten, jedoch nicht glauben, dass wir
ein objektivistisches Prinzip finden werden, das allem gerecht wird, was als intuitiv sinnvoll
wahrgenommen wird.155 Die menschlich intuitive Wahrnehmung des Bedeutungsvollen
muss hierbei zwingend berücksichtigt werden. Einer dieser Pluralisten ist der bereits
146 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 798.
147 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism.
148 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 798. In diesem Fall hätte z. B. Hitler einen hohen
Lebenssinn gehabt, was natürlich intuitiv als abstoßend empfunden wird.
149 Ich würde dies allgemein als 'Entwicklung' oder sogar 'Evolution' benennen, wenn es in einem naturalistischen
Sinne gemeint ist.
150 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 799.
151 Vgl. R. Nozick: Philosophy and the Meaning of Life (2008), S. 228.
152 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 799.
153 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism.
154 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 800.
155 Vgl. ebd.
32
erwähnte John Kekes.156 Er glaubt, dass sowohl die Religion als auch die Moral daran
scheitern, dem Leben wirklich einen Sinn zu geben, weil sie versuchen, eine zu
allgemeine Antwort auf etwas zu geben, die gleichermaßen auf alle Menschen anwendbar
sein muss.157 Aus seinem Blickwinkel stellt sich das als nicht machbar heraus, und er
plädiert daher für eine pluralistische Lösung. Nicht zuletzt versucht er auch, sich dagegen
zu wehren, wieder in eine subjektivistische Perspektive zurückfallen zu müssen, die er
am Anfang seiner Überlegungen ausgeschlossen hatte. 158 Kekes' Pluralismus vereint
mehrere Richtlinien in sich, die in den anderen Theorien wiedergefunden werden können,
und beinhaltet auch (aber nicht ausschließlich) subjektive Elemente. Seine Theorie fordert
für die Sinnhaftigkeit des Lebens ein, Projekte zu erstellen und zu verfolgen, die sowohl
der Menschheit dienlich sind als auch persönliche Befriedigung leisten. 159
- Weitere allgemein bekannte philosophische Konzeptionen können ebenfalls mehr oder
weniger als objektivistisch in Betracht gezogen werden: Aristoteles mit der Idee, das gute
Leben sei durch die Anwendung des Logos als natürlich-eigentümlichen Zweck
des Menschen erreichbar, Marx mit der Idee der Verminderung der Entfremdung und
Nietzsche mit seiner Theorie des Übermenschen.160
Ein wichtiger Aspekt des Objektivismus wird mit dem Begriff 'sub specie aeternitatis'
ausgedrückt, der von Thomas Nagel in die Diskussion über den Lebenssinn eingeführt
wurde.161 Es handelt sich hierbei um einen rein externen, unpersönlichen und objektiven
Standpunkt.162 Für Nagel gilt jedoch, dass dieser absolut objektive Standpunkt, den unser
Geist fähig einzunehmen sei, lediglich Absurdität und deshalb eben gerade
keine Sinnhaftigkeit produziert, da aus dieser Perspektive zu erkennen ist, dass wir
überhaupt keinen Einfluss auf das kosmische Geschehen haben und die Existenz
des Menschen komplett irrelevant erscheint.163 Letzteres kann jedoch wiederum in Frage
gestellt werden, so wie es der Theoretiker Iddo Landau tut. 164 Landau glaubt
den Denkfehler bei Nagel darin zu sehen, dass wir zu hohe Maßstäbe
an die Sinnhaftigkeit setzen. Wenn die Anforderungen relativiert werden würden, könnte
man den objektiven Standpunkt 'sub specie aeternitatis' sehr wohl beibehalten und
dem Leben trotzdem Bedeutung beimessen:
"But this argument [= Nagels Argument, dass aus dem Standpunkt 'sub specie
156 Siehe S. 32. Vgl. Kekes, John: The Meaning of Life, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning
of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981).
157 Vgl. ebd., S. 254.
158 Vgl. ebd., S. 255.
159 Vgl. ebd., S. 250+252+253+256.
160 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism.
161 Was soviel bedeutet wie "aus dem Blickwinkel der Unendlichkeit", also der absolut objektive Standpunkt. Vgl.
Nagel, Thomas: The Absurd, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New
York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 146.
162 Vgl. Landau, Iddo: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis, in: Australasian Journal of Philosophy 89/4 (Dez.
2011), S. 728.
163 Vgl. ebd., S. 729.
164 Vgl. ebd., S. 727+729.
33
aeternitatis' die Absurdität des Lebens abgeleitet werden muss] supposes that only
a life that affects the whole universe, and will continue to do so for billions of years,
can be considered meaningful. It is not clear why we should accept this supposition.
I suggest that we should distinguish sharply between perspective, on the one hand,
and standards for meaningfulness on the other hand."165
Und weiter:
"A cosmic perspective may endorse non-cosmic, but rather much more moderate,
standards of meaningfulness, and consider many people to have successfully
passed this threshold."166
Zum einen liege das Wesentliche der Sinnhaftigkeit also nicht unbedingt darin, eine
gewaltige Spur im Kosmos zu hinterlassen. Fakt ist jedoch, dass man eine Spur, so klein
sie auch sein mag, hinterlässt. Zum anderen erklärt Landau weiter, dass man auch nicht
wirklich wissen könne, welche Wirkung die Menschheit oder sogar einfach nur
das einzelne Individuum auf das gesamte Universum haben kann. Es ist durchaus
vorstellbar, dass die Akkumulation von jeweils im Einzelnen unbedeutenden Wirkungen
sehr wohl einen großen Einfluss auf die Zukunft hat. Das Ergebnis der Wechselwirkungen
aller Phänomene ist in seiner Gesamtheit nicht vorhersagbar, und aus diesem Grund
macht es auch keinen Sinn, eine einzige Art von Standard für die Sinnhaftigkeit
des Lebens gelten zu lassen. Ihm zufolge ließen sich die Anforderungen für Sinnhaftigkeit
auch ganz woanders sehen als im Impact auf das rein physikalische Geschehen.
So können z. B. Weisheit oder Glück als Kandidaten für Sinnhaftigkeit logisch nicht
ausgeschlossen werden, ohne hieraus ableiten zu können, welchen Impact sie haben. 167
Zusammenfassend kann diesbezüglich Folgendes festgehalten werden:
"More generally, the size of the framework in which a certain issue is evaluated is
largely independent of the standards of evaluation." 168
Und:
"When reflecting on judgments on the meaning of life, then, we should consider
predominantly the standards of meaningfulness that we use. Discussing perspectives
is frequently less important and relevant than discussing standards." 169
Außerdem deuten Landaus Ausführungen darauf hin, dass genau dieser Denkfehler
Nagels als die Art von Fehlschluss zu gelten hat, wenn ein religiöser Mensch nicht in
Erwägung ziehen kann, dass nichts Kleineres als ein allmächtiger Gott von Nöten ist, um
demjenigen Lebewesen einen Sinn zuzuordnen, das die Fähigkeit hat, die Größe oder die
Unendlichkeit des Universums durch seinen Geist vom Prinzip her zu begreifen. 170 Landau
versteht Nagels konzeptuelle Unterscheidung zwischen 'sub specie aeternitatis' und
165 I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 729.
166 Ebd.
167 Vgl. ebd.
168 Ebd., S. 730.
169 Ebd., S. 733.
170 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 731: "We may examine our lives sub specie
aeternitatis, and we may adopt godlike standards of affectin the whole universe; but we need not adopt the latter
because of the former."
34
'sub specie humanitatis' sehr wohl, aber anders als Nagel glaubt Landau nicht, dass beide
Perspektiven auf diese Weise auf die Sinnhaftigkeit des Lebens bezogen werden können,
schon allein deshalb nicht, weil sie sich auf mehrere unterschiedliche Weisen gegenseitig
durchschneiden können.171 So kann man das menschliche oder sogar individuelle Leben
sehr wohl aus einer absolut objektiven Perspektive widerspruchsfrei betrachten und
umgekehrt auch den gesamten Kosmos aus der Perspektive des Individuums mit seinen
menschlichen Eigenschaften, ohne dass dies als unzulässig zu gelten hat. 172
In der Encyclopedia of Philosophy werden diese zwei Perspektiven als "kosmischer Sinn"
und "terrestrischer Sinn" betitelt, und auch hier geht Paul Edwards davon aus, dass beide
sich beeinflussen können, ohne dass jedoch das eine logisch aus dem anderen
geschlossen oder ausgeschlossen werden kann.173
Ein anderer Verfechter des Objektivismus, der der notwendig eintretenden Absurdität
aus einer objektiven Perspektive im Sinne Nagels widerspricht, ist David Wiggins.
Ihm zufolge muss eine herausragende Bedeutung in einen als objektiv geltenden
Sachverhalt
"investiert" werden, um Sinnhaftigkeit überhaupt erschaffen zu können.
Dies gelte sogar dann, wenn das Konzept des 'Sinns' nur subjektiv ersonnen zu werden
scheint.174 R. Nozick stimmt mit Wiggins diesbezüglich überein und versucht diese These
mit einem Gedankenexperiment zu untermauern. Er denkt sich eine "Erfahrungsmaschine"
aus, in der ein Mensch komplett mit allen seinen Sinnen von der äußeren Welt
abgeschottet ist und hierbei Erfahrungen eingeflößt bekommt, die ihn lückenlos und
wirklich glücklich machen, obwohl er sich dessen bewusst bleibt, dass er sich nicht
in der 'echten' Welt befindet. Würde man diesen Mensch fragen, in welcher Welt er
weiterleben möchte, in der echten äußeren oder in der glücklichen abgeschotteten Welt
der Erfahrungsmaschine, so würde dieser die authentische äußere Welt wählen,
sogar dann, wenn das Glück dann nicht mehr gewährleistet werden kann. Nozick glaubt,
dass Sinnhaftigkeit im Leben dann entsteht, wenn eine Verbindung zu einem Wert
hergestellt werden kann, der als desto wünschenswerter angesehen wird, je 'größer',
je allumfassender er ist.175 Im Beispiel der Erfahrungsmaschine ginge es um den Wert
der Authentizität. So wird auch in der Stanford Encyclopedia of Philosophy behauptet,
dass Sinnhaftigkeit im Objektivismus zumindest teilweise durch die intrinsische Natur
des infrage kommenden Wertes zustande kommt. 176
Ebenfalls in der Kategorie des Objektivismus müssen wir die Versuche deuten, den Sinn
des Lebens in der Geschichte zu sehen. So tun es bereits z. B. Wilhelm Dilthey oder
171 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 732.
172 Vgl. ebd.
173 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 472.
174 Vgl. Runzo, Joseph: Life, meaning and value of [addendum], in: Donald M. Borchert (Hg.): The Encyclopedia of
Philosophy. Second Edition, Bd. 5, Detroit: Thomson Gale 2006, S. 358. Er bezieht sich auf David Wiggins (2002).
175 Vgl. J. Runzo: Life, meaning and value of [addendum] (2006), S. 358. Er bezieht sich auf Robert Nozick (1989).
176 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3. Naturalism.
35
Auguste Compte wenn sie von dem Ziel oder der allgemeinen Richtung der menschlichen
und gesellschaftlichen Entwicklung sprechen. 177 Hierbei sollte darauf geachtet werden,
dass sich diese Vorstellung von der üblichen teleologischen Denkweise darin
unterscheidet, dass sich die historische Sinnhaftigkeit auf die Zivilisation und die Kultur
der Menschen beschränkt, und nicht auf die gesamte kosmische Existenz oder
die gesamte Schöpfung Gottes. Auch sollte beim Begriff der Evolution darauf geachtet
werden, dass er für diese Art von Theorien nicht in einem darwinistischen Sinne
zu verstehen ist. Der Darwinismus sucht nämlich ohne Teleologie oder Zwecktheorie
auszukommen.
3.2 Subjektivismus
Am einfachsten lässt sich der Subjektivismus mit folgender reduktionistischen Äußerung,
wie sie von Alfred J. Ayer gemacht wurde, darstellen: Wir wählen uns den Sinn
des Lebens selbst aus.178 Er kann damit also auch von Mensch zu Mensch verschieden
sein.179 Ein Subjektivismus ist immer auch ein Relativismus. Der Objektivismus möchte mit
einem gewissen Maß an Rationalität und Universalität an das Thema herantreten.
Der Subjektivismus seinerseits trägt dem Wollen und dem Glauben 180 (nicht im religiösen
Sinne) mehr Rechenschaft181 und es bleibt in der Tat zweifelhaft, ob der Mensch
im Allertiefsten seines gesamten Wesens aus etwas anderem als das besteht. Und wenn
das Menschsein im Grunde nur aus 'Wollen' bestünde, dann könne der Objektivismus
unmöglich den moralistischen Fehlschluss vermeiden, auch wenn dieser in ihm nicht
immer so deutlich zu Tage tritt wie im Supranaturalismus. Dies wäre bereits ein Umstand,
der die Position der Subjektivisten festigt.
Der moderne Subjektivismus hat keine ausgesprochen lange Tradition. Sein Auftreten wird
vollzogen im 19. Jahrhundert mit der endgültigen Überwindung alter religiöser Werte und
der Rückbesinnung auf den anthropologischen Ursprung dieser Werte. 182 Nach Dilthey und
Nietzsche macht sich z. B. im deutschen Raum Selbstbezogenheit und Selbstbesinnung
breit.183 So wird ebenfalls im angelsächsischen Raum um die Jahrhundertwende
die Sinnfrage von Bertrand Russell überwiegend religionskritisch angegangen 184 und löst
177 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 817.
178 Vgl. Ayer, Alfred J.: The Claims of Philosophy, in: E. D. Klemke / S. M. Cahn (Hgg.): The Meaning of Life. A
Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 201.
179 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.1 Subjectivism.
180 Nicht unbedingt in einem religiösen Sinne.
181 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 250 f.
182 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 817. E. von Hartmann hält es zu dieser Zeit bereits als ausgemacht,
dass jeder den Wert nach eigenem subjektiven Maßstab setzt.
183 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 819.
184 Vgl. ebd., Sp. 818. Hier wird B. Russells A free man's worship erwähnt. Siehe: Russell, Bertrand: A Free Man's
Worship, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford
University Press 32008 (11981) [ursprünglich erschienen 1903].
36
hiermit eine Debatte aus, die bis heute Bestand hat. 185 Für Russell enthüllen
die Naturwissenschaften die Sinnlosigkeit des Lebens insgesamt, denn diese zeigen uns
zum einen, dass das Leben irgendwann einmal, wenn auch erst in ferner Zukunft,
ausstirbt,186 so wie alles in der Natur oder im weiteren Sinne im Universum. Zum anderen
zeigen die Naturwissenschaften, dass der Mensch selbst nur ein Produkt zufälliger
Ereignisse ist, so wie es der Darwinismus vorschreibt. Somit könne man ebensowenig
auf einen edlen Ursprung unseres Daseins zurückschauen als auch keiner finalen
Konsequenz nacheifern, da es beide ganz einfach nicht gibt, und mit rationaler und
konsequenter Kühle müsse der Mensch sich dann auch zugestehen, dass es
den objektiven Lebenssinn nicht geben kann 187. Doch diese von vielen als deprimierend
empfundene Einschätzung hat auch einen Vorteil für den Menschen, denn dieser ist jetzt
frei,188 befreit von den Fesseln der überkommenen Objektivität der Werte und der alten
Sinnstiftungen.
Jean-Paul Sartre kommt später zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, doch
seine Herleitung fußt, anders als bei Russell, auf einer unterschiedlichen Philosophie.
Ebenso kommt Albert Camus zum Ergebnis, dass er nur in menschlichen Bezügen
antworten kann, wenn er die Frage wagt, was Sinnhaftigkeit außerhalb des Menschseins
bedeuten könnte.189 Er fordert, dass wir unsere Belange auf das Unmittelbare richten,
also auf unsere existentielle Verfassung.190
Interessant ist außerdem die gegen den Objektivismus gerichtete Überlegung von
Kai Nielsen: Die Tendenz des Menschen zu objektivistischen Überlegungen liege im Leid
der menschlichen Existenz begründet und dieser Umstand mache die Tendenz sehr wohl
erklärbar, wenn auch dafür nicht unbedingt rechtfertigbar. 191 Außerdem würde der Mensch,
der den objektiven Lebenssinn sucht, kaum jemals mit den Untersuchungen
der linguistischen Philosophie einverstanden sein können, da er sich gegen wichtige
rationale Argumente wendet. So können "Warum"-Fragen, auch Nielsen zufolge,
insgesamt rational nicht befriedigend gelöst werden. 192 Am Ende gelangt er zur
Überzeugung, dass die Forderung eines objektiven Lebenssinns aus der Angst heraus
entsteht, keine eigenen Entscheidungen treffen zu können. 193
185 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467.
186 Da unser Planet und unser Sonnensystem nur eine begrenzte Dauer von Bestand sein kann, der modernen Physik
zufolge.
187 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467. Vgl. auch B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S.
56.
188 Vgl. B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S. 56.
189 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 728. Seine Quelle: Camus, Albert: The Myth
of Sisyphus and Other Essays, übers. v. Justin O’Brien, New York: Knopf 1969, S.78).
190 Vgl. ebd. Bezüglich Camus, vgl. auch J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 250 f.
191 Vgl. Nielsen, Kai: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life", in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M.
(Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 211.
192 Vgl. K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life" (2008), S. 214.
193 Vgl. ebd., S. 216.
37
Nicht zuletzt wendet sich auch Karl Popper gegen den Objektivismus. Wenn religiöse
Optionen ausgeschlossen sind, bestehe Einigkeit darin, dass Sinn nur im menschlichen
Selbstverständnis zu retten sei.194 Dies gelte auch für die Auffassung,
in der Weltgeschichte einen Sinn zu sehen.195
Da die Alternativen als intellektuell unbefriedigend empfunden werden, bleibt nur noch
eines für die Menschen übrig: die eigenen Ziele verfolgen. Eigene Ziele aufzustellen, um
sie verfolgen zu können, wird damit zum Kern des Subjektivismus. Dieser darf jedoch nicht
mit einer negativen Antwort auf die Sinnfrage verwechselt werden. Der Subjektivismus
bietet sehr wohl eine Sinnhaftigkeit, nur keine außerhalb unseres eigenen Geistes. 196
So sieht auch Russell nicht ein, wegen seines Standpunkts der Absurdität verfallen
zu müssen.197 Er geht die Sache äußerst praktisch an und gibt den Menschen konkrete
alltagstaugliche Ratschläge, wie es zu schaffen sei, das Leben als ein sinnvolles
zu gestalten. Er spricht sich zum Beispiel dafür aus, sich nicht zu sehr mit sich selbst
zu beschäftigen, sondern seine Aufmerksamkeit auf externe Dinge und vor allem auf
andere Menschen zu richten.198 Er nennt dies sich selbst "transzendieren" und entkoppelt
gleichzeitig diesen Begriff von jedweder spiritualistischen Konnotation:
"He must learn to transcend self, and in so doing to acquire the freedom of the
universe."199
Auch das Glück spielt bei Russell eine herausragende Rolle in der richtigen menschlichen
Selbstwahrnehmung, die es anzustreben gelte. Er unterscheidet zwei Arten von Glück,
die des Herzens und die des Kopfes. Die erste bezieht sich überwiegend auf die Familie
und das soziale Umfeld, die zweite auf die Befriedigung einer intellektueller Entwicklung. 200
E. Klemke argumentiert ähnlich wie Russell. Die Neutralität des Universums würde
einen objektiven Lebenssinn ausschließen.201 Wir selbst sind es, die die Ereignisse und
Phänomene aufgrund unserer eigenen Präferenzen bewerten. 202 Doch wer aus
diesem Grund behauptet, das Leben sei nicht wert gelebt zu werden, macht sich
der Verwechslung zwischen eben genau der objektiven und subjektiven Perspektive
schuldig. Außerdem, so Klemke weiter, würde ein objektiver Lebenssinn wirklich
existieren, so gebe es immer noch den Zweifel, diesen als seinen Eigenen empfinden
zu können und wäre damit schon allein aus kontraintuitiven Gründen nicht wirklich
aufrechtzuerhalten.203 So wie Russell spricht sich auch Klemke dafür aus, das eigene
194 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 819.
195 Vgl. ebd., Sp. 818.
196 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.1 Subjectivism.
197 Vgl. Russell, Bertrand: The Conquest of Happiness, Abingdon: Routledge Classics 2006 (11930), S. 6.
198 Vgl. ebd.
199 Ebd., S. 62.
200 Vgl. ebd., S. 99.
201 Vgl. E. D. Klemke: Living Without Appeal (2008), S. 190.
202 Vgl. ebd., S. 191.
203 Vgl. ebd., S. 193.
38
Leben mit echtem persönlichen Gehalt und Faszination (Arbeit, Wissen, Kunst …)
zu gestalten, um es allein subjektiv als bedeutend einschätzen zu können. 204
Da 'Sinnhaftigkeit', 'Sinn' und 'Bedeutsamkeit' von unseren Wünschen, Zielen und
Bevorzugungen abhängen und somit relativ zum Subjekt bestimmt werden müssen, 205
können die Subjektivisten auch keine unveränderlichen Standards akzeptieren. 206
In spezifischerer Hinsicht geht es ihnen darum, zu untersuchen, nach welchem mentalen
Vermögen der Sinn des Lebens konstituiert werden kann und genau hierin unterscheiden
sich auch die Vorschläge der Subjektivisten.207 So gibt es innerhalb dieser Philosophie
unterschiedliche Versuche, wenn auch nicht mit universellen konzeptuellen Mitteln
bestimmbar, doch den Sinn des Lebens begrifflich einzugrenzen.
- Einer dieser Versuche, ist es, das sinnvolle Leben als ein authentisches bestimmen
zu wollen, wobei es auch – ein Aspekt, der weiter oben bereits erwähnt wurde 208 – darum
geht, seine selbst aufgestellten Ziele verwirklichen zu wollen.
- Ein anderer Versuch wird durch die Theorie aufgezeigt, die Sinnhaftigkeit auf intuitive Art
in der Versunkenheit einer Tätigkeit oder sonst einer persönlichen Erfahrung zu sehen.
Beide Sichtweisen weisen die Rolle der objektiven Wertigkeit von sich. 209
- Nur ein wenig abweichend von letzterer Position ist die allgemeinere Sichtweise,
Befriedigung aus seinen eigenen Tätigkeiten zu ziehen. Die Grundlage bilden hierbei
ausschließlich die persönlichen Gefühle einer Person. 210
- Für andere Theoretiker spielen die Neigungen eine größere Rolle, was und wie etwas
begehrt wird, und die Erfüllung dieser Begierde. So gründet z. B. für Harry Frankfurt
der Sinn des Lebens in der Liebe.211
- B. Russells Sichtweise kann ebenfalls als eine eigenständige Theorie geltend gemacht
werden, auch wenn sie aus Aspekten besteht, die bei anderen Theorien ebenso
vorkommen (etwas, dem nicht nur seine Theorie unterliegt). Sie könnte vielleicht
als Selbsttranszendierungstheorie betitelt werden. 212
Im Allgemeinen bleibt nach wie vor unklar, welcher Zustand oder Fähigkeit des Menschen
die Hauptrolle der subjektiven Sinnhaftigkeit ausmacht: Zuneigung, Wollen, Kognition oder
eine Kombination von einigen oder allen Komponenten. 213
204 Vgl. E. D. Klemke: Living Without Appeal (2008), S. 194.
205 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 792. Der Sinn des Lebens hängt vom Subjekt ab, der
Sinn des Lebens "is a function of whether it is (or its parts are) the object of some proattitude or other." Dies gelte
als ausreichende Bedingung für Sinnhaftigkeit.
206 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3. Naturalism.
207 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 793.
208 Siehe: 3.2 Subjektivismus.
209 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.1 Subjectivism.
210 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 793.
211 Vgl. ebd.
212 Das Wort habe ich selbst so gewählt. Auch Russell benutzt transzendieren in diesem Zusammenhang in einem
nichtmetaphysischen Sinne.
213 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 793.
39
Der Subjektivismus war im angelsächsischen Raum die bestimmende Konzeption für
einen großen Teil des 20. Jahrhunderts als der Pragmatismus, Positivismus,
Existentialismus und Nonkognitivismus einen hohen Einfluss auf die Philosophie
ausübten, bis er vor 30 Jahren sein Primat zugunsten des Objektivismus einbüßen
musste.214
3.3 Dazwischenliegende Positionen
Ein Problem stellt sich allerdings, wenn wir die Implikationen untersuchen, die die
subjektivistischen Theorien mit sich bringen. Denn was tatsächlich bedeutungs- oder
sinnvoll ist, kann nicht wirklich von mir allein als Subjekt bestimmt werden. Wenn es nur
auf meiner eigenen persönlichen Vorstellung basieren würde, dann könnten wir kaum
noch von 'Sinnhaftigkeit' oder 'Bedeutsamkeit' im engeren Sinne reden, da diese Begriffe
eigentlich nicht als willkürlich gelten sollten, um als das verstanden werden zu können,
was man gewöhnlich unter diesen Begriffen verstehen möchte. 'Sinnhaftigkeit' und
'willkürliche Bestimmung' werden als inkompatibel empfunden. 215 So gibt es ebenfalls
im Subjektivismus Aspekte, die aus kontraintuitiven Gründen zurückgewiesen werden
können.216 Dies scheint mir einer der Gründe gewesen zu sein, warum sich in
der angelsächsisch-analytischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten eine Rückkehr
zum Objektivismus vollzogen hat.217
Es ist in der Tat fragwürdig, ob es überhaupt die reine objektivistische oder die reine
subjektivistische Theorie gibt. So lassen bereits die pluralistischen Theorien 218 innerhalb
ihrer Herleitungen erahnen, wie schwierig es ist, beide Sichtweisen nicht ineinander
greifen zu lassen. Sind die pluralistischen Theorien des Objektivismus überhaupt
ausreichend objektivistisch oder füllen sie bereits einen Zwischenraum dieser radikalen
Gegenüberstellung? So, glaube ich, ist auch für alle subjektivistischen Theorien die Frage
legitim, ob man nicht an irgendeiner Stelle der Überlegung wieder der Bestimmung
von objektiven Werten verfällt.219 Eine weitere Schwierigkeit beim Subjektivismus ist die,
ob und inwiefern man die Unterscheidung zwischen dem Individuum und
214 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.1 Subjectivism. Metz führt folgende Schriften auf: James
1900; Ayer 1947; Sartre 1948; Barnes 1967; Taylor 1970; Hare 1972; Williams 1976; Klemke 1981. Vgl. auch T.
Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 793.
215 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 794. Er zitiert Taylor: "Which issues are significant, I
do not determine. If I did, no issue would be significant". "significance" beinhaltet, nicht willkürlich zu sein.
216 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 795.
217 Siehe weiter oben, Kapitel 3.2, S. 40.
218 Zum Beispiel: J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 250-256.
219 Ähnliche Probleme finden wir in umgekehrter Richtung vor: Subjektivismus → Objektivismus (vgl. T. Metz: The
Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism).
40
der menschlichen Gattung vornehmen muss.220 Gilt das subjektiv empfundene nicht auch
irgendwo für jedes Mitglied dieser menschlichen Gattung? Kann man persönliche Projekte
nicht in Aspekte zerlegen, die von jedem Menschen mehr oder weniger geteilt werden?
Bei einigen Theorien ist man sich in der einschlägigen Literatur einig, dass sie nicht
ohne Weiteres zuzuordnen sind, insbesondere auch deshalb, weil die Autoren explizit
beide gegenüberliegenden Sichtweisen miteinander verbinden. Die bedeutendste ist
die von Thomas Nagel, die in seinem The View from Nowhere221 beschrieben wird.
Von ihm war bereits weiter oben die Rede. 222 Als 'sub specie aeternitatis' benennt er
die absolut objektive Perspektive oder – wenn man so will – die kosmische Perspektive.
Bei dieser Perspektive wäre das Leben nicht mehr als sinnvoll darstellbar, sogar wenn es
sich um so bedeutende Leben wie die von Mozart, Einstein oder Jesus handelt. Russell
sieht es vom Standpunkt der Wissenschaften aus ähnlich. Auf der gegenüberliegenden
Seite befindet sich die Perspektive 'sub specie humanitatis'. Sie beschreibt den internen,
subjektiven und teilnehmenden Standpunkt und wird vom Subjektivismus eingenommen. 223
Nagel zufolge ist für viele Menschen auch dieser Standpunkt als absurd zu erachten.
Zum einen gelte dies aus konventionellen Gründen, die im Zusammenhang mit
den Umständen,
besonderen
Bestrebungen
oder
persönlichen
Beziehungen
der Menschen stehen. Im gewöhnlichen Leben erscheint die Absurdität, wenn sich
eine deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität auftut, 224 verursacht
durch unsere "konstitutionelle Selbstversunkenheit" 225. Und zum anderen ist der subjektive
Standpunkt deshalb absurd und lässt unser Leben ironisch erscheinen, weil der Mensch
die Fähigkeit besitzt, den objektiven Standpunkt einnehmen zu können. Somit lässt
die Sinnfrage, laut Thomas Nagel, eine doppelte Diskrepanz erkennen. 226 Der objektive
Standpunkt sei ein wesentlicher Teil des Menschseins und könne nicht einfach ohne
Verlogenheit von uns entfernt werden.227
Eine andere "hybride Sichtweise"228 wird von Susan Wolf dargelegt. Für sie entsteht …
"Sinnhaftigkeit wenn sich subjektive Anziehungskraft mit objektiver Attraktivität
verbindet".229
220 Siehe auch V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 820. Hier wird H. Reiner erwähnt. Dieser unterscheidet bei der
Sinnfrage zwischen Individuum (Krankheit + Gesundheit ausschlaggebend) und menschlicher Gattung (hierfür
findet er ihn, wie schon Kant, im guten Willen).
221 Nagel, Thomas: The View from Nowhere, New York: Oxford University Press 1986.
222 Siehe S. 33.
223 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 728.
224 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 145.
225 J. Runzo: Life, meaning and value of [addendum] (2006), S. 358.
226 Vgl. ebd.
227 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 728. Er erwähnt Thomas Nagel aus: The
View from Nowhere, New York: Oxford University Press 1986, S. 210.
228 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism.
229 Frei übersetzt aus: T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3.2 Objectivism. Vgl. auch T. Metz: Recent Works
on the Meaning of Life (2002), S. 794. Er zitiert Wolf: “Meaning arises when subjective attraction meets objective
attractiveness” (Wolf 1997a, 211). Siehe auch in: Wolf, Susan: Meaning in Life, in: Klemke, Elmer D. / Cahn,
Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 232-235.
41
Konkret bedeutet dies, dass ein Leben als sinnvoll erachtet werden kann, wenn eine aktive
Teilnahme an lohnenswerten Projekten besteht. Die Komponente des lohnenswerten
Projektes wird von Wolf als einen objektivierbaren Wert eingestuft. 230 Die Bestimmung
der Bedeutsamkeit
dieser
Projekte
müsse
im
Zusammenhang
mit
einer gesamtgesellschaftlichen und ethischen Dimension hergestellt werden. 231 Es bleibt
jedoch fragwürdig, mit welcher Präzision und mit welcher Einigung unter den Theoretikern
diese Bestimmung gelingen kann.
Eine weitere interessante Theorie, die T. Metz als eine "vielversprechendste Strategie" 232
einschätzt, auch wenn sie von der Fachgemeinschaft wenig beachtet wird, 233
ist abschließend die intersubjektive Theorie von Stephen Darwall. 234 Sie besagt,
dass einige Wertestandards als unveränderlich und objektiv wahrgenommen werden
können, auch wenn diese lediglich durch die Einigung der Menschen auf
eine gemeinsame Sichtweise aufgestellt wurden. Eine Sachlage kann einem Leben also
genau dann Sinnhaftigkeit zuordnen, wenn mehr oder weniger alle Menschen sich
diese herbeiwünschen und sie von einem unpersönlichen Standpunkt erdacht werden
kann. Dementsprechend sollte die Sachlage leidenschaftslos, vom Impact auf das eigene
Leben abstrahiert, mitsamt ihren unterschiedlichen Eigenschaften untersucht und bewertet
werden. Diese Theorie ist insofern subjektivistisch, als dass die Präferenzen
der Menschen in Betracht gezogen werden, schweift aber insofern vom Subjektivismus ab,
als dass jeder dieselbe Präferenz haben muss, um ihr Gültigkeit zu verschaffen. 235
4. Das Leben als sinnlos betrachten
Bisher wurden nur Theorien vorgestellt, die dem Leben eine in welcher Form auch immer
geartete Sinnhaftigkeit zuschreiben. Natürlich bietet die Philosophie auch diejenige
Anschauungsweise, die besagt, dass all dies eine Illusion, ein Fehlschluss, ein Irrglaube
sei, die besagt, dass das Leben sinnlos sei, und dies nicht nur als zeitweilige und vielleicht
auch methodische Einstellung, um zu einer anderen Form der Sinnhaftigkeit als zuvor
zu gelangen (so wie z. B. bei Tolstoi) 236, sondern als eine wirkliche und definitive
Erkenntnis und mit der Akzeptanz der (womöglich als zweitrangig angesehenen)
möglichen negativen Konsequenzen, die diese auf unsere psychische Verfassung
oder sogar auf gesellschaftliche und ethische Rahmenbedingungen haben können.
230 Vgl. S. Wolf: Meaning in Life (2008), S. 232.
231 Vgl. ebd.
232 Frei übersetzt aus: T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 795.
233 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 3. Naturalism.
234 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 795. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007),
Kapitel: 3. Naturalism. Er gibt an: Darwall 1983, chs. 11-12.
235 Für den gesamten Teil ab Fußnote 234, vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 795.
236 Siehe z. B. S. 24.
42
Einer der logischen Vorteile der Theorien, die dem Leben die Sinnhaftigkeit absprechen,
wollen wir bereits am Anfang vorwegnehmen: Wenn man objektiv das Leben als sinnlos
erkennt und diesem Umstand daraufhin genauso wenig eine subjektive 237 als auch
supranaturalistische Sinnhaftigkeit entgegensetzt oder es hiermit auskompensiert,
man also Sinnlosigkeit in welcher Hinsicht oder Perspektive auch immer vertritt, dann
scheint man sich auch nicht des moralistischen Fehlschlusses schuldig machen
zu können. Ich glaube sogar, dass der Antrieb, einer Theorie der Sinnlosigkeit
zuzustimmen, vor allem aus genau diesem Grund besteht, nämlich sich nicht selbst
dem moralistischen Fehlschluss aussetzen zu wollen oder zu können, weil es irgendwie
nach einer intellektuellen Selbstlüge 'schmeckt'. Dementsprechend scheint die Akzeptanz
der Sinnlosigkeit des Lebens238 vorab als die konsequenteste Sichtweise in diesem
Kontext, auch wenn niemand mag, was sie aussagt. Ob dies wirklich so ist, wollen wir
im Laufe unserer Untersuchung sehen.
Wir werden uns im Folgenden drei unterschiedliche Strömungen der Befürwortung
der Sinnlosigkeit des Lebens ansehen. Auf reduktionistische Weise können
wir vorausschicken, dass der Pessimismus die Idee unterstützt, dass das Leben
keinen Sinn hat und es gleichzeitig besser wäre, nicht zu leben oder nicht geboren worden
zu sein. Der Nihilismus vertritt die Idee, dass das Leben ebensowenig einen Sinn hat,
jedoch nicht unbedingt aus diesem Umstand die Konsequenz zu ziehen ist,
dass das Leben nicht als nicht lohnenswert empfunden werden soll. Schließlich unterstützt
der Existentialismus die Vorstellung, die ebenfalls sehr wohl von der Absurdität
des Lebens ausgeht und damit auch die allgemeine Sinnhaftigkeit des Lebens verneint
(und dem Begriff an sich seine Gültigkeit abspricht), jedoch einen Weg findet, das Leben
an seiner eigenen Unmittelbarkeit durch aktive Tätigkeit und Einsatz für
die Gegebenheiten zu rechtfertigen, die dieses Leben auszumachen scheinen, besonders
auf einer gesellschaftskritischen Ebene (etwas, das dem Subjektivismus wiederum recht
nahe kommt).
Natürlich greifen viele Aspekte dieser Strömungen ineinander und gleichzeitig lassen sich
die einzelnen Standpunkte der Autoren oder Theorien nicht präzise in das Korsett
dieser Kategorisierung zwängen.239 Der Analyst muss mit einem gewissen Maß
an Geschmeidigkeit an dieses Material herangehen.
237 Vorausgesetzt Sinnhaftigkeit und Subjektivität sind als zusammenhängende Begriffe nicht tragbar, d.h. wenn
Sinnhaftigkeit einen objektiven Anspruch voraussetzt.
238 So wie es z. B. bei Tolstoi nicht der Fall war, siehe z. B. 24
239 Wie es bisher ja auch zu gelten hatte, doch hier scheint es mir noch wichtiger zu sein, es zu erwähnen.
43
4.1 Im Pessimismus
Der Pessimismus möchte von seinen Befürwortern als eine Auffassung angesehen
werden, in der verhindert wird, dass Gefühle, Launen oder das Gemüt in
den theoretischen Überlegungen zum Ausdruck kommen und die rationalen Urteile in
ihrer Widerspruchsfreiheit damit verwässert werden. In der Tat scheint man als realistische
Person der Herleitung zum Pessimismus zustimmen zu wollen. 240 Auch scheint er,
genauso wie es bereits für den Subjektivismus der Fall war, von
einer naturwissenschaftlichen Perspektive unterstützt zu werden. Gibt es nicht auch in
der Physik den Grundsatz, dass die Entropie, also das Chaos im Gesamtsystem
des Universums nur zunehmen kann, nicht jedoch etwas, mit dem wir erwünschte
Finalitäten identifizieren könnten?241 Und lässt diese Projizierung nicht alles, was wir tun,
nicht nur als sinnlos sondern auch als nicht lohnenswert und nicht erstrebenswert
erscheinen?
Tolstois Beichte242 ermöglicht erneut eine Annäherung an eine relevante Idee, dieses Mal
geht es um deren temporären pessimistischen Grundgedanken, auch wenn Tolstoi
sich dafür entschied, diesen im Laufe seiner Überlegungen hinter sich zu lassen.
Zu demjenigen Zeitpunkt, als Tolstoi seine existentielle Sinnkrise wahrnimmt, entwickelt er
das Argument, dass es kein menschliches Begehren gibt, das sich als ausreichend
lohnenswert erweist, erfüllt zu werden, wenn sich die Sinnlosigkeit des Lebens als wahr
herausstellt. Und diese 'Wahrheit' wird durch die Feststellung erlangt, dass das Leben
sowieso nur im Leid und Tod sein Ende finden kann. 243 Wofür soll das alles gut sein?
Wir erkennen, dass seine Einschätzung der Sinnhaftigkeit an etwas geknüpft wird,
das sich ihm zufolge als unzureichend und demotivierend herausstellt. Umgekehrt gelte
auch, dass wir das Leben nur mit einem Sinn belegen könnten, wenn wir nicht zu leiden
und sterben bräuchten (oder zumindest nicht mit endgültiger Wirksamkeit). Da dies nicht
zu gewährleisten, also unmöglich ist, gilt die Sinnlosigkeit definitiv: Sie gilt als
unzweifelhafte vernunftbasierte Erkenntnis. 244 Mit der Voraussetzung, dass jedes finale
Ergebnis des Lebens nur als leidvoll zu erkennen ist, bliebe nur eine vernünftige
Konsequenz, die man konkret ziehen müsste: der Selbstmord. 245 Die einzig andere Option,
die in dieser Logik in Erwägung gezogen werden könnte, nämlich die, nicht geboren
zu werden, bleibt ja evidenterweise ausgeschlossen.
240 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 469.
241 Vgl. ebd.
242 L. Tolstoj: Meine Beichte (2010).
243 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 111+112. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and
Immortality (1984), S. 158 f.: "[...] the basic sense for Tolstoy is that in which to say that life is meaningless is to say
that there are no human desires the fulfilment of which would be reasonable. But sometimes, as in the present
argument, the expression is also so construed as in effect simply to mean that life does end in "suffering and real
death"."
244 Vgl. L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 34.
245 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 112. Vgl. auch L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 52.
44
Antony Flew, der wie bereits erwähnt 246 Tolstois Argumentation ausgiebig studiert hat,
kritisiert sie scharf. Wir wollen für einige Aspekte dieser Kritik auf Kapitel 6 verweisen.
Für Flew handelt es sich bei Tolstois Beichte247 lediglich um ein Beispiel eines Menschen,
der seine existentielle Verfassung einfach nicht erduldet, 248 von einem analytischphilosophischen Standpunkt ließe sich diese Argumentation jedoch nicht halten.
Arthur Schopenhauer bietet eine ähnlich Überlegung, jedoch als Teil einer metaphysisch
ausgereifteren Gesamtkonzeption.249 Ihm zufolge sei seine pessimistische Sichtweise nicht
anzuzweifeln, wenn unsere gedanklichen Entscheidungen allein von der Vernunft
beeinflusst wären. Unter diesen (ideal-vernünftigen) Umständen des Denkens würden wir
keine Kinder mehr machen, wir würden ihnen die Existenz ersparen, da das Leid
bei weitem das vom Menschen Erwünschte überwiegt. Leid und Schmerz sind die wahren
positiven gesetzten Verfassungen des biologischen Lebens insgesamt. Glück ist
eine Empfindung, die nur von kurzer Dauer ist und die durch den normaleren Zustand
der Frustration oder Enttäuschung eingenommen wird, um dann wiederum mit
der quälenden Suche nach neuem Glück anzufangen. Als solches ist das Glück, wie es
im Übrigen verstanden wird, eine Illusion. Ein Beleg der Gültigkeit seiner These zeige sich
zum einen darin, dass das Glück der anderen im Normalfall lediglich Eifersucht in uns
erzeugt (auch wenn er zugibt, dass es Ausnahmen zu geben scheint), und zum anderen
darin, dass Glück nur als 'negative' Realität vorkommt, weil wir es eben nur dann wirklich
als solches wahrnehmen können, wenn es bereits nicht mehr da ist oder wenn es noch
nicht da ist. Außerdem klingen eine Freude oder das Glück so sehr mit der Zeit ab,
dass sie keine Folgewirkungen zu hinterlassen scheinen, so als wären sie nie da
gewesen. Nicht nur findet der Mensch fast nur Leid vor, das endgültige Urteil der Natur
für ihn heißt außerdem Vernichtung durch Tod. 250 Der vernünftige Mensch sollte
diese Sichtweise verstehen und akzeptieren. Denn anders als bei der Religion liege
die Funktion der Philosophie nicht darin, die Menschen zu trösten oder ihnen gefällig zu
sein.251 So schreibt er mit sachlicher Unbekümmertheit:
"Um allezeit einen sichern Kompaß, zur Orientirung im Leben, bei der Hand
zu haben, und um dasselbe, ohne je irre zu werden, stets im richtigen Lichte
zu erblicken, ist nichts tauglicher, als daß man sich angewöhne, diese Welt
zu betrachten als einen Ort der Buße, also gleichsam als eine Strafanstalt" 252.
246 Siehe S. 25.
247 L. Tolstoj: Meine Beichte (2010).
248 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 118.
249 Für den gesamten Abschnitt, vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Gesamtausgabe, nach
den Ausgaben letzter Hand v. Ludger Lütkehaus, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 42008 (11998). Vgl.
auch: P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467: Edwards behauptet, einige der Argumente
Schopenhauers seien metaphysischer, einige empirischer Natur.
250 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 468.
251 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Bd. 2, Berlin: A. W. Hahn
1851, S. 253 f.
252 A. Schopenhauer: Parerga und Paralipomena (1851), S. 255.
45
Dieser Feststellung folgend sollte der Mensch seine Erwartungen im Leben anpassen.
Dann müsste sich dieser auch eingestehen, dass es besser gewesen wäre, wenn die Welt
und der Mensch nie existiert hätten. Die Nichtexistenz sei somit der Existenz
vorzuziehen.253
War Schopenhauer einfach nur ein einsamer verbitterter Mensch, unfähig Liebe für etwas
oder jemanden zu empfinden, oder hat die Argumentation einen zwingenderen rationalen
Charakter.254 Die gleiche Frage könnte man auch an Tolstoi stellen, zumindest während
der Dauer seiner pessimistischen Lebenskrise. Bei letzterem wissen wir durch
seine eigene Aussage, dass er einem "Stillstand des Lebens" 255 unterlag, was
meines Erachtens eine klare psychologische Konnotation aufweist. Auch von
Schopenhauer wissen wir, dass er nicht unbedingt der geselligste Mensch war. 256 Mit ihm
findet jedoch die Sinnfrage außerhalb der Philosophie große Bedeutung. Er leitet
den semantischen Wechsel von Sinn als "Empfindung/Bedeutung" zu "Ziel" ein.
Ihm zufolge ist es die Rolle der Philosophie, das Leben "in seiner ganzen Bedeutsamkeit"
zu erfassen,257 und die Sinnfrage gehört dazu.
Paul Edwards weist darauf hin, dass es auch nicht verbitterte Menschen gibt, die zu
denselben Schlussfolgerungen kommen, und kritisiert Schopenhauers Standpunkt
trotzdem. Ihm scheint es sehr fragwürdig zu sein, die Einschätzung zur universellen
Wahrheit zu erheben, dass ein Ziel nur deshalb als enttäuschend eingestuft werden muss,
weil es erreicht worden ist. Außerdem könne man hinterfragen, das Leid als positiv und
die Lust und das Glück lediglich als dessen Negation, also lediglich als Abwesenheit
des Leides zu setzen.258 Die Kritikpunkte der unterschiedlichen Theorien werden wir im
analytischen Teil dieser Arbeit fortsetzen. 259 Doch bereits an dieser Stelle möchte ich
die speziellen Standards260 der Pessimisten erwähnen, da genau dieser Aspekt
einen großen Teil der angelsächsisch-analytischen Debatte zur Sinnfrage ausmacht.
Eigentlich könne man Edwards zufolge nicht wirklich behaupten, dass die Pessimisten
sich in ihrer Herleitung irren, doch dies gilt nur mit einigen semantischen
Voraussetzungen.261 So wird die Sinnhaftigkeit von den Pessimisten anders gedeutet als in
253 Vgl. A. Schopenhauer: Parerga und Paralipomena (1851), S. 256. Vgl. auch P. Edwards: Life, meaning and value
of (1967), S. 467.
254 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 468.
255 Siehe S. 25.
256 http://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Schopenhauer#Schopenhauers_Pers.C3.B6nlichkeit (Stand 30.09.2014):
“Arthur Schopenhauer war ein Einzelgänger [und] nach Einschätzung von Chronisten ein „verkannter Niemand““.
257 Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, VI/9, 1851, in: A. Hübscher (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. 1,
1938, S. 509. Zitiert in: V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 816.
258 Für den gesamten Anfang dieses Abschnitt, vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 468.
259 Siehe Kapitel 7.
260 Man kann es mit Anforderungen oder Maßstäben übersetzen, ich möchte jedoch bei diesem Wort bleiben, weil es es
auch auf Deutsch gibt, weil es in der analytisch-angelsächsischen Literatur immer nur so vorkommt, und es
eigentlich im Deutschen das gleiche bedeutet.
261 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 473. Vgl. auch K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The
Meaning of Life" (2008), S. 209.
46
anderen Strömungen, da sie die Sinnhaftigkeit des Lebens mit einer Konnotation belegen,
die aussagt, dass sich das Leben nur dann lohnt, gelebt zu werden, wenn wir bestimmte
Standards erfüllen. Für die Pessimisten sind diese Standards ausgesprochen hoch. 262
Es handelt sich um Dinge wie Unsterblichkeit und definitives Glück, da die Pessimisten
ja eben gerade am Leid, am Tod und daran, dass nichts auf endgültige Art und Weise
erreicht werden kann, die Sinnlosigkeit des Lebens belegen möchten. 263 Die Standards
sind eigentlich genau so hoch wie bei den Theisten, nur dass diese sich eines Jenseits
bedienen, in das sie diese Standards hineinprojizieren können, also in etwas, das allein
durch die Imagination begrenzt wird. An dieser Stelle wird nach einer Rechtfertigung
dieser hohen Standards gesucht. 264 Die Pessimisten würden nach analytischer
Einschätzung erst dann eine fehlerhafte Folgerung ziehen, wenn es sich bei
den Standards um die üblichen handeln würden, die sehr wohl als lohnenswert betrachtet
werden können. Es ist unklar, warum man sich eher für die hohen als für die üblichen
Standards entscheiden soll.265
Bei den angelsächsischen Analysten wird neben Tolstoi und Schopenhauer auch
der Prediger Salomo ("Ecclesiastes" im Engl.) aus dem Buch Kohelet266 und selten auch
Eduard von Hartmann erwähnt.267 Gemeinsam mit den drei anderen Persönlichkeiten
beantwortet auch letzterer die Frage, ob das Universum besser mit dem Leben als ohne
dasteht, negativ. So schreibt Edwards weiter:
"It appears that the pessimists cannot be answered if in order to answer them one has
to be able to prove that in some nonarbitrary sense of the word "better," the existence
of life is better than its nonexistence. But this admission does not have any of the
gloomy consequences which it is sometimes believed to entail." 268
Nicht nur erst hier wird die moralische Dimension der pessimistischen Standards sichtbar.
Auch dieser Sache wollen wir jetzt noch nicht auf den Grund gehen. Es sollte an
dieser Stelle jedoch bereits festgestellt werden, dass diese Negation nur dann verstanden
werden kann, wenn das "besser" von Schopenhauer und Hartmann in
einem hedonistischen oder utilitaristischen Sinn verstanden wird, ohne den
die pessimistischen Aussagen eigentlich keine präzis zu ermittelnde Bedeutung haben. 269
262 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 473. Vgl. auch K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The
Meaning of Life" (2008), S. 209.
263 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467: Sinnlosigkeit könne auch durch Ausschluss der
Existenz Gottes entstehen. Vgl. auch B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 16.
264 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 474. Auch hierzu später mehr im analytischen Teil in
Kapitel 7.
265 Vgl. ebd., S. 476.
266 Bei diesen Namen handelt es sich um dieselbe Person: Salomo, Kohelet und Ecclesiastes.
267 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 474.
268 Ebd., S. 476.
269 Vgl. ebd., S. 475.
47
Die pessimistische Gesinnung, die Nichtexistenz der Existenz vorzuziehen, ist nicht neu.
Bereits Salomo äußerte sich vor rund drei Jahrtausenden270 in folgenden Wörtern:
"»Ich wandte mich und sah an alle, die Unrecht leiden unter der Sonne, und siehe, da
waren Tränen derer, die Unrecht litten und keinen Tröster hatten; und die ihnen
Unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich
die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch
das Leben hatten; und der noch nicht ist, ist besser daran als alle beide, und der
des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschieht.«"271
Die Pessimisten, die von der Vergeblichkeit 272 und der Eitelkeit273 des Lebens reden,
scheinen eine bestimmte Unterscheidung nicht durchführen zu wollen, die üblicherweise
in der angelsächsisch-analytischen Tradition gemacht wird, nämlich die zwischen
"das Leben lohnt sich nicht" und "das Leben hat keinen Sinn". 274 Ähnlich wie Edwards
in der Encyclopedia of Philosophy sieht auch Russell diesen Sachverhalt. Russell ist sehr
wohl damit einverstanden, keine Finalität des Lebens im Universum anzuerkennen,
da alles dem Verfall und der Zerstörung unterworfen wäre. Es gäbe objektiv gesehen
keine finale Konsequenz, nach der man sich richten kann. Doch diesen Umstand
der objektiven Sinnlosigkeit des Lebens weitet Russell nicht auf die subjektive Ebene aus.
Ob sich das eigene Leben oder das der Gesellschaft lohne oder nicht, ist eine Frage,
die von der objektiven Sinnlosigkeit unabhängig gestellt werden kann. 275 Auch wenn
der Pessimist zu glauben scheint, die Sinnfrage rein rational und unemotional beantworten
zu können, so ist dies Russell zufolge eben gerade nicht der Fall. Es handele sich sehr
wohl lediglich um eine Laune und diese Laune der Pessimisten könne nicht mit
Argumenten bezwungen werden. 276 Sie bestehe wie bei den Zynikern aus
einer Kombination von Gemütlichkeit und Kraftlosigkeit. 277
4.2 Im Nihilismus
Der Nihilismus ist der Standpunkt der Verneinung. Er leugnet sowohl jedwede definitive
Erkenntnismöglichkeit, jedwede allgemeine Wahrheit, als auch jedweden absoluten Wert.
Ich habe das Gefühl, als würde dieser Begriff in der einschlägigen angelsächsischen
Literatur oft mit pessimistischem oder je nach behandeltem Text mit existentialistischem
270 Auch wenn die Sprüche erst im 3. Jh. v. Chr. entstanden sind, siehe: Prediger Salomo, in: Strzysch, Marianne /
Weiß, Joachim (Hgg.): Der Brockhaus in fünfzehn Bänden, Bd. 11, Leipzig/Mannheim: F. A. Brockhaus 1998.
271 Salomo wird von Tolstoi zitiert in: L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 48-49.
272 In der englischen Literatur: "futility".
273 In der englischen Literatur: "vanity".
274 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 13. Vgl. auch P. Edwards: Life, meaning and value of
(1967), S. 467.
275 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 13 ff. Vgl. auch P. Edwards: Life, meaning and value of
(1967), S. 467.
276 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 14.
277 Vgl. ebd., S. 103.
48
Gehalt vermischt werden. Ich bedauere ein wenig den Mangel an terminologischer
Präzision in der einschlägigen Literatur. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das
bearbeitete Material über einen Zeitraum von 100 Jahren verfasst wurde und nicht nur
deshalb diese Ungenauigkeit nicht überraschend ist. Denn meines Erachtens sollten aus
einer nihilistischen Grundhaltung nicht die selben Schlüsse gezogen werden wie aus
einer pessimistischen oder einer existentialistischen, wie es bereits die Termini selbst
aussagen. Bleiben wir dem ursprünglichen Sinn des Nihilismus treu, so gibt es
eine Komponente seiner Bedeutung, die sehr wohl mit dem Pessimismus identisch ist,
jedoch sollte eine andere Komponente wiederum nicht mit ihr identifiziert werden.
Die Gleichheit besteht darin, dass beide eine positive Sinnhaftigkeit des Lebens
ausschließen. Der Unterschied sollte darin gesehen werden, dass es für
einen Pessimisten als "besser"278 beurteilt wird, wenn der Mensch nicht leben oder wenn
kein Leben existieren würde, wobei beim Nihilisten hier eigentlich Gleichgültigkeit oder
zumindest Werteneutralität herrschen sollte.
Es leuchtet mir ein, wenn T. Metz behauptet, dass die nihilistische Position aus
einer Kombination von Supranaturalismus und Atheismus abgeleitet werden kann,
wenn der Nihilist nämlich Gott oder Seele als Voraussetzung für den Lebenssinn festlegt,
jedoch gleichzeitig die Existenz dieser zwei Dinge aberkennt. Oder dass diese Position
dadurch entsteht, dass die Sinnfrage nur mit absoluten moralischen Regeln
zu beantworten versucht werde, wobei diese absoluten Regeln niemals wirklich befolgt
werden können.279 Jedoch finde ich es weniger überzeugend, wenn er in seinen Artikeln
Camus, Schopenhauer oder Salomo 280 allesamt lediglich unter dem Titel Nihilismus
untersucht. Es scheint mir, Metz verbinde unterschiedliche philosophische Strömungen
unter dem gemeinsamen Aspekt der Verneinung, den er mit Nihilismus betitelt. 281
Nietzsche ist ein Philosoph, der oft stellvertretend für den Nihilismus herangezogen wird.
Auch wird Nietzsche des öfteren in unserem Kontext zitiert. Einerseits hat er in der Tat
über den Sinn des Lebens gesagt, dass er, wenn es ihn überhaupt geben würde, nachdem
Gott nicht mehr als Garant für die Existenz herangezogen werden kann, für den
begrenzten menschlichen Geist unauffindbar sei. 282 Doch andererseits glaube ich auch,
dass Nietzsche kein wirklich guter Stellvertreter eines Nihilismus für die Sinnfrage ist.
Nietzsche sieht seine eigene Verneinung überkommener Werte und Wahrheiten ja selbst
nur als temporäre Geisteshaltung an, die es im Übermenschen zu überwinden gilt. 283
278 Zum Begriff "besser", vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 475.
279 Für den gesamten Anfang des Abschnitts, vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 4. Nihilism. Vgl. auch
Metz, Thaddeus: The Immortality Requirement for Life's Meaning, in: Ratio (new series) 16/2 (Juni 2003), S. 165.
280 "Ecclesiastes", der Redner im Buch Kohelet.
281 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 4. Nihilism. Vgl. auch Metz, Thaddeus: The Immortality
Requirement for Life's Meaning, in: Ratio (new series) 16/2 (Juni 2003), S. 165.
282 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig: E. W. Fritzsch 21887 (11882), § 374.
283 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Chemnitz: Ernst Schmeitzner
1883.
49
Einer wirklichen Sinnlosigkeit des Lebens entspricht dies meines Erachtens nicht, denn
der Lebenssinn wird von Nietzsche im Wesentlichen deutlich erfasst und hervorgehoben,
eben durch das Konzept des Übermenschen. Doch einen anderen wirklich bekannten
Stellvertreter für die Sinnlosigkeit des Lebens habe ich in der analytisch-angelsächsischen
Literatur für den Nihilismus nicht in dieser Weise vorfinden können, wie es z. B. im
Pessimismus für Schopenhauer der Fall ist, wenn denn überhaupt Nihilismus und
Pessimismus vom behandelten angelsächsischen Autoren auseinander gehalten werden.
Es ist weiterhin interessant, wenn Metz zugunsten seines Begriffs des Nihilismus
folgendes Argument vorträgt:
"[…] it is more likely to be the case that a certain kind of meaningful life does not exist
than that no meaningful life simpliciter exists"284
Es scheint mir insgesamt leichter zu sein, bereits aufgestellte philosophische
Konzeptionen zu widerlegen, als deren Negation 'positiv' aufzustellen. Außerdem ist es
leichter zu behaupten, dass es keinen Sinn gibt, als irgendeine Sinnhaftigkeit aufzustellen,
die dann sowohl in der gesamten Konstruktion des konzeptuellen Gehaltes als auch in
Bezug auf die Realität allgemeine Gültigkeit zu finden hat. Dieser unfaire logische
Wettstreit scheint der Nihilismus für sich in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeitig lässt
sich dadurch ein defätistischer Charakterzug bei den Nihilisten erkennen. Wie beim
Pessimismus können die Argumente zugunsten des Nihilismus auch vonseiten
des Supranaturalismus und des Naturalismus kommen, z. B. wenn wir den Standpunkt
sub specie aeternitas als objektive Sinnlosigkeit in Betracht ziehen. 285 Jedoch gehen
die Nihilisten und die Pessimisten einen Schritt weiter, indem sie die subjektive Absurdität
hiervon nicht abtrennen und diese als eine nicht von der objektiven Sinnlosigkeit
abspaltbaren Gesamtwahrheit annehmen. Ihre Gegner wollen diesem kosmischen
Standpunkt nicht die gleiche Autorität zusprechen.
4.3 Im Existentialismus
Für den Existentialismus werden in der bearbeiteten Fachliteratur sehr oft zwei
französische Autoren, nämlich Albert Camus und etwas seltener Jean-Paul Sartre, ins
Spiel gebracht. Bei Camus steht vor allem sein philosophisches Essay Der Mythos von
Sisyphos286 im Vordergrund. Der Sisyphos der griechischen Mythologie wird als Sinnbild
für die Sinnlosigkeit jeder menschlichen Tätigkeit – und damit des menschlichen Lebens
insgesamt – genommen. Der Grund hierfür ist weniger, dass Sisyphos' Tun kein Ende hat,
sonder vielmehr, dass sein Tun zu nichts führt, was wir als positives Ergebnis würdigen
284 T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 809.
285 Vgl. ebd., S. 809. Vgl. auch T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 4. Nihilism.
286 A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985). Vgl. auch Taylor, Richard: The Meaning of Life, in: Klemke, Elmer D. /
Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life. A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 134.
50
könnten, etwa wenn er z. B. mit den Steinen, die er hochrollen muss, etwas bauen, etwas
erschaffen könnte.287
"The picture of Sisyphus is the picture of existence of the individual man, great or
unknown, of nations, of the race of men, and of the very life of the world." 288
Die Ausgangsfrage, die sich Camus in dieser Abhandlung stellt, ist die, ob man ohne
existentiellen Anreiz leben kann oder nicht. 289 Es ist klar, dass er die Absurdität des Lebens
hier bereits voraussetzt. Doch findet diese Voraussetzung bei Camus auch ihre Erklärung
und Rechtfertigung. Demnach kann man die menschliche Verfassung, das Menschsein,
die 'condition humaine', nur in menschlichen Begriffen verstehen und schließt somit
eine Sinnhaftigkeit aus, die außerhalb der eigenen Begriffs- und Empfindungswelt
auffindbar sei.290 Auch die subjektivistische Alternative muss für Camus wegen zwei
evidenten Gegebenheiten ausgeschlossen werden. Auf der einen Seite gibt es
den geistigen Drang nach dem Absoluten und der Vereinheitlichung der Erkenntnis und
auf der anderen Seite gibt es die Unmöglichkeit, die Welt auf ein rationales und
vernünftiges Prinzip zu reduzieren. Beide Seiten vertragen sich nicht miteinander und
bilden eine existentielle nicht aufzulösende Spannung. 291 Es existiere ein bestimmtes
tiefgreifendes menschliches Bedürfnis, worauf das Universum nur mit Stille antwortet. 292
Die Absurdität erscheint Camus zufolge konkret dann, wenn die Warum-Frage, die sich
nach dem Kollaps des "Bühnenbildes" des Lebens in uns manifestiert, unbeantwortet
bleibt.293 Wir verspüren als Menschen nicht einfach nur den Drang zu überleben, sondern
wir empfinden die Notwendigkeit einer Zwecksetzung. Camus widersetzt sich,
dieser scheinbaren Notwendigkeit nachzugeben, und sieht den einzig ehrlichen Umgang
mit dieser existentiellen Spannung darin, dieser Absurdität einfach ständig die Stirn zu
bieten, dieser Spannung zu trotzen, ohne sie wirklich jemals besiegen zu können,
und ohne wiederum eine nicht wirklich tragbare Sinnhaftigkeit aufstellen zu können.
Dadurch erlange der Mensch seine Integrität, und in der Revolte mit der Welt dringe er
zum Glück vor. Somit kann die scheinbare Strafe zur positiven Lebensaufgabe
umgewandelt werden.294 Sowohl Pessimismus als Optimismus müssen demnach
abgelehnt werden, da sie einfach nur ein Nachgeben oder Schwäche darstellen, gegen die
man sich entscheiden kann.295
287 Vgl. R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 136.
288 Ebd., S. 139.
289 Vgl. A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 17 ff. Vgl. auch E. D. Klemke: Living Without Appeal (2008), S.
185.
290 Vgl. A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 75.
291 Vgl. ebd., S. 75 f.
292 Vgl. Feinberg, Joel: Absurd Self-Fulfillment, in: Klemke, Elmer D. / Cahn, Steven M. (Hgg.): The Meaning of Life.
A Reader, New York: Oxford University Press 32008 (11981), S. 162. Er bezieht sich auf Camus' Le mythe de
Sisyphe.
293 Vgl. A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 29. Vgl. auch J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 162.
294 Für den Teil ab Fußnote 293, vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 819. Hier wird das Sinnbild des
Sisyphos erwähnt, der sich glücklich schätzt, die sinnlose Aufgabe, den Stein hoch zu rollen, zu erledigen.
295 Für den ganzen Abschnitt, vgl. A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 75 ff. Vgl. ebenso J. Feinberg: Absurd
Self-Fulfillment (2008), S. 163+165+181.
51
Was haben all unsere Bemühungen, auch innerhalb der nichttheistischen Ansätze,
gebracht? In Begriffen des Existentialismus scheint keine Theorie auf allgemeine und
endgültige Weise ausreichend befriedigend zu sein. Was macht der Mensch im Angesicht
dieses existentiellen Dilemmas? Camus' Umgang mit der Absurdität des Lebens
unterscheidet sich sehr von dem, was wir bei anderen gesehen haben. Auch J.-P. Sartre
möchte nicht der Versuchung der Ausreden erliegen, und auf religiöse, politische und
andere Sinnangebote, oder auf eine vorgegebene Natur reinfallen. 296 Als atheistischer
Existentialist lehnt er den Sinn des Lebens insgesamt als Begriff ab, genauso wie
Camus.297 Sartre möchte das Augenmerk für das Menschsein auf die Freiheit lenken,
die in einem wirklich existierenden freien Willen begründet liegt. 298 Camus dagegen
möchte die Aufmerksamkeit auf die menschliche Unmittelbarkeit ihrer selbst richten. 299
Auch wenn beide Autoren den Sinn des Lebens als solchen verneinen, so berufen sie sich
trotzdem auf die "Anerkennung einer natürlichen Bedürfnisstruktur" 300, die in Ideale wie
Solidarität, Gleichheit, Besserstellung, kulturelle Diversität etc. mündet.
Ich glaube, dass die 'authentischste' Sinnlosigkeit oder Absurdität des Lebens innerhalb
der vorhergehenden Ausführung vor allem im Pessimismus Schopenhauers verkörpert
wird. Obwohl ich ebenfalls glaube, dass der Pessimismus die falschen Standards
anwendet,301 scheint er mir trotzdem der überzeugendste Standpunkt für die Verneinung
des Lebenssinns darzustellen, da er als einzige Theorie keine Tendenz vorweist,
die Sinnlosigkeit, in welcher Form auch immer, überwinden zu müssen oder zu können.
Hierdurch erwächst auch gleichzeitig die Vermutung, dass es in der Tat argumentativ
schwer machbar ist, eine nicht deprimierende Sinnlosigkeit vertreten zu können,
die das Leben als solches intrinsisch rechtfertigen kann, ohne es von einer Perspektive
größeren Maßstabes für die Aufwertung eines an sich 'kalten' Daseins unterstützen
zu müssen. Damit wird auch deutlich, wie sehr das psychische Gleichgewicht
eines Menschen oder einer Gesellschaft von einer rein theoretischen und abstrakten
Sache, wenn sie denn überhaupt als solche behandelt wird, abzuhängen scheint.
Und damit scheint sich ebenfalls herauszukristallisieren, dass das emotional und
existentiell Motivierende für uns Menschen nicht von der Sinnfrage abzutrennen ist,
vorausgesetzt der in Frage kommende Mensch ist dieser Art der Reflexion fähig.
Dass einem die Frage nach dem Sinn des Lebens ganz egal sein kann, wenn keine
anderen metaphysischen oder religiösen Unterstützungen da sind, die diese Frage
erübrigen, da sie sie implizit beantwortet haben, scheint mir zusehends naiv oder
illusorisch zu sein, wenn nicht sogar selbstverleugnend.
296 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1995.
297 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 140.
298 Vgl. Sartre, Jean-Paul: L'existentialisme est un humanisme, (Collection Pensées), Paris: Nagel 1946.
299 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 728. Seine Quelle: Camus, Albert: The Myth
of Sisyphus and Other Essays, übers. v. Justin O’Brien, New York: Knopf 1969, S. 78.
300 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1995.
301 Siehe S. 47.
52
Teil 2: Analyse relevanter Begriffe und Begriffsfelder
5. Die angelsächsisch-analytische Philosophie nimmt sich des Themas an
Am Anfang dieser Arbeit gab es für mich das Interesse, mich philosophisch mit
einem bestimmten Ausdruck auseinanderzusetzen. Zum Einarbeiten ging ich
die einschlägigen philosophischen Wörterbücher und Enzyklopädien 302 durch.
Das französische Referenzwerk Encyclopédie Philosophique Universelle303 behandelt sehr
wohl unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs 'Sinn', hatte jedoch keinen spezifischen
Eintrag für den Ausdruck 'Sinn des Lebens'. Das Gleiche gilt auch außerhalb
der Fachliteratur, z. B. in den Wörterbüchern von Larousse304 und Le Robert,305 wobei man
es hier eher hätte vermuten können, da die Redensart im normalen Sprachgebrauch
bekannt ist und mir geläufig scheint. Im deutschen Lager behandeln das Historische
Wörterbuch der Philosophie 306 und die kleineren Wörterbücher wie die Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie307 und das Neue Handbuch Philosophischer
Grundbegriffe308 den Ausdruck sehr wohl, letzteres hat sogar in diesem kleinen Format
einen eigenen Eintrag als Unterkapitel, aber ihre Herangehensweise schien mir wegen
der etwas unklaren Kategorisierung nicht sehr ansprechend. Die vier von mir bearbeiteten
englischen Wörterbücher309 allerdings geben die Auseinandersetzung mit dem zu
untersuchenden Ausdruck am zugänglichsten wieder. Diese gliedern auch die Thematik
auf eine Weise auf, die mir das Eintauchen in sie erleichterte. Im Artikel von Paul Edwards
in der Encyclopedia of Philosophy310 stieß ich dann auf den Hinweis,
dass die nichttheologische Aufarbeitung des Themas überwiegend von einer Hand voll
Autoren der analytischen Philosophie der Gegenwart aus dem angelsächsischen Raum
bewerkstelligt wurde. Im weiteren Verlauf meiner Recherche konnte dies bestätigt werden,
302 Diejenigen der Universitätsbibliothek, die ich benutze: ULB – Bruxelles – bibliothèque des sciences humaines,
nouveau bâtiment.
303 Encyclopédie Philosophique Universelle, publié sous la direction d'André Jacob, Tome 2: Les Notions
Philosophique – Dictionnaire, Presses universitaires de France, Paris 1990 ['sens' → article pp. 2346-2352].
304 Dictionnaire des concepts philosophiques, sous la direction de Michel Blay, Larousse – CNRS ÉDITIONS 2006
[dieses Wörterbuch basiert auf den Texten du Grand Dictionnaire de la philosophe von Jean-Christophe Tamisier],
article 'sens' p.738-739.
305 Vocabulaire Européen des Philosophies – Dictionnaire des Intraduisibles, sous la direction de Barbara Cassin,
Éditions du Seuil / Dictionnaires Le Robert 2004, artictle 'sens' pp.1133-1153.
306 Gerhardt, Volker: Sinn des Lebens, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Bd. 9, Basel: Schwabe & Co. 1995, Sp. 815-824.
307 Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Band 3: P-So, Verlag J. B. Metzler,
Stuttgart/Weimar 1995, Artikel 'Sinn' S.810-813.
308 Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. Petra Kolmer u. Armin G. Wildfeuer, Band 3: Quantität –
Zweifel, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2011, Artikel 'Sinn' S.1984-2000.
309 The Stanford Encyclopedia of Philosophy, The Internet Encyclopedia of Philosophy, Routledge Encyclopedia of
Philosophy, The Encyclopedia of Philosophy.
310 P. Edwards: Life, meaning and value of (1967).
53
vor allem durch J. Seachris311 und T. Metz312. Letzterer entpuppte sich als derzeitiger
Referenzautor im angelsächsischen Raum für die Sinnfrage. Die jüngste Fachliteratur
verweist immer wieder auf ihn. Auch publizierte Metz kürzlich ein Werk 313, das als
Ausgangspunkt einer Erschließung des Themas gelten darf.
Den Eindruck, den ich bei meiner Einarbeitung erhalten habe, wurde durch folgende
Aussage in der Stanford Encyclopedia of Philosophy unterstützt:
"it is only in the last 50 years or so that something approaching a distinct field on the
meaning of life has been established in analytic philosophy [...] in the post-war era
has been the rise of analytical enquiry into non-hedonistic conceptions of value
grounded on relatively uncontroversial (but not universally shared) judgments or
“intuitions,” including conceptions of meaning in life. English-speaking philosophers
can be expected to continue to find life's meaning of interest as they increasingly
realize that it is a distinct line of enquiry that admits of rational enquiry to no less
a degree than more familiar normative categories such as well-being, right action, and
distributive justice."314
Auch diesem ernstzunehmenden Internet-basierten Referenzwerk zufolge sind wir mit
der angelsächsisch-analytischen Fachliteratur für unser Begriffsfeld gut bedient.
Die analytische Philosophie fand ihren Ursprung mit B. Russell, G. E. Moore und G. Frege.
Sie dominierte in unterschiedlichen Formen den angelsächsischen Raum und beeinflusste
neben der Phänomenologie ebenfalls sehr stark den europäischen Kontinent,
unter anderem auch über den Weg des logischen Positivismus und Wittgenstein. 315
"Das Schlagwort von der ‹sprachanalytischen Wende› (linguistic turn)" bringt zum
Ausdruck, dass sich die Philosophie von diesem Zeitpunkt an überwiegend
der schrittweisen Zerlegung komplexer Sprachgebilde widmet. 316 Bertrand Russell verhalf
der analytischen Philosophie zu ihrer Entstehung. Indem er die Sinnfrage religionskritisch
gewendet hat und dadurch dass von den Naturwissenschaften keine positive Auskunft
zu erwarten sei, die die von ihm beschriebene objektive Sinnlosigkeit des Naturprozesses
als Voraussetzung sah,317 stieß er eine Debatte an, die bis heute geführt wird und an der
K. Popper, L. Mumford, S. Toulmin, K. Baier, Th. Nagel und Ch. Taylor beteiligt waren. 318
311 J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011)
312 T. Metz: The Meaning of Life (2007)
313 Metz, Thaddeus: Meaning in Life. An Analytic Study, Oxford: Oxford University Press 2013.
314 T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: introduction.
315 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 7, Basel: Schwabe &
Co. 1995, Sp. 786+787. Vgl. auch Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß,
Bd. 3, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 139.
316 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1995, Sp. 786.
317 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 818. Hier wird B. Russells A free man's worship (1903), in:
Mysticism and logic (New York/London 1918) erwähnt. Die hier bearbeitete Ausgabe ist: B. Russell: A Free Man's
Worship (2008).
318 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 818.
54
Bei dieser Arbeit wollen wir jedoch nicht im Geringsten auf die historische Entwicklung
oder auf eine Untersuchung der analytischen Philosophie als Disziplin selbst eingehen.
Ich benutze den Ausdruck in einem sehr weiten Sinne, so wie es ebenfalls in
der aufgearbeiteten Literatur getan wird, nämlich im Sinne von Sprachanalyse mit
der Auflösung der Komplexität eines Begriffs in grundlegendere Elemente, die den Begriff
konstituieren, um diese Elemente dann neu in ihren Assoziationen untereinander zu klären
und den Begriff somit verständlich machen. Die Routledge Encyclopedia of Philosophy
bringt es auf den Punkt:
"Philosophical analysis is a method of inquiry in which one seeks to assess complex
systems of thought by 'analysing' them into simpler elements whose relationships are
thereby brought into focus."319
Wir benutzen 'analytische Philosophie' hier also im Sinne einer breiten philosophischen
Tradition, deren Schwerpunkt auf Klärung und vernunftbasierter Argumentation liegt, mit
einer Neigung zu naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen, und die ebenfalls
die verbreitetste Vorgehensweise der angelsächsischen akademischen Philosophie
der Gegenwart darstellt. Diejenigen Autoren, die sich in der Gegenwart mit
dem sprachlichen Ausdruck des Sinns des Lebens auseinandergesetzt haben, kommen
überwiegend aus dem angelsächsischen Raum und haben einen sprachanalytischen
Hintergrund, auch wenn die unterschiedlichen Theorien, innerhalb derer der Ausdruck
untersucht wird, selbst oft aus dem nichtangelsächsischen Raum kommen (christliche
Theologie, Tolstoi, Schopenhauer, Camus …).
Die angelsächsisch-analytische Philosophie ist in der Tat für meine Absichten sehr
hilfreich, da sie eben gerade nicht versucht, selbst neue großangelegte metaphysische
Theorien aufzustellen, sondern die historisch bestehenden auf ihre Stichhaltigkeit mit
den bereits genannten Mitteln untersucht. Joshua Seachris hat einen nützlichen
Überblicksartikel320 zur Sinnfrage in der analytischen Philosophie geschrieben. Er verweist
ausschließlich auf die angelsächsische Literatur. Innerhalb dieses Rahmens eröffnet
der Ausdruck "the meaning of life" zwei Ebenen der Aufschlüsselung. Die erste beinhaltet
den Versuch, Sinn und Klarheit in den Ausdruck und die Fragestellung zu bringen.
Die zweite beinhaltet den Versuch, das Konzept der Sinnhaftigkeit (Seachris: "meaning")
in einen normativen Kontext zu stellen, also es mit einer bestimmten Werteordnung
in Verbindung zu bringen. Beide Ansätze werden anschließend dafür verwendet,
notwendige und ausreichende Bedingungen für ein Leben auszuarbeiten, das 'sinnvoll'
genannt werden kann.321 Hierbei werden dann auch Ansätze, im Unterschied zur
voranalytischen Philosophie, angeboten, die die Bestimmung eines Lebenszwecks auf
319 Routledge Encyclopedia of Philosophy, Bd. 1, p. 223.
320 Für den gesamten Teil dieses Abschnitts bis Fußnote 321, vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic
Perspective (2011). Sein Artikel steht im Internet Encyclopedia of Philosophie (IEP).
321 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011). Vgl. auch K. Baier: Threats of Futility (1988),
S. 47. Diese Herangehensweise spiegelt sich z. B. auch im folgenden Zitat von Kurt Baier wieder: "I want to
examine the sense in which life could have meaning and whether it would not be worth living unless it did."
55
die Bestimmung eines Netzwerks von unterschiedlichen Zwecken verlagern,
die miteinander verbunden sind.322 Weiterhin erwähnt Seachris, dass die Sinnfrage von
vielen analytischen Philosophen für die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts nicht beachtet
wurde, da man große Zweifel an der Möglichkeit einer kohärenten und sinnvollen Antwort
pflegte. Zur gleichen Zeit sahen jedoch viele Nichtphilosophen die Frage als sehr
bedeutend an, wenn nicht als die bedeutendste überhaupt. 323 Schließlich verweist er noch
auf das Erbe dieses Themenfeldes,324 was unsere Vorgehensweise in dieser Arbeit
bestätigt.
6. Der Sinn vom 'Sinn des Lebens'
6.1 Der Begriff 'Sinn'
Wenn wir den Ausdruck 'der Sinn des Lebens' auf einer linguistischen und semantischen
Ebene untersuchen möchten, wenn wir also herausfinden möchten, was wir Menschen
eigentlich meinen, wenn wir 'Sinn des Lebens' sagen, dann erkennen wir sofort,
dass besonders einer der zwei Begriffe des Ausdrucks Probleme für unsere Fragestellung
bereitet. Natürlich ist es auch seitens der Naturwissenschaft noch nicht gänzlich klar,
was überhaupt in letzter Instanz das Leben an sich ausmacht und wie wir es in
seiner Grundvoraussetzung mit Gewissheit von unbelebter Materie unterscheiden können,
da die Bestandteile des Organischen aus Anorganischem bestehen und es Erscheinungen
gibt, die die bisher gesetzten Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie nicht
einzuhalten scheinen. In unserem Kontext reden wir zumeist vom menschlichen Leben,
von unserem Leben, sei es das Individuum oder die gesamte Menschheit, doch je
nachdem wer Stellung bezieht, weitet sich der Begriff 'Leben' auf alles aus, was wir
der belebten Materie zuweisen können. Außerdem reden manche Autoren 325 von
der Existenz insgesamt, und dass sie sich nicht nur auf den Sinn eines bestimmten
Lebens oder des Lebens beschränken, sondern sich eher die Frage stellen,
warum überhaupt irgendetwas existiert und nicht eher nichts. 326
322 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
323 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 1. Introduction.
324 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 3. The Meaning of Life in
Contemporary Analytic Philosophy. Er erwähnt Salomo ("Ecclesiastes" im Engl.), Schopenhauer, Tolstoi, Camus
und Sartre.
325 Jedoch werden die Ebenen der gesamten Existenz und des menschlichen Lebens oft vermischt, so wie z. B. bei
Russell, Schopenhauer, Nozick … Eigentlich ist es selten, dass ein Autor diesbezüglich streng konsequent vorgeht.
326 Siehe 4.1: E. von Hartmann, Schopenhauer, Tolstoi (nur temporär), Salomo. Vgl. hierzu: P. Edwards: Life, meaning
and value of (1967), S. 474. Vgl. außerdem E. D. Klemke, in: The Meaning of Life. A Reader, New York 2008, S. 2.
56
Trotzdem ist es nicht der Begriff 'Leben', der uns bei dieser Untersuchung Schwierigkeiten
bereitet. Denn die Sinnfrage lässt sich mit großer Ähnlichkeit auf mein Leben, auf
unser Leben, auf das Leben oder auf die gesamte Existenz ausrichten, dieser Teil
des Ausdrucks bleibt eine Tatsache, die wir (empirisch) wahrzunehmen vermögen,
als Feststellung voraussetzen und die wir als solche nicht in Frage stellen oder verneinen
können, wenn wir nicht wollen, dass die Beschäftigung mit diesem Gegenstand
ins Lächerliche verfällt. Das Problematische an einer Untersuchung des Ausdrucks
'der Sinn des Lebens' ist überwiegend der Begriff 'Sinn', und es scheint
erfolgsversprechend zur Klärung der Sinnfrage zu sein, wenn wir den Schwerpunkt
der Untersuchung hierauf legen. Die Rechtfertigung dieses Schwerpunkts liegt nicht
zuletzt darin begründet, dass 'Sinn' üblicherweise als Oberbegriff im Ausdruck dargestellt
wird. So wird auch in fast allen Wörterbüchern der 'Sinn des Lebens' innerhalb
des Oberbegriffs 'Sinn' behandelt. 327 Doch auch hier wollen wir keine erschöpfende
linguistische und semantische, sondern lediglich eine oberflächliche Untersuchung
durchführen, um mit einigen wichtigen Informationen zu dem eigentlichen Kern
dieser Arbeit im folgenden Kapitel vorstoßen zu können.
Dieser Arbeit liegen zum allergrößten Teil englischsprachige Texte und Dokumente
zugrunde. Das Historische Wörterbuch der Philosophie schlägt als Übersetzung von
'Sinn des Leben' ins Englische "sense/meaning of life" und ins Französische "sens de
la vie" vor.328 Allerdings scheint mir, als wäre bei meiner Lektüre immer nur "meaning
of life" und nicht "sense of life" für den Bezug zur Sinnfrage benutzt worden. Mir scheint es
eindeutig zu sein, dass wir im Deutschen "meaning of life" mit "Sinn des Lebens"
übersetzen, auch wenn der Begriff 'Bedeutung' als überaus relevant für unseren Kontext
betrachtet werden kann. Und da wir den Ausdruck hier auf Deutsch verwenden, sollte
auch der deutsche Terminus 'Sinn' kurz erörtert werden.
Etymologisch gesehen hat 'Sinn', genauso wie das romanische 'sent-' (sentire, sensus …)
eine indogermanische Wurzel, die der Bedeutung von Ortsbewegung wie reisen, gehen,
streben etc. (wie z. B. bei 'senden', 'Drehsinn', 'Uhrzeigersinn') entstammt. 329 Bei diesem
Hinweis erkennen wir bereits den Zusammenhang mit einer Zielgebung oder Zielsetzung.
Das Historische Wörterbuch der Philosophie bestätigt, dass die alte Bedeutung von
"Richtung" ins Geistige übertragen "Gedanke" und "Plan" erhält. 330
Innerhalb des modernen Bedeutungsfeldes können wir die erste Verwendungsweise
des Begriffs 'Sinn' für die "Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen für
Wahrnehmung und Verständnis"331 für unseren Sachverhalt gänzlich ausschließen (1). Die
327 Alle, die für diese Arbeit aufgearbeitet wurden, außer in der Encyclopedia of Philosophy mit Paul Edwards Artikel.
328 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 815.
329 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1985.
330 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 815.
331 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1984.
57
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie spricht bei dieser Bedeutung von …
"komplexe[n] biologische[n] Funktionseinheiten, die dem lebenden Organismus eine
ihm angemessene Wechselwirkung mit der Umwelt […] ermöglichen". 332
Im Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe stoßen wir dann auf drei weitere für
uns relevantere Bedeutungen:333
2) Sinn als …
"Worumwillen oder Zweck von Handlungen, Maßnahmen, Gesetzen, Vorrichtungen,
Bauteilen, Körperorganen etc."334
3) Sinn von sprachlichen Ausdrücken. Hierbei handelt es sich um den vorgegebenen
Gehalt von sprachlichen Gegenständen wie Texte oder Sätze. Dieser Sinn ist relational
auf den Betrachter bezogen und vom Kontext abhängig.
4) Eine vierte Verwendungsweise wird mit dem Beispiel des 'Sinns des Lebens'
unterschieden. Hierbei scheinen sich die Bedeutungen aus Punkt 2 und 3 zu vermischen.
Es hat einerseits mit dem "Worumwillen" zu tun, andererseits wird es als Gegenstand
sprachlicher und anderer Verstehensprozesse gesehen, sei es entdeckt oder vom Subjekt
gesetzt.
Die dritte Verwendungsweise gibt u. a. eine grundsätzliche Eigenschaft des Gehaltes von
'Sinn' wieder, nämlich die der Erschließung von Verständnis. 335 'Sinn' ist Gegenstand von
Prozessen des Verstehens.336 Die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie
zeigt auf eindrückliche Weise auf, inwiefern 'Sinn' auf einen Verstehensprozess bezogen
werden sollte und wie er mit anderen Begriffen in einem semantischen Netz verflochten
ist:
"In der Philosophie, insbes. der Theorie der Kulturwissenschaften, bezeichnet man
als S. meist eine der Vermittlung eines ›Kulturgegenstandes‹ oder eines in Analogie
zu einem solchen aufgefaßten Naturgegenstandes dienende Instanz, die damit selbst
zum Korrelat eines Verstehensprozesses […] wird. Die genauere Analyse führt auf
zahlreiche unterschiedliche, jedoch verwandte Bedeutungen des Ausdrucks ›S.‹" 337
Wenn also auch nicht immer Absicht oder bewusstes Anstreben eines Zieles erforderlich
ist, um z. B. wie unter soeben besprochener dritter Verwendungsweise den sprachlichen
Ausdrücken Sinn zusprechen zu können (was auch als reflektierter und bewusst
erwogener Sinn bezeichnet werden kann), so hat doch eine wesentliche Wortbedeutung ...
"mit dem menschlichen Handeln und manchen seiner Folgen zu tun. Der Sinn einer
Handlung ist das "Worumwillen", der angestrebte Zweck oder das Ziel, zu dessen
332 Thiel, Christian: Sinn, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3,
Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 810.
333 Für die Punkte 2, 3 und 4, vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1984-1986.
334 Ebd., S. 1984.
335 Vgl. C. Thiel: Sinn (1995), S. 812.
336 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1998.
337 C. Thiel: Sinn (1995), S. 810.
58
Realisierung die Handlung gesetzt wird." 338
So wie der etymologische Ursprung bereits andeutet, wird 'Sinn' oft und in
unserem Kontext eigentlich immer …
"relativ auf einen angestrebten Zustand [bezogen, der] dessen Realisierung
herbeiführt oder stark begünstigt"339.
In der Negation wird gleichwohl 'sinnlos' mit einem nicht zu realisierbaren gewünschten
Zustand in Zusammenhang gebracht und 'sinnwidrig' mit der Verhinderung oder
der Begünstigung der Nichtrealisierung dieses Zustandes. 340 Außerdem wird der Sinn
einer Handlung als unklar eingestuft, wenn nicht einschätzbar ist, inwiefern
die Verwirklichung des erwünschten Zustandes, z. B. durch nicht vorhersehbare
Umstände, von der Handlung abhängt. 341 Der folgende Auszug fasst dies mit einer etwas
sperrigen Formulierung zusammen. Sowohl die Enzyklopädie Philosophie und
Wissenschaftstheorie als auch das Neue Handbuch philosophischer Grundbegriffe
stimmen hierbei sehr genau überein.
"In praxeologisch-axiologischer Bedeutung bezeichnet man als S. (›gemeinten S.‹)
einer Handlung oder Handlungsabfolge den mit ihr verfolgten ↑Zweck (ihre Absicht,
ihr Ziel) ; eine Handlung heißt dann sinnvoll, sinnlos oder sinnwidrig je nachdem, ob
sie als Mittel zur Erreichung des erstrebten Zweckes geeignet, ungeeignet oder
hinderlich ist. Insofern das Bemühen um die Realisierung eines Zweckes diesen
gegenüber anderen möglichen Zwecken auszeichnet, ist S. in der Bedeutung von
Zweck oder Absicht zugleich Wert."342
Der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie zufolge kommt diese Bedeutung
dem 'Sinn des Lebens' zu. Zusätzlich weist dieser Auszug auf die Verbindung zum Begriff
'Wert' hin, auf die wir später noch zurückkommen werden.
Der Blick ins Wörterbuch verdeutlicht (obwohl wir hier eine deutsche Begriffserörterung
durchführen, die Quellen jedoch auf Englisch sind), warum in der einschlägigen Literatur
immer wieder vom Zweck des Lebens (→ "purpose"), von einer zu erfassenden
Zielsetzung die Rede ist. Aussagen über den Sinn des Lebens scheinen sich als
"Übertragungen oder Erweiterungen dieser Verwendungsweise des Wortes deuten
bzw. rekonstruieren"343
zu lassen. Außerdem erkennen wir die sprachliche Verbindung des Wertes (→ "value")
mit dieser Zielsetzung, womit der Schwerpunkt der Untersuchung ebenfalls zur Ethik hin
338 W. Löffler: Sinn (2011), S. 1992.
339 Ebd.
340 Vgl. ebd.
341 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1993. Außerdem: Sinnlos ist die Handlung auch dann, wenn das Ziel ohne
Handlung erreicht wird. Und: Sinnlos ist die Handlung auch dann, wenn Alternativmöglichkeiten einfacher sind als
die Handlung. Sinnfragen können deshalb nach Kriterien gewichtet werden, da meist mehrere Ziele verfolgt werden,
z. B. Fertigstellung, Zeitminimierung, Kostenminimierung... Angestrebter Zustand kann nur Teil- oder Zwischenziel
sein, dessen Erreichung einem höherrangigem Ziel dient.
342 C. Thiel: Sinn (1995), S. 810 f.
343 Ebd., S. 811.
59
verlagert werden kann. Im Grunde erscheint es recht evident, die vom Menschen
gesetzten Zwecke als etwas Wünschenswertes und damit auch als einen Wert
anzusehen. Besonders 'Sinn' und 'Zweck', aber auch 'Wert' scheinen demnach in
diesem Kontext doch sehr stark miteinander verknüpft zu sein. So macht auch A. J. Ayer
darauf aufmerksam, dass im Allgemeinen ein Zweck (Ayer: "purpose") den Sachverhalt
einer Absicht darstellt, den man als wünschenswert auffasst, und dass Sinn und
Bedeutung gemäß dem der Realisierung des gewünschten Ziels bestimmt werden. 344
Im Allgemeinen gilt, dass man die Beziehungen zu anderen Wörtern oder Gegenständen
suchen muss, um der Bedeutung eines Wortes oder einer Sache auf den Grund
zu gehen.345 Die hier erwähnten Begriffe samt ihrer dahinterliegenden Ideen haben
in unserem Untersuchungsbereich eine unbestreitbare Relevanz.
Von diesem praxeologisch-axiologischen Aspekt von 'Sinn' unterscheidet die Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie noch einen funktionalen, der die zweckdienliche
Erfüllung einer Teilfunktion darstellt, und einen spezifisch semantischen, der das im
weitesten Sinne von einem Zeichen Ausgedrückte darstellt. 346 Es ist wichtig, darauf
aufmerksam zu machen, dass die …
"zunächst so heterogen erscheinenden Aussagen über den S. eines Wortes, eines
Hammers, eines Hauses, einer Banknote, eines Streiks oder eines Opfers" 347 …
erst dann wirklich klar werden, wenn sich diese Aussagen durch die Trennung dieser
unterschiedlichen Aspekte präziser interpretieren lassen, bei allen die "Operation
verstehen" vorausgesetzt wird und …
"weshalb von S. zwar stets nur als vom S. für jemanden (für einen S.
erfassenden, verleihenden, erzeugenden, umgestaltenden oder zerstörenden
Menschen), aber doch als ›objektiv‹ im Sinne der Erfaßbarkeit durch prinzipiell jeden
Menschen gesprochen werden kann."348
Sachdienlich erscheint ebenfalls eine weitere semantische Differenzierung, die von Frege
zwischen 'Sinn' und 'Bedeutung' gemacht wurde. Ihm zufolge bezieht sich der Sinn
eines Satzes auf den Gedanken, der dahinter steckt, und nicht unbedingt auf das,
was objektiv bezeichnet werden soll. Letzteres würde der Bedeutung des Satzes
zugeordnet werden. 'Sinn' wird bei Frege als "Intension" des sprachlichen Ausdrucks
bezeichnet.349 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht ohne Weiteres ins Englische
übertragbar, denn üblicherweise würde man 'Bedeutung' mit "significance" und "meaning"
übersetzen, 'Sinn' vielleicht eher mit "sense" (obwohl in den Wörterbüchern die beiden
344 Vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 199.
345 Vgl. T. Metz: The Immortality Requirement for Life's Meaning (2003), S. 173: "Questioning the meaning of
something in general appears to be a matter of asking about its relationship with other things. If we ask for the
meaning of a word, we are told about its relationship with other words or with objects in the world."
346 Vgl. C. Thiel: Sinn (1995), S. 811.
347 C. Thiel: Sinn (1995), S. 812 f.
348 Ebd.
349 Vgl. C. Thiel: Sinn (1995), S. 812.
60
Termini mit all diesen drei Übersetzungen vorkommen), doch es kann eindeutig
in der Literatur belegt werden,350 dass die englischsprachigen Autoren "the meaning of"
oder "the meaning in life" für den 'Sinn des Lebens' benutzen. Im Englischen kann
diese Differenzierung also so nicht vollzogen werden.
6.2
Der Begriff 'Zweck'
Wir werden neben dem Begriff 'Sinn' ebenfalls den Begriff 'Zweck' in diesem Kapitel
oberflächlich beleuchten, weil er so fundamental in der Bedeutung von 'Sinn' enthalten ist,
vor allem, wenn man den Bezug auf den Lebenssinn herstellen möchte. Er ist sowohl
semantisch als auch (im Kapitel 7) philosophisch-konzeptuell von sehr großem Interesse
für uns. T. Metz bestätigt:
"Many [= contemporary philosophers] believe that the content of this proposition
[expressing something about the meaning of life] has to do with the purposes that
a person ought to pursue"351.
Was versteckt sich eigentlich hinter dem Wort 'Zweck' ("purpose")? K. Baier hat sich mit
dieser Frage auseinandergesetzt. 352 Doch bereits Russell hob die semantische Verbindung
zum 'Zweck' hervor, wenn er die Sinnlosigkeit aus wissenschaftlicher Perspektive
beteuerte, weil eben gerade das objektive Leben keinen Zweck kennt. 353 Baier zufolge
müsse man jedoch zwischen zwei Bedeutungen von 'Zweck' unterscheiden. Zum einen
gibt es denjenigen Zweck, den man nur Personen und deren Verhalten zuweisen kann,
so wie es z. B. die Aussage verdeutlicht: "Hatte es einen bestimmten Zweck, das Licht
anzulassen?"354 Zum anderen gibt es den Zweck, der nur Sachen zugewiesen wird, also
die Funktion eines Artefaktes, z. B.: "Welchen Zweck hat dieser Apparat?" 355
Beide Bedeutungen sind jedoch Baier zufolge eng miteinander verbunden, denn
der Zweck einer Sache setzt voraus, dass eine Person in ihr einen Zweck
hineinprojiziert.356 R. Hepburn schließt sich ohne Abweichung dieser Einteilung von 'Zweck'
in diese zwei Bedeutungen an.357
Die Wissenschaft, so Baier weiter, hat uns nicht nur nicht eines Zweckes beraubt, wohl
gemerkt im ersten Sinne des Wortes, sondern uns sogar mehr Macht verliehen,
350 Dies gilt für die hier behandelte Literatur allgemein.
351 T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 802.
352 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 19-21.
353 Siehe S. 19 f. Vgl. auch B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S. 55 f. Vgl. auch K. Baier: The Meaning of Life
(1957), S. 19.
354 Inspiriert von K. Baiers Beispiel ("Did you have a purpose in leaving the ignition on?") in: K. Baier: The Meaning
of Life (1957), S. 19.
355 Inspiriert von Baiers Beispiel ("What is the purpose of that gadget you installed in the workshop?") in: ebd.
356 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 19.
357 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 127.
61
um unsere selbst aufgestellten Zwecke verfolgen zu können. Was die zweite Bedeutung
angeht, so ist die Zuweisung eines Zweckes an eine Sache oder sogar an ein Lebewesen
(z. B. ein vor dem Haus liegender Hund) 358 normalerweise wertneutral.
Diese Werteneutralität verliert sich jedoch, sobald es sich um Menschen handelt, denn
einem Menschen einen solchen Zweck zuzuordnen wird als Beleidigung empfunden.
In diesem Fall behandeln wir den Menschen lediglich wie es Immanuel Kant formuliert
hatte, als Mittel, das ich zur Verfolgung meiner eigenen Ziele brauche, und nicht als Zweck
an sich.359 Dann behandele ich den Menschen so, wie ich z. B. ein Instrument behandeln
darf, das mir gehört. In diesem Sinne würde sich, so Baier, auch die christliche von
der naturwissenschaftlichen Weltsicht unterscheiden, denn nur die Naturwissenschaft hält
sich mit einer Zweckzuweisung außerhalb der eigenen Person zurück. Diejenigen
Menschen, die die wissenschaftliche Perspektive abstreiten, unterliegen im Grunde
einer Verwechslung dieser beiden Bedeutungen des Begriffes 'Zweck'. 360
Somit glaubt Baier nicht, dass die objektive wissenschaftliche Sichtweise uns prinzipiell
einen Zweck entziehen könne, dass sogar eine von außen zugewiesene Zweckgebung
in gewisser Weise dem Menschen für seine Würde als nachteilig gesehen werden müsse.
R. Hepburn stimmt mit ihm überein. 361 Nur die erste der beiden Bedeutungen von 'Zweck',
diejenige, die sich der Mensch selbst auftragen kann, gibt dem Menschen moralische
Autonomie, macht aus ihm einen wirklich selbstständigen Zweckgeber. Wenn der Mensch
sich einem anderen Wesen (oder einer Idee), z. B. Gott, unterwirft, wird sein moralischer
Status untergraben. Hepburn schreibt:
"if human life is given purpose by virtue of man's fulfilling the task assigned him by
God, it will be 'purpose' in the autonomy-denying, dignity-destroying sense." 362
Es wird deutlich, dass derjenige Zweck, den wir mit der Sinnfrage assoziieren, Baier
zufolge nur von uns selbst gesetzt werden kann. Dies ist ein Ergebnis, das weitgreifende
Anerkennung in der angelsächsisch-analytischen Philosophie bezüglich der Sinnfrage
erhalten hat. Nicht zuletzt ist dies einer der Aspekte, die dafür sorgten, dass der
Subjektivismus innerhalb der angelsächsisch-analytischen Philosophie lange Zeit
dominierte. So schrieb Baier denn auch:
"These people mistakenly conclude that there can be no purpose in life because
there is no purpose of life; that men cannot themselves adopt and achieve purposes
because man, unlike a robot or a watchdog, is not a creature with a purpose." 363
358 Beispiel gegeben von Kurt Baier in: K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 20.
359 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 20. Ich sage hier "Ziel" um eine Verwechslung mit dem untersuchten
Begriff "Zweck" zu vermeiden. Vgl. auch R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
360 Für den gesamten Abschnitt vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 20.
361 R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 127.
362 Vgl. ebd.
363 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 20 f.
62
Und außerdem:
"However, not all people taking this view are guilty of the above confusion. Some
really hanker after a purpose of life in this sense." 364
Schlussendlich macht R. Hepburn noch auf einen anderen Punkt aufmerksam.
Die analytischen Philosophen verweigern ihm zufolge den "einzelnen Zweck", wenn von
der Sinnfrage die Rede ist. Es handele sich üblicherweise nicht um einen Zweck, sondern
um mehrere, die unter dem Schlagwort des Singulars "Zweck" zusammengefasst werden.
Es handele sich um ein ganzes Netzwerk von vielen miteinander verknüpften
Einzelzwecken.365
6.3 Sinnhaftigkeit in Bezug auf das Leben
Dem Historischen Wörterbuch der Philosophie zufolge münden aus dem breiten
Bedeutungsfeld des Wortes 'Sinn' vor allem die Konnotationen Plan, Ziel, Zweck, Skopus,
Telos und Wert in den Ausdruck des 'Sinns des Lebens' ein. 366 Diese Redensart hat
eine überraschend kurze Geschichte.367 Sie kommt als solche erst mit der Verbreitung der
Kritischen Philosophie Kants auf. Dabei löst 'Sinn' den Terminus 'Wert' ab.
Die zunehmende Verwendung dieses Ausdrucks bringt unter anderem nach
der Aufklärung
die
Verselbstständigung
des
Individuums
zum Ausdruck. 368
Die Sinnhaftigkeit wird seitdem als Funktion der Ausübung der Fähigkeit, autonome
Entscheidungen treffen zu können, gesehen.369
Dem Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe zufolge zerfällt bei näherer
Betrachtung der Ausdruck in zwei "Bündel von Teilfragen" 370:
"Zum ersten Bündel gehören die Frage, ob die Menschen de facto so etwas wie
einen Sinn des Lebens, ein höchstes Ziel, ihrem Handeln zugrunde legen, und auch
die Frage, ob die Zugrundelegung eines solchen Sinnes etwas dazu beiträgt,
das eigene Leben als positiv, erfreulich und gelingend zu erfahren. Zum zweiten
Bündel gehört die Frage, ob und nach welchen Kriterien solche zugrundegelegte
Lebenssinne als rational oder irrational beurteilt werden können, und natürlich,
ob danach ein allgemein verbindlicher Sinn des Lebens ausweisbar ist." 371
364 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 21.
365 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
366 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 815.
367 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1994.
368 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 815.
369 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 1. The Meaning of “Meaning”. Er erwähnt den 'Sinn' als eine
Funktion von dem Gebrauch der Fähigkeit, autonome Entscheidungen treffen zu können, was für Kant ein
intrinsischer Wert des Menschen darstellt. Er beruft sich auf: Nozick 1974, ch. 3.
370 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1995.
371 Ebd.
63
Die Gegenstände dieser Teilfragen werden im nächsten Kapitel näher behandelt, doch
lassen sie erneut erahnen, dass der 'Sinn des Lebens' einen Ausdruck bildet, der von
der Bedeutung her Wurzeln in einem größeren semantischen Netzwerk schlägt.
Die Komplexität des Bedeutungsfeldes wird sichtbar bei der schrittweisen Entschlüsselung
des Ausdrucks.
Robert Audi372 untersucht in seinem Artikel den Begriff "meaningfulness", und diesen
in direkter Erweiterung zu "meaning", also so als würden wir 'Bedeutung' zu
'Bedeutsamkeit' erweitern. Es wäre sicherlich auch möglich für "meaningfulness"
im Deutschen "Bedeutsamkeit" anzuwenden. Um jedoch deutlich den kontextuellen Bezug
herzustellen, ist es meines Erachtens angemessen, "meaningfulness" mit 'Sinnhaftigkeit'
zu übersetzen. Das, was die angelsächsischen Autoren mit "meaning" und "meaningful"
meinen, wenn sie Bezug auf die Sinnfrage nehmen, entspricht im Allgemeinen dem Sinn
von 'Sinnhaftigkeit' so wie sie in meiner Arbeit verwendet wird. Diese Übersetzung kann
aber genau dann als unangemessen erachtet werden, wenn von anderen üblichen
sprachlichen Ausdrücken die Rede ist, so wie wenn R. Audi z. B. sagt,
dass "meaningfulness" in Bezug auf das menschliche Leben von der "meaningfulness"
als Eigenschaft eines sprachlichen Gegenstandes zu unterscheiden ist, 373 denn hier würde
ich zum einen 'Sinnhaftigkeit' benutzen und zum anderen 'Bedeutung' (oder allenfalls
semantischer Gehalt). Die Problematik an sich verrät bereits einiges über den Sinn der zu
untersuchenden relevanten Begriffe und Termini. Außerdem lässt diese Problematik
erahnen, inwiefern die Übersetzung selbst ein schwieriges Unterfangen sein kann und sich
nicht immer für unsere Zwecke gefügig machen lässt.
R. Audi geht von der allgemeinen Voraussetzung aus, dass die linguistische
(oder sprachliche) Bedeutung (Audi: "meaning") eines Ausdrucks auf eindeutige Weise
die Frage beantworten kann, was dieser Ausdruck ausdrückt, und gleichsam, dass es
etwas gibt, sei es ein Phänomen oder einen Gegenstand (und nicht ausschließlich im
Sinne einer abstrakten Entität), das vom Sinn her (Audi: "in meaning") das Gleiche ist wie
diese Bedeutung und auf das diese Bedeutung verweist. 374 Auch wenn es sich im
Allgemeinen bei sprachlichen Ausdrücken so verhält, so scheint es sich beim Ausdruck
'der Sinn des Lebens' anders zu verhalten. Denn im Gegensatz zum üblichen sprachlichen
Ausdruck (Audi: "linguistic expression") scheint das Leben Sinn oder Sinnhaftigkeit
zu besitzen, obwohl die Bedeutung nicht wirklich auf etwas Bestimmbares verweisen
kann.375 Hier scheint also eine nicht unerhebliche Differenz zwischen dem zu
untersuchenden Ausdruck und anderen Ausdrücken zu herrschen. Trotzdem erkennt Audi
372 Kommt hier zur Sprache durch sein Werk Intrinsic Value and Meaningful Life, siehe R. Audi: Intrinsic Value and
Meaningful Life (2005).
373 Für den gesamten Abschnitt, speziell für die Ausdrücke in diesem Satz, vgl. R. Audi: Intrinsic Value and
Meaningful Life (2005), S. 332.
374 Vgl. ebd.
375 Vgl. ebd., S. 333: "unlike a linguistic expression, a life can be meaningful even though there is nothing it means."
64
auch eine Gemeinsamkeit zwischen der semantischen und der existentiellen Ebene (Audi
nennt den Lebenssinn "existentielle Sinnhaftigkeit") 376 von 'Sinnhaftigkeit', nämlich dass
diese immer eine Art der Sinngebung und der Interpretierung impliziert.377 Audi bestätigt
also, dass Sinn und Sinnhaftigkeit auf jeden Fall einen Verstehensprozess beinhalten,
so wie weiter oben bereits erwähnt wurde. 378 Hieraus folgert er unterschiedliche Grade von
Sinnhaftigkeit. Und damit widersetzt er sich der Tendenz, in der Sinnhaftigkeit entweder
etwas Absolutes zu sehen oder sie ganz verneinen zu müssen. Er glaubt also auch
ein Mehr oder ein Weniger an Sinnhaftigkeit bestimmen zu dürfen. 379 Ferner könnten 'Sinn'
und 'Sinnhaftigkeit' in Bezug auf das Leben eine deutlichere Klärung erhalten, wenn sie
von einigen Konnotationen befreit würden, die dann anderen Begriffen zugewiesen
werden, auch wenn sich dies als ein schwieriges Unterfangen erweisen sollte. Mit diesem
Ansatz sieht Audi die Möglichkeit, ein klares Konzept der Sinnhaftigkeit des Lebens
entwickeln zu können.380
Auch K. Baier möchte sich der Verwirrung um diesen Ausdruck mittels der Differenzierung
von Bedeutungen und Teilaspekten von "meaning" entledigen. Wie im Englischen üblich
wird auch von ihm "meaning" sowohl für die 'Bedeutung' z. B. eines Wortes als auch für
die 'Sinnhaftigkeit' des Lebens benutzt.381 Er möchte zwei ihm zufolge wesentliche
Differenzierungen durchführen, die erste zwischen der Bedeutung von "having a meaning"
(dies entspricht in etwa: einen bestimmten Sinn haben / eine bestimmte Bedeutung haben)
und der Bedeutung von "having meaning" (dies entspricht in etwa: Sinn haben, sinnvoll
erscheinen). Und innerhalb der ersten Bedeutung "having a meaning" macht er
eine weitere Differenzierung zwischen dem linguistischen Sinn ("the linguistic sense") und
dem "Sinn der fundamentalen Beschaffenheit" ("the essential character sense"). 382
So wie bei R. Audis erste Bedeutung von "meaning" handelt es sich bei Baiers "having
a meaning" darum, dass eine Behauptung erlaubt, die Antwort auf die Frage, was diese
Bedeutung ist oder woraus diese Bedeutung besteht, bestimmen zu können, z. B. indem
man eine Beschreibung oder Erklärung dieser Bedeutung vorzunehmen versucht. 383
Innerhalb dieses Feldes gibt es nun zum einen den von Baier betitelten linguistischen Sinn
eines Ausdrucks, der einer von einer bestimmten Sprachgemeinschaft nachvollziehbaren
und verstandenen Charakteristik von irgendwelchen sprachlichen Einheiten entspricht.
Bei diesem sogenannten "linguistischen Modell" seien die erwachsenen Mitglieder dieser
Sprachgemeinschaft im Allgemeinen in der Lage, die Bedeutung der Wörter, Ausdrücke
376 Frei übersetzt aus R. Audi: Intrinsic Value and Meaningful Life (2005), S. 333: "existential meaningfulness".
377 Vgl. ebd.: "But there is one important similarity: in both the semantic and existential cases meaningfulness implies
that there is a way to make sense of the phenomenon in question, indeed to interpret it in some way."
378 Siehe S. 58.
379 Vgl. R. Audi: Intrinsic Value and Meaningful Life (2005), S. 334 f.
380 Vgl. ebd., S. 331-332.
381 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997).
382 Vgl. ebd., S. 47.
383 Vgl. ebd.
65
oder Sätze darzustellen und auszulegen. Bei diesem Modell könne man versuchen,
die Bedeutung des 'Sinns des Lebens' zu klären, indem man z. B. explizite
Formulierungen oder Erklärungen liefert, doch gelingt dies Baier zufolge nicht, denn es hat
sich gezeigt, dass diese Herangehensweise nur zu größeren Verwirrungen führt.
Die Frage nach dem Lebenssinn beansprucht einen anderen Ansatz als den
des linguistischen Sinns. Außerdem würde dieses Erklärungsmuster nichts zur Lösung
der Frage beisteuern können, ob ein Leben ohne Sinn zugleich nicht gut sein muss. 384
Antony Flew hatte bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Tolstoi diesen Sachverhalt
als Lektion von dem einfachen Volk hätte lernen könne, nämlich dass Fehler und
Verwirrungen in seiner Fragestellung selbst und in den semantischen Zuweisungen
seiner Begriffe vorhanden sein könnten.385 Denn ein Leben ohne Sinn braucht aus
analytischer Hinsicht nicht nur nicht gut sondern auch nicht nicht lohnenswert zu sein,
was viele Menschen bereits intuitiv zu empfinden fähig seien. 386
Wenn wir unter Punkt 6.2 gesehen haben, dass die Analytiker davon ausgehen,
dass 'Zweck' nicht entdeckt sondern nur festgelegt werden kann, so gilt für sie das Gleiche
in Bezug auf die Sinnhaftigkeit des Lebens:
"If we are to speak strictly, meaning is given to life by individuals, not discovered.
There is no single setting of life that grants meaningfulness, while all others take it
away. In this the logic of 'possessing meaning' closely resembles that of possessing
value or dignity. We may change our beliefs about the world most radically, without
necessarily losing either 'possession'."387
Auch hier wird wieder der Bezug zu 'Wert' und darüber hinaus zu 'Würde' hergestellt.
Die angelsächsisch-analytischen Philosophen stemmen sich vor allem auch gegen
die Behauptung der Theisten, dass die Vorstellung einer Welt ohne Gott dem Leben
automatisch seinen möglichen Sinn entziehen muss.
Genau wie R. Audi scheint es also auch für K. Baier wenig plausibel, dass die übliche
linguistisch-semantische Herangehensweise etwas zur tieferen Klärung der Sinnfrage
beisteuern kann. Innerhalb des Bedeutungsfeldes "having a meaning" gibt es, wie bereits
erwähnt, eine weitere Bedeutung, die Baier "the essential character sense" nennt. 388
Unter dieser Bedeutungsweise besitzt das Leben denjenigen Sinn, der durch die richtig
erfasste fundamentale Beschaffenheit des Lebens konstituiert wird. Dementsprechend
müsste man zur Bestimmung des Lebenssinns versuchen, herauszufinden, was das
Leben, von seinem Wesen her, von seiner grundsätzlichen Beschaffenheit her, ausmacht.
Als Beispiel gibt Baier an, das Leben als ein Tal der Tränen ("a vale of tears") zu sehen. 389
384 Für den gesamten Teil ab Fußnote 383, vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 47-48.
385 Vgl. A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 115.
386 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 49 Abschn. 3.
387 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 152.
388 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 49.
389 Vgl. ebd.
66
Auch wenn die Menschen im Allgemeinen darauf aus sind, einen positiven Lebenssinn
bestimmen zu wollen, so entspricht das Beispiel doch dem Prinzip des "essential character
sense".390 Natürlich wäre es auch denkbar, diese grundsätzliche Beschaffenheit mit
den Mitteln der Naturwissenschaft zu bestimmen zu versuchen, wobei hierbei jedoch
ein naturalistischer Fehlschluss zu vermuten ist.
Auch Baier stellt einen Unterschied und eine Gleichartigkeit zwischen linguistischem Sinn
und dem Sinn der fundamentalen Beschaffenheit fest. Der Unterschied bestehe darin,
dass innerhalb des zweiten Sinns nicht lediglich eine Übereinstimmung zwischen
Menschen ausgedrückt wird sondern die Präzision einer bestimmten Beschreibung.
Die Gleichartigkeit bestehe darin, dass beide Arten des Sinns eine Antwort auf
die Bedeutung einer Sache erlauben und beanspruchen. 391 Dies erinnert von der Form her
an die Kategorisierung von R. Audi und scheint im Übrigen ein Ansatz zu sein, der in
der gesamten sachbezogenen angelsächsisch-analytischen Philosophie vorzufinden ist.
Doch Baier zeigt auch eine von ihm spezifisch entwickelte Bedeutung auf, die er "having
meaning" nennt.392 Er legt diese Bedeutungsweise mit dem Beispiel der Beziehung
einer Person zu einer anderen dar. Die Beziehung stellt für eine Person eine Bedeutung
dar, auch dann, wenn diese Person nicht erklären kann, woraus diese Bedeutung
eigentlich besteht. Die Unmöglichkeit der näheren Bestimmung könnte durchaus nur
dadurch verursacht sein, dass die sprachliche Erfassung der Komplexität oder
Vielschichtigkeit der Sache nicht gerecht werden kann. So kann auf dieselbe Weise
einer Person ihr Leben durchaus als sinnvoll erscheinen, ohne darauf antworten zu
können, woraus genau diese Sinnhaftigkeit besteht. Hierfür lassen sich dann trotzdem im
Allgemeinen zwei Merkmale für das Leben festlegen, die mit 'wertvoll' (Baier: "valuable")
und 'wichtig' oder 'bedeutsam' (Baier: "significant") bezeichnet werden können. 393
Auch innerhalb dieser Bedeutungsweise wird versucht, die Sinnfrage zu erörtern,
doch auch bei dieser kann bezweifelt werden, der Frage zu einer endgültigen Klärung
zu verhelfen. Wichtig ist jedoch, sich der unterschiedlichen Bedeutungsweisen bewusst
zu sein, um die Untersuchung vorantreiben zu können.
Dass die rein semantische Ebene des zu untersuchenden Ausdrucks nichts
Grundlegendes zu ihrer Erschließung innerhalb der angelsächsisch-analytischen
Philosophie beiträgt, wird auch von J. Seachris festgestellt. Es bringe nichts, lediglich nach
einer Definition von Leben oder ähnlichen semantischen Konstruktionen innerhalb
eines linguistischen Kontextes zu suchen, wir würden eine andersartige Bedeutung
….....................p
390 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 50.
391 Vgl. ebd.
392 Vgl. ebd., S. 57.
393 Für den gesamten Teil ab Fußnote 393, vgl. ebd., S. 57 f.
67
benötigen.394 Ein möglicher alternativer Ansatz für Seachris wäre der der "intentionalen
Bedeutung" nach Nozick.395
R. Hepburns396 Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Ihm zufolge sind
die Fragen, die sich auf den Sinn des Lebens beziehen, ebenfalls nicht anhand einer rein
linguistisch-semantischen Bedeutung, wie sie bereits von Audi und Baier erwähnt wurde,
eindeutig ermittelbar und dies könne auch nicht so sein, da das Leben in diesem Sinne
keine Behauptung als solche darstelle. 397 Trotzdem benutzen wir den Ausdruck des 'Sinns
des Lebens' so als hätte er einen linguistischen Kontext und aus eben genau
diesem Grund würde dieser Ausdruck als verwirrend und schwammig wahrgenommen
werden.398 Die Sinnhaftigkeit bezüglich des Lebens erhellt sich erst dann, wenn sie z. B.
mit einem Ausdruck wie "der Sinn einer Geste" 399 verglichen wird, wenn also, wie bereits
weiter oben erwähnt,400 Ziel oder Zweck einer Handlung in die Bedeutung
dieser Sinnhaftigkeit fließt. Es bestätigt sich auch nach Hepburn, dass der 'Sinn des
Lebens' als Ausdruck nur dann präziser fassbar wird, wenn er in Verbindung mit
einer Zweckgebung steht, die wünschenswerte Ziele beinhaltet. Es ist erst die analytische
Philosophie, die die Überwindung der traditionellen Bedeutung der Sinnhaftigkeit
des Lebens als etwas, das entdeckt werden muss, ermöglicht. 401 Hepburn schreibt
diesbezüglich:
"To say that 'making life meaningful' is a matter of 'pursuing valuable, worthwhile
ends' is to say that it is an activity that indispensably involves value judgment. The
description of cosmic patterns, tendencies or trends does not obviate the need to
make autonomous judgments about the worthwhileness or otherwise of following, or
promoting or opposing any of these."402
Gleichzeitig möchte Hepburn verdeutlichen, dass ein klarer Zusammenhang
zu moralischen Urteilen besteht.403 Bei dieser Art von Urteilen sind wir seit spätestens dem
19. Jahrhundert davon überzeugt, dass wir es selbst sind, die sie aufstellen, und sie nicht
394 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: a. Addressing the Question's Lack of
Clarity : Securing a Non-linguistic Usage of "Meaning".
395 Vgl. ebd. Er erwähnt einen nicht linguistischen Kontext, in dem 'Sinnhaftigkeit' Sinn macht. Dies verbindet er mit
einer intentionalen oder nicht intentionalen Bedeutung, wie es z. B. von Nozick (1981) ausgesagt wird.
396 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966).
397 Vgl. ebd., S. 126. Hepburn fragt sich jedoch an anderer Stelle, inwiefern 'Sinnhaftigkeit' und 'Zweck' in Analogie zu
einer semantischen Bedeutung gesehen werden können (R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life
(1966), S. 138). Vgl. auch R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 138: "The words in a
meaningful sentence 'cohere'. Words in a random list do not: like the events of a 'meaningful' life, they merely
succeed each other discretely and atomistically, and are no more." Vgl. auch R. W. Hepburn: Questions about the
Meaning of Life (1966), S. 139: Jedoch...:"It may suggest that the pattern of our life as a whole has a unity". Hierbei
könne es sich um eine Illusion handeln.
398 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
399 Übersetztes Beispiel aus: ebd.
400 Siehe Kapitel 6.2.
401 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
402 Ebd.
403 Vgl. ebd., S. 127.
68
wie Naturphänomene aufsuchen müssen. Hepburn geht jedoch noch einen Schritt weiter.
Für ihn konstituieren – rein formal betrachtet – auch Behauptungen über Gott oder
das Jenseits 'Ist-Sätze' und keine 'Soll-Sätze', die sich also in letzter Konsequenz
ebenfalls nicht zu Werten oder zur Sinnhaftigkeit schlussfolgern lassen:
"Religious and metaphysical statements are still statements of fact, and therefore
logically cannot in themselves be answers to questions about meaning." 404
An dieser Stelle können wir wiederholen, dass den Analytikern zufolge religiöse
Behaupten keine Garantie für die Sinnhaftigkeit des Lebens darstellen und umgekehrt
muss der Verlust des Glaubens nicht zwingend die Sinnlosigkeit des Lebens bewirken, 405
obwohl man sich für die Religion besonders wegen ihrer scheinbar attraktiven Lösung
zur Lebenssinnproblematik entscheidet. Dies mag paradox klingen, ist es aber nicht,
weil aus analytischer Sicht Religion nur solange sinngebend ist, solange man
deren Gehalt nicht weiter hinterfragt.
Schlussendlich müssen wir noch auf eine Besonderheit der Ergebnisse der analytischen
Philosophie bezüglich der Sinnfrage hinweisen, die bereits bei der Untersuchung
des Begriffs 'Zweck' angedeutet wurden 406 und die ich als sehr wichtig einschätze.
Dem Theoretiker Kai Nielsen zufolge verhält es sich nämlich mit dem Ausdruck 'Sinn des
Lebens' nicht anders als mit dem Begriff 'Zweck'. 407 Er bietet keine einzelne Fragestellung,
sondern
gleich
ein
ganzes
"cluster"
an
unterschiedlichen
Aspekten,
eine Zusammenballung von mehr oder weniger locker miteinander verbundenen Fragen,
die alle die existentielle Verfassung des Menschen, die 'condition humaine', betreffen. 408
Die angelsächsisch-analytische Philosophie legt mittlerweile den Schwerpunkt
der Untersuchungen auf die Entknotung dieser Zusammenballung, um ein besseres
Verständnis unseres zu untersuchenden Gegenstandes zu erlangen. So schreibt z. B.
T. Metz, wie die Sinnfrage im Zusammenhang mit anderen Fragen zu sehen ist:
"what should an agent strive for besides obtaining happiness and fulfilling
obligations? Which aspects of a human life are worthy of great esteem or
admiration? In what respect should a rational being connect with value beyond his
animal self? And, from Charles Taylor […], the following could be added: which
goods command our awe? How may an individual identify with something
incomparably higher? What is worthy of our love and allegiance?" 409
Es scheint jedoch weiterhin fraglich, ob all diese Teilaspekte zur vollständigen Klärung
ausreichen, wenn auch jeder einzelne relevant ist. T. Metz schreibt weiter:
404 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 127.
405 Vgl. ebd., S. 126.
406 Siehe Kapitel 6.2.
407 Vgl. K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life" (2008), S. 213.
408 Vgl. ebd.
409 T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 802.
69
"My negative claim is that no one of these six questions captures all historically
prominent inquiry into life's meaning, and my positive claim is that all such inquiry is
united by addressing at least some of these question." 410
Die Komplexität der Bedeutung der Sinnfrage scheint sich in allen nur denkbaren Facetten
des menschlichen Lebens niederzuschlagen. J. Seachris bestätigt diesen Standpunkt:
Zur Zeit behandeln die meisten angelsächsisch-analytischen Philosophen die Frage als
eine Art Amalgam in dem Konzepte wie Zweck, Wert, das Lohnenswerte, Bedeutsamkeit,
Tod, Vergeblichkeit usw. enthalten sind. Außerdem gelten moralische (richtig/falsch),
ästhetische (gut/schön) und eudämonistische (Glück) Ansprüche, während es vielfache
Verbindungen dieser Aspekte untereinander gibt. 411 Diese Herangehensweise dominiert
zur Zeit die analytische Philosophie.412 Um also einen nichtlinguistischen Zugang
zur Sinnfrage zu sichern, erwägen die modernen analytischen Theoretiker das Verfahren,
den Ausdruck in einen immer größer werdenden Kontext einzubinden, d.h. ihn in
eine immer breiter werdende 'Beschreibung' oder ein 'Narrativ' (Seachris: "narrative")
zu implizieren und das Netz der unterschiedlichen Diskurse zu ermitteln, in denen sich
der Ausdruck manifestiert, um die Sinnfrage mit all seinen Nebenfragen und Teilaspekten
in seiner Gesamtheit zu ergründen.413 Dieser Ansatz wird innerhalb der sogenannten
"Amalgam-These" in Angriff genommen, an der auch R. Hepburn mitwirkt. 414 Der Eintrag in
der Stanford Encyclopedia of Philosophy deckt sich mit dieser Aussage. Auch für Metz
könnte es sich bei der Sinnfrage um einen Mix von Werten, Umständen, Zwecken etc.
handeln. Die Suche würde den Konzepten gelten, die einen Zusammenhang
zum untersuchten Ausdruck darstellen, die, wenn sie auch nicht äquivalent zueinander
sind, sich gegenseitig in ihrem Inhalt überlappen und Familienähnlichkeiten aufweisen. 415
6.4 Die Unterscheidung zwischen einer Warum-Frage und einer Wie-Frage
Der Philosoph und Semantiker A. J. Ayer 416 widersetzt sich dem Ansatz, die Sinnhaftigkeit
des Lebens durch die Bestimmung seiner "grundlegenden Beschaffenheit" 417 ergründen
zu können. Wenn, so Ayer, es bei der Sinnfrage darum geht, einen bestimmten Zweck
des Lebens aufzufinden, so handele es sich bei der Bestimmung dieser Frage um
eine Rechtfertigung des Lebens und nicht um eine Erklärung von Tatsachen. 418
410 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 803.
411 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 1. Introduction.
412 Vgl. ebd., Kapitel: b. Addressing the Question's Lack of Clarity : The Amalgam Thesis.
413 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: a. Addressing the Question's Lack of
Clarity : Securing a Non-linguistic Usage of "Meaning".
414 Vgl. ebd., Kapitel: b. Addressing the Question's Lack of Clarity : The Amalgam Thesis. Er erwähnt R. W. Hepburn:
Questions about the Meaning of Life (1966).
415 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 1. The Meaning of “Meaning”. Er bezieht sich auch auf: Metz
2001.
416 Vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008).
417 Siehe S. 66.
418 Vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 199.
70
Demzufolge würde das Auffinden einer grundlegenden Beschaffenheit des Lebens
die Verwirrung hinsichtlich des untersuchten Ausdrucks nicht verringern sondern eher
vergrößern.
Die Ergründung der Sinnfrage unterscheide sich von einem wissenschaftlichen
Erklärungsmuster, das für die Bestimmung einer grundlegenden Beschaffenheit
des Lebens herangezogen werden kann, darin, dass sich diese Art der Erklärung im
Grunde nicht von einer allgemeineren Beschreibung unterscheidet, und als solche
keine Antwort darauf liefern kann, warum wir leben, sondern nur wie alles passiert, was in
diesem Universum passiert, und wie das Leben funktioniert, so wie es halt
die Wissenschaft insgesamt beansprucht. Den Zweck des Lebens zu ermitteln
sei allerdings gleichzusetzen mit der Frage, warum wir leben. Die Sinnfrage könne nach
einem wissenschaftlichen Erklärungsansatz (also nach dem Ansatz der Wie-Fragen)
niemals auf befriedigende Weise beantwortet werden. 419 Deshalb mache es Ayer zufolge
auch nicht wirklich Sinn, die Frage überhaupt zu stellen. Sie sei weder richtig noch falsch,
sie sei einfach irrelevant (Ayer: "factually insignificant").420 Ayer betont jedoch, dass dies
kein Grund sei, zu verzweifeln oder dem Zynismus zu verfallen, da hierfür die Sinnfrage
eine logisch beantwortbare sein müsste, was sie ihm zufolge nicht ist. 421 Letztere Aussage
scheint mir jedoch in hohem Maße fragwürdig.
Ayer hatte bereits 1947 diese Trennung zwischen Warum und Wie unternommen.
Doch auch K. Baier thematisierte sie 1957. 422 Dieser sieht z. B. den grundlegenden
Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion genau in dieser Inkompatibilität, nämlich
dass die Wissenschaft darauf eingeht, wie das geschieht, was geschieht, und die Religion
darauf, warum etwas geschieht oder warum es überhaupt Leben gibt und warum wir
da sind, um aus dieser Antwort ebenfalls den Zweck unseres Lebens herleiten zu können.
Aus diesem Grund meint Baier auch, dass Wissenschaft und Religion nicht wirklich
einen Konflikt auszutragen haben, da sie auf unterschiedliche Erklärungsmuster
zurückgreifen. Die Wissenschaft gebe provisorische Erklärungen zu Teilaspekten
der Realität oder des Universums, die Religion dagegen ganzheitliche und endgültige
Erklärungen.423 Gleichzeitig betont Baier, dass beide Arten der Erklärung denselben Grad
an erklärerischer Kraft haben (Baier: "equally explanatory") und lediglich nur für
unterschiedliche Explicanda geeignet sind. 424 So ist es auch zu erklären, dass
Rückschlüsse auf Kausalbeziehungen, auf denen die wissenschafltichen Erklärungen
fußen, unbefriedigend scheinen, wenn nach dem Warum von etwas gefragt wird. Die
Warum-Frage setzt die Gründe von jemandem voraus ('Grund' im Unterschied zu
419 Für den gesamten Anfang des Abschnitts, vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 199-200.
420 Vgl. ebd., S. 201.
421 Vgl. ebd.
422 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957).
423 Für den gesamten Teil ab Fußnote 423, vgl. ebd., S. 5.
424 Vgl. ebd., S. 6.
71
'Ursache', so wie "reason" zu "cause"). 425 Nach einem Grund fragen setzt ein bewusstes
Subjekt voraus und nicht nur die Darstellung einer Aneinanderreihung von ermittelbaren
Tatsachen. Die Wissenschaft kann also nur deshalb aussagen, wie die Dinge sind,
und nicht warum sie sind, weil es in der tatsächlichen Welt überhaupt kein Warum gibt.
Außerdem implizieren Kausalbeziehungen immer auch einen unendlichen Regress,
jede Ursache setzt eine andere Ursache voraus, und sie können somit auch niemals einen
kompletten ersten Grund für Geschehnisse liefern, wenn sie überhaupt Gründe
im engeren Sinne des Wortes liefern könnten. 426 Eigentlich war es auch nie wirklich
ein Bestreben der Naturwissenschaften, die Anfänge der Dinge zu enthüllen, sondern
die versteckte unterschwellige Realität der Dinge. 427 Das Bestreben nach Kenntnis
vom Anfang der Dinge scheint jedoch seit der Big-Bang Theorie auch von der
Wissenschaft beansprucht zu werden, doch vielleicht ist ja gerade das der Grund,
warum man sich nicht des Eindruckes verwehren kann, dass die Wissenschaftler
anfangen, Ansprüche zu stellen, die bisher als metaphysisch oder sogar theologisch
galten. Bei diesem Sachverhalt scheint das Problem jedoch überwiegend darin zu liegen,
dass linguistische Beschreibungsversuche den extrem abstrakten mathematischen
Konstruktionen nicht mehr gerecht werden können.
In diesem Kontext hat R. Hepburn ebenfalls Antony Flews Untersuchungen zu Tolstois
Beichte428 analysiert. Auch Flew hat eine Unterscheidung, die der vorigen von Ayer und
Baier ähnlich scheint, vorgenommen. Es ist Hepburn zufolge die Unterscheidung zwischen
"knowing how" and "knowing that". 429 Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob und inwiefern
die beiden Unterscheidungen (die von Ayer und Baier einerseits und die von Flew
andererseits) identisch sind, denn die Herleitungen sind verschieden. Es wäre interessant,
dieser Frage in einer anderen Arbeit nachzugehen. Für Flew gibt es einen sogenannten
"schwachen Sinn des Lebenssinns"430 und einen starken. Der erste bezieht sich auf das
was Hepburn "knowing how" nennt, der zweite auf das, was er "knowing that" nennt.
Der Unterschied zwischen beiden besteht hauptsächlich darin, dass man zu wissen
glauben kann, wie man zu leben hat, ohne sich dabei erklären zu können, aus was
der Lebenssinn wirklich besteht oder danach suchen zu wollen. 431 Und zu wissen, wie man
zu leben hat, genau das schien Tolstoi nicht mehr zu erfassen können. 432 Hepburn glaubt,
die Verbindung beider Aspekte sei so oft vorausgesetzt, dass sich der Diskurs über
die Sinnfrage erheblich erleichtern würde, wenn man sich nur dieser Sache bewusst
425 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 6.
426 Vgl. ebd. Später behauptet Baier jedoch, dass wissenschaftliche Erklärungen keinen infiniten Regress zur Folge
haben, in: ebd., S. 17.
427 Vgl. ebd., S. 18.
428 Siehe S. 25. Vgl. auch L. Tolstoj: Meine Beichte (2010).
429 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 128.
430 Vgl. ebd., S. 131.
431 Vgl. ebd. Vgl. auch auf S. 67 mit K. Baier: "having meaning".
432 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 128.
72
werden würde.433 Es gibt auch Autoren, die gleich von Anfang an deutlich ausdrücken,
dass es sich bei der Sinnfrage nur um eine Wie-lebt-man-Frage handeln könne, so z. B.
Kai Nielsen434, und diese dann auch gleich zu einer Frage der moralischen Wertigkeit
umwandeln.435 Für Nielsen ist die Frage nach dem Sinn des Lebens im Grunde nur
eine Frage nach der Bestimmung eines gewünschten menschlichen Verhaltens. 436
Am Ende dieses Kapitels sollten wir uns ebenfalls vergegenwärtigen, wie es Hepburn tut,
dass man aus einer kritizistischen Perspektive den gesamten Diskurs als eine rhetorische
Spielerei sehen könne, die sowohl extravagant als auch linguistisch unnütz sei.
Letztlich liegt es an uns, für welche Sichtweise wir uns entscheiden, denn die Sinnfrage an
sich ist für Hepburn nicht unentbehrlich, man komme auch sehr gut ohne sie aus.
Alternativ hierzu kann der Wortschatz, wie bereits erwähnt, auch auf Urteile über
Zweckgebung und Kenntnisse des gelingenden Lebens beschränkt werden. 437
John Kekes438 stimmt der Entbehrlichkeit der Sinnfrage zu. Sie suggeriere
fälschlicherweise, dass wir unbedingt Gründe bräuchten, um weiterleben zu können.
Dies sei jedoch nicht der Fall, da unsere Natur es ist, die uns leben und überleben lässt,
und nicht die Beantwortung einer ziemlich abstrakten Frage. 439 Außerdem sei es töricht zu
glauben, dass nur weil wir eine Frage stellen, deshalb auch eine Antwort zu erwarten sei,
die uns gefällt.440
T. Metz gibt zwei weitere Argumente an, die der Sinnfrage gänzlich ihren wie auch immer
gearteten Sinn absprechen. Zum einen kann man behaupten, dass 'Sinnhaftigkeit' oder
'Sinn' an sich nur Symbole sind und das Leben als solches nicht auf ein Symbol reduziert
werden kann, also zwischen beiden keine Kommensurabilität besteht. Zum anderen gibt
es das Argument der logischen Positivisten, wodurch man Sinngehalt nur dann erhält,
wenn man etwas auf Basissätze zurückführen kann, die ihrerseits empirisch evident
feststellbar sind. Auch hier fällt es schwer, das Leben als existentielles Dasein auf
diese Weise definieren zu können. Heutzutage, so Metz weiter, widersprechen die meisten
Philosophen
beiden
Standpunkten.441
Zur
Zeit
glauben
die
Theoretiker,
dass Behauptungen über den Sinn des Lebens etwas ausdrücken, das als richtig oder
falsch gesehen werden kann oder dass es zumindest angemessen scheint, sich so
zu verhalten, als wäre es so (nämlich richtig oder falsch). 442
433 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 131.
434 Vgl. K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life" (2008).
435 Vgl. ebd., S. 204+209.
436 Vgl. ebd., S. 213.
437 Für den gesamten Anfang des Abschnitts, vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 140.
438 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008).
439 Vgl. ebd., S. 239.
440 Vgl. ebd., S. 240.
441 Für den ganzen Anfang des Abschnitts, vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 801.
442 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 802.
73
Obwohl wir dieses Kapitel damit begonnen haben, den Ausdruck des 'Sinns des Lebens'
auf einer linguistisch-semantischen Ebene untersuchen zu wollen, haben die analytischen
Philosophen uns zur Schlussfolgerung gebracht, dass dieser Ausdruck nur dann
seine wirkliche Bedeutung entfalten kann, wenn man eben gerade den linguistischsemantischen Kontext teilweise verlässt. Das mag durchaus widersprüchlich klingen,
jedoch sollten wir nicht außer Acht lassen, dass wir zumindest den Ausdruck negativ
eingrenzen konnten. Zudem besteht dieser Widerspruch nur auf der Oberfläche,
denn nichts verbietet uns, die Mittel einer Disziplin anzuwenden, um im Verlauf
der Untersuchung feststellen zu können, dass die eigentliche Erkenntnis teilweise
außerhalb dieser Disziplin liegt. Dem Titel dieses Kapitels wurden wir gerecht, denn wir
haben ein besseres Verständnis vom Sinn und Bedeutung des 'Sinns des Lebens' erlangt.
7. Die wesentlichen philosophischen Aspekte der Sinnfrage
Während wir in Kapitel 6 die sprachliche Dimension des betroffenen Ausdrucks ergründet
haben, oder eher die sprachliche Dimension,443 so wollen wir im 7. Kapitel eine eher
konzeptuelle Herangehensweise übernehmen, auch wenn wir die etwas künstlich
etablierte Unterscheidung in Wahrheit nicht immer deutlich auseinanderhalten können.
Worin genau der Unterschied liegt zwischen den Ideen und Konzepten einerseits und
den Bedeutungen der Begriffe andererseits, wollen wir hier nicht ergründen. Wenn man für
beide Sachverhalte in einem Magnetresonanztomographen dieselben Konfigurationen
der aktiven Gehirnzellen messen würde, könnte man sicherlich behaupten,
dass Äquivalenz herrscht. Wir wollen jetzt den Schwerpunkt auf diejenigen
philosophischen Konzepte legen, die als Teilaspekte eine direkte Verbindung zur Sinnfrage
zu besitzen scheinen, was dadurch bestätigt wird, dass sie in der einschlägigen Literatur
thematisiert wurden. Bei folgender konzeptueller Analyse werden wir öfters
die Bedeutungen vieler Fachtermini voraussetzen, so wie sie in der philosophischen
Praxis üblicherweise verstanden werden, und die Konzepte sowohl untereinander als auch
in Bezug auf den Ausdrucks des 'Sinns des Lebens' selbst auf ihren logischen
Zusammenhang und ihre Widerspruchsfreiheit überprüfen. Auch dieses Unterfangen ist
eines der fundamentalen Tätigkeiten der angelsächsisch-analytischen Philosophie:
"Questioning the meaning of something in general appears to be a matter of asking
about its relationship with other things." 444
Im Folgenden werden wir immer stärker auf das zurückgreifen können und müssen,
was bisher in diesem Text erarbeitet wurde. Bis jetzt habe ich die unterschiedlichen
Ergebnisse der bearbeiteten Autoren überwiegend kompilatorisch zusammengetragen.
443 Aus den oben genannten Gründen, am Ende des Kapitels 6.4 S. 72 f., relativieren wir mit 'eher'. Es ist jedoch
zumindest richtig was den Ansatz an sich angeht.
444 T. Metz: The Immortality Requirement for Life's Meaning (2003), S. 173.
74
Jetzt werde ich stärker als bisher mein eigenes Instrument der Analyse (und später auch
der Synthese) anwenden, nämlich meine eigene Vernunft.
7.1 Rationalität, Emotionalität und moralistischer Fehlschluss
Einer der wesentlichen Aspekte der angelsächsisch-analytischen Lebenssinndebatte ist,
dass die Sinnfrage zwei unterschiedliche Ebenen beinhaltet. Die eine kann deskriptive
oder Ist-Ebene und die andere präskriptive oder Soll-Ebene genannt werden.
Diese Problematik ist seit Langem in der Ethik bekannt. Jeder Versuch, diese zwei Ebenen
logisch miteinander zu verknüpfen, führt unweigerlich zu erheblichen Verwirrungen oder
scheitert, sogar dann wenn eine supranaturalistische Theorie verteidigt wird.
Übrigens haben wir bereits den hohen Grad der Verbindung zwischen der Sinnfrage und
ihren möglichen Bezug zur Moral erahnt, doch dazu später mehr. 445 Die Sinnfrage gewinnt
wesentlich an Klarheit, wenn in der Untersuchung die deskriptive Ist-Ebene von
der präskriptiven Soll-Ebene unterschieden wird.
Die Unterscheidung dieser beiden Ebenen sollte nicht genau mit derjenigen identifiziert
werden, die z. B. Joshua Seachris stellvertretend für einen Teil der angelsächsischanalytischen Philosophie vornimmt, nämlich zwischen einer "erklärenden" und
einer "normativen Dimension",446 obwohl wir sicherlich eine gewisse Schnittmenge bei
beiden Arten der Unterscheidung finden könnten. Bei der erklärenden Dimension von
Seachris handelt es sich darum, herauszufinden, was mit den unterschiedlichen Aussagen
und Theorien innerhalb der Debatte der Sinnfrage gemeint ist, was sie bedeuten, womit
wir uns eigentlich befassen.447 Wir können z. B. sehr wohl die Bedeutung einer
kosmischen Zweckgebung ermitteln wollen, ohne ihr als eine Tatsachenerkenntnis
zustimmen zu müssen. Wenn ich jedoch in dieser Arbeit von einer Ist-Ebene rede, dann in
dem Sinn einer solchen Tatsachenerkenntnis innerhalb der äußeren 'objektiven' Realität,
und nicht nur als Erörterung der Bedeutungen der Begriffe.
Trotz der strikten logischen Trennung dieser zwei Ebenen kann eine Untersuchung der oft
als subjektiv betrachteten Soll-Ebene auch aus einer objektiveren Perspektive
der Ist-Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden. Ich denke da z. B. daran,
einen Menschen neurologisch zu untersuchen und zu beobachten, was in seinem Gehirn
vorgeht, wenn dieser Mensch etwas will und demzufolge Soll-Ansprüche erheben könnte.
Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, dass wir dieses Wollen in nicht menschliche oder
gar nichtlebendige Phänomene in Form irgendwelcher Anthropomorphismen
hineinprojizieren dürfen. Wir dürfen es schon, wenn die Ansprüche Kreativität und
445 Siehe S. 68, 70 und 73.
446 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 1. Introduction.
447 Vgl. ebd.
75
Phantasie sein sollen (denn dann dürfen wir alles Mögliche denken), doch nicht auf
der Grundlage einer vernunftbasierten Tatsachenerkenntnis.
Dem Neuen Handbuch philosophischer Grundbegriffe zufolge hatte ein Teil
der analytischen Philosophie mit dem frühen Wittgenstein, dem Wiener Kreis und
A. J. Ayer448 jegliche Rationalität an der Sinnfrage und an allen anderen Wert- und
Sollensfragen angefochten.449 Ich glaube, hierbei sollte einiges berücksichtigt werden.
Meines Erachtens ist das Aufstellen eines Soll-Satzes oder eines normativen Anspruchs in
der Tat keine Tatsachenerkenntnis oder Tatsachenfolgerung, jedoch glaube ich, dass man
Rationalität, nachdem man den ersten Schritt der Aufstellung eines Soll-Anspruches
gemacht hat, aufrecht erhalten kann und muss, um zu untersuchen, wie wir etwas machen
müssen, um den Soll-Anspruch verwirklichen zu können, auch dann, wenn in Erwägung
gezogen werden kann, dass der Soll-Anspruch selbst in erster Instanz ohne Berufung auf
die Vernunft gesetzt werden kann (was jedoch auch nicht unbedingt evident ist).
Gleichwohl gilt meines Erachtens, dass die Zwecksetzung bezüglich der Sinnfrage nicht
mit den rationalen Mitteln der Tatsachenerkenntnis erbracht werden kann, was jedoch
nicht bedeutet, dass wir für normative Ansprüche die Rationalität ausschließen dürfen,
sondern dass wir für normative Ansprüche die Tatsachenerkenntnis ausschließen müssen.
Außerdem müssen wir, wie gesagt, rational untersuchen, welche Schritte zu erbringen
sind, um den Zweck, den wir gesetzt haben, erfüllen zu können. Täten wir das nicht,
dann würden wir uns verhalten, als müssten wir der Konstruktion eines Flugzeugs
die Rationalität absprechen, nur weil wir die Gravitation vom Prinzip her in ihrem Innersten
noch nicht zu ergründen wissen. Die Gravitation ist vom Prinzip her, wenn auch in
einem physikalischen System 'messbar', als Voraussetzung gesetzt. Das eigentliche
Problem innerhalb der Sinndebatte ist jedoch, dass von einigen Autoren der oberste SollAnspruch als nicht gesetzt angesehen wird, sondern als etwas objektiv Wirkliches. Hier
kann sich dann auch relativ große Willkür einschleichen. Aus diesem Grund macht z. B.
Karl Popper auf die Gefährlichkeit solcher Theorien und fragwürdigen Begründungen
aufmerksam, und darauf, dass solche Theorien oftmals kritikimmun sind. 450 Wenn aber
jetzt die Supranaturalisten ihre kosmischen und transzendenten Vorstellungen als
ein Wir-tun-so-als-ob-Szenario darstellen würden, dann wäre ich mit ihnen einverstanden,
aber nur vom Ansatz her, nicht unbedingt vom Gehalt der vorzustellenden Theorie.
Doch dann wären die Supranaturalisten auch keine echten Supranaturalisten mehr, da sie
sich dann der Illusion bewusst wären.
Wenn man an Gott und/oder an ein Jenseits glaubt, und wenn man sich auf
Offenbarungstexte berufen möchte, so ist das Problem scheinbar gelöst, denn dann bietet
448 Vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 201. Außerdem behauptet Ayer an dieser Stelle, die Abwesenheit
von Rationalität bei der Sinnfrage sei keine Gelegenheit zum Zynismus oder zur Verzweiflung, weil dann die
Sinnfrage logische beantwortbar sein müsste, was sie nicht ist. Dies ist von mir nicht gänzlich nachvollziehbar.
449 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1995.
450 Vgl. ebd., S. 1998.
76
das Universum in irgendeiner Form eine Intelligenz, eine göttliche oder eine andere,
die das "Möchten" und "Sollen" für uns auf kosmischer Ebenen übernehmen kann. Jedoch
sind wir Menschen in diesem Szenario unmündig, denn hierbei können wir nicht mehr
selbst entscheiden,451 was wir zu "möchten" haben und was wir tun "sollen". Dies wird uns
dann aufgezwungen. Diese Unmündigkeit widerspricht dem menschlichen Bestreben nach
Autonomie, und kann ebenfalls als Verlust der menschlichen Würde und als Untergrabung
eines erkämpften moralischen Status gesehen werden. 452 Wenn diese Unmündigkeit
jedoch gewollt ist, so stellt dies auf menschlicher Ebene prinzipiell kein Problem dar,
auf philosophischer Ebene allerdings schon. Wenn man andererseits nicht an dieses
Szenario glaubt, wie soll man dann rechtfertigen können, dass das Universum in
seiner Gesamtheit ein nichtblindes, bewusstes, in die Zukunft projizierendes Phänomen
darstellt, das Zweck, Telos und Sinn vorgeben kann? Ich sehe nicht, wie das streng
rational vorstellbar ist. Auch wenn ich mich dann vielleicht einsam und verlassen fühle, 453
so kann ich es nicht mit meiner Vernunft vereinbaren, dass das Universum,
so majestätisch und komplex es auch erscheinen mag, sich nicht blind und mit
einer nach-vorne-gerichteten Absicht entwickelt.
Vorausgesetzt es wäre aus neurologischer Sicht überhaupt möglich: 454 Wären wir in
der Lage, rein rational zu argumentieren ohne uns von unseren Wunschvorstellungen
leiten zu lassen, dann scheint es schwierig, diejenige Tatsachenerkenntnis (also die vom
Anspruch her objektive und außerhalb unseres Wollens liegende Ist-Erkenntnis)
zu verneinen, die bereits von Bertrand Russell vor etwa einem Jahrhundert bezüglich
der Sinnfrage vorgebracht wurde, so z. B. in seinem Werk Religion and Science:
"The Copernican revolution will not have done its work until it has taught men more
modesty than is to be found among those who think Man sufficient evidence of
Cosmic Purpose."455
Nicht nur nicht der Mensch, sondern kein belebtes oder unbelebtes Ding kann rational bei
strikter Trennung dieser zwei Ebenen als ausreichende Evidenz für eine kosmische
Zweckgebung dienen. Der Theoretiker R. Hepburn gibt Russell recht, und drückt es noch
etwas pointierter aus:
"If we are to speak strictly, meaning is given to life by individuals, not discovered.
There is no single setting of life that grants meaningfulness, while all others take it
away. In this the logic of 'possessing meaning' closely resembles that of possessing
451 Wenn man innerhalb supranaturalistischer Kategorien denkt, denn ansonsten kann diese Unmündigkeit auch als
psychologische Projektion gedeutet werden.
452 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 127. Er redet von einer Unterwerfung unter ein
anderes Wesen, was unseren moralischen Status untergraben würde. Und: "Religious and metaphysical statements
are still statements of fact, and therefore logically cannot in themselves be answers to questions about meaning.
Second: if human life is given purpose by virtue of man's fulfilling the task assigned him by God, it will be 'purpose'
in the autonomy-denying, dignity-destroying sense."
453 Dies bezieht sich auf die Konzeptionen wie z. B. die von Jacques Monod, Jean-Paul Sartre und Albert Camus.
454 Eine Voraussetzung, die, so glaube ich, innerhalb der Philosophie gemacht werden muss.
455 B. Russell: Religion and Science (1960), S. 222.
77
value or dignity. We may change our beliefs about the world most radically, without
necessarily losing either 'possession'."456
So ist es auch wenig überraschend, dass die Existentialisten das Leben aus
der sub specie aeternitatis Perspektive als absurd ansehen. 457 Wenn wir uns
vergegenwärtigen, was Absurdität bedeutet, so ist sie eine schwer zu widerlegende
Folgerung, wenn es einem an der Überzeugung einer kosmischen Zweckgebung mangelt
und gleichzeitig kosmische Zweckgebung für die Sinnhaftigkeit des Lebens vorausgesetzt
wird. Die Absurdität wird bei den Existentialisten entweder als eine gewisse Art von
Irrationalität dargestellt oder als ein Konflikt zwischen zwei nicht zu vereinbarenden
Dingen.458 Die Diskrepanz, von der hier die Rede ist, ist die Feststellung der Abwesenheit
einer kosmischen Zweckgebung einerseits und die Unausweichlichkeit menschlicher
Zweckprojizierung basierend auf tiefliegenden Wünschen andererseits, so wie es bereits
Albert Camus gesehen hat:
"Et ces deux certitudes, mon appétit d'absolu et d'unité et l'irréductibilité de ce monde
à un principe rationnel et raisonnable, je sais encore que je ne puis les concilier." 459
Dass die Existenz eines kosmischen Zwecks argumentativ auf ziemlich wackeligen Füßen
steht, kann schließlich auch nicht dadurch aufgehoben werden, dass rationale Erklärungen
insgesamt nie komplette und endgültige Erklärungen sein können. Wir können
der vernunftbasierten Erkenntnis nicht einfach absprechen, was sie tatsächlich leistet, nur
weil sie keine Antwort auf alles hat. Dies untermauert auch Hepburn mit folgenden Worten,
auch wenn es an dieser Stelle eigentlich um die Kritik an den kosmologischen
Gottesbeweis geht, von der dahinterliegenden Idee her ist es das Gleiche:
" 'Can no explanations be valuable unless complete and ultimate explanation is also
possible?' In point of fact, we use the word 'explain' far more often to refer to
proximate explanations than to ultimate ones. And it has been pointed out that the
more sophisticated versions of the Cosmological Argument present us with a God
related to the world in so peculiar a way that it is not in the least certain that his
existence does explain the world in any intelligible sense. The absence of such a
being and the impossibility of such 'explanation' would not make our everyday or
scientific explanation any less useful or reliable." 460
Auch für Kai Nielsen handelt es sich bei der Sinnfrage weniger um eine 'Erklärung' als um
eine 'Rechtfertigung', und diese ist nicht mal mit der vollständigsten und
allumschließendsten Erklärung zu erhalten.461
456 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 152.
457 Siehe Kapitel 4.3.
458 Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 156.
459 A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 75 f.
460 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 181.
461 Vgl. K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life" (2008), S. 204.
78
Im folgenden Textausschnitt behandelt R. Hepburn wie zuvor die Gottesbeweise, doch
die Relevanz zum Thema dieses Kapitels ist unbestreitbar, die Problematik ist die Gleiche:
"One does not have to believe that philosophical arguments must be either cogent
and successful or else a worthless tissue of conceptual confusions. The arguments
[arguments for the existence of God, especially the cosmological argument] we have
looked at in these two chapters are of very dubious validity, and yet their very
persistence over the centuries, their deep psychological appeal to many of us,
compel one to realize that they also express something of permanent human
importance, whatever it is.
What is expressed seems to me to have two principal facets---the expression of
wonderment and the expression of anxiety, both directed to highly general features
of our experience."462
Das, was zum Vorschein kommt, wenn wir uns die Existenz einer Zweckgebung auf
kosmischer Ebene denken, sind unsere Wünsche, unser Wollen, und damit auch unsere
Emotionen. B. Russell glaubt, dass es sogar eitel und unbescheiden sei,
einen kosmischen Zweck vorauszusetzen.463 Es sei lediglich ein Egozentrismus, den diese
Vorstellung in uns hervorbringt. Auch für ihn braucht man jedoch keinesfalls
die Rationalität, die uns die Unplausibilität der kosmischen Zweckgebung aufzwingt,
aufzugeben, um ein emotionales Wesen bleiben zu können und eine emotionale
Ausgeglichenheit zu erlangen.464 Die Vernunft stünde der Ausgeglichenheit und
dem Glücklichsein nicht im Weg.465 Letzteres sei, Russell zufolge, vielmehr das Ergebnis
einer effizienten Kultivierung eines geordneten Geistes. 466 So sollte der Mensch z. B.
versuchen, die Beschäftigung mit sich selbst zu verringern und seine Aufmerksamkeit
auf andere Menschen und Gegenstände richten, und vor allem Geistiges wie
Wissenschaft zu betreiben oder den Kindern eine gute Erziehung zu ermöglichen.
Der Mensch sollte sich als dienlich erweisen gegenüber der Welt. 467 Man sollte versuchen,
am "Fluss des Lebens" (Russell: "stream of life") teilzunehmen:
"To be happy in this world, especially when youth is past, it is necessary to feel
oneself not merely an isolated individual whose day will soon be over, but part of the
stream of life flowing on from the first germ to the remote and unknown future." 468
Letztendlich, so Russell, sei es die Nichtteilnahme an diesem "stream of life", die uns
das Gefühl der Vergeblichkeit im Leben beschert und uns die Dinge trivial und unwichtig
erscheinen lässt.469
462 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 184.
463 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 72.
464 Vgl. ebd.
465 Vgl. ebd., S. 13: "reason lays no embargo upon happiness".
466 Vgl. ebd., S. 47.
467 Vgl. ebd., S. 6.
468 Ebd., S. 138 f.
469 Vgl. ebd.
79
Russells Aussagen wirken überzeugend. Es sollte noch darauf hingewiesen werden,
dass er nirgendwo behauptet, man solle das Leben ausschließlich auf der Basis
der Einflussnahme der Vernunft leben, ganz im Gegenteil. Er behauptet lediglich, dass das
eine das andere nicht kaputt machen muss. Deshalb steht er auch nicht im Widerspruch
zu der Art von Aussage, wie sie z. B. von T. Nagel gemacht wurde, wenn dieser sagt,
das Leben und unsere Glaubensvorstellungen würden kollabieren, wenn wir das Leben
ausschließlich auf die Vernunft basieren würden. 470 Die externe oder kosmische
Perspektive (sub specie aeternitatis), die von den angelsächsisch-analytischen
Philosophen auch als die rationale Perspektive betrachtet wird, muss uns nicht zwingend
zu der Einschätzung des Lebens als sinnlos führen, so wie es die Verweigerer
der Sinnhaftigkeit des Lebens tun. 471 Russells Lösung hierfür ist eine Form
des Subjektivismus, der mit der Aufforderung zum Ausdruck gebracht wird, dass wir
unsere eigenen und keine fremden Ideale anbeten (Russell: "worship our own ideals")
sollten.472 Die Frage, ob Rationalität notwendigerweise jede Form der Lebenssinngebung,
und mit ihr jedwede Motivation zum Leben zerstört, muss also verneint werden.
Gleichzeitig muss ebenfalls verneint werden, dass die Sinnfrage einem Ist-Anspruch,
einer Tatsachenerkenntnis genügen kann. Auch Soll-Sätze lassen sich rational behandeln,
auch wenn der 'erste' (hypothetische) Soll-Anspruch gesetzt werden muss. Ob 'reine' oder
'praktische' Vernunft, sie ist eine Vernunft.
Dass die philosophische Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens oft mit
unbefriedigten Wünschen und einer deprimierten Grundstimmung verwachsen ist, macht
auch A. Flews Analyse473 von Tolstois Beichte deutlich. Wie wir bereits gesehen haben,
verwechselt Tolstoi ein Wie-Wissen mit einem Dass-Wissen oder Warum-Wissen
("how"/"that").474 Dies hat zur Folge, dass Tolstoi nicht weiß, wie er zu leben hat,
um Befriedigung und Glück aus seinem Leben schöpfen zu können und fälschlicherweise
die Lösung hierfür in der Frage, woraus das Leben bestünde, sucht. Da er aus
dieser verwirrenden Situation seiner Gedanken kein vernünftiges Ergebnis erzielen kann,
verneint er kurzerhand die Vernunft an sich, 475 obwohl das Problem nicht in der Vernunft
470 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 150.
471 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 733. Siehe auch K. Baiers
Zusammenfassung in: K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 28: "My main conclusion, therefore, is that
acceptance of the scientific world picture provides no reason for saying that life is meaningless, but on the contrary
every reason for saying that there are many lives which are meaningful and significant. My subsidiary conclusion is
that one of the reasons frequently offered for retaining the Christian world picture, namely, that its acceptance gives
us a guarantee of a meaning for human existence, is unsound. We can see that our lives can have a meaning even if
we abandon it and adopt the scientific world picture instead. I have, moreover, mentioned several reasons for
rejecting the Christian world picture: (i) the biblical explanations of the details of our universe are often simply
false; (ii) the so-called explanations of the whole universe are incomprehensible or absurd; (iii) Christianity's low
evaluation of earthly existence (which is the main cause of the belief in the meaninglessness of life) rests on the use
of an unjustifiably high standard of judgment."
472 Vgl. B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S. 58.
473 A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963). Siehe auch S. 25 Querverweis.
474 Siehe S. 72. Vgl. auch A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 162. Vgl. auch R. W. Hepburn:
Questions about the Meaning of Life (1966), S. 128.
475 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 163. Siehe auch S. 72 Querverweis.
80
selbst liegt, sondern eher in einer schlechten Anwendung von ihr und an
einer mangelnden konzeptuellen Analyse, da die Überlegungen durch psychologische und
emotionelle Parameter getrübt werden. Flew macht darauf aufmerksam, dass die
Beschäftigung mit der Sinnfrage im Falle Tolstois …
"symptomatic of this distressing psychological condition" 476 …
ist. Der einzige Ausweg aus seinem negativen Gemütszustand sieht er in der Heimkehr
zum Glauben. Dabei ist das einfache Volk einfach nur ausgeglichener als er. Wenn dieses
einfache Volk nicht am 'Stillstand des Lebens' leidet, so kann dies noch lange nicht als
zwingende Folge der Erkennung eines bestimmten philosophischen Wissens über
das Leben gewertet werden.477 Die Bauern scheinen zu wissen, wie man lebt, aber nicht
notwendigerweise, warum. Dieses Wie-Wissen kann als therapeutischer Glauben viel
bewirken, was nicht zuletzt daran sichtbar ist, dass man hartnäckig an ihm festhält,
aber es muss, wie gesagt, aus diesem Grund nicht wahr sein. 478
Die Frustration, die in Tolstois Beichte zum Vorschein kommt, kann ebenfalls einfach als
ein menschlich-psychologisches Phänomen gesehen werden, so R. Hepburn, das dann
entsteht, wenn unsere Bemühungen nicht auszureichen scheinen, um unsere Projekte im
Leben verwirklichen zu können:
"A complaint of meaninglessness can be a complaint about a felt disproportion
between preparation and performance; between effort expended and the effect of
effort, actual or possible."479
J. Kekes argumentiert ähnlich, wenn er behauptet, dass die Sinnlosigkeit des Lebens nicht
auf eine philosophische Absurdität zurückzuführen sei, sondern eher auf den Unwillen,
sich um Sachen und Menschen zu kümmern. Somit handele es sich bei der Sinnfrage oft
versteckt um Wollen und Emotionen. 480 Dies sei der wahre Grund, warum die Menschen
mit allen Mitteln versuchen würden, aus der natürlichen Welt auf eine kosmische
Zweckgebung zu folgern.481 Aber, so Kekes weiter, es gibt keinen streng rationalen Grund,
dass ein solcher Zweck existiert.482 Damit schlussfolgert er:
"Meaning thus comes from us",483
und …
"it is folly to suppose that just because we can ask a question there is going to be
an answer to it that we like. [...] Maybe life just is". 484
476 A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 114.
477 Vgl. ebd.
478 Vgl. ebd., S. 116+118.
479 R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 133.
480 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 244.
481 Vgl. ebd., S. 248.
482 Vgl. ebd., S. 249.
483 Ebd., S. 250.
484 Ebd., S. 240.
81
Aus der Vermischung von Rationalität und Emotionalität heraus entsteht
der naturalistische485 und der moralistische Fehlschluss. In unserem Kontext handelt es
sich überwiegend um den moralistischen Fehlschluss. Er …
"[…] geht von einer präskriptiven (vorschreibenden) Aussage aus und folgert daraus
eine beschreibende. Er schließt aus dem Sollen auf ein Sein. Ein Beispiel: Weil die
Menschen gleich sein sollen, sind sie auch gleich." 486
Mit der logischen Feststellung …
"no judgment of value is capable of proof" 487 …
ging A. J. Ayer auf diese Problematik ein. Auch er beteuerte, dass die logische
Unterscheidung zwischen Ist- und Soll-Aussage selten im praktischen Leben
berücksichtigt wird.488 Doch auch wenn diese gedankliche Strenge nicht im praktischen
Leben gewährleistet werden könne, so dürfe dies nicht als Rechtfertigung für
philosophische Untersuchungen mit akademischem Anspruch herangezogen werden.
Auch
für
das
Neue
Handbuch
philosophischer
Grundbegriffe
existiert
489
ein "unüberwindbarer logischer Graben zwischen Seins- und Sollenssätzen", auch wenn
in der neueren Diskussion versucht würde, dies etwas zurückzudrängen. 490
Die kosmischen oder theistischen Sinntheorien fallen alle in die Kategorie des von K. Baier
genannten "hidden meaning". 491 Die Absicht, einen 'versteckten Sinn' aufsuchen zu wollen,
ist die, dem Leben mehr Positivität zu verleihen. Wir versuchen das, was wir wollen und
gleichzeitig nicht haben, und auch aus nüchternen wissenschaftlichen Überlegungen
heraus nicht herstellen können, sei es nicht sterben zu wollen, nicht mehr leiden
zu müssen, auf Teufel-komm-raus doch irgendwie in der Natur, im Kosmos, im Jenseits
aufzuspüren. Dann wird gedanklich die Schwelle überschritten, an der wir
den moralistischen Fehlschluss begehen:
"[…] we want to outbalance this negativity by finding something that outweighs this
negativity or by finding a hidden dimension that does that too" 492.
485 "Der naturalistische Fehlschluss versucht aus deskriptiven (beschreibenden) präskriptive (vorschreibende)
Aussagen abzuleiten bzw. aus dem Sein/der Natur ein Sollen. Bekannt geworden ist er durch Moore und Hume. Ein
Beispiel: Weil es für den Menschen natürlich ist, kein Vegetarier zu sein, sollten wir keine Vegetarier sein. Oder:
Weil in der Evolution nur die Angepassten überleben, sollen nur die angepassten Menschen überleben. Bei beiden
Schlüssen kommt dem Weil-Satz keine argumentativ-begründende Funktion zu." (http://rescogitans.de/vonnaturalistischen-und-moralistischen-fehlschluessen/)
486 http://rescogitans.de/von-naturalistischen-und-moralistischen-fehlschluessen/. Da diese Quelle nur schwer auf ihre
Qualität überprüft werden kann, werde ich die Aussage durch E. C. Moore bestätigen lassen: "What I would like to
call the Moralistic Fallacy is the assertion that moral judgments are of a different order from factual judgments. This
fallacy may take two forms. On the one hand, as the emotivist commits it, it is the view that ethical judgments are of
a different order from factual judgments because they are not judgments. They are expressions of emotion rather
than judgments about the world. To say you like something is to say Hurrah for it; to say you dislike something is to
say Boo on it." (Moore, Edward C.: The moralistic fallacy, in: Journal of Philosophy 54/2 (1957), S. 29.)
487 A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 202.
488 Vgl. ebd.
489 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1995.
490 Vgl. ebd. Er erwähnt einen Hinweis auf stabile Kriterien für in sich sinnvolle Handlungen und Zustände, der
zumindest rational diskutierbar ist.
491 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 50.
492 Ebd.
82
Alle Szenarien, die die Sinnfrage betreffen, wie z. B. Baiers "The World as a Stage" oder
sein "Earthly life as a test",493 und auch objektivistisch-naturalistische Theorien,
alle Theorien, die eine kosmische Zweckgebung voraussetzen, können mit dem
moralistischen Fehlschluss belegt werden. Alle Religionen gehören dieser Kategorie an.
Sogar viele gläubige Menschen, die an ihrer Überzeugung einer theistischen oder
supranaturalistischen Theorie festhalten, sind gleichzeitig in der Lage einzugestehen,
rein rational diesem Sachverhalt nicht widersprechen zu können. Dies ist keinesfalls
eine Verurteilung, denn die interessantesten gläubigen Menschen, denen ich persönlich
in meinem Leben begegnet bin, waren sich der Irrationalität des Glaubens sehr wohl
bewusst und würden auch nicht versuchen, diesen mit solchen Mitteln zu rechtfertigen.
Wie bereits erwähnt scheint der "hidden meaning" im Grunde lediglich eine Vorstellung
zu sein, die es uns erlaubt, unserem Leben und uns selbst positive Bedeutung
beizufügen,494 die wir womöglich auf anderem Wege nur schwer auffinden könnten.
Weiterhin machen sich die gleichen (naturalistisch-)kosmischen oder theistischen
Sinntheorien, ab dem Moment, wo sie als vorausgesetzt gelten, des naturalistischen
Fehlschlusses (also der umgekehrten Folgerungsrichtung wie des moralistischen
Fehlschlusses) schuldig. Hepburn macht uns darauf aufmerksam, dass Behauptungen
über Gott oder das Jenseits, wenn als Glaube vorausgesetzt, im Grunde Aussagen sind,
die vom formalen Gehalt her Tatsachenaussagen sind, und damit eine Ist-Erkenntnis
darstellen, auch wenn diese Ist-Erkenntnis von Nichtgläubigen für falsch gehalten wird. 495
Das Problem hierbei ist, eine ungültige logische Deduktion aus diesen Aussagen auf
das zu vollziehen, was wir tun sollen. Deshalb können religiöse Behauptungen vom
logischen Standpunkt her betrachtet nie Sinnhaftigkeit garantieren, so wie anders herum
der Verlust des religiösen Glaubens nicht notwendigerweise den Verlust auf Sinnhaftigkeit
zur Folge haben muss.496 Rein formal gesehen kann die Religion keine Antwort auf
die Sinnfrage liefern, auch wenn dies als ihre Daseinsberechtigung gesehen wird.
7.2 Normativer und eudämonistischer Bezug
Kurt Baier schrieb, dass die Suchenden des Lebenssinns evidenterweise nach
einem positiven Lebenssinn Ausschau halten. 497 Damit wäre der Übergang zum Guten und
Schlechten (oder für die Theisten auch zum Bösen) bereits hergestellt, und damit befinden
wir uns noch offensichtlicher im Kontext der Ethik. A. J. Ayer hatte bereits 1947 darauf
hingewiesen, dass die Sinnfrage eine Frage der Moral sei und formulierte sie um in
493 Siehe S. 21.
494 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 52.
495 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
496 Vgl. ebd.
497 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 50.
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"Wie sollen die Menschen leben?"498 Seachris schrieb in seinem Überblicksartikel,
dass sowohl ethische als auch ästhetische und eudämonistische Ansprüche in
der Sinnfrage enthalten sind, und sie alle auf eine Weise miteinander verbunden sind,
die es nach ihm zu klären gilt.499
Der normative und der eudämonistische Bezug existiert üblicherweise, wie wir bereits
indirekt im 1. Teil dieser Arbeit erkennen konnten, bei allen Verfechtern
einer Lebenssinnbejahung, sowohl für die Supranaturalisten als auch für die Naturalisten.
Für die Verweigerer des Lebenssinns ist dies eigentlich ebenfalls der Fall, wenn auch
vielleicht weniger deutlich sichtbar. Man könnte glauben, dass kein Zusammenhang
hergestellt werden könnte, wenn nichts da ist, womit sich ein Zusammenhang herstellen
lässt. Doch dienen auch Sinnlosigkeit und Absurdität als Stellungnahme für moralische
Belange. Wir haben gesehen, dass man versucht, Freiheit, politischen Aktivismus und
andere normative Ansätze aus der Abwesenheit des Lebenssinns abzuleiten. 500 Auch der
Pessimismus beinhaltet eine Stellungnahme, aus der moralische Regeln oder Prinzipien
abgeleitet werden. Schopenhauer hat dies mit der Herleitung des Mitleids als moralischem
Grundprinzip belegt.501 Ob das Leben nun als sinnvoll oder sinnlos erachtet wird, bezüglich
der Sinnfrage scheint es keine Werteneutralität zu geben. Diese Sicht wird jedoch
in dieser Form nicht von allen geteilt. So kann z. B. auch behauptet werden, dass das
Themenfeld der Sinnfrage an sich verlassen wird, wenn die Sinnlosigkeit als Qualifizierung
des Schlechten herangezogen wird.502
Auch wird der normative Bezug zur Sinnfrage nicht immer allen Autoren zugesprochen.
So redet T. Metz lediglich von einigen Theoretikern, die eine bestimmte Art der Moralität
als notwendig erachten, um das Leben mit Sinnhaftigkeit belegen zu können. 503
Diese "normative Version", wie er sie nennt, unterstützt die Auffassung, dass ein Leben
desto sinnvoller ist je moralischer es eingestuft wird. 504 Für mich stellt sich an dieser Stelle
die Frage, ob Metz davon ausgeht, dass es Theorien gibt, die überhaupt keinen Bezug zur
Moralität besitzen. Meines Erachtens ist es wichtig, zwischen denjenigen Theorien
zu unterscheiden, die ihre gesamte Grundlage, Herleitung und Folgerungen innerhalb
moralischer und normativer Kategorien beschreiben, und Theorien, die das nicht in
diesem Umfang tun oder im Wesentlichen keinen normativen Wortschatz gebrauchen,
bei denen jedoch der Bezug zur Moralität im fließenden Übergang hergestellt werden
498 Frei übersetzt aus: A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 202.
499 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 1. Introduction.
500 Wie beim Existentialismus.
501 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral, (Philosophische Bibliothek 579), nach den Ausgaben
letzter Hand v. Ludger Lütkehaus, Hamburg: Felix Meiner 2007.
502 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 807: "Or when we say that a meaningless life is bad,
might we not be speaking from a perspective other than the meaning of life?"
503 Vgl. ebd., S. 798.
504 Vgl. ebd. Siehe auch Querverweis S. 55. Es ist eine Theorie, die unter dem Namen Moralitätstheorie ("morality
theory") geführt wird.
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könnte. Wenn ich behaupte, dass jede Lebenssinntheorie einen normativen oder
eudämonistischen Bezug hat, heißt das, dass dieser hergestellt werden kann, auch wenn
er nicht explizit vom Autoren beabsichtigt oder dargestellt wird.
Dieser Bezug ist deshalb gegeben, weil die Sinnfrage zur Unkenntlichkeit verkommt, wenn
er aufgegeben wird. Raum für Spekulationen ist natürlich trotzdem vorhanden.
Denn T. Metz hat zweifelsohne recht, wenn er es innerhalb der analytischen Philosophie
als unumstritten ansieht, dass trotz aller Zusammenhänge Sinnhaftigkeit konzeptuell von
Glück, Richtigkeit und dem Lohnenswerten zu unterscheiden ist. 505 Metz fragt sich weiter,
wie Dinge wie Moralität oder auch z. B. Kreativität (die auch als Antwort auf die Sinnfrage
herangezogen wird) das Leben mit Sinn erfüllen können. 506 Hierbei geht er davon aus,
dass die Handlungen mehr oder weniger intuitiv für ihren Gehalt an Sinnhaftigkeit beurteilt
werden. Es handele sich dabei um Urteile, die sich ausrichten an den Vorlieben
der Menschen für bestimmte Umstände, die potentiell während eines Lebens auftreten
können.507 Ich glaube jedoch nicht, dass die Moralität erschöpfend mit diesem Ansatz
bestimmt werden kann, und die Weiterführung dieser Überlegung scheint mir innerhalb
eines ethischen Diskurses stattfinden zu müssen.
Als recht überzeugendes Argument gegen die mögliche Herleitung einer normativen und
eudämonistischen Komponente aus dem Kontext der Sinnhaftigkeit des Lebens kann
jedoch folgendes Gedankenexperiment dienen, das von Robert Nozick entwickelt
wurde:508 Man stelle sich vor, in einer virtuellen Maschine leben zu müssen, die den Geist
mit Erfahrungen speist und ein beschwerdefreies und scheinbar perfekt glückliches Leben
veranlasst, ohne jedoch dabei das Bewusstsein darüber verlieren zu können, dass man
sehr wohl in dieser virtuellen Maschine steckt. Weil man genau weiß, dass es sich nicht
um das wirkliche Leben handelt, würde man in diesem Szenario nicht das Bedürfnis
verspüren, in die reale Welt treten zu wollen, auch wenn in dieser Leid und Glücklosigkeit
erduldet werden muss? Es könnte in Erwägung gezogen werden, dass man diesen Schritt
tun und sein virtuelles Glücklichsein aufgeben möchte, nur um ein Leben führen
zu können, das man auf diese Weise als sinnvoller erachtet, weil es das authentischere
und realere ist.509 Doch gibt es meines Erachtens noch etwas bei
diesem Gedankenexperiment zu berücksichtigen: Es kann in der Tat dazu dienen,
die konzeptuelle Unterscheidung von Sinnhaftigkeit, Glück und Moralität zu belegen,
wie es bereits im Abschnitt zuvor erkannt wurde, auch wenn es sicherlich mehr oder
weniger große Schnittstellen gibt, wo der Bedeutungsgehalt der unterschiedlichen Begriffe
überlappt. Dennoch kann man dieses Szenario genauso gut gegen die damit verbundene
505 Vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 1. The Meaning of “Meaning”.
506 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 798.
507 Vgl. ebd., S. 804.
508 Vgl. Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia, New York: Basic Books 1974, S. 42 ff.
509 Für den gesamten Teil ab Fußnote 512, vgl. T. Metz: The Meaning of Life (2007), Kapitel: 1. The Meaning of
“Meaning”.
85
Absicht benutzen. Denn wenn man sagt, dass ich das sinnvollere Leben da sehe, wo ich
es als authentisch oder authentischer erachte, ist diese Stellungnahme denn überhaupt
von einer moralischen Beurteilung zu unterscheiden? Wann kann 'authentisch' denn als
etwas Bevorzugtes geltend gemacht werden, wenn nicht erst aufgrund einer moralischen
Beurteilung?
Doch das Verhältnis zwischen Moralität und Sinnhaftigkeit ist ein verzwicktes. Wie genau
kann es zum Beispiel verstanden werden, wenn J. Kekes sagt, dass die Sinnhaftigkeit
eines Lebens nach Maß der Immoralität bewertet werden kann?510 War Hitlers Leben
sinnvoll? Er hat sicherlich eine erhebliche Auswirkung auf das Weltgeschehen gehabt,
daran ist nicht zu zweifeln.511 Hier scheint mir noch etwas zu entgehen. Doch auch wenn
wir diese Beziehung zwischen Sinnhaftigkeit und Immoralität zumindest intuitiv nicht oder
nicht sofort einsehen können, so wird mit dieser Aussage doch auch zumindest deutlich,
dass der normative Bezug besteht, in welcher Form auch immer, ob proportional oder
invertiert. Und genau diese Auffassung scheint sich in der angelsächsisch-analytischen
Philosophie widerzuspiegeln, nämlich dass der Bezug im weitesten Sinne des Wortes
unumstritten scheint, auch dann, wenn eine Theorie nicht auf einen spezifisch ethischen
Wortschatz zurückgreift. Und dies nicht nur im Sinne, wie alles mit allem in
diesem Universum verbunden zu sein scheint, sondern so, dass die Sinnfrage an sich
unverständlich wird, wenn dieser moralische und/oder eudämonistische Bezug
aufgegeben wird.
Sinn- und Zweckgebung sind Ideen 512, die in die Zukunft projiziert werden. Irgendetwas
wird zeitlich vor uns gesetzt, das es zu erfüllen gilt. Dieser Sachverhalt wird wieder einmal
hervorgehoben, wenn J. Kekes die Verbindung zwischen der Sinnfrage und dem Bedürfnis
von Motivation herstellt.513 Auch wenn er diese Aussage lediglich auf die kosmische
Sinngebung bezieht, so glaube ich, dass es gleichwohl für die Subjektivisten gelten muss,
wenn 'Sinngebung' einen Sinn haben soll. Deshalb plädiert auch Kekes für einen deutlich
moralischen Ansatz der Sinnfrage, da Motivation nur in diesem Kontext unwidersprüchlich
behandelt werden kann. So kommt er zum Ergebnis, dass der Lebenssinn darin besteht,
'gute' Projekte ("good projects") zu verfolgen, 514 wobei 'gut' die normative Konnotation
verdeutlicht. Noch spezifischer siedelt er den Lebenssinn in einem eudämonistischen
Kontext an.515 Hierfür stellt er dann bestimmte Bedingungen auf, die für ein Projekt erfüllt
werden müssen, um die Qualitätsprüfung des 'Guten' zu bestehen. 516
510 Vgl. T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 798. Er erwähnt John Kekes, der behauptet, dass die
Sinnhaftigkeit eines Lebens auch auf Immortalität fußen kann. Dann müsste man z. B. Hitlers Leben sinnvoll
nennen.
511 Vgl. ebd.
512 Sinngebung und Zweckgebung erscheinen mir immer identischer, je länger ich dieses Thema behandele.
513 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 248.
514 Vgl. ebd., S. 250.
515 Vgl. ebd.
516 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 253. Kriterien zum moralischen Ansatz (auf Engl.):
86
Sogar wenn wir gegen meine eigene Überzeugung 517, im Sinne der Supranaturalisten und
der objektivistischen Naturalisten, davon ausgingen, dass so etwas wie Zweck- und
Sinngebung von außerhalb, von der Natur, vom Universum, von Gott oder von einer uns
innewohnenden Seele her existieren könnte, und wir feststellen müssten, dass diese
Sinngebung konträr ist zu unseren grundlegendsten Überzeugungen von dem, was wir
üblicherweise als erwünscht ansehen, so würden wir diese von außen aufgegebene
'Sinnhaftigkeit' nicht mehr 'Sinnhaftigkeit' sondern allenfalls 'Sinnlosigkeit' oder 'Absurdität'
nennen. Wenn irgendein kosmischer oder göttlicher Plan uns etwas aufdrängt, das wir
intuitiv nur als etwas Negatives bewerten können, so wäre der Gehalt dieses 'Sinnes' leer
für uns, wir könnten keine wirkliche Bedeutung aus ihm herauspressen. Das Gleiche gilt
sogar dann, wenn wir eine kosmische oder göttliche Sinngebung tatsächlich auf die Art
und Weise entdecken könnten, wie wir andere Galaxien mit dem Hubble-Teleskop
entdecken. Auch auf diese Weise könnten wir unsere Bedeutung von Sinnhaftigkeit nur
dem zuordnen, das mit unserem Willen in Einklang steht. Wäre es anders, könnten wir das
Entdeckte nicht als sinnvoll betiteln, sondern als absurd oder sinnlos, und dann würde
die Sinnhaftigkeit zum Gegenteil von dem werden, was wir als eine Tatsache entdeckt
hätten. So verkehrt sich z. B. auch bei den Pessimisten die eigentlich als nüchtern neutral
einzuschätzende 'Feststellung', dass das Leben überwiegend aus Schmerz und Leid
besteht, zur Sinnlosigkeit. Der Pessimist fragt sich: Wie soll ewiges Leid sinnvoll genannt
werden können, wenn es nicht doch irgendwie irgendwann überwunden werden kann?
Sinnhaftigkeit scheint etwas Positives für uns darstellen zu müssen. So kann auch nicht
das 'moralisch Gute' von der Sinnfrage abgespalten werden. Lebenssinnverweigerung
oder die neutrale Akzeptanz einer möglichen Abwesenheit von Lebenssinn scheint zum
Zwecke einer beabsichtigten Werteneutralität ungeeignet zu sein. Mehr noch:
die Verweigerung des Lebenssinns, nach dem Motto "Das Leben ist. Punkt",
ohne gleichzeitige Anerkennung von 'negativer' Sinnlosigkeit scheint ebenfalls unmöglich.
Das Leben wird als sinnvoll oder sinnlos, nicht als sinnabwesend oder sinnneutral
wahrgenommen, und dabei hat 'sinnvoll' die Konnotation von 'gut', 'sinnlos' die von
'schlecht'. Unser Geist produziert zwingend Sinnhaftigkeit und konnotiert sie moralisch.
Bei diesem Sachverhalt muss ich die Subjektivisten nicht einmal erwähnen, denn ihre
Zusage hierzu scheint unzweifelhaft. Im Übrigen kann man am Einverständnis (wenn es
1) projects ≠ meaningless, pointless, trivial, futile
2) we have not succumbed to view all human projects as absurd
3) we genuinely want to pursue them
4) belief that it will make lives better is true
517 Sowohl normative Sätze als auch Aussagen über die Sinnfrage stellen keine Entdeckung von Tatsachen da, sondern
eine menschliche Projizierung. Sinnhaftigkeit und moralische Normen können so nicht in der Natur vorkommen,
außer wenn man mit einbezieht, dass unser Geist, der diese Projizierung vornimmt, Teil dieser Natur ist. Dies kann
im Allgemeinen als Errungenschaft der analytischen Philosophie oder eventuell der kritizistischen Philosophie
gelten. Jedoch gilt diese Aussage nur dann, wenn eine bestimmte Voraussetzung gemacht wird, nämlich die
Verneinung einer theistischen Anschauung, die Verneinung der Existenz Gottes so wie er z. B. im katholischen
Glauben dargestellt wird, und die Überzeugung, dass die Wirklichkeit, ob es sich um bereits entdeckte oder noch
unentdeckte Phänomene handelt, der naturalistischen Anschauung entspricht. Damit teile ich, wie bereits unter 7.1
erwähnt, Russells Auffassung.
87
sich denn einstellt) dieser Aussage erkennen, dass Sinnhaftigkeit niemals als etwas von
außen an uns Aufgetragenes sein kann, es kann sich immer nur um etwas handeln,
das wir mit unserem Geist und unserem Willen in die Dinge und in den Kosmos
hineinprojizieren. Für welche Sinngebung auch immer wir uns entscheiden, sie muss
kompatibel zu dem sein, was wir für wünschenswert halten, auf menschlicher,
gesellschaftlicher oder welcher Ebene auch immer. Das Positive, das Gute, das moralisch
Gute, und damit auch indirekt das, was wir innerhalb des Glückes ansiedeln, all diese
Teilaspekte stecken bereits als Konnotationen im Begriff der Sinnhaftigkeit des Lebens.
Mit dieser Feststellung müssen wir dann auch Ayer zumindest teilweise zustimmen,
wenn er sagt, dass die Sinnfrage "Wie sollen die Menschen leben?" 518 lautet, denn diese
Frage beantwortet, wie wir dasjenige erreichen, was wir als Gut anerkennen.
Kurt Baier argumentiert ebenfalls in diese Richtung. Sogar sein "Sinn der fundamentalen
Beschaffenheit" ("the essential character sense") 519, eine Bedeutung bei der es auf
den ersten Blick klar zu sein scheint, dass die Sinnfrage durch Tatsachenfeststellung,
nämlich den Menschen von seinem tiefsten Wesen her zu kennen, geklärt werden
könnte,520 bei der man also meinen könnte, dass sie ohne normativen Ansatz auskommen
könnte, wird von ihm als eine Sinnhaftigkeit angesehen, die sich beim 'guten Leben' als
Grundlage bedient.521 Für ihn scheint ebenfalls bei den theistischen Auffassungen
festzustehen, dass die fundamentale Zielsetzung das gute Leben (auch wenn es im
übertragenen Sinne im Jenseits stattfindet) und Glückseligkeit ist, die im günstigsten Fall
nie mehr zu Ende gehen.522 So werden imaginäre und nichtimaginäre Ereignisse
dazu benutzt, die irdische Misere überwinden zu können. Denn nicht die Misere und
das Leid kann Ziel einer Sinngebung sein, sogar wenn sie als objektive Tatsache
festgestellt werden muss; das Gute und das Glück müssen als motivierende Faktoren
in die unterschiedlichen Theorien auf irgendeine Weise eingebaut werden,
um Sinnhaftigkeit als solche überhaupt wahrnehmen zu können, auch wenn es bei
den Konstruktionen der meisten Theorien erheblich an logischer Stringenz mangelt. 523
A. Flew stellt ebenfalls fest, wie wir bereits gesehen haben, 524 dass Tolstois Hauptanliegen
darin besteht, Wünsche erfüllt zu bekommen, auch wenn diese von unverschämter
Anmaßung sind, so wie der Wunsch der Abwesenheit von jedwedem Leid und der Wunsch
der Unsterblichkeit.525 Da diese Wünsche realistischerweise nicht erfüllt werden können,
werden die Rahmenbedingungen der Theorie, die es aufzustellen gilt, angepasst, damit
diese Wünsche dann doch noch erfüllt werden können. Der Bezug zur Abwesenheit von
518 Siehe S. 83 f.
519 Siehe S. 66. Vgl. auch K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S.47.
520 Was im vorigen Kapitel durch den moralistischen Fehlschluss widerlegt wurde, der sich in allen Theorien versteckt
außer dem Subjektivismus.
521 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 61.
522 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 3.
523 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 47 Abschn. 3 bis 5.
524 Siehe S. 28.
525 Vgl. A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 158 f.
88
Leid, die als ein eudämonistischer Parameter gilt, und zur Immortalität als Sinnbild
der absoluten Lebensbejahung sind eindeutige moralische und normative Forderungen.
7.3 Sinnlosigkeit und Absurdität
Heuristisch können wir folgendermaßen vorgehen: Entweder wir betrachten die Termini
'Sinnlosigkeit' und 'Absurdität' als Synonyme, oder wir ziehen aus beiden Wörtern
eine unterschiedliche Bedeutung und behandeln sie wie zwei eigenständige Begriffe. Für
die bearbeitete Literatur gilt im Allgemeinen: Wenn 'Sinnlosigkeit' und 'Absurdität' synonym
benutzt werden, beinhalten beide die gleiche Konnotation des Negativen (im normativen
Sinne) und oft auch der 'Irrationalität', wo auch immer der Ursprung dieser Sinnlosigkeit
oder Absurdität gesehen wird, und wie auch immer dies sich im Detail manifestiert.
Von einigem Interesse für uns, um die Klärung unseres Begriffsfeldes voranzutreiben,
ist es zu ergründen, was beide Begriffe bedeuten, wenn sie explizit unterschieden werden.
Hierbei sehe ich in der einschlägigen Literatur ein recht klares Muster hervortreten, wobei
jedoch die Bedeutungen den Termini unterschiedlich zugewiesen werden. 526 Das besagte
Muster sieht wie folgt aus:
1) 'Sinnlosigkeit' kann als äußere oder objektive Abwesenheit von Sinnhaftigkeit definiert
werden, also als die Überzeugung 527, dass entweder das Universum (für die
objektivistischen Naturalisten) oder Gott (für die Theisten) keine Sinn- oder Zweckgebung
liefern. Rein theoretisch beinhaltet diese Art von Sinnlosigkeit nicht a priori eine für uns
negative Konnotation, obwohl sie jedoch im Grunde immer mitgedacht wird, wenn auch oft
stillschweigend oder unbewusst.
2) 'Absurdität' wäre diesem Muster zufolge das subjektiv erlebte negative Gefühl, dass ich
als Mensch selbst nach meiner Feststellung der kosmischen Sinnlosigkeit keine
Sinnhaftigkeit in mir trage oder keine an meinem Leben haftet, oder im erweiterten Sinne
am Leben der Menschheit. Die äußere kosmische Sinnlosigkeit wird dieser Absurdität
immer als (theoretische) Ursache unterstellt, vorausgesetzt jedoch, dass Absurdität als
philosophischer Begriff und nicht z. B. lediglich als Empfindung einer Depression
besprochen wird, auch wenn hierbei das Theoretische auf die Psychologie des Menschen
notgedrungen niederschlägt. So redet Joel Feinberg z. B. von dem Unterschied zwischen
"absurdity in life" und "absurdity of life".528 Erstere entspräche meiner 'Absurdität', letztere
meiner 'Sinnlosigkeit'. Auch T. Nagel unterscheidet den Standpunkt innerhalb unseres
526 Ich möchte darauf hinweisen, dass ich diese begriffliche Unterscheidung im Unterkapitel 7.2 nicht vorgenommen
habe. Ich habe bisher die Begriffe 'Sinnlosigkeit' und 'Absurdität' im Allgemeinen synonym verwendet, so wie es
auch viele Autoren tun. Das bisher Gesagte muss jedoch nicht rückwirkend relativiert werden, denn die bisherigen
Überlegungen bedurften keiner Ausdifferenzierung.
527 Für diejenigen, die davon überzeugt sind, handelt es sich üblicherweise dann auch um eine Tatsachenfeststellung,
was, wie ich noch einmal betonen möchte, den Ergebnissen meiner Überlegungen widerspricht.
528 J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 155.
89
Lebens ("in our life") von demjenigen außerhalb unseres Lebens ("outside our life"),
wobei beides für ihn Absurdität zur Folge hat.529 Ich hatte bereits darüber geschrieben,
dass diese zwei Standpunkte aufeinanderprallen und was die Diskrepanz dieser zweier
Perspektiven für den Menschen mit sich bringt. Wenn wir Nagels Aussage auf mein
Vokabular übertragen, dann würde es folgendes bedeuten, auch wenn es etwas
unausgereift klingt: Sinnlosigkeit bewirkt Absurdität und Absurdität bewirkt Absurdität.
Im Grunde wird dadurch erklärt, dass die Absurdität zwei Ursprünge hat, aus uns selbst
heraus (eher im Sinne einer Geisteshaltung, die nicht immer von einer rein psychischen
Empfindung unterschieden werden kann) oder aus einer objektiven Erkenntnis heraus.
T. Metz bestätigt, dass Nagel die von mir erwähnte Unterscheidung vornimmt:
"Nagel distinguishes between the meaninglessness of a life and its absurdity" 530.
Bei J. Kekes werden diese Bedeutungen invertiert: die Sinnlosigkeit wird dem Aufhören,
Sorge zu tragen, zugewiesen, und die Absurdität nennt er philosophisch, insofern sie
einer philosophischen Theorie der Sinnfrage unterliegt, hier im Sinne einer Theorie mit
kosmischer Sinngebung.531 Im Wesentlichen wird aber wiederum zwischen objektiver und
subjektiver Ebene unterschieden, egal in welcher Richtung die Wörter an die Bedeutungen
geknüpft werden.
Allgemein können wir festhalten, dass es besonders hier wichtig ist, die Terminologie klar
zu definieren. Jede Ausdifferenzierung hat sicherlich ihre konzeptuellen Grenzen.
Innerhalb der Entwicklung einer Debatte können diese Bedeutungen nicht immer
messerscharf auseinandergehalten werden, auch dann nicht, wenn es beabsichtigt und
gewünscht ist. Doch oft werden viele Verwirrungen lediglich durch einen Mangel an klaren
begrifflichen Unterscheidungen verursacht.
Richard Taylor hat die Sinnhaftigkeit über den Umweg ihrer Negation zu bestimmen
versucht.532 Ist es möglich, Sinnlosigkeit ("meaninglessness") besser und präziser
zu verstehen als Sinnhaftigkeit? Hierfür griff er auf die Allegorie von Camus' Sisyphos 533
zurück. Es ist bekannt, dass Camus die Situation seines gescheiterten Helden mit
dem Begriff 'Absurdität' charakterisiert. Auch die Übersetzung ins Englische scheint
bei diesem Wort üblicherweise kein Problem darzustellen, da "absurdity" an und für sich
das Gleiche bedeutet. Kann man Taylor einen Mangel an Fingerspitzengefühl vorwerfen,
wenn er diese Unterscheidung nicht vornimmt, obwohl er genau in diesem Begriffsfeld
arbeitet? Taylors "Sinnlosigkeit", die er Sisyphos zuspricht, gründet seines Erachtens nicht
darauf, dass Sisyphos' Arbeit und Mühe kein Ende finden, sondern dass er mit
529 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 145.
530 T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 811 in einer Fußnote.
531 Vgl. J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 244.
532 Vgl. R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 134.
533 A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985). Vgl. auch R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 134: "The picture of
Sisyphus is the picture of existence of the individual man, great or unknown, of nations, of the race of men, and of
the very life of the world."
90
diesen keine Ergebnisse erzielt, dass sie zu nichts führen. Sisyphos' Arbeit hätte
einen Sinn (Taylor: "would have a point"), wenn er z. B. mit Steinen, die er den Berg
hinaufzurollen hätte, etwas bauen könnte, wenn sich das Ganze zu irgendetwas
entwickeln würde. Ebenfalls würde seine Arbeit nicht mehr sinnlos erscheinen, wenn das
Steineraufrollen so etwas wie ein Instinkt für ihn wäre, oder wenn er davon besessen
wäre, z. B. nach dem Einnehmen einer Substanz, die genau das in ihm bewirkt, ohne dass
sich irgendetwas an den äußeren Umständen ändern würde. 534 An dieser Stelle von
Taylors Überlegungen können wir erkennen, wie subjektiv seine "Sinnlosigkeit" zu sein
scheint. Es scheint sich eher um eine reine Empfindung, lediglich um das persönlich
Erlebte zu handeln. Wie kann man in diesem Szenario die Absurdität als philosophisches
Konzept von einer 'einfachen' psychischen Disposition unterscheiden? Es stellt sich an
dieser Stelle als problematisch heraus, von einer Sinnlosigkeit, und sogar von
einer Absurdität in einem 'überwiegend' philosophischen Sinne zu reden, wenn kein Bezug
hergestellt wird, der das rein psychisch Empfundene übersteigt. Wir können uns auch an
dieser Stelle fragen, ob eine depressive Person ihre psychische 'Absurdität' überhaupt als
eine Absurdität in einem philosophischen Kontext geltend machen darf. So schreibt z. B.
T. Nagel, dass das Leben vielen Menschen aus ganz konventionellen Gründen absurd
erscheint, die mit ihrem eigenen Ehrgeiz, ihren Umständen und persönlichen Beziehungen
zu tun haben.535 Doch auch wenn wir weiter oben Absurdität mit einer subjektiven
Dimension belegt haben, so glaube ich trotzdem nicht, dass sie von der Ebene
der theoretischen 'Sinnlosigkeit' abgetrennt werden darf, ohne ihre Daseinsberechtigung
innerhalb einer philosophischen Thematik zu verlieren. Auch sollte die Absurdität nicht mit
unserer Ehrfurcht gegenüber der Unendlichkeit von Zeit und Raum verwechselt werden,
die sich darin ausdrückt, dass wir als kleine Sandkörner einem zeitlich und räumlich
übergroßen Universum gegenüberstehen. 536
"For suppose we lived forever; would not a life that is absurd if it lasts seventy years
be infinitely absurd if it lasted through eternity?" 537
Nagel ist sich der Problematik dieses Begriffes also sehr wohl bewusst. Wie bereits
erwähnt siedelt er die Bedeutung von Absurdität im philosophischen Sinne in
der Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Perspektive an, 538 aber weder ganz
auf der einen, noch ganz auf der anderen Seite dieses Spektrums.
Am Ende seiner Überlegung kommt R. Taylor zum Ergebnis, dass seine "Sinnlosigkeit"
(also meine 'Absurdität') eine nie endende Ergebnislosigkeit ("pointlessness") darstellt,
und Sinnhaftigkeit darum ihr Gegenteil ist. 539 Ihm zufolge ergibt sich dann etwas
sprunghaft die Schlussfolgerung, der Sinn des Lebens sei der Wunsch, die Dinge zu tun,
534 Für den gesamten Teil ab Fußnote 538, vgl. R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 136.
535 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 145.
536 Vgl. ebd., S. 144.
537 T. Nagel: The Absurd (2008), S. 144.
538 Vgl. ebd., S. 145.
539 Vgl. R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 137.
91
die man tut,540 und weiter setzt er diese Aussage mit dem Lebenssinn als Willen zu leben
gleich.541 Dies klingt alles ein wenig unzusammenhängend. Jedoch wollen wir nicht auf
sein Gedankenexperiment verzichten, weil es in der Literatur als bekannt, wichtig und
originell angesehen wird, und weil es verdeutlicht, wie schwierig eine stringente
konzeptuelle Differenzierung durchzuführen ist. Doch Taylors Ansatz, bei der Sinnlosigkeit
anzufangen, um einer Klärung der Sinnfrage näher zu kommen, finde ich ebenfalls
erwähnenswert.
J. Feinberg hat seinerseits Taylors umgestalteten Sisyphos als Gelegenheit genommen,
sich selbst einige Gedanken zur Absurdität zu machen. In einem Gedankenexperiment
verändert er die Person des Sisyphos' noch einmal grundlegend, indem er sich
seine gesamte Persönlichkeit durch genetische Modifizierung verändert vorstellt.
Dementsprechend wäre es nicht mehr nur lediglich ein Zwang, Steine hinaufzurollen,
den Sisyphos verspürt, sondern es entspräche seiner tiefen Natur. Diese Veränderung an
Sisyphos verringert den Grad der reinen Subjektivität in diesem Diskurs. Jetzt erschiene
es ihm eine wirklich erfüllende Tätigkeit zu sein, da sein ganzen Wesen darauf
ausgerichtet ist.542 Anhand dieser Vorstellung glaubt Feinberg behaupten zu können,
dass die Differenzierung, wie bereits oben erwähnt, zwischen einer Absurdität im Leben
("absurdity in life", die von mir ebenfalls 'Absurdität' genannt wird) und einer Absurdität
des Lebens ("absurdity of life", die von mir 'Sinnlosigkeit' genannt wird) wichtig ist. 543
Dies hilft ihm herauszufinden, dass der Begriff 'Absurdität' zwei Komponenten beinhaltet:
extreme Irrationalität und der Konflikt zweier gegenüberliegenden Dinge. 544 Hierbei wird
dann auch der Bezug zu Nagels Konzeption der konfligierenden Perspektiven nochmals
hervorgehoben.545 Feinberg kommt zum Ergebnis, dass Taylors Begriff der Absurdität
(Taylor: "meaninglessness") und Nagels Begriff der Absurdität, obwohl unterschiedliche
Konnotationen benutzt werden, doch vom selben Genus sind. 546 Und dieses Genus
der Absurdität basiere, Feinberg zufolge, überwiegend auf der Idee der Diskrepanz. Bei
Nagel besteht eine Diskrepanz zwischen zwei Perspektiven, bei Taylor eine zwischen
Mittel und Ziel einer Tätigkeit. 547 Anders gesagt: Bei Nagel gilt die Absurdität
als unrealistischer Anspruch,548 bei Taylor als Trivialität der Tätigkeit oder
als Disproportionalität zwischen Investition und Ergebnis. 549
540 Vgl. R. Taylor: The Meaning of Life (2008), S. 140.
541 Vgl. ebd., S. 142.
542 Für den gesamten Anfang des Abschnitts, vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 154.
543 Vgl. ebd., S. 155. Siehe auch S. 89 Querverweis.
544 Vgl. ebd., S. 156.
545 Vgl. ebd.: Es handelt sich hierbei um den Perspektivenkonflikt, der von T. Nagel thematisisert wurde.
546 Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 157: "Careful reconsideration, however, will reveal that Taylor's
futility or pointlessness of activity" and Nagel's "discrepancy of perspectives for viewing oneself, while irreducibly
distinct types of absurdity, are nonetheless equally proper examples of the absurd genus."
547 Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 158.
548 Vgl. ebd., S. 160.
549 Vgl. ebd., S. 159.
92
Diese Begriffsklärung von 'Absurdität' durch den Begriff der Diskrepanz finde ich
persönlich hilfreich. 'Absurdität' scheint sich hierdurch besser fassen zu lassen. Feinberg
führt eine weiter Differenzierung durch, nämlich die zwischen "pointlessness" und
"futility",550 wobei "pointless" bedeutet, dass das anvisierte Ziel keinen Wert darstellt, und
"futile", dass die eingesetzten Mittel ineffizient sind. 551 In dieser Arbeit benötigen wir
diese sekundären Begriffe nicht mit derartiger Präzision, was jedoch wichtig wäre, wenn
wir die Klärung der Absurdität als Konzept weiter vertiefen würden, so wie es
einige Autoren tun. Nagels Erwähnung der Diskrepanz stellt einen nahtlosen Übergang
zum nächsten Unterkapitel dar.
Dieses Kapitel möchte ich beenden mit zwei amüsanten Nebensächlichkeiten. Zum einen
behauptet Feinberg, dass die Absurdität als Begriff nicht besonders informativ sei, solange
keine weitere Ergründung der Nichtabsurdität erfolgen würde. 552 Damit drückt er
das genaue Gegenteil von Taylors Standpunkt aus, 553 der der Sinnhaftigkeit nichts
abverlangen konnte und deshalb die 'Absurdität' untersucht hat. Die Philosophie kann
manchmal ironische Züge an den Tag legen. Es scheint, als würde sich ein fruchtloser
Kreis hiermit schließen. Zum anderen gibt es noch die Aussage Nagels, wie wir mit
der Absurdität umgehen sollten:
"We should approach absurdity with irony, not the self-pitying defiance of Camus,
because if life doesn't matter, than it doesn't matter that it doesn't matter." 554
7.4 Die Perspektive
Zum Thema der möglichen Perspektiven, die eingenommen werden können, wenn die
Sinnfrage behandelt wird, stellen T. Nagels Überlegungen sicherlich die bekanntesten
in der einschlägigen Literatur dar. Wir haben ihn auch in dieser Arbeit bereits mehrere
Male erwähnt. Nagels Analyse der Herkunft seines Begriffs von Absurdität gründet auf
der Feststellung der Fähigkeit des menschlichen Geistes, unterschiedliche Perspektiven
einnehmen zu können, wenn das eigene Leben betrachtet wird. Und die zwei Extreme
(innerhalb und außerhalb der eigenen Person) des Spektrums dieser
Perspektiveneinnahme kollidieren miteinander, sie verhalten sich zumindest konfliktuell,
wenn nicht sogar widersprüchlich zueinander. 555 Die komplett subjektive Perspektive,
die von der Innenwelt der eigenen Person als Mittelpunkt aller Betrachtungen ausgeht,
ist üblicherweise diejenige, von der wir uns immerwährend im Alltag einnehmen lassen.
550 J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 158.
551 Vgl. ebd., S. 159
552 Vgl. ebd., S. 161.
553 Außerdem ist er nicht mit Taylors Behauptung der Aufrechterhaltung von persönlichen Errungenschaften als
Sinngebung einverstanden. Darüber hinaus findet er die allgemeine Folgerung, dass das Leben als solches absurd
sei, insgesamt nicht überzeugend. Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 168.
554 T. Nagel: The Absurd (2008), S. 152.
555 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 145.
93
Die Menschen haben jedoch auch die Fähigkeit, aus dieser subjektiven Perspektive
auszutreten, sich von dieser wegzu-'zoomen', bis hin zu einem vorgestellten räumlich und
zeitlich unendlich entfernten Punkt und Moment des Universums:
"We see ourselves from outside".556
Von dieser Stelle können wir zurück auf unsere Person und unser Leben blicken, und es
komplett objektiviert betrachten, in einem "detached amazement", in einer "abgelösten
Verblüffung" also.557 Es handelt sich um die sogenannte Perspektive sub specie
aeternitatis.558 Von diesem Standpunkt aus nehmen wir unsere kleinen alltäglichen
Probleme nicht mehr direkt wahr und die Dinge innerhalb des subjektiven Blickfeldes
verlieren ihre Bedeutung. Wir fangen an, unsere Gewohnheiten und unsere
Rechtfertigungen zu hinterfragen. Wir lassen uns dann von Zweifel und dem Gefühl
der Kontingenz übermannen. Die Möglichkeit, diese externe Sichtweise einzunehmen,
ohne dabei jedoch aufgeben zu können, die Personen zu sein, die wir nun mal sind, mit all
unseren offenbar belanglosen Angelegenheiten, dies stellt Nagel zufolge die wirkliche
Absurdität im philosophischen Sinne dar. 559 Der Übergang zu der äußersten externen
Perspektive, von der aus man nicht mehr noch weiter zu gehen können scheint, vollzieht
sich über dazwischenliegende Etappen wie z. B. Gesellschaft, Revolution, Geschichte …
bis hin zum Standpunkt Gottes, wenn man es denn so nennen möchte. Bei jeder dieser
Etappen wird von neuem versucht, die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens in einem immer
größeren Rahmen neu zu verankern.560 Doch dies gelingt uns nicht, denn es macht uns
lediglich zum Skeptiker, der trotz allem nicht vermag, die Orientierungspunkte unserer
Glaubenssätze ersetzt zu bekommen, obwohl der Zweifel diese mit einem bestimmten
Beigeschmack ("peculiar flavor") belegt.561 Der existenzielle Zweifel kann nicht durch
eine immer entferntere Standpunkteinnahme beseitigt werden. 562 So kann sich Nagel
zufolge keine letzte Rechtfertigung für unsere Existenz bei dieser äußeren Perspektive
einstellen.563 Und wenn die Suche nach einer letzten Rechtfertigung trotzdem zu einem
Ende gekommen scheint, dann nur deshalb, weil wir die größten Teile unseres Wissen und
unserer Wahrnehmungen ab einem gewissen Moment als Voraussetzungen fixieren.564
Die Vernunft, die dafür mitverantwortlich ist, diese externe Perspektive einnehmen
zu können,565 besitzt die Fähigkeit nicht, die entstandene Diskrepanz zu überbrücken.
Deshalb könne ein rein vernunftbasiertes Leben auch nicht gelingen und würde zum
Kollaps unseres Lebens führen, da die Orientierungspunkte unserer Glaubenssätze nicht
hierdurch kompensiert werden können. 566 Doch auch wenn wir die irrationalen
556 T. Nagel: The Absurd (2008), S. 146.
557 Vgl. ebd.
558 Vgl. ebd. Siehe auch S. 41 Querverweis.
559 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 146.
560 Vgl. ebd., S. 147.
561 Vgl. ebd., S. 149.
562 Vgl. ebd., S. 147.
563 Vgl. ebd.
564 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 149.
565 Vgl. ebd., S. 151. Sogar eine Maus mit Selbstbewusstsein hätte ein absurdes Leben, ihm zufolge.
566 Vgl. ebd., S. 150.
94
Glaubenssätze in uns nicht aufgeben, so entkommen wir der Absurdität trotzdem nicht.
Diese hat sich durch die beschriebene Diskrepanz bereits eingestellt. Nagel erwähnt
weiter, dass es immer Bemühungen der Menschen gab, dieser Absurdität
entgegenzutreten. Ein für ihn repräsentatives Beispiel hierfür ist der Buddhismus mit
seiner meditativen Tendenz zur eigenen Auflösung. 567 Doch könnte die Absurdität auch
dazu führen, nur noch den Selbstmord als einzigen Ausstieg zu sehen. 568
In seinem später (1986) erschienen Werk The View from Nowhere geht Nagel jedoch
darauf ein, dass innerhalb dieses Spektrums der Selbstbetrachtung eine – wie das
Historische Wörterbuch der Philosophie es nennt – "Übereinstimmung zwischen den zwei
Ebenen" gefunden werden könnte. 569 Diese bietet die Moralität. Mit ihr könne man
einen Standpunkt erreichen …
"far enough outside your own life to reduce the importance of the difference between
yourself and other people, yet not so far outside that all human values vanish in
a nihilistic blackout".570
Wird mit dieser Übereinstimmung dann doch die existenzielle Absurdität überwunden?
Wie dies wirklich gemeint ist, scheint mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklar.
Ich sehe einige Stellen in Nagels Argumentation, die mich an Camus' Mythos des
Sisyphos571 erinnern. Camus spricht auch von einem Konflikt zweier unterschiedlicher
Tendenzen unseres Geistes, zum einen alles auf allgemeine rationale Prinzipien
runterzudeklinieren und zum anderen die Welt als irrational und kontingent vorzufinden.
Sie entsprechen nicht genau den beiden gegenüberliegenden Perspektiven Nagels,
doch der Ansatz ist ähnlich. Auch sehen beide die Möglichkeit eines durch
eine philosophische Geisteshaltung hervorgebrachten Dranges, das eigene Leben als
unheilbar absurd zu sehen, mit einer direkten Auswirkung auf die psychische Verfassung
des Menschen, und es somit gegebenenfalls beenden zu wollen. J. Feinberg begegnet
diesem Problem mit der Geisteshaltung der Ironie. 572 Nagel selbst mit einem moralischen
Ansatz.573 Camus mit der Geisteshaltung des Trotzes.574
Persönlich glaube ich T. Nagels Perspektivendiskrepanz einfach nur auf die menschliche
Fähigkeit, sich seiner eigenen Existenz bewusst zu sein, reduzieren zu können, also sie
gleichzustellen mit einer Problematik, die lediglich durch die Emergenz unseres
Selbstbewusstseins erschaffen wurde. Denn ist es nicht das Selbstbewusstsein, gepaart
567 Vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 151.
568 Vgl. ebd.
569 Vgl. V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 821.
570 V. Gerhardt: Sinn des Lebens (1995), Sp. 821. Hier wird Thomas Nagel erwähnt (The View from Nowhere, New
York 1986, S. 220 ff.)
571 A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985). Siehe S. 51 Querverweis.
572 Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 179. Ironie ist diesbezüglich für ihn die geeignete Einstellung.
573 Siehe einen Abschnitt weiter oben.
574 A. Camus: Le mythe de Sisyphe (1985), S. 77+78+167+168.
95
mit unserer Vernunft, das uns Menschen erlaubt, geistig aus uns heraustreten und uns von
außen betrachten und beurteilen zu können? Ich möchte hiermit Nagels Stellungnahme
keinesfalls direkt widerlegen, doch glaube ich nicht, dass die zugrundeliegende Idee etwas
wirklich Neues darstellt. Er hat der Problematik des menschlichen Selbstbewusstseins
lediglich ein neues Beschreibungsmodell übergestülpt. Die Problematik selbst ist jedoch
fundamental für unseren Kontext. Denn in der Tat glaube ich diese Art
des Selbstbewusstseins besitzen zu müssen, so wie es die Menschen tun, und wer weiß,
vielleicht auch andere Lebewesen oder andere intelligente Erscheinungen im Universum,
um überhaupt die Idee eines Lebenssinns entwickeln zu können und diese Problematik
lösen zu wollen. Ich glaube ebenfalls, dass man die Unmittelbarkeit seiner eigen
empfundenen Erfahrung innerhalb unserer selbst, als subjektive Wesen, überwinden
muss, um die Sinnfrage aufstellen zu können. Die zugrundeliegende Idee von Nagels
Ansatz ist also sicherlich wichtig. So stellt z. B. auch J. Seachris fest, dass diese Idee
die generative Bedingung für die Diskussion der Sinnfrage in der gegenwärtigen
analytischen Philosophie darstellt.575
Gleichwohl glaube ich, dass die Diskrepanz zwischen Ist-Ebene und Soll-Ebene, die ja
bereits ausführlich behandelt wurde, die noch fundamentalere Idee dieser Überlegung
darstellt. Ich glaube nicht, der Vernunft selbst die größte Verantwortung übertragen
zu können, wenn Absurdität in Nagels Sinne entsteht. Ich glaube nicht, dass die
unendlichen Weiten und Zeiten des Universums an und für sich aus einer rein objektiven
Sichtweise heraus nicht von der Vernunft, wenn auch nicht gänzlich erfasst, dann doch
verdaut werden können. Die Vernunft stellt fest und folgert daraus. Die an sich negative
Komponente entsteht mit unserem 'Wollen'. Wenn die Vernunft in einer externen
Perspektive nüchtern feststellen muss, dass Zweckgebung kein natürlich vorkommendes
Phänomen sein kann, dann ist das an und für sich noch keine Schwierigkeit.
Diese entsteht erst dann, wenn wir unsere mentalen Absichten nicht in diesem nüchternen
Universum widergespiegelt sehen. Meines Erachtens ist es wesentlich klarer, wenn wir
die Problematik
auf
die
Ist-Soll-Debatte
stellen,
als
auf
den
Wechsel
der Perspektiveneinnahme, obwohl beide Diskurse bis zu einem gewissen Grad irgendwie
miteinander korrespondieren könnten. Es ist sicherlich auch eine Sache des Vokabulars,
dessen Präzision – wie wir bereits mehrmals gesehen haben – in unserem Kontext (und
eigentlich immer in der Philosophie) wichtig ist, um die Diskussion weiterentwickeln zu
können und sie nicht ins Leere verlaufen zu lassen.
Oder ist die These über die Perspektivendiskrepanz nicht lediglich die Idee, die Sinnfrage
auf unterschiedliche Rahmen beziehen zu können, auf das Universum, auf die Menschheit
oder auf sich selbst?576 Und wenn dies der Fall ist, also wenn Nagels Ansicht hierauf
reduziert werden kann, dann gilt es zu klären, ob und wie die Menschheit vom
575 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), im Vorwort.
576 Vgl. E. D. Klemke, in: The Meaning of Life. A Reader, New York 2008, S. 2.
96
individuellen Menschen diesbezüglich unterschieden werden soll. Es können nämlich
Theorien in Betracht gezogen werden, in denen der Menschheit Sinnhaftigkeit zugewiesen
wird, ohne dass das Individuum an sich von Bedeutung wäre oder umgekehrt. 577 Nach
K. Baier gibt es umgekehrt außerdem Überlegungen, denen zufolge die Sinnhaftigkeit
des einzelnen Menschenleben aus dem der gesamten Menschheit abgeleitet wird und
dies als notwendig erachtet wird.578
Zu Nagels Ansicht liefert ebenfalls Iddo Landau einen sehr klärenden Beitrag. Landau
möchte nämlich auch die Perspektivenunterscheidung für wesentlich irrelevanter erklären,
als sie in der Debatte der Sinnfrage erscheint. Für ihn gilt folgendes:
"More generally, the size of the framework in which a certain issue is evaluated is
largely independent of the standards of evaluation." 579
Den "standards", also den Bewertungsmaßstäben, haben wir ein ganzes Unterkapitel im
Folgenden gewidmet.580 Egal welche Perspektive wir einnehmen, am Ende müssen wir
innerhalb einer Perspektive eine Beurteilung vornehmen, die nicht direkt von dieser
Perspektive abzuhängen braucht. So können wir innerhalb der internen Perspektive
unterschiedliche Kontexte betrachten und sie beurteilen, und in der externen ebenso:
"But one can adopt the internal perspective and examine one’s life either in the
context of very few events in one’s immediate environment, or in the context of the
universe at large. Similarly, one can adopt the external, impersonal and detached
perspective while examining one’s own or another person’s life either in a narrow
context of that life’s immediate environment or in a larger and even all-inclusive
context. Thus, the distinction between sub specie humanitatis and sub specie
aeternitatis and the distinction between the internal and external perspectives cut
across each other. We have here not two perspectives as regards the meaning of life,
but four."581
Die externe Perspektive hindere uns nicht daran, sie notwendig für weder sinnvoll noch
sinnlos zu bewerten. Wir können sie als einen komplett objektivierten externen Standpunkt
sehr wohl als sinnvoll erachten, es hängt lediglich von einer anderen Bedingung als
derjenigen der Perspektive ab. Es hängt nämlich von unserem eigenen Maßstab ab,
denn nur nach diesem vergeben wir, Landau zufolge, das Urteil "sinnvoll". 582
Was für die Perspektive gilt, gilt nach Landau ebenfalls für die Rationalität einer Aussage.
Wie ich selbst bereits erwähnt habe, 583 könne Sinnlosigkeit aus der Rationalität nicht direkt
gefolgert werden. Landau bestätigt somit meine Vermutung:
577 Vgl. K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 46.
578 Vgl. ebd., S. 47.
579 I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 730.
580 Siehe Kapitel 7.5.
581 I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 732.
582 Vgl. ebd.
583 Siehe Kapitel 7.1.
97
"But be the relationship between the different perspectives as it may, need a
rational consideration of our lives lead us to evaluate them as meaningless? Again,
the reply is negative."584
Landaus Behauptungen finde ich hilfreich. Sie bringen mich zur Überzeugung, dass die
Hypothese, unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, nichts Wesentliches zur
Klärung der Sinnfrage beiträgt, auch wenn wir sie nicht gleich als komplett irrelevant
abstempeln müssen, und ebenso, dass diese Perspektiven aus den genannten Gründen
nichts zur Geisteshaltung585 der Absurdität beitragen müssen. An und für sich ist es relativ
trivial und außerdem unumstritten, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt,
diese Perspektiven einnehmen und von einer zur anderen wechseln zu können,
oder sogar wechseln zu müssen, da, so wie Kekes es formuliert hatte, folgendes gilt:
"It is not possible to ignore the question because it is persistently asked." 586
Doch gibt es hilfreichere Ideen, so wie z. B. Landaus Aussagen über die "standards".
Wo ich die Debatte der Perspektive für wichtiger empfinde, ist innerhalb der Frage, ob und
wie relevant der Aspekt der Immortalität oder des Andauerns der Existenz des Lebens
an sich ist.587
Damit, dass der Aspekt der Perspektive für wenig relevant eingestuft wird, scheint nicht
jeder einverstanden zu sein. So argumentiert R. Hepburn, dass Urteile über Werte und
Sinnlosigkeit (hier "futility" → vielleicht eher Vergeblichkeit) eben gerade durch
ihre Abhängigkeit von der Perspektive so problematisch sind. 588 Hepburn stellt fest,
dass die Sichtweise sub specie aeternitatis für einen Naturalisten furchterregend
sein kann, zumindest furchterregender als für einen Theisten, jedoch vielleicht auch dann
wiederum nicht, wenn der Zeitrahmen ein begrenzter ist. Der Vorteil einer sehr breiten
allgemeinen (in Nagels Worten die externe Perspektive im entferntesten Sinne) Sichtweise
ist jedoch der, dass diese leicht zu verteidigen scheint, dass sie, wie Hepburn sich
ausdrückt, eine autoritative Sichtweise darstellt. 589 Hepburn nähert sich Nagels Aussagen
erheblich, wenn er Folgendes aussagt:
"the naturalist ought to admit a substantial difference between his position and that
of the Christian theist. There must in fact remain, with the naturalist, an
uncomfortable tension or conflict between the 'close-up', anthropocentric view or
perspective that can sustain his sense of meaningfulness and worthwhileness, and
on the other hand his sense of intellectual obligation to the objective, scientific and
anti-anthropocentric view-which tends to vilify, if not logically, then psychologically.
The Christian is not exposed to this tension in the same way or to the same extent." 590
584 I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 733.
585 Ich nenne es Geisteshaltung und nicht Empfindung, um eine philosophische Konnotation einzubringen.
586 J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 241.
587 Dazu später mehr → Kapitel 7.8.
588 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 135.
589 Vgl. ebd.
590 Ebd., S. 136.
98
Es ist mir nicht klar geworden, ob Hepburns Gebrauch der 'Perspektive' der gleiche ist wie
der von Nagel, obwohl Hepburn im vorigen Zitat ebenfalls erwähnt, dass das
Problematische an der externen kosmischen Perspektive daraus zu bestehen scheint,
dass sie in einem bestimmten Verhältnis zur subjektiven Perspektive steht. Oder meint er
doch eher lediglich, dass sie an und für sich rein rational schwierig zu erfassen ist?
Es erscheint mir überaus einleuchtend, dass die Einnahme einer externen Perspektive als
notwendige Voraussetzung zur behandelten Problematik gelten muss, doch sie allein
scheint nicht auszureichen, um diese Problematik in ihrer ganzen Tragweite erfassen zu
können.
Hierfür
bedürfen
wir
meines
Erachtens
der
Thematisierung
des Bewertungsmaßstabes nach Landau.591
Schließlich können wir noch bemerken, dass auch wenn die Annahme dieser kosmischen
Perspektive für die Sinnfrage üblicherweise als vorausgesetzt gilt, es nicht auszuschließen
ist, dass diese Perspektive die Sinnfrage zu übersteigen gezwungen ist. So basiert sich
K. Baier auf Wittgenstein, wenn er in Erwägung zieht, dass bei der Betrachtung der Welt
sub specie aeternitatis die eigentliche Frage diejenige ist, warum es überhaupt
irgendetwas gibt und nicht nichts. 592 Also warum das Universum überhaupt existiert.
Auch wenn diese Frage an den Haaren herbeigezogen scheint, so ist sie doch
eine authentisch philosophische und wurde von niemand Geringerem als Wittgenstein und
vor allem Schopenhauer gestellt. Baier nimmt diese Frage ernst und macht sich darüber
Gedanken, was sie eigentlich bedeutet.593 Ich glaube jedoch, dass dies den eigentlichen
Rahmen unserer Arbeit sprengt, da es sich um eine andere Frage als die Sinnfrage
handelt, obwohl es sicherlich enge und relevante Verbindungen zwischen beiden gibt.
7.5 Der Bewertungsmaßstab594
Landau zeigt in seinem Artikel 595 auf sehr überzeugende Weise, dass die Beurteilung
des Lebenssinns vom Bewertungsmaßstab von Sinnhaftigkeit abhängt und weniger von
der Größenordnung des Kontextes (siehe 'Perspektive' bei T. Nagel) 596, innerhalb dessen
dieses Leben beurteilt wird. Der Bewertungsmaßstab wird von uns Menschen selbst
aufgestellt und kann, je nachdem wer ihn aufstellt, sehr stark variieren. So ist es logisch
durchaus möglich, einen anspruchslosen Maßstab von Sinnhaftigkeit für die kosmische
Perspektive einzufordern. Dies hat auch dann Gültigkeit, wenn wir das Leben unter Nagels
Standpunkt sub specie aeternitatis untersuchen, unpersönlich und objektiv. Auch von
591 Siehe Kapitel 7.5.
592 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 13.
593 Vgl. ebd., S. 14.
594 "Standard" auf English.
595 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011).
596 Siehe Kapitel 7.4.
99
diesem Standpunkt aus muss das Leben nicht unbedingt an Sinnhaftigkeit einbüßen,
wenn der Bewertungsmaßstab von uns nicht zu herausfordernd gewählt wird. 597 Außerdem
muss die Annahme der Kontingenz unter sub specie aeternitatis ebensowenig zwingend
zur Folge haben, das Leben als sinnlos zu betrachten. 598
Landau sieht ein, dass man unter dem Standpunkt sub specie aeternitatis zur Annahme
der Sinnlosigkeit verführt wird, obwohl dieser Standpunkt als unpersönlich oder rational
charakterisiert wird. Er kann sehr wohl nachvollziehen, warum diese Verbindung
hergestellt wird. Jedoch wird übergangen, dass diese Verbindung keine Notwendigkeit
darstellen muss, vor allem wenn man sich unter dem Banner der Rationalität wähnt.
Dass es sich hierbei nicht um eine notwendige Folgerung handelt, leuchtet vielleicht erst
dann ein, wenn man sich erst einmal diesen Sachverhalt richtig vergegenwärtigt hat,
nämlich dass der Vorgang der Sinngebung auf einem relativen Bewertungsmaßstab
basiert und eben nicht auf der Perspektive, und dass diese nicht voneinander abhängen
müssen.599
Ich glaube auch, dass die "standards" ausschlaggebender sind für die Klärung
der Sinnfrage als der Ansatz von Nagels Perspektivendiskrepanz. 600 Wie können wir
jedoch Landaus Aussage belegen oder bestätigen lassen? Ich glaube, es tun zu können,
indem wir noch einmal besser auf die Behauptungen Nagels schauen, nachdem wir
die These der Bewertungsmaßstäbe jetzt kennengelernt haben, mit dem Resultat,
dass Nagels Behauptungen dann deutlich an Überzeugung einbüßen müssen. Eines von
Nagels Argumenten besteht z. B. darin, dass ein sinnvolles Leben unter der Perspektive
sub specie aeternitatis das gesamte Universum beeinflussen muss, und dies auch in
einer kosmisch langen Zeitspanne von Milliarden von Jahren. Landau kann nicht
erkennen, wo genau die Notwendigkeit bei dieser Vermutung zu finden ist. Nagel bleibt
ihm diesbezüglich eine Erklärung schuldig. 601 Man könnte sich in der Tat widerspruchslos
vorstellen, dass eine kosmische Perspektive einen nichtkosmischen Maßstab
der Anforderungen, die der Mensch für die Auswirkungen seines Tuns und Denkens stellt,
unterstützt.602 Rein formell könnte man z. B. sogar in Erwägung ziehen, dass der Maßstab
für Sinnhaftigkeit überhaupt nichts mit einer Einwirkung auf das kosmische Geschehen zu
tun hat, sondern nur mit einem Bezug zu einem gewissen Grad von Glück und Weisheit
oder Ähnlichem.603
597 Für den ganzen Abschnitt, vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 727.
598 Vgl. ebd., S. 733+727.
599 Für den gesamten Abschnitt, vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 734.
600 Ich vertrete die gleiche Meinung wie Landau. Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011),
S. 733: "When reflecting on judgments on the meaning of life, then, we should consider predominantly the standards
of meaningfulness that we use. Discussing perspectives is frequently less important and relevant than discussing
standards."
601 Vgl. ebd., S. 729.
602 Vgl. ebd.
603 Vgl. ebd.
100
Landau muss jedoch etwas relativieren, da er zugeben muss, beide Bereiche nicht
komplett voneinander trennen zu können. 604 So ist es z. B. nicht möglich, einen allesumfassenden Bewertungsmaßstab, wie z. B. den gesamten Kosmos zu beeinflussen,
aufzustellen, wenn wir keine entsprechende Perspektive einnehmen können, in der dieser
Maßstab reinpasst. Doch umgekehrt gilt dies nicht: Eine kosmische Perspektive braucht
ihrerseits keinen Minimalmaßstab vorauszusetzen. 605 Und Letzteres reicht aus, um die
Sinnhaftigkeit von der Perspektive abkoppeln zu können.
Welcher Maßstab ein angemessener ist, steht für Landau nicht zur Debatte, 606 und auch
wir wollen diese Frage hier nicht behandeln, denn dies wäre bereits ein anderes Thema,
das meines Erachtens wieder ein zum größten Teil spezifisch ethisches ist. Das für
unsere Arbeit relevante Ergebnis ist, dass die meisten Bewertungsmaßstäbe mit
den meisten Perspektiven kompatibel sind.607
Im Grunde habe ich mich von Landaus Argumentation ganz überzeugen lassen, mit nur
einem Aspekt als Ausnahme. Landau behauptet, dass die Sinnhaftigkeit keinen
Bewertungsmaßstab braucht, der die Einwirkung des Menschen auf das gesamte
Universum und dies auf eine ebenso kosmische Zeitspanne fordert. Was die Zeitspanne
angeht, so glaube ich, dass sie sehr wohl eine gewisse Relevanz für die Sinnhaftigkeit
des Lebens darstellt, mehr noch als das: nicht nur eine kosmisch große Zeitdauer,
sondern eine unvorhersehbare und unvorauskalkulierbare Zeit, kurz eine unendlich
andauernde Zeit muss meines Erachtens vorausgesetzt werden, die wir für
unsere Beeinflussung auf die Realität brauchen, um einen echten Lebenssinn aufstellen
zu können. Dies gilt nämlich deshalb, weil ich die Idee der intrinsischen Wertigkeit nicht
gelten lassen kann und gleichzeitig für jede mögliche Erscheinung in unserem Universum
das Prinzip der Interdependenz Gültigkeit besitzt. Bei dieser Voraussetzung sind wir
nämlich nicht mehr in der Lage, den unendlichen Regress für unsere Rechtfertigungen aus
der noch aufzustellenden These zu entfernen, und aus diesem Grund müssen wir
eine Zukunft voraussetzen, bei der kein Ende vorstellbar ist, und in der die von uns
gestellte Sinnhaftigkeit ihre Ursache findet, ohne dabei ein teleologisches Weltbild zu
bemühen, da wir die Sinnhaftigkeit ja lediglich als geistige Projektion erachten. Gleichzeitig
muss diese nicht endende Zukunft eine mögliche Realität besitzen, damit diese Projektion
nicht lediglich zu einer imaginären Spinnerei verkümmern soll. Und das tut sie, da wir
die Möglichkeit eines zeitlich nicht enden wollenden Universums mit unseren heutigen
Erkenntnismitteln nicht ausschließen können, so wie es z. B. die Buddhisten annehmen,
für die sowohl ein Auftauchen aus dem Nichts als auch ein Verschwinden ins Nichts
für eine in sich widersprüchliche Idee gehalten wird. Hierbei sind wir uns dessen sehr wohl
604 Vgl. I. Landau: The Meaning of Life Sub Specie Aeternitatis (2011), S. 730.
605 Vgl. ebd.
606 Vgl. ebd., S. 731.
607 Vgl. ebd., S. 733.
101
bewusst, dass das Konzept selbst der Unendlichkeit nicht wirklich fassbar ist, doch stellt
es zumindest keinen Widerspruch dar, die Alternative hierzu schon. Weiteres
diesbezüglich in Kapitel 8.
Landaus Unterscheidung zwischen Bewertungsmaßstab und Perspektive bietet
eine weitere Bestätigung über das Verständnis des eigentlichen gedanklichen Konfliktes
im Pessimismus. Die Pessimisten stellen unerreichbar hohe und gottgleiche Standards für
ihr Leben auf, ohne dafür eine echte Rechtfertigung vorgeben zu können. So setzen sie
z. B. für die Sinnhaftigkeit des Lebens als wesentliche Aspekte die Abwesenheit von Leid,
die permanente oder quasi-permanente Anwesenheit von Glück und die Unsterblichkeit
voraus. Dies als Maßstab aufzustellen kann jedoch als komplett willkürlich erachtet
werden und, wie gesagt, ohne jedwede echte Rechtfertigung, die einer kritischeren
Sichtweise standhalten könnte. Die Maßstäbe der Pessimisten sind extrem, wenn nicht
sogar übertrieben anspruchsvoll. 608 Es kommt dem gleich, was man gegenüber den
Theisten als imaginäre Phantasie gelten lassen könnte.
So unterscheiden sich die Pessimisten von den Nichtpessimisten nicht dadurch, dass sie
die Sinnhaftigkeit durch mehr oder weniger überzeugend klingende Rechtfertigungen
zerschlagen können, sondern nur darin, dass die relativen Maßstäbe für beide Gruppen
andere sind. Dabei ist es außerdem problematisch, dass auch die Pessimisten in
derselben Welt leben wie alle übrigen Menschen, und dadurch, dass sie andere Standards
haben, mit dieser Welt schlechter zurechtkommen und diese so, wie sie ist,
nicht akzeptieren können. Dieser Umstand verwandelt ihr eigenes Leben in eines, das sich
als nicht lohnenswert erweist.609
Aus dem gleichen Grund kann den Pessimisten auch auf keine konsistente Weise
geantwortet werden, da wir ja erkennen müssen, dass die Standards relativ sind.
Sie werden von den Menschen aus den unterschiedlichsten theoretischen,
psychologischen oder kulturellen Ursachen gesetzt, und deshalb kann man sie nicht
wirklich argumentativ beseitigen. Das Bewertungsmaß für die Sinnfrage basiert auf
einer persönlichen Präferenz. So muss z. B. der Begriff 'besser' im Sinne von
Schopenhauer hedonistisch konstruiert werden, damit seine Aussagen einen Sinn haben.
Jedoch kann es überhaupt nicht ausgeschlossen und genauso gut gerechtfertigt werden,
sich für nichthedonistische Maßstäbe zu entscheiden, wenn vom Sinn des Lebens
die Rede ist. So behauptete z. B. Spinoza, dass sogar ein miserables Leben der
Inexistenz des Lebens vorzuziehen sei. Dieser Behauptung kann logisch nichts
entgegengesetzt werden.610
608 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 473.
609 Vgl. ebd., S. 474.
610 Vgl. ebd., S. 475.
102
K. Baier hatte bereits 1957 begriffen, dass es im Christentum um nicht zu rechtfertigende
hohe Bewertungsmaßstäbe geht, wenn diese Religion seine Sinnhaftigkeit bezüglich
des Lebens zu bestimmen sucht. 611 Wenn man sich das Konzept des Paradieses genau
und nüchtern ansieht, dann bleibt nichts anderes übrig, als dies festzustellen.
Nichts Geringeres als der Zustand einer bestimmten Perfektion, nämlich das Paradies, ist
ihr Bewertungsmaßstab.612 Auch wenn wir uns eingestehen müssen, dass nach Beachtung
von historischen, geographischen und kulturellen Begebenheiten das heutige Leben in
der westlichen Welt im Allgemeinen für viele kein sehr unangenehmes Leben ist, und dies
nicht zu allen Zeiten für viele Menschen der Fall war und immer noch nicht ist, so scheint
doch unumstritten, dass beim Bewertungsmaßstab der Theisten das irdische Leben als
Misere und die Lüste als sündhaft gelten müssen, 613 denn kein Leben kann dem Anspruch
ihrer Standards gerecht werden. Es muss also in ein imaginäres Paradies übertragen
werden. Auch für Baier ist diese Vorgehensweise illegitim, genauso wie es nach ihm
illegitim wäre, nichts groß zu nennen, wenn es nicht unendlich groß ist. 614 Besonders gilt
dies jedoch in Bezug auf die Sinnfrage:
"Even if it were true that there is available to us an after-life which is flawless and
perfect, it would still not be legitimate to judge earthly lives by this standard. We do
not fail every candidate who is not an Einstein. And if we do not believe in an after life,
we must of course use ordinary earthly standards." 615
Bei dieser Betrachtungsweise bleibt auch den Menschen nichts anderes übrig, wenn sie
das theistische Weltbild aufgeben möchten, in den Pessimismus abzugleiten. Denn selbst
wenn das Jenseits abgeschaffen wäre, die Standards wirken noch lange in den Köpfen
der Menschen weiter.616 Vielleicht hatte Nietzsche diesbezüglich ja gegen Schopenhauer
recht, als er die Meinung vertrat, dass Trübsal blasen auch ein Überbleibsel der alten
moralischen Wertvorstellungen ist.
Schlussendlich bleibt noch zu sagen, dass, anders als Landau, Baier zu bestimmen
versucht hat, wie absolute Standards entstehen, und zum Ergebnis gekommen ist,
dass es sich um gedankliche Durchschnitte handelt, die von einer spezifischen Art sind, 617
deren Spezifität wir hier jedoch nicht weiter ergründen wollen.
611 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 27.
612 Vgl. ebd.
613 Vgl. ebd.
614 Vgl. ebd.
615 Ebd.
616 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 48 oben.
617 Näheres hierzu in: K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 26.
103
7.6 Wert, intrinsischer Wert und das Lohnenswerte
Wenn wir den Bewertungsmaßstab nicht an die Perspektive knüpfen, dann wohl an das,
was für uns einen Wert darstellt. Was soll die 'BeWERTung' wohl anderes sein als etwas
oder jemandem einen Wert zuordnen? Beide (Bewertungsmaßstab und Perspektive) sind
auch relative Begriffe. Das, was für den einen wertvoll ist, muss es nicht für den anderen
sein. Der Wert, besonders im moralischen Sinne, so wie er hier verstanden werden muss,
hängt von unterschiedlichen Parametern ab, insbesondere von kulturellen Gegebenheiten
und der Konditionierung innerhalb eines sozialen Umfeldes.
So scheinen wir auch R. Audi zufolge intuitiv zu wissen, welche Dinge relevant sind für
unseren Sinn des Lebens, Dinge, die immer wieder zur Sprache kommen, und damit auch
einen Wert darstellen, so wie z. B. Kreativität, herausragende Leistungen, substantielle
Beiträge zur Verminderung des Leids anderer Menschen oder die Förderung ihres Glücks
oder ihres Wohlergehens, wertvolle menschliche Beziehungen usw. 618 K. Baier nennt noch
andere Beispiele wie Entdeckungen, Erfindungen, Bewunderung und Respekt. 619 Sie alle
können konzeptuell miteinander verknüpft werden, da sie eben etwas scheinbar
Wertvolles für uns Menschen darstellen. Erwähnenswert ist auch die Freiheit als Wert,
für den sich z. B. Bertrand Russell ausspricht, und die in der Verehrung seiner eigenen
Ideale besteht.620
Diese Dinge sind also wichtig für uns Menschen, auch in Bezug auf das, was wir
mit Sinnhaftigkeit belegen. Werte motivieren uns zu leben, auch dann, wenn das Leben
eine einzige Misere zu sein scheint, so wie z. B. der Verdienst, den andere Menschen uns
zusprechen, wenn man Hilfe leistet, indem man selbst große Entsagungen erduldet.
Dies wird sehr oft als ein wertvolles Leben verstanden. 621 Eine weitere Stellungnahme (die
von Susan Wolf) besteht daraus, Sinnhaftigkeit mit dem aktiven Engagement für als
wertvoll erachtete Projekte gleichzusetzen.622 Andere Autoren unterstreichen
den möglichen eudämonistischen Bezug, wenn die Rechtfertigungen der Sinnhaftigkeit
auf fundamentale Werteurteile gestellt werden. 623 Vollständige Übereinkunft erhalten
diese Zuordnungen in der Literatur jedoch nicht: Wenn wir z. B. alle der Meinung sind,
dass Stalin kein wertvolles Leben gelebt hat, kann man ihm dann gleichzeitig auch
die Sinnhaftigkeit seines Lebens absprechen, wenn man in Betracht zieht, welche
Wirkung, ob gut oder schlecht, er auf die Weltgeschichte hatte? 624 Auch wenn am Ende
nicht wirklich immer klar ist wie die Zuordnung von Wert zu Sinnhaftigkeit durchgeführt
618 Vgl. R. Audi: Intrinsic Value and Meaningful Life (2005), S. 333-334.
619 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 27.
620 Vgl. B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S. 58-60.
621 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 49 Abschn. 1.
622 Vgl. S. Wolf: Meaning in Life (2008), S. 232.
623 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 472.
624 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 49 Abschn. 2.
104
wird, dass sie besteht, ist nicht wirklich umstritten. R. Hepburn bestätigt, so wie
die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens nicht entdeckt sondern gesetzt wird,
so werden auch Dinge wie Wert und Ehre von uns aufgestellt, und nicht in der Natur
vorgefunden.625 Insofern ähneln sich die Ideen "Sinn haben" und "Wert haben" sehr.
Und wenn man sie als proportional zueinander ansieht, müsste man dementsprechend
Stalin die Sinnhaftigkeit seines Lebens absprechen. Aus demselben Grund können wir
z. B. auch unsere Weltanschauung (z. B. religiösen Glauben) grundlegend verändern,
ohne deshalb weder den "Sinn" noch den "Wert" unseres Lebens zu verlieren, 626 da Werte
und die dazugehörige Sinngebung 'hartnäckiger' zu sein scheinen als unsere
(theoretischen) Weltanschauungen, obwohl beide Dinge sicherlich nicht ganz unabhängig
voneinander sind. Die Beschreibung und Erklärung aufwendiger als reell existierend
eingestufter kosmischer Muster oder Tendenzen kann nicht darüber hinwegtäuschen,
der Notwendigkeit autonomer Beurteilung zu entkommen, die bestimmen, was als wertvoll
und lohnenswert zu betrachten gilt. 627
Außerdem können wir eine direkte konzeptuelle Verbindung zur Zweckmäßigkeit
herstellen. Das Gesagte suggeriert, dass das Leben zweckvoll sein muss, und diese
Zwecke sind nichts anderes als für uns als wertvoll erachtete Ziele. 628 Dies ist nicht
verwunderlich, da wir ja bereits mehrmals die enge semantische und konzeptuelle
Verbindung zwischen 'Zweck' und 'Sinn' (im Sinne von 'Sinn des Lebens') festgestellt
haben. Und wenn die Sinnhaftigkeit des Lebens die Verfolgung von wertvollen und
lohnenswerten Zielen ist, dann beruht die Tätigkeit, die sowohl als wertvoll als auch
als sinnvoll erachtet wird, auf einem Werteurteil. 629 Nicht umsonst findet man den Ausdruck
'der Sinn des Lebens' in den Katalogen der angelsächsischen Bibliotheken unter
der Kategorie "value theory" wieder, was kein Beweis meiner Überlegungen an sich
darstellt, aber doch eine Art der konsensuellen Bestätigung.
Wie kommen wir eigentlich zu unseren Werteurteilen? Wertemaßstäbe können sicherlich
anhand unterschiedlicher Kriterien zu bestimmen versucht werden, doch gibt es Baier
zufolge keine absoluten Maßstäbe für Werte. 630 Sie können lediglich komparativ bestimmt
werden, also im Vergleich der Werte untereinander. Wenn doch von absoluten Werten
die Rede ist, so sind sie Baier zufolge wieder einmal in der Regel das Ergebnis
des Durchschnitts einer bestimmten Art von Wert. 631 Es gibt natürlich auch Befürworter
der Objektivität von Werten, die diese Relativität ausschließen möchten,
eine Stellungnahme, die meines Erachtens nicht sehr überzeugend ist. 632 Sie ist deshalb
625 Vgl. R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 152.
626 Vgl. ebd.
627 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 126.
628 Vgl. ebd.
629 Vgl. ebd.
630 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 26.
631 Vgl. ebd. Siehe auch Kapitel 7.5 Querverweis.
632 Vgl. J. Runzo: Life, meaning and value of [addendum] (2006), S. 358. Er bezieht sich auf David Wiggins (2002).
Vgl. auch S. Wolf: Meaning in Life (2008), S. 233. Sie spricht auch von einem objektivem Wert.
105
nicht überzeugend, weil die Objektivität von Werten irgendwie voraussetzt, dass diese
Werte in der Natur vorfindbar sind, in Unabhängigkeit dessen, was unser Geist produziert,
so wie man Steine in der Natur vorfinden kann.
Ein Beleg dafür, wie eng das Begriffsfeld des Wertes mit unserer Thematik zu tun hat,
macht auch der Umstand deutlich, wie leicht unsere sehr irdischen Werte in
den supranaturalistischen und insbesondere theistischen Theorien als deren wesentliche
Bestandteile wiederzufinden sind, auch wenn diese elementareren Werte an sich nichts
von ihrer Wichtigkeit verlieren, wenn sie, wie wir bereits erwähnt haben, von diesen
Theorien herausgeschält werden. Es ist wiederum Baier, der uns darauf aufmerksam
macht, dass die versteckte Sinnhaftigkeit des Lebens (→ "hidden meaning") 633, die von
den theistischen Theorien zur Sichtbarkeit gebracht werden soll, das irdische Leben trotz
der schweren Schicksalsschläge und der sehr häufigen leidvollen Erfahrungen wieder
lebenswert erscheinen lässt, weil wir eben gerade die Erfüllung unserer diesseitigen
irdischen Werte auf einen späteren Zeitpunkt im Jenseits verschieben. 634 An den Werten
an sich ändert sich nicht besonders viel. Es sind herbeigewünschte Zustände, Regeln und
Verhaltensprinzipien, deren Erfüllung vertagt wird. Es ist der Inhalt des seligen Lebens
im Jenseits, bestehend aus den irdischen Werten, der unser irdisches Leben wertvoll
erscheinen lässt, an dem wir unser irdisches Leben beurteilen, ohne irgendetwas auf
eine versteckte Dimension zurückführen zu müssen. 635 So behauptet Baier weiter, dass die
Religionen das Leben nach dem Tod modelliert haben …
"after what their adherents regard as ideal earthly lives" 636,
und weiter:
"And it is precisely in this way, by virtue of the ample presence of good things and
the total absence of bad ones, that this blessed life is superior to our earthly lives." 637
Dies impliziert jedoch auch, und es begründet, warum wir es nicht zu verhindern schaffen,
einige Leben in der Tat als nicht lohnenswert zu betrachten. 638 Gleichzeitig können wir
unter dieser Sichtweise keine überzeugende Begründung mehr finden, warum wir einen
Menschen verurteilen müssen, der sein Leben beenden möchte oder bereits beendet hat.
Etwas das nicht nur von unserem intuitiven Gefühl bestätigt wird, sondern Baier zufolge
sogar von unserer Vernunft:
"when we evaluate a human life, as such lives go, we must admit both that some
lives are better than others, and that some are good, while others are so bad that
they are not only not worth living but quite unbearable. In these latter cases, it may
be not only in accordance with reason to hope for one's life to end or to end it, but
contrary to reason to allow it to continue. In the worst of these cases, death really is
633 Siehe S. 82.
634 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 48 Abschn. 4.
635 Vgl. ebd.
636 Ebd., S. 48 Abschn. 5.
637 Ebd.
638 Vgl. ebd., S. 48 Abschn. 7.
106
a release from-the life in question was the better (or the less bad) for having (been)
ended rather than continued."639
Ebenfalls:
"The plight is indeed very real and calls for generous help from all the fortunate
ones among us. We must not fob them off with stories of pie in the sky. But neither
can we honestly fob them off with stories of human ability and willingness to remedy
all their hardships. We all must come to accept the fact that no social order, however
just and compassionate, can ward off evils and that the best we can do is to prevent
some, alleviate others, and provide for all as much equal access to the good things as
possible."640
Und schließlich noch:
"However, those who think, on due reflection, that death will be a blessed release
from the wheel should bear in mind that they need not fear that it would be cowardly
or for other reasons wrong to bow out." 641
Dies sollte jedoch auf keinen Fall als eine von außen herangebrachte Anstiftung zum
Selbstmord missverstanden werden. Beides sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.
Die Aussagen von Baier sind wieder einmal sehr überzeugend. Außerdem sollten wir nicht
vergessen, dass jemand sein eigenes Leben als nicht lohnenswert erachten und
gleichzeitig das selbe Leben von außen betrachtet ganz anders wahrnehmen kann.
Ein Mensch, der z. B. an einer Depression leidet, kann nicht mehr erkennen, was so
lohnenswert an seinem Leben sein soll, auch wenn er gegenüber anderen Menschen sehr
wichtige Dinge, und von anderen als sehr positiv erachtete Dinge erledigt.
Die psychologische Dimension dieser Thematik kann sehr wohl von hoher Relevanz sein,
auch wenn sie hier nicht weiter behandelt wird. Die Encyclopedia of Philosophy geht kurz
darauf ein und verdeutlicht auch den Bezug zur potentiellen als wichtig empfundenen
Erfüllung der eigenen Zielsetzung. 642
In diesem spezifischeren Kontext der Wertigkeit der Dinge trifft man in der gesamten
angelsächsisch-analytischen Fachliteratur immer wieder auf drei Begriffe, mit denen
639 K. Baier: Problems of Life & Death (1997), S. 69. Siehe hierzu auch: "Is it ever morally wrong not to find one's life
worth living?" (K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 50 Abschn. 5). Baier wüsste nicht, wann dies der Fall sein
könnte. Doch dies solle nicht bedeuten, dass es als moralisch erlaubt gesehen werden müsse, da wir Verpflichtungen
wie Kinder usw. haben.
640 K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 52 Abschn. 7.
641 Ebd.
642 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 473: "We seem to be making two assertions : first, that the
person has some goals (other than merely to be dead or to have his pains eased) which do not seem to him to be
trivial and, second, that there is some genuine possibility that he will attain these goals. These observations are
confirmed by various systematic studies of people who contemplated suicide, of others who unsuccessfully
attempted suicide, and of situations in which people did commit suicide. When the subjects of these studies declared
that their lives were no longer worth living they generally meant either that there was nothing left in their lives about
which they seriously cared or that there was no real likelihood of attaining any of the goals that mattered to them. It
should be noted that in this sense an individual may well be mistaken in his assertion that his life is or is not
worthwhile any longer : he may, for example, mistake a temporary indisposition for a more permanent loss of
interest, or, more likely, he may falsely estimate his chances of achieving the ends he wishes to attain."
107
die Autoren sich befassen: Wert ("value"), intrinsischer Wert ("intrinsic value") und
das Lohnenswerte ("worthwhileness" → "worthwhile"). Gibt es überhaupt einen
semantischen oder konzeptuellen Unterschied zwischen dem 'Wert' und
dem 'Lohnenswerten'? Es ist mir nicht entgangen, dass in der bearbeiteten Literatur beide
Begriffe sehr oft synonym benutzt wurden.
Und doch können wir eine Differenzierung wagen, die der Klärung des Begriffsfeldes
dienlich scheint. Man könnte das 'Lohnenswerte' mit der Konnotation des eher subjektiv
Erlebten in einem eher hedonistischen Sinne belegen, und wenn auch nicht auf absolute
Weise, dann doch mit dieser deutlich hervorgehobeneren Konnotation, als es bei 'Wert'
und 'wertvoll' der Fall ist. Bei dieser Ausdifferenzierung könnten einige Behauptungen
der Autoren meinem konzeptuellen Modell untergeordnet werden. 643 So spricht Baier z. B.
davon, dass die Sinnhaftigkeit des Lebens für viele, wenn nicht für alle Menschen,
nicht unbedingt das Gleiche ist wie "es lohne sich dafür zu leben" ("not worth living"). 644
Nach der unternommenen Ausdifferenzierung steht diese Aussage dem von mir vorhin
Gesagten nicht unbedingt widersprüchlich gegenüber, denn hiermit könnte man das rein
subjektiv Erlebte dem 'Lohnenswerten' zuordnen, und das 'Wertvolle' – sagen wir mal –
dem weniger subjektiven, wenn auch nicht gänzlich objektiv im engeren Sinne. 'Weniger
subjektiv' könnten wir auf das, was die Menschen im Allgemeinen, im Sinne von
Menschheit, denken und empfinden, basieren, ohne dabei jedoch in der Lage zu sein,
es vom Menschen unabhängig in der Natur vorfinden zu können. Letzteres könnte dann
als 'objektiv' gelten. Baier erklärt weiter, warum er diese Idee vorschlägt:
"What is it to find a life worth living? I assume, without argument, that we can say a
person really is finding his life worth living if, and only if, supposing it were up to him
to live his life over again, exactly as it was, he would be prepared, or even glad or
eager, to do so."645
Es geht also darum, das Leben nur dann als lohnenswert zu bestimmen, wenn man es
noch einmal leben würde. 646 An dieser Stelle können wir uns die Frage erlauben, ob die
von mir vorgenommene Unterscheidung Gültigkeit behält. Ich stelle mir vor,
ein lohnenswertes Leben geführt zu haben, und in der Tat wäre ich bereit, es noch einmal
zu leben. Könnte ich mir dann auch vorstellen, eine 'wertvolles' Leben gelebt zu haben,
und es nicht noch einmal erleben zu müssen? Ich glaube schon, z. B. dann, wenn mein
Leben ein leidvolles war, obwohl ich nach eigener Meinung und nach Meinung anderer
Menschen viel 'Gutes' für diese Welt getan habe. Trotz dieses Altruismus, der sicherlich
als wertvoll gilt, und unabhängig von der Frage, für wen oder was meine Taten
643 Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob diese Vorgehensweise überhaupt legitim ist. Zu meiner Rechtfertigung könnte
ich im schlimmsten Fall, das Vokabular für meine Zwecke so umändern, dass es deutliche Vorzüge für die
Entwicklung der Debatte geben würde.
644 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 49 Abschn. 3.
645 Ebd., S. 49 Abschn. 6.
646 Baier bezieht sich auch auf Platons Mythos von Er (K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 49 Abschn. 9). Siehe
auch Platon: Der Staat, (Platon. Sämtliche Dialoge, Bd. 5), übers. u. erl. v. Otto Apelt, Leipzig: Felix Meiner 1998
(ND) (61923), S. 418-428.
108
im Genauen wichtig war, und ob wir das überhaupt als beschränkte Lebewesen
bestimmen können, kann das erlebte Leid so hoch gewesen sein, dass ich es nicht noch
einmal durchleben will, mehr noch, nicht noch einmal durchleben kann. Es könnte mir also
sogar unmöglich erscheinen, dies noch einmal zu schaffen. An meiner
Begriffsdifferenzierung angewendet macht mein Beispiel durchaus Sinn. Auch können wir
jetzt eine weitere Konnotation vornehmen (wobei wir an der hedonistischen Dimension für
das 'Lohnenswerte' festhalten), nämlich eine moralische Dimension an das 'Wertvolle'
knüpfen. Baier erwähnt diese Dimension, vergisst jedoch, sie klar einem Begriff
zuzuordnen und schafft dadurch Verwirrung.647 In dieser Optik werden auch Baiers
Aussagen über Hitler (dient als Beispiel) viel deutlicher: Dieser könnte sein eigenes Leben
sehr wohl als ein noch einmal zu erlebendes erachten, doch scheint es gar unmöglich,
es von außerhalb als 'wertvoll' zu erachten, weil die moralischen Errungenschaften nicht
nur fehlen, sondern lediglich in ihrer Negation erfüllt wurden, als das Gegenteil von dem,
was wir als Menschen im Allgemeinen wollen. 648 Mit meiner Begriffsdifferenzierung würde
sich auch folgender Satz von Baier lösen und ihn der Konfusion entheben:
"We find a life worth living on the basis of the extent to which it holds the things we
want to get out of it. But when we judge someone's life – and therefore our own – to
be really worth living, we judge it by more objective criteria." 649
Oder wenn er sagt, dass wir das Leben mit einem schweren Handicap als "lohnenswert"
erachten ("worth living"), und es doch nicht mehr von neuem leben möchten. 650 Wenn wir
hier "lohnenswert" mit 'wertvoll' in meinem Sinne ersetzen, werden seine Behauptungen
erheblich nachvollziehbarer und weniger verwirrend. Ferner macht folgende Aussage von
ihm mit meiner Differenzierung mehr Sinn:
"For we can infer that the good things outweigh the bad from the fact that we find our
life worth living"651.
Bei dieser Aussage geht es nämlich mehr um die eigene Empfindung in einem
hedonistischen Sinne. Ein letzter Beleg für das Klärungspotential der vorgenommenen
Unterscheidung sieht man auch bei folgendem Satz, in dem Baier auf
die Bewertungskriterien der Pessimisten und insbesondere auf die von Schopenhauer
eingeht:
"Our lives could be worth living but only if pleasure, happiness, the things of value
outweighed and compensated us for the pain and suffering we have to endure." 652
647 Siehe hierzu unter "the moral requirements" in: K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 50 Abschn. 3. Er sagt jedoch
zwei Abschnitte früher, dass wir uns oft irren, weil wir nicht zwischen "being prepared to live it over again" und "not
wishing it to end or not wanting to end it" unterscheiden. Ich glaube, dass diese Unterscheidung weniger effizient
zum Zwecke der Klärung ist als die in dieser Arbeit vorgestellte.
648 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 50 Abschn. 2. Siehe auch: "Hitler was not mistaken in finding his life
worth living. He was, rather, wrong to be prepared, glad, or eager to live such an evil life again" (K. Baier: Threats
of Futility (1988), S. 50 Abschn. 3).
649 K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 50 Abschn. 3.
650 Vgl. ebd., S. 49 Abschn. 8.
651 Ebd., S. 49 Abschn. 6.
652 Ebd., S. 51 Abschn. 7.
109
Auch hier sehen wir, wie eine Verminderung der konzeptuellen Verwirrung vorgenommen
werden könnte, wenn man "value" ausschließlich mit einer moralischen Dimension
belegen und es in diesem Satz mit "worthwhile" ersetzen würde. Man könnte ferner in
Erwägung ziehen, dass die hedonistische Dimension zu berechnen versucht wird, so wie
es die Utilitaristen mit Bentham 653 vorgeschlagen hatten, auch wenn Baier darin
eine erhebliche Schwierigkeit sieht.654 Schlussendlich muss ich Baier ebenfalls darin
widersprechen, dass er es als widersprüchlich erachtet, wenn sich Schopenhauer um
sein Leben kümmerte, als ob es sich um das wertvollste aller Dinge handelte. 655 Ich sehe
keinen Widerspruch in der Auffassung, dass das Leben Leid ist, und doch sein Leben
einfach nur weniger leidvoll gestalten möchte.
Ein anderer Punkt von Baier sollte ebenfalls noch geklärt werden. Er schreibt:
"A good and worthwhile life is one that is well above average. A bad one is one well
below."656
Für mich stellt diese Aussage eine etwas fragwürdige Definition für das Lohnenswerte dar.
Es schließt nämlich aus, dass zumindest theoretisch ein Großteil der Menschheit
ein potentiell lohnenswertes Leben führt, was bereits fragwürdig ist, aber dies bleibt wie
gesagt ein relativer Umstand. Unterhalb der 50% Marke würde man durch das Kriterium
fallen und gezwungen sein, sein Leben als nicht lohnenswert anzusehen. Das macht nicht
wirklich Sinn, und ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zu den anderen
Aspekten, die Baier auf sehr überzeugende Weise thematisiert hat.
Doch nicht nur bei Baier, auch bei anderen Autoren kann diese Differenzierung hilfreich
sein. So behauptet K. Nielsen, das menschliche Leid sei "wertvoll". 657 Ich für meinen Teil
glaube, dass dieser Satz, obwohl er hier natürlich gänzlich aus seinem Kontext gerissen
wurde, sehr abstrakt und konfus formuliert ist, auch wenn man den gesamten Artikel
gelesen hat und verstanden zu haben glaubt. Doch glaube ich verstehen zu können,
was Nielsen damit meint, wenn ich besagte Begriffsdifferenzierung hier vornehme. Denn in
der Tat kann das menschliche Leid von erheblichem Vorteil für andere Menschen sein,
also wenn "wertvoll" in seiner moralischen Dimension verstanden wird. So können wir
behaupten, dass Mutter Theresa bestimmt kein leichtes Leben gehabt haben muss,
sie hat geschuftet bis an ihr Lebensende, und es wird von niemandem in Frage gestellt,
ihrem Leben das Etikett "wertvoll" zu verleihen. Damit haben wir uns natürlich überhaupt
nicht damit beschäftigt, inwiefern das moralisch Wertvolle eine tiefe Befriedigung in uns
zur Folge haben kann, und damit auch eine hedonistische Komponente in sich trägt.
Und auch wenn beide Dimensionen im wirklichen Leben ineinander verschränkt sind,
653 Vgl. Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Oxford: Clarendon Press 1879
(11789), Kapitel 4, S. 29-32.
654 Vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 52 Abschn. 2.
655 Vgl. ebd.
656 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 27.
657 Vgl. K. Nielsen: Linguistic Philosophy and "The Meaning of Life" (2008), S. 211: "human suffering has value".
110
so wie es alles in der Komplexität des echten Lebens tut, so macht es doch Sinn,
sie konzeptuell auseinanderzuhalten. Außerdem führt uns eine Diskussion über
die Verschränkung dieser beiden Ebenen in die Psychologie, was zum einen, wenn auch
äußerst interessant und nicht irrelevant, kein Gegenstand dieser Arbeit ist und
zum anderen meine Kompetenz bei weitem überschreiten würde.
Es ist wieder einmal R. Hepburn, der für eine äußerst präzise Betrachtung
der Argumentationen sorgt, auch in Bezug auf Baiers Äußerungen. Hepburn nahm meine
Begriffsdifferenzierung vorweg.
"Baier's account of 'meaning' includes reference to the pursuit of worthwhile
projects, both in the sense of 'projects that afford satisfaction to the pursuer', and in
the sense of 'morally worthwhile projects'---concerning, for instance, the wellbeing of
others. Questions of the meaning of life, I suggest, are typically questions of how
these two sorts of pursuit can be fused."658
Somit hat Hepburn die hedonistische von der moralischen Dimension getrennt und
gleichzeitig beteuert, dass beide Dimensionen relevant sind für den Inhalt
der Sinnhaftigkeit des Lebens. Eine meines Erachtens äußerst klärende Stellungnahme,
nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass ich sie als Bestätigung für meine Überlegungen
nutzen kann.
Wir haben weiter oben gesehen, dass sich Schopenhauer gut um sein eigenes Leben
kümmern wollte, obwohl er dem Leben an sich nichts Positives abgewinnen konnte. 659
Dabei stellt sich die Frage, ob und wie etwas als wertvoll betrachtet werden kann,
wenn man es von den anderen Dingen abgetrennt sieht. Wie konnte z. B. Schopenhauer
Kunst und Musik als etwas an sich Wertvolles betrachten, wenn er doch (nicht nur auf
theoretischer Ebene) genau wusste, dass auch die ephemeren Lüste nichts gegen
die Sinnlosigkeit des Lebens ausrichten können. So sahen beispielsweise in der Antike
Aristipp oder Epikur und später die Utilitaristen, wenn auch in unterschiedlicher Weise,
eben gerade in der Lust das, was an und für sich aufgesucht werden soll, das, was für sich
selbst einen Wert darstellt, ohne diesen Wert selbst durch Anderweitiges rechtfertigen
zu müssen, wobei jedoch alle anderen Dinge ihre letzte Rechtfertigung in diesem Wert
finden. Es handelt sich dabei um einen Wert an sich, zum Zwecke seiner selbst.
Es handelt sich dabei um einen intrinsischen Wert. Thaddeus Metz definiert den
intrinsischen und extrinsischen Wert auf einfache und doch effiziente Weise:
"Something is an intrinsic value insofar as it is good for its own sake. In contreast,
something is an extrinsic value in that is is good as a means to something else that
is valuable."660
658 R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 128.
659 Siehe S. 110.
660 T. Metz: Recent Works on the Meaning of Life (2002), S. 807.
111
So hat offensichtlich auch der Prediger Salomo stets Jammer über die Sinnlosigkeit
seines Lebens und des Lebens insgesamt geäußert, doch gleichzeitig sehnte er sich nach
den einfachen Freuden des Lebens, die, wenn es so ausgedrückt wird, als einen Wert
an sich gesehen werden kann, als einen intrinsischen Wert, was damit als Widerspruch
zur Sinnlosigkeit des Lebens gesehen werden könnte. Sinnlosigkeit findet üblicherweise
seinen Ursprung darin, dass nichts eine letzte überzeugende Rechtfertigung zu finden
scheint.661
Einige Theoretiker plädieren für eine Reihe von Werten, für die es sich zu leben lohnt,
und die damit offenbar eine ausreichende Grundlage zur Sinngebung des Lebens
darstellen. Doch von welcher Art sind eigentlich genau die Werte, die in unserem Kontext
mit der Sinnhaftigkeit des Lebens in Zusammenhang gebracht werden. Hierfür möchte ich
heuristisch ein Unterscheidungsmodell aufstellen:
1) Ein oder mehrere Werte werden als intrinsisch vorausgesetzt. Sie bedürfen keiner
weiteren Rechtfertigung und können als Grundlage zu einer Zweck- und Sinngebung
dienen, so dass der Sinn eines Lebens darin besteht, diese Werte zu finden, zu erhalten,
zu erstellen oder zu bewahren, je mehr (in Quantität und Qualität) desto besser.
Ein Favorit vieler Philosophen für einen intrinsischen Wert ist natürlich Glück, ohne darauf
einzugehen, was das genau bedeutet. In der Antike galt meistens die Ataraxie als
der ultimative Wert schlechthin, etwas das vom Begriff des Glücks nicht weit entfernt
zu sein scheint.
2) Die Existenz intrinsischer Werte wird ausgeschlossen. Wenn es somit keine letzten
Werte gibt, die es anzustreben gilt, dann verlangt man zur Aufstellung der Sinnhaftigkeit
des Lebens eine Kette von Rechtfertigungen, wobei ich nicht sehe, wie diese Kette
dem infiniten Regress entkommen könnte, da alles, was als anstrebbar gilt, nur ein
Zwischenglied, ein Intermedium anderer Dinge und Phänomene darstellt, die noch
dahinterstecken. Der infinite Regress wird im nächsten Kapitel besprochen. 662
3) Bei meiner dritten Stellungnahme wird die vorherige (→ Stellungnahme Nummer 2)
eigentlich, wenn auch oft stillschweigend oder unbewusst, als die richtige angenommen
und gefürchtet. Damit relativiert man sie aus psychologischen, pragmatischen oder
anderen Gründen, um theoretische Konstruktionen zu erlauben, die dem menschlichen
Geist 'genügen'. Das beste Beispiel hierfür ist das Konzept Gottes. Ich glaube
legitimerweise, dass man die Hypothese Gottes als eine recht willkürliche, wenn auch für
viele Menschen eine überzeugende Art ansehen kann, in jeder Hinsicht
das (augenscheinliche) Problem des unendlichen Regresses zu lösen und ferner
ein zugängliches Erklärungsmuster für alle möglichen Dinge zu bieten. Doch nicht
jede Weltanschauung sieht den infiniten Regress als ein Problem an. So glauben
beispielsweise wieder einmal die Buddhisten, dass weder die Zeit noch der Raum noch
das (wenn auch theoretische) Aufteilen der Materie ein Ende hat, dass alles als unendlich
661 Für den gesamten Teil ab Fußnote 665, vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 51 Abschn. 3.
662 Siehe Kapitel 7.7.
112
(und außerdem interdependent) betrachtet werden muss, da die Alternative zu
dieser Sichtweise zu sich selbst widersprüchlich wäre. Doch muss nicht notwendigerweise
Gott als Petitio principii zur Überwindung des infiniten Regresses dienen, man könnte alle
möglichen Ideen, zumeist von supranaturalistischer Natur, in Erwägung ziehen.
Eine gewisse Schwierigkeit sehe ich ebenfalls darin, ob und inwiefern der intrinsische Wert
von einer Petitio principii in diesem Sinne unterschieden werden kann.
Ich möchte dieses Muster an folgender Theorie überprüfen und es gegebenenfalls
erweitern. Schauen wir uns z. B. Robert Nozicks Theorie in Edwards' Zusammenfassung
der Encyclopedia of Philosophy an. Wir hatten bereits Nozicks Gedankenexperiment
in dieser Arbeit vorgestellt.663 Er stellt sich eine hermetisch abgeschlossene
'Erfahrungsmaschine' vor, die dem menschlichen Geist glückliche Erfahrungen induziert,
die reell wirken.664 Zum Gedankenexperiment gehört jedoch, dass sich der in Frage
kommende Mensch seiner Situation bewusst ist, dass er genau weiß, dass es eine
authentischere Welt außerhalb seines Erfahrungsbereichs gibt. Nozick würde sich trotz
perfekt erfahrenen Glücks für die reale Welt außerhalb der Maschine entscheiden, auch im
Wissen, nachher kein so intensives Glück mehr verspüren zu können, wenn überhaupt.
Ihm zufolge kann dieses Gedankenexperiment die Bedeutungsunterscheidung zwischen
intrinsischem Wert und Sinnhaftigkeit verdeutlichen. Die Encyclopedia of Philosophy
schreibt:
"The measure of a thing's intrinsic value is the degree of its diversity and the degree
of the organic unity of that diversity. Meaning comes from a thing's connection to
other things with intrinsic value – the greater their value and the stronger the
connection, the greater the meaning. Thus, value is proportional to both internal
integration and the strength of external connections to things of great value." 665
Dieser Textauszug birgt meines Erachtens eine wesentliche Schwierigkeit, die auch
bereits in Nozicks Vokabular besteht, nämlich diejenige, dass ein Wert dadurch intrinsisch
genannt wird, weil er mit anderen Dingen in einem organischen Verbund zusammenhängt
und durch diesen Zusammenhang bestimmt werden kann. Ich glaube, dass diese Aussage
sehr verwirrend ist und nicht viel zur Klärung der Sinnhaftigkeit des Lebens beiträgt.
Wenn man allerdings das Adjektiv 'intrinsisch' aus dieser Aussage entfernen würde, sähe
es anders aus. Denn ein determinierender Zusammenhang, ob als Rechtfertigungskette
oder anders, zwischen einem intrinsischen Wert und anderen Werten, kann nur in
eine Richtung als widerspruchslos gesehen werden, und nicht in derjenigen, die hier von
Nozick vorgestellt wird. Ich glaube nicht, dass man von einem intrinsischen Wert auf
andere schließen kann, wohl jedoch von anderen auf ihn, sozusagen als Endpunkt
einer Wertehierarchie, so wie sie bereits von Aristoteles vorgenommen wurde. 666
663 Siehe S. 85.
664 Vgl. J. Runzo: Life, meaning and value of [addendum] (2006), S. 358. Er bezieht sich auf Robert Nozick (1989).
665 Ebd.
666 Siehe S. 33.
113
Ich glaube, dass ich die Effizienz des von mir vorgenommenen Unterscheidungsmodells
damit unter Beweis stellen kann, denn hierdurch könnte der Verwirrung dieses
Textauszugs von der Encyclopedia of Philosophy – Second Edition entgegengetreten
werden.
Eine weitere interessante Stellungnahme kommt von J. Feinberg und basiert auf
Überlegungen von Moritz Schlick, nämlich die Infragestellung der Kompatibilität zwischen
Zweckgebung und intrinsischer Wertigkeit. 667 Ich kann diese Stellungnahme
nachvollziehen, doch sehe ich zur gleichen Zeit kein logisches Hindernis, den intrinsischen
Wert selbst als Zweck zu stellen. Wenn uns allerdings die Zweckgebung in
einer kosmischen und supranaturalistischen Dimension von außen aufgezwungen wird,
so dürften demnach die dazugehörenden Werte nicht als intrinsisch gelten, da sie
eine Folge der Zweckgebung und keine Ursache dieser darstellen, was konträr zur
Bedeutung 'intrinsisch' steht. Auch bei Feinbergs Stellungnahme ließe sich meines
Erachtens ein weiteres Problem lösen, wenn klar wäre, dass Zweck und intrinsischer Wert
nur in einer Richtung voneinander abhängen können, nicht aber in der entgegengesetzten
Richtung.
Mit dieser Unterscheidung der beiden nicht austauschbaren Richtungen bezüglich
des Zusammenhangs zwischen Zweckgebung und intrinsischem Wert möchte ich
mein Modell ergänzen und dieses Kapitel hiermit abschließen.
7.7 Der unendliche Regress
Ich habe das Thema des unendlichen Regresses bereits in Kapitel 7.6, sozusagen aus
übergangstechnischen Gründen, angedeutet. 668 Ich möchte ebenfalls noch erwähnen,
dass ich die Immanenz eines Wertes für ein grundsätzliches Problem halte. Es widersteht
meiner Vernunft, etwas als gänzlich unabhängig, unbeeinflussbar von außen, in welcher
Folgerungsrichtung auch immer, zu sehen. Eine Färbung der Willkür haftet meines
Erachtens an den intrinsischen Werten. Gleichzeitig glaube ich jedoch auch nicht,
dass eine komplette Abwesenheit von Willkür durch absolute Objektivität von uns erlangt
werden kann, also ohne dass unser Geist in seine eigenen Erkenntnisse hineininterpretiert
und hineinprojiziert. Hieraus ziehe ich meine Überzeugung, dass alles einer äußeren
Rechtfertigung bedarf, ohne dass es eine letzte Rechtfertigung geben kann. Wir können
uns sehr wohl Werte setzen, etwas das meines Erachtens deshalb berechtigt ist, weil wir
keine Alternative haben, weil der Begriff des Wertes an sich bereits keinen Sinn macht,
667 Vgl. J. Feinberg: Absurd Self-Fulfillment (2008), S. 163. Er zitiert: "the impossibility of intrinsically valuable
activity is itself an illusion produced by what Moritz Schlick in a remarkable essay called "tyranny of purpose." (On
the Meaning of Life, in: Philosophical Papers (1979), 2: 112-128)
668 Siehe S. 113.
114
wenn wir ihn nicht als das Produkt unseres eigenen Geistes betrachten. Wir sollten uns
immer bewusst bleiben, dass diese Werte gesetzt sind und es keine Naturerscheinungen
an sich sind. Trotzdem sollten sie in ein Netz von Rechtfertigungen eingebunden werden,
um der Willkür ihrer Bedeutung so gut es geht entgegenzutreten, in ein Netz von
Argumenten, die untereinander konsistent und kohärent sind, und die hierdurch diesem
konzeptuellen Netz seine Gültigkeit verschaffen.
Natürlich können wir auch auf diese Weise den unendlichen Regress der Rechtfertigungen
nicht wirklich bezwingen, doch können wir die Argumentations- und Rechtfertigungsketten
so lange wie nur möglich ausbauen, um dieses konzeptuelle Netz vernunftbasiert zu
konstruieren. Wir sollten uns jedoch ein für allemal davon verabschieden, dass der
unendliche Regress notwendigerweise als Feind unserer Vernunft und der Validität
unserer Argumentation angesehen werden muss, denn man kann ihn auch lediglich als
etwas betrachten, das uns daran erinnert, dass die Argumentationsketten ausgebaut und
verfestigt werden sollten, ohne dabei je einen Abschluss voraussetzen zu müssen.
Wir sollten die Bescheidenheit aufbringen, niemals den erstmöglichen Ursprung oder
die letztmögliche Folge von was auch immer ergründen zu können (weil es ihn einfach
nicht gibt, weil es keinen ersten und keinen letzten Punkt für keine Gegebenheit
der Realität gibt, und weil dies die einzige Denkweise ist, die widerspruchsfrei gedacht
werden kann, auch wenn sie konzeptuell unmöglich zu fassen ist), ohne jedoch dies als
Grund zu sehen, zu resignieren und alles was Wissenserwerb angeht niederzulegen.
Eines können wir immer tun: Hypothesen, Prinzipien, Grundsätze aufstellen und sie in ein
breites Wissensnetz einbinden, in dem die Dinge untereinander auf logische
widerspruchsfreie Weise verknüpft werden. Im Übrigen ist dies auch der jetzige Stand
der Forschungseinstellung der angelsächsisch-analytischen Philosophie, etwas, das ich
an dieser Strömung äußerst verlockend finde.
So kann ich auch nicht Thomas Nagel zustimmen, wenn er Folgendes behauptet:
"First, life does not consist of a sequence of activities each of which has as its
purpose some later member of the sequence. Chains of justification come repeatedly
to an end within life, and whether the process as a whole can be justified has no
bearing on the finality of these end-points." 669
Ihm zufolge kommen also alle Rechtfertigungsketten innerhalb des Lebens zu
einem Ende, und alle Zwischenglieder dieser Ketten haben ihre eigene Finalität. Ich kann
dem nicht zustimmen, weil das bedeuten würde, dass ein Leben ein für sich
abgeschlossenes System darstellt, was einfach nur absurd ist, oder einfach nur
kurzsichtig. Bereits in der konkreten Lebensplanung überwinden die Menschen
die Kurzsichtigkeit, nur ihr eigenes Leben in Erwägung zu ziehen, sie versuchen auch für
ihre Kinder und Kindeskinder mitzuplanen, und wenn es edle Geschöpfe sind,
669 T. Nagel: The Absurd (2008), S. 144.
115
dann kümmern sie sich auch darum, dass die Welt und die Gesellschaft eine Zukunft hat.
Ist nicht dies etwas, was dem näher kommt, was wir in den Begriff des Sinns des Lebens
legen?
Etwas später im seinem Text zeigt Nagel dann klar und deutlich, warum er
diese Sichtweise verteidigt. Denn, so Nagel, wenn wir das nicht so sehen wie er, dann
führt die Rechtfertigungskette unweigerlich zum unendlichen Regress. Und hier erscheint
sie dann wieder einmal in unglaublich leuchtender Helligkeit: die Angst vor
dem unendlichen Regress.670 Hierbei frage ich mich, ob es sich nicht im Allgemeinen um
eine Angst vor der Unfassbarkeit des Konzepts der Unendlichkeit handelt. Wenn ich auch
die Gefahr eingehe, mich zu wiederholen, so möchte ich es noch einmal verdeutlichen.
Wenn man die Autorität der Vernunft beachten möchte, muss folgendes gelten:
Das Konzept der Unendlichkeit, und damit auch der Ausdruck des unendlichen Regresses,
ist natürlich von uns nicht konzeptuell zu fassen. Alles, was an diesem Konzept zu fassen
ist, ist, dass wir uns etwas dabei vorstellen, das einfach nie ein Ende findet, wir belegen
dieses Konzept mit der Bedeutung, dass was auch immer gemeint wird, nicht aufhört.
Dies ist eine Sache. Es ist für viele schwierig, sich hierauf etwas zu reimen. Aber eine
ganz andere Sache wäre es, das Gegenteil hiervon zu akzeptieren, nämlich
zu akzeptieren, dass es Dinge geben muss, die ihrerseits keine Ursache oder
keine vorausgehenden Erscheinungen haben, oder dass es Dinge geben muss, die keine
weiteren Folgen zulassen. Dies ist einfach nicht widerspruchsfrei zu denken und muss
deshalb ausgeschlossen werden. Auch wenn der unendliche Regress nicht leicht oder
überhaupt nicht wirklich zu verstehen ist, so birgt er doch zumindest keinen Widerspruch
in sich selbst, und dies muss den Sieg der Überzeugung über das andere davontragen,
wenn wir die Vernunft weiterhin walten lassen wollen.
Bei diesem Aspekt kann ich wieder auf die stringenten Überlegungen von K. Baier zählen.
Ob kausale oder teleologische Erklärungsmodelle, ihm zufolge führt jedes Modell zu
einem unendlichen Regress.671
"All that has been shown is that all explanations suffer from the same effect: all
involve a vicious infinite regress."672
Wie soll es auch anders sein. Daraufhin fragt sich Baier, ob das Konzept Gottes diesen
unendlichen Regress zu beenden vermag. 673 Um dieser Frage auf den Grund zu gehen,
gleitet er in eine Debatte darüber ab, ob das Universum einen ersten Anfang haben kann,
und ob es als möglich betrachtet werden kann, dass es 'ex nihil' erschaffen wurde. Hierzu
sagt er auf sehr überzeugende Weise, dass die Theorie der Ex-nihil-Erschaffung nur eins
ist, nämlich ein ...
670 Für den gesamten Anfang des Abschnitts, vgl. T. Nagel: The Absurd (2008), S. 144.
671 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 6-7.
672 Ebd., S. 8.
673 Vgl. ebd., S. 7.
116
"simple logical howler: that because every thing has an origin, the universe must
have an origin, too, except, that, being the universe, it must have originated out of
nothing. This is a howler, because it conceives of the universe as a big thing,
whereas in fact it is the totality of things, that is, not a thing." 674
Auch wenn diese Überlegung über den Anfang oder den Nichtanfang des Universums
auf den ersten Blick irrelevant erscheint, so ist sie es dennoch nicht. Denn ob es sich nun
um Rechtfertigungsketten von moralischen Ideen oder Kausalketten von physikalischen
Erscheinungen handelt, die Überlegung, die dahinter steckt und die geklärt werden soll,
ist die Gleiche. Es geht immer um den infiniten Regress.
So fährt Baier fort und behauptet, dass im Gegenteil alles darauf hinweist, dass das
Universum keinen Anfang hat. Diese Annahme hat das Potential, die Perplexität
des Themas aufzuheben, da es unumstritten scheint, dass Dinge sich aus anderen Dingen
heraus entwickeln, und so bis in alle Ewigkeit. 675 Baier erwähnt außerdem, dass ein
wissenschaftliches Erklärungsmodell jedoch auf eine andere Weise nicht dem infiniten
Regress unterliegen muss.676 Denn auch wenn das wissenschaftliche Erklärungsmodell
nicht die Universalität dessen beanspruchen kann, was mit der realen Kausalkette
der Erscheinungen
in
unabsehbarer
Zukunft
passieren
wird,
so
kann
677
das Erklärungsmodell an sich in sich geschlossen gesehen werden.
Hierbei ist
zu erwähnen, dass ein weniger universelles Erklärungsmodell nicht deshalb inkomplett
und unabgeschlossen ist, weil es weniger universell ist. 678 Persönlich gehe ich davon aus,
dass diese Geschlossenheit lediglich durch das wissenschaftliche Basisinstrument
der Hypothesenbildung erreicht wird, die an und für sich eine 'künstliche' wenn auch
notwendig aufgestellte (heuristische) Begrenzung des Wissenserwerbes darstellt. Hierbei
muss außerdem zwischen der realen Natur des zu untersuchenden Gegenstandes
einerseits und der geistigen Natur der Erklärung selbst unterschieden werden.
Doch wollen wir hier nicht in die Wissenschaftstheorie abgleiten, da es nicht zu unserem
Thema gehört. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob diese Aussage dem Stand
der modernen Wissenschaftstheorie entspricht.
Anders als ein rein wissenschaftliches Erklärungsmodell muss sich die Philosophie mit
dem unendlichen Regress beschäftigen und ihn in die Überlegungen einbeziehen,
denn das gehört zum Anspruch der Philosophie, auch wenn bei beiden Formen
des Wissenserwerbs gleichsam das Prinzip der Rationalität gelten muss. Im Gegensatz
zu Tolstoi, der im Unendlichen keine Zielsetzung für welche Art von Entwicklung auch
immer zu setzen vermochte,679 werden wir im Folgenden den Standpunkt einnehmen,
674 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 16.
675 Vgl. ebd.
676 Vgl. ebd., S. 17.
677 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 18.
678 Vgl. ebd.
679 Vgl. L. Tolstoj: Meine Beichte (2010), S. 44.
117
dass der unendliche Regress keine Gefahr für die Sinnhaftigkeit des Lebens, sondern
ganz im Gegenteil seine Rettung darstellt.
7.8 Tod und Immortalität
Wir haben mehrmals in dieser Arbeit gesehen, aber vor allem im Beitrag Flews zu Tolstois
Beichte,680 dass die unausweichliche Gegebenheit des Sterbens und der Wunsch
der Immortalität einen wichtigen Aspekt in der Debatte der Sinnfrage darzustellen scheint.
Denn für Tolstoi galt Folgendes:
"The contention is that our lives can have meaning only on the assumptions of the
existence of God and of human immortality." 681
21 Jahre vor dem Schreiben dieses Zitates hatte Flew bereits zu erkennen geglaubt,
warum diese Idee ungültig ist:
"It is at least no less rational to hold that it is precisely our mortality which makes
what we do, or fail to do, so overwhelmingly important. And there is not the slightest
warrant for suggesting that this alternative and opposite reaction is possible only for
those who are lacking in imagination." 682
Flew war also der Meinung, dass keine rationale Ursache dagegen spricht, warum der Tod
nicht im Gegenteil unser Leben eher als sinnvoll denn als sinnlos konstituiert, und somit
vermochte er die Luft aus den Segeln des Tolstoischen Argumentes zu nehmen.
E. Klemke stimmt Flew darin zu: Die Abwesenheit des Lebenssinns durch das Beenden
des Lebens habe so viel und so wenig Gültigkeit wie das gegensätzliche Argument. 683
Doch meines Erachtens gibt es eine weitere Frage, die diesbezüglich gestellt werden
muss und die im Folgenden behandelt wird. Wenn wir uns einmal in
einem Gedankenexperiment vorstellen, dass sich zum gleichen Zeitpunkt unseres
individuellen Todes ebenfalls die gesamte Erde oder sogar das gesamte Universum
in Nichts auflösen, aus welchen Gründen auch immer, Gründe die jedoch nur dadurch
ausgelöst werden, weil wir sterben, ist dann A. Flews Standpunkt immer noch gültig?
Wäre dann unser Tod immer noch irrelevant für die Wertigkeit und Sinnhaftigkeit des
Lebens?
Die grundlegenden Fragen in diesem spezifischeren Kontext sind folgende: Kann der Tod
dem Leben seine Sinnhaftigkeit entnehmen? Ist der Wunsch der Immortalität, ob rein
metaphorisch oder nicht, ein legitimer Anspruch in unserem Kontext? Worauf bezieht sich
Immortalität, auf das Individuum selbst oder auf andere Dinge?
680 Siehe z. B. S. 25.
681 A. Flew: God, Freedom, and Immortality (1984), S. 155.
682 A. Flew: Tolstoi and the meaning of life (1963), S. 113.
683 Vgl E. D. Klemke, in: The Meaning of Life. A Reader, New York 2008, S. 4.
118
Die erste Frage verbirgt eine andere. Hat die zeitliche Begrenztheit der Wirkungen unserer
Handlungen die Vergeblichkeit des Lebens zur Folge? Salomo beklagt sich
im Wesentlichen darüber, dass die schönen Dinge dieses Lebens, wenn wir ein Leben
nach dem Tode ausschlössen, mit unserem Tod ein Ende haben würden. 684 Es ist
ein Argument, das immer wieder von den Theisten vorgebracht wird. Doch nicht nur,
dass es ohne Weiterleben keinen Lebenssinn mehr zu geben scheint, wir kennen
außerdem das vielzitierte theistische Argument, dass unsere Moralität dann auch nicht
mehr verankert werden kann, weil einer höheren unbestechlichen und alles erkennenden
Gewalt die Verantwortung der Vergeltung für ungesühnte böse Taten zugewiesen werden
muss. Beide Ideen, die moralische und die der Sinnhaftigkeit, besitzen die gleiche
argumentative Grundlage, die gleiche Logik. Die meisten Theoretiker der angelsächsischanalytische Philosophie verneinen diese Denkweise. Bei Flew, Russell und Baier haben
wir es bereits in dieser Arbeit gesehen. 685 Die Argumentation dieser Philosophen stellt
jedoch das individuelle Leben in den Vordergrund, auch wenn die Verbindung
zur gesamten Menschheit oder zu noch größeren Kontexten erwähnt wird. 686 Die beste
Formulierung zur Rechtfertigung dieses Standpunktes gibt K. Baier:
"It is [...] quite clear that death is simply irrelevant. If life can be worthwhile at all,
then it can be so even though it be short. And if it is not worthwhile at all, then an
eternity of it is simply a nightmare. It may be sad that we have to leave this beautiful
world, but it is so only if and because it is beautiful. And it is no less beautiful for
coming to an end. I reather suspect that an eternity of it might make us less
appreciative, and in the end it would be tedious." 687
Auch R. Hepburn gibt diese Rechtfertigung in seinem Artikel wieder, obwohl er manchmal
durch andere Aussagen nicht vollkommen davon überzeugt zu sein scheint. 688
Dieser Rechtfertigung zufolge gebe es keine logische Folgerung zur Wertlosigkeit oder
Vergeblichkeit einer Sache aus der Idee der zeitlichen Begrenztheit dieser Sache.
Unvergänglichkeit zu besitzen wäre weder eine notwendige noch eine ausreichende
Bedingung von Wertigkeit, genauso wie eine Unendlichkeit von Vergeblichkeit
keine logische Unmöglichkeit darstellt.689
684 Salomo wird von den Angelsachsen "Ecclesiastes" genannt. Siehe hierzu auch: "The complaint he has about life is
not really that it holds nothing worthwhile but rather that these wonderful things cannot be enjoyed forever, for he is
quite uncertain about an afterlife" (K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 51 Abschn. 4). Vgl. auch K. Baier: The
Meaning of Life (1957), S. 24, wo er behauptet, dass es sich bei der Frage, wie das Leben einen Sinn besitzen könne,
wenn es eh zu Ende geht, um das eigentliche Problem für die meisten Menschen handelt.
685 Z. B. bei Baier (vgl. K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 51 Abschn. 1).
686 Als repräsentatives Beispiel kann Baier zählen. Dass das Leben … "must end does not show that it is not worth
having while it lasts." (K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 52 Abschn. 7)
687 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 27.
688 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 132: "On the other side, a naturalistic account
oversimplifies and dogmatises if it claims that 'death is irrelevant' (Baier) to questions of value, worthwhileness-and
hence to meaningfulness."
689 Vgl. ebd., S. 127.
119
Es leuchtet mir ein, dass der Tod nur deshalb ein Problem darstellt, weil das Leben
als solches (unter normalen Umständen) als etwas Lohnenswertes empfunden wird,
und hieraus könnten wir in der Tat schlussfolgern, dass eben aus genau diesem Grund
das Leben seinen hohen Wert behält, ob mit Tod oder ohne. Doch kann dies kritisiert
werden, denn was hiermit ausgesagt wird, ist, dass das Leben in seiner Gesamtheit als
intrinsischer Wert gesehen wird, genauso wie man es mit einer kleineren Zeitdauer purer
Lust machen kann. Dementsprechend greift für mich an dieser Stelle die Argumentation
bezüglich der Problematik des intrinsischen Wertes und des unendlichen Regresses.
Sogar dann, wenn mein gesamtes Leben nur von Glück geprägt wird, so kann ich von
einer theoretischeren Ebene, wie die Philosophie sie darstellt, nicht verhindern, dass die
besagte Argumentation gegen diesen Standpunkt wirkt. Ich verweise auf die vorherigen
Unterkapitel und möchte diese Argumentation nicht wiederholen. 690 Aus diesem Grund
kann ich auch die Logik folgender Aussage nicht nachvollziehen:
"All is futile only if all our actions aim at eternally perpetuating our lives. But surely this
is not so and would be wholly irrational if it were so, given that we know very well that
we cannot attain this goal."691
Warum wird etwas als irrational eingestuft, wenn es nicht erreicht werden kann?
Ich glaube, dass sich hinter dieser Aussage ein moralistischer Fehlschluss versteckt, oder
zumindest ein Kategorienfehler. Aber vielleicht meint er 'irrational' im Sinne von 'sinnlos'
oder 'vergeblich'.
Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass das individuelle Leben nicht durch den Tod
in seiner Sinnhaftigkeit getrübt werden kann, aber aus einem ganz anderen Grund,
einem Grund, der von Russell mit dem Ausdruck "the stream of life", also "Strom
des Lebens" beschrieben wird.692 Russell sieht die Sinnhaftigkeit des individuellen Lebens
darin, dass dieses Leben keine separate Entität in dieser Welt darstellt, so wie
eine Billiardkugel, die nie angestoßen wird und die somit keine Kollision mit anderen
Kugeln zur Folge haben kann. Menschen, die einen gewissen Grad an geistiger Reife
besitzen, fühlen den Drang mehr zu tun als nur das körperlich unmittelbare Überleben.
Wie möchten uns darum kümmern, was aus unseren Kindern wird, was aus unserer
Gesellschaft wird, was aus unserer Natur und was aus unserer Welt wird. Dieses MakroZooming hat vom Prinzipiellen her kein Ende. Bereits heute überlegen die Menschen sich,
was sie mit dem Planeten Mars anfangen können. Warum soll das auf theoretischer
Ebene nicht legitim sein? Das individuelle Leben bekommt eben genau dadurch
einen Sinn, dass es einen Teil eines größeren Systems ausmacht, und dieses System
muss auch nicht notwendigerweise mit einer supranaturalistischen Konnotation belegt
werden, es kann sich lediglich um das irdische Leben, diese Welt und diesen Kosmos
690 Siehe Kapitel 7.6 + 7.7.
691 K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 51 Abschn. 1.
692 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 175.
120
handeln.693 Bei dieser Sichtweise können wir die bereits erwähnte Idee anwenden,
dass das Erforschen von sowohl Wert, als auch Zweck- und Sinnhaftigkeit nur dann
wirklich sinnvoll erscheint, wenn es in ein konzeptuelles Netz eingebunden werden kann,
das vom Anspruch her endlos weiter konstruiert werden kann.
Aus genau dem Grund, dass nur ein 'Rechtfertigungsnetz mit offenem Ende' als wirklich
überzeugende Grundannahme für Wertigkeit und Sinnhaftigkeit gelten kann, lässt sich
das gleiche gedankliche Ergebnis auf eine ganz andere Ebene übertragen, nämlich dem
Ende des Universums. Was bei Russell als widersprüchlich angesehen werden kann, ist,
dass er durch diesen "Strom des Lebens" das individuelle Leben (wenn auch im Diesseits,
in unserer als real empfundenen Welt, und ohne Voraussetzung eines Jenseits) auf
eine größere Ebene übertragen lässt, und doch eine willkürliche Trennlinie zieht, die er,
auch wenn er sie nicht konkret bestimmt, durch die Notwendigkeit des Endes
des Universums auf welche Art und Weise auch immer mitdenkt. 694 Dadurch, dass Russell
davon ausgeht, dass das Leben irgendwann einmal aussterben wird, so wie es die Physik
durch die Vorausberechnungen der Entwicklung unseres Sonnensystems vermuten lässt,
dürfe das irdische Streben nicht auf Langzeitkonsequenzen kosmischen Maßstabes
basiert werden.695
T. Metz hat sich nebensächlich mit der Frage befasst, ob es als legitim betrachtet werden
kann, von der individuellen Beendigung des Lebens zum Ende der gesamten Menschheit
zu abstrahieren, also wenn wir z. B. Werte verfolgen wollen, die wir in eine unabsehbare
Zeit in die Zukunft projizieren wollen. Er kommt zum Ergebnis, dass die Menschen
den Anspruch ihrer eigenen individuellen Immortalität nicht zugunsten einer Beeinflussung
auf lange Sicht (z. B. auf gesellschaftlicher Ebene) aufgeben können, weil es gilt,
die projizierten Werte honorieren zu können, und dies sei nur dann sinnvoll, wenn man sie
selbst mit seiner eigenen Person honoriert. 696 Ist dies vielleicht eine weitere Möglichkeit,
erklären zu können, warum viele Menschen dem theistischen Weltbild anhaften? Für mich
klingt diese Idee nicht sehr überzeugend.
Die Pessimisten folgern aus dem Ende, in welcher Form auch immer, sei es
der individuelle, der gesellschaftliche oder der kosmische Tod, die Sinnlosigkeit
des Lebens. Die Theisten folgern aus diesem Ende die Notwendigkeit der Existenz
einer Welt ohne solches Ende, um durch einen moralistischen Fehlschluss
die Sinnhaftigkeit wieder herzustellen. Russell und die meisten angelsächsischanalytischen Theoretiker folgern aus diesem Ende die mögliche Aufrechterhaltung
der Sinnhaftigkeit des Lebens durch die Verlagerung des Schwerpunkts der Sinnhaftigkeit
693 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 175.
694 Siehe S. 37.
695 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 467. Vgl. auch B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S.
56.
696 Für den gesamten Abschnitt, vgl. T. Metz: The Immortality Requirement for Life's Meaning (2003), S. 172.
121
auf intrinsische Werte. Persönlich glaube ich, aus bereits besagten Gründen, dass dieses
Ende sehr wohl von Relevanz für die Sinnhaftigkeit ist, jedoch im negativen Sinne.
Sie haben meines Erachtens alle in einem Punkt unrecht. Ich glaube auch, dass es legitim
ist, die Sinnlosigkeit aus diesem Ende ziehen zu können. Und wenn wir uns sicher wären,
dass es ein solches Ende gäbe, und uns gleichzeitig die Bescheidenheit und Stärke
bewahren könnten, uns nicht von supranaturalistischen Ansätzen verlocken zu lassen,
dann gelänge es mir kaum, einem theoretischen Pessimismus zu entkommen (auch wenn
ich deshalb nicht zwingend der Traurigkeit verfallen müsste, aber wir reden ja vom Sinn
des Lebens in einem theoretischen Kontext). Doch die Frage ist folgende: Gibt es dieses
Ende überhaupt? Alle Theoretiker machen gewichtige Voraussetzungen in
ihren Überlegungen, die nicht unbedingt legitim sind. Es mutet vielleicht übertrieben an,
davon zu reden, dass der Kosmos keine Ende hat, und dies in einen Zusammenhang mit
dem Sinn des Lebens zu stellen, doch ich glaube nicht, dass diese Frage in
einem philosophischen Kontext irrelevant ist. Wir haben im Kapitel über den unendlichen
Regress gesehen, dass die Annahme eines nicht enden wollenden Universums viel
plausibler ist.697 Außerdem wissen wir z. B. aus der mathematischen Chaostheorie,
dass unglaublich kleine Faktoren umwälzende Wirkungen auf größeren Ebenen haben
können. Ich kann unmöglich voraussehen, welche Wirkung meine heutige kleine gute Tat
für Auswirkungen in 3 Milliarden Jahren hat. Vielleicht sind diese Auswirkungen gänzlich
vernachlässigbar, vielleicht sind sie auf einer bedeutenden Skala umwälzend. Wir können
nichts ausschließen, und weil wir nichts ausschließen können, sollten wir nach
der Möglichkeit eines positiven Szenarios handeln und denken. Außerdem ist es
ausgeschlossen, dass es etwas gibt, ob menschliche Handlungen oder andere Dinge,
die überhaupt keine Auswirkungen haben, so gering wir sie auch zu bestimmen vermögen.
Es stellt einen gedanklichen Widerspruch dar. Und damit behaupte ich in einem gänzlich
unspiritualistischen Sinne: Nichts endet wirklich, und alles beeinflusst alles, es formt sich
nur um (hoffentlich zugunsten des Sinngebers). Das mag an Heraklit erinnern, aber wir
brauchen diesen berühmten Philosophen nicht wirklich für unseren Kontext zu bemühen,
obwohl ich in einem gewissen Sinne ganz mit ihm einverstanden bin. Aber genau so
können wir auch das Konzept des Karmas von seiner spiritualistischen Konnotation lösen
und ihn auf eine ähnliche Weise verstehen oder die Konzepte der Subtilität,
der Interdependenz und der Unendlichkeit im Buddhismus. Wir können diese Konzepte
von ihrem supranaturalistischen Kontext lösen und deren naturalistische Grundidee für
uns moderne Menschen nutzbar machen, genauso wie wir es in dieser Arbeit mit einigen
Aspekten der theistischen Theorien gemacht haben, und sie nicht alle dadurch für
irrelevant ansehen. J. Kekes hat zu dieser Überlegung eine interessante Äußerung
gemacht:
"through placing my happiness in something durable and distant, in which some
..kkkkk
697 Siehe Kapitel 7.7.
122
progress might always be making, while it could never be exhausted by complete
attainment."698
Wenn wir in diesem Zitat "my happiness" mit "the meaningfulness of my life" ersetzen
würden, dann wäre es genau die Idee, die ich zu beschreiben versuche. Auch Hepburn
unterstützt dies zumindest teilweise, wenn er Folgendes behauptet:
"On the other side, a naturalistic account oversimplifies and dogmatises if it claims
that 'death is irrelevant' (Baier) to questions of value, worthwhileness-and hence to
meaningfulness."699
Doch ergänzt er diese Behauptung damit, dass wir Gefahr laufen, die Komplexität
der Problematik auf einen Teilaspekt zu reduzieren und der gesamten Tragweite
der Debatte nicht gerecht zu werden, wenn wir uns zu sehr auf das Konzept der Mortalität
fokussieren.700
Aus all diesen Gründen möchte ich dem, was Paul Edwards in seinem Artikel
der Enzyklopädie "irrelevance of the distant future" genannt hat, widersprechen. 701
Mit dieser 'Irrelevanz der fernen Zukunft' (dieselbe Idee, die wir bereits weiter oben bei
Baier gesehen haben)702 wird ausgedrückt, dass die scheinbar willkürliche Bevorzugung
der Zukunft gegenüber der Gegenwart keine Gültigkeit besitzt. 703 Demzufolge beträgt
die Frage nach dem Ende des Universums keine Relevanz für die Sinnfrage und
die Wertigkeit der Dinge im Allgemeinen. 704 Den Befürwortern der Irrelevanz der fernen
Zukunft zufolge unterlag z. B. Tolstoi unter anderem genau diesem Irrtum. 705 Paul Edwards
erklärt mit folgenden Worten, warum die Irrelevanz der fernen Zukunft nicht zur
Sinnlosigkeit des Lebens führen muss:
"Striving is not pointless if it achieves what it is intended to achieve even if it is
without final consequence, and it matters a great deal how we live if we have certain
standards and goals, although we cannot avoid "the dust of death"." 706
Diese Argumentation scheint nicht unvernünftig zu sein. Da ihre Grundidee
der intrinsischen Wertigkeit entspricht, steht sie jedoch im Widerspruch mit
der Vorstellung, dass Eingebundenheit in ein Rechtfertigungsnetz mit offenem Ende
herrschen muss. Dementsprechend überzeugt mich diese Argumentation nicht, obwohl ich
nicht zu widerlegen in der Lage bin, dass es keine objektiv wahre Behauptung geben
kann, die einen Zeitpunkt als wichtiger erklärt als einen anderen, so wie die Zukunft
gegenüber der Gegenwart.707 Ich glaube jedoch, dass die 'Eingebundenheit in
698 J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 241.
699 R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 132.
700 Vgl. ebd.
701 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 470.
702 Siehe S. 119.
703 Vgl. P. Edwards: Life, meaning and value of (1967), S. 470.
704 Vgl. ebd., S. 471.
705 Vgl. ebd., S. 470.
706 Ebd., S. 471.
707 Vgl. ebd.
123
ein Rechtfertigungsnetz mit offenem Ende' mit der 'Irrelevanz der fernen Zukunft'
unverträglich ist.
Eine Bestätigung meiner Sichtweise wird von T. Metz auf der Basis von Nozicks
Überlegungen erbracht. Metz verdeutlicht, dass im Allgemeinen die Frage nach dem Sinn
von irgendetwas eine Angelegenheit sei, nach der Beziehung dieser Sache zu anderen
Sachen zu fragen.708 Wenn wir, wie wir bereits erarbeitet haben, nach dem Sinn
eines Wortes fragen, so ergründen wir seine Beziehung zu anderen Wörtern oder
zu Gegenständen in dieser Welt.709 Metz zufolge scheint dies für Nozick dasselbe zu sein,
wenn es sich um die Sinnfrage handelt. Er zitiert Nozick:
"A significant life is, in some sense, permanent; it makes a permanent difference to
the world – it leaves traces. To be wiped out completely, traces and all, goes a long
way toward destroying the meaning of one’s life. . . . Attempts to find meaning in life
seek to transcend the limits of an individual life. The narrower the limits of a life, the
less meaningful it is. . . . Mortality is a temporal limit and traces are a way of going or
seeping beyond that limit. To be puzzled about why death seems to undercut
meaning is to fail to see the temporal limit itself as a limit." 710
Metz nennt diesen Standpunkt "transcendance rationale". 711
7.9 Teleologie
Die Teleologie besteht im Wesentlichen in der Auffassung, dass sowohl die Entwicklung
als auch die Daseinsberechtigung (die existentielle Ursache) der belebten Wesen 712
einer Finalität, einem Zweck oder einer Planung im kosmischen Sinne unterliegen,
doch muss diese Zweckgebung in der Natur 'extern' vorhanden sein (so wie es
vorausgesetzt wird, wenn wir von einem kosmischen Sinn reden). Die teleologische
Auffassung wird üblicherweise theistisch ausgeschlachtet, so dass bezüglich
der Sinnfrage gilt, dass unsere Handlungen der Realisierung eines göttlichen Plans
entsprechen sollen. Edwards formuliert dies folgendermaßen:
"If a superhuman being has a plan in which I am included, this fact will make (or
help to make) my life meaningful in the terrestrial sense only if I know the plan and
approve of it and of my place in it, so that working toward the realization of the plan
gives direction to my actions."713
708 Vgl. T. Metz: The Immortality Requirement for Life's Meaning (2003), S. 173.
709 Vgl. ebd., S. 173.
710 Ebd., S. 173. Er bezieht sich auf: Nozick: Philosophical Explanations, S. 595.
711 Vgl. T. Metz: The Immortality Requirement for Life's Meaning (2003), S. 174.
712 Bei den unbelebten Wesen kann man die Komplexität ihrer Beschaffenheit auf eine 'Verklumpung' der Materie
reduzieren.
713 P. Edwards: Life, meaning and value of (1967). Hier jedoch entnommen aus: Klemke / Cahn (Hgg.): The Meaning
of Life. A Reader, New York 2008, S. 126.
124
R. Hepburn bestätigt, dass das theistische Weltbild kaum ohne teleologischen Ansatz
auskomme, wobei der Mensch die göttliche Planung zu ergründen habe. 714
Aber umgekehrt ist diese Art der Voraussetzung nicht zwingend notwendig.
Vom Verständnis des Begriffes her können wir unter Umständen eine naturalistische
Teleologie vertreten, auch wenn dies meines Erachtens schwierig zu unterstützen ist.
Man könnte dies als "intelligiblen kosmischen Prozess mit Telos" betiteln. 715 Wir haben
auch letztere Auffassung in dieser Arbeit verworfen, da ich den Standpunkt einer Natur
vertrete, die dies an sich (ganz im Schopenhauerschen Sinne, mit der Zustimmung von
Russell716) nicht aufzustellen vermag (warum auch?). 717 Dies erscheint mir richtig, obwohl
ich eine gewisse Sympathie für die aristotelische Teleologie hege. Gemäß seiner
Vorstellung strebt der Mensch nach Zielen, die sich in eine Hierarchie einordnen lassen,
wobei die Kultivierung der besten menschlichen Fähigkeiten zur Glückseligkeit als
ultimativem Ziel führt, die eine Kombination eines bestimmten theoretischen mit
einem praktischen Leben beinhaltet,718 und diese Ziele sind auch von der menschlichen
Natur, und damit von der Natur im Allgemeinen vorgegeben. Was meine Überzeugung
diesbezüglich angeht, so bleibt es bei der Sympathie.
Die Ungültigkeit, etwas teleologisch zu nennen, ist jedoch dann unumstritten, wenn von
einer Zweckgebung geredet wird, die ein rein geistiges menschliches Produkt darstellt.
Ich glaube, dass diese Unterscheidung, wenn auch in einem akademischen Kontext
vorausgesetzt, sehr wichtig ist, um erhebliche Missverständnisse zu verhindern. 719
Ich glaube auch, dass diese Unterscheidung deshalb so wichtig ist, weil besonders hier oft
naturalistische und moralistische Fehlschlüsse gezogen werden.
Da die teleologische Auffassung eine Finalität im kosmischen Sinne voraussetzt, sind
die Befürworter der Teleologie konsequenterweise der Meinung, dass diese Finalität oder
dieser kosmische Zweck entdeckt werden muss. Innerhalb des Rahmens
dieser Auffassung beinhaltet dies keinen Widerspruch an sich, denn würde der Zweck
selbst vom menschlichen Geiste als aufgestellt gesehen werden, dann würde es sich
der Bedeutung des Begriffes zufolge nicht mehr um Teleologie handeln. A. J. Ayer stellt
korrekterweise fest, dass eine zu entdeckende Sinnhaftigkeit, d.h. eine Sinnhaftigkeit im
teleologischen Sinne, nicht unsere sein könne, da sie keine selbst gewählte sei, und
diese Art der Sinnhaftigkeit als mehr oder weniger willkürlich von außen aufgezwungen
714 Vgl. R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 125.
715 Frei übersetzt aus: R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 125.
716 Vgl. B. Russell: A Free Man's Worship (2008), S. 56. Die Natur sei allmächtig, jedoch blind.
717 Siehe S. 77.
718 Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1994.
719 Was z. B. von den Befürwortern des Kreationismus nicht erkannt wird. Vgl. W. Löffler: Sinn (2011), S. 1997: Sinn
soll hinter Naturgegebenheiten rehabilitiert werden. Der 'Intelligent Design' möchte ein verborgenes Strukturprinzip
von intelligenter Planung erkennen, die für die Komplexität der Natur verantwortlich ist. Aber : "Biologisch gesehen
handelt es sich um reine ad hoc-Hypothesen, aus theologischer Sicht um eine prekäre und vielleicht bald durch neue
Forschung obsolete Erklärungslückenfüller-Theologie, und wissenschaftstheoretisch sind biologische und
theologische Erklärungen ohnehin nicht auf derselben Ebene angesiedelt."
125
gesehen werden müsse, sogar dann, wenn sie mehr oder weniger zufällig die Möglichkeit
biete, von uns erfüllt zu werden.720 Aus diesem Grund kann die teleologische Sichtweise
erstens nicht notwendigerweise eine Sinnhaftigkeit bieten, die wir wirklich benötigen, auch
wenn unsere Bedürfnisse selbst aus dieser kosmischen Perspektive keine logische
Relevanz darstellen sollten (wenn wir mal für einen Moment davon ausgehen, dass der
moralistische Fehlschluss ausgeschlossen werden kann). Zweitens unterscheide sich Ayer
zufolge die teleologische Sichtweise diesbezüglich nicht von einer kausalen
Erklärungsweise,721 da ja lediglich eine Art 'Beschreibung' von kosmischen Gegebenheiten
durchgeführt werde, auch wenn diese kosmischen Gegebenheiten durch in der Zukunft
liegende Gründe bestimmt würden, und nicht durch in der Vergangenheit liegende
Ursachen wie es bei der üblichen Kausalität der Fall ist. Ayer macht interessanterweise
ebenfalls darauf aufmerksam, dass die Hypothese der Existenz Gottes gleichsam (da dies
derselben Argumentation unterliegt) nichts daran ändere, dass die theistisch-teleologische
Zweckgebung nicht notwendigerweise als unsere empfunden werden müsse, und deshalb
stets befremdlich auf uns wirken könne. 722 Einmal in Frage gestellt könne sie lediglich
das Gefühl der Bevormundung in uns verstärken. Doch wird die Teleologie normalerweise
von einer theistischen Konzeption begleitet, da die kosmische Planbarkeit nur dann
einen Sinn zu haben scheint, wenn eine bewusste Intelligenz sie aufgestellt hat, was bei
der 'blinden' Kausalität nicht vorausgesetzt werden muss. Mit K. Baier hatten wir jedoch
bereits darauf hingewiesen, dass die Teleologie nicht zwingend mit einem End- oder
Ausgangspunkt belegt werden muss. Grundsätzlich vermöge eine teleologische Erklärung
den infiniten Regress nicht aufzuhalten.723 Auch hierbei können immer wieder universellere
Gründe aufgefunden werden, auch wenn diese Gründe zeitlich anders verankert sind als
bei den üblichen kausalen Erklärungen:
"All that has been shown is that all explanations suffer from the same effect: all
involve a vicious infinite regress."724
Auch wenn es teleologische Erklärungsansätze in der Wissenschaft gibt, so sind sie doch
von einer anderen Beschaffenheit als diejenigen, die die objektivistischen Naturalisten und
die Supranaturalisten einfordern, um kosmische Sinnhaftigkeit herzustellen. Baier zufolge
könne sich kein echtes wissenschaftliches Erklärungsmuster mit der Sinnhaftigkeit
des Lebens befassen, da, ob kausal oder teleologisch, es nur die Wie-Frage und nicht
die Warum-Frage zu beantworten vermöge, wie wir bereits erwähnt hatten. 725 Für die
Wissenschaft bleibt die Sinnhaftigkeit eine offene Frage, 726 und diesbezüglich hätten viele
Theoretiker unrecht, die Wissenschaft als Ursache und Schuldigen für eine mögliche
720 Vgl. A. Ayer: The Claims of Philosophy (2008), S. 199.
721 Vgl. ebd.
722 Vgl. ebd., S. 200.
723 Vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 7. + cross-reference
724 K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 8.
725 Siehe Kapitel 6.4.
726 Unter anderem, vgl. K. Baier: The Meaning of Life (1957), S. 28.
126
Sinnlosigkeit des Lebens verantwortlich zu machen. Die Sinnhaftigkeit des Lebens
überhaupt durch die (Natur-)Wissenschaft lösen zu lassen, unterliegt einem Fehlschluss.
Nicht nur J. Seachris hat sich gefragt, ob die Sinnfrage teleologische Annahmen
beinhalten muss.727 Nach den vorherigen Überlegungen bleibt jedoch festzuhalten,
dass sowenig ein kausales Erklärungsmodell die Sinnfrage behandeln kann, etwas
das schon immer vermutet wurde, als ein teleologisches, bei dem es etwas überraschend
scheint. Die Argumente, die herangetragen wurden, sind jedoch meines Erachtens
überzeugend. Damit bleibt die Sinnhaftigkeit ein Produkt des menschlichen Geistes und
kann nur als solches behandelt werden. Das kausale Erklärungsmodell können wir
vielleicht dann wieder anwenden, wenn es darum geht, zu ergründen, wie unser Gehirn
das Konzept der Sinnhaftigkeit produziert, was aber das Gesagte dadurch logisch nicht
widerlegt. Hierbei ist es wichtig, die Begriffe präzise zu definieren und zu unterscheiden.
So sympathisiere ich z. B., mehr noch, ich stimme dem Standpunkt B. Russells zu,
die Sinnhaftigkeit des Lebens bei einer Art von 'Konstruktivität', 728 einer Art konstruktiver
Entwicklung, in einem metaphysischen Sinne die Erschaffung von Ordnung aus
dem Chaos erschaffen zu wollen,729 als Zweck anzulegen, doch sollte diese geistige
Zweckgebung nicht als Teleologie missverstanden werden.
Am Ende dieses Unterkapitels glaube ich eine letzte Begriffsdifferenzierung durchführen
zu müssen. Was ich bei der Wiedergabe der Argumente der unterschiedlichen Theoretiker
vermisst habe, ist die Unterscheidung zwischen einem ausschließlich teleologischen
Standpunkt und der Auffassung der Existenz eines Schicksals, einer Vorherbestimmung.
Teleologie wird, auch bei der Wiedergabe der unterschiedlichen Auffassungen in
meiner Arbeit,730 oft auch als etwas verstanden, was Unausweichlichkeit der zukünftigen
Erscheinungen beinhaltet, auch deshalb, weil eben vorausgesetzt wird, dass man
die teleologischen Abhängigkeitsketten der Phänomene entdecken kann (so wie man es
bei empirischem Gehalt tut). Und was in der Zukunft liegt und trotzdem zu entdecken
möglich ist, bietet ja von der Logik her nur eine einzige Möglichkeit
des Entwicklungsverlaufs oder des Realisierungsprozesses. Und somit wäre
die Teleologie mit dem Konzept der Vorherbestimmung gleichzustellen. Hier möchte ich
ansetzen und erwähnen, dass es mir nützlich erscheint, wenn wir den Gehalt beider
Begriffe (wieder) trennen. So können wir Teleologie als dasjenige bestimmen, was zwar
eine kosmische Zweckgebung beinhaltet, die jedoch nicht die Möglichkeit
der Nichterfüllung dieses Zweckes ausschließt. Und genau dieser Aspekt scheint mir beim
Begriff der Vorherbestimmung und des Schicksals nicht gegeben werden zu können,
727 Vgl. J. Seachris: Meaning of Life: The Analytic Perspective (2011), Kapitel: 1. Introduction.
728 Vgl. B. Russell: The Conquest of Happiness (2006), S. 149 f.
729 Vgl. ebd., S. 151.
730 So auch Baier mit seinem "hidden meaning" in: K. Baier: Threats of Futility (1988), S. 47 Abschn. 2. Er behandelt
die Frage, ob es ein Beleg dafür gibt, dass Dinge prädestiniert sind. Mir scheint, dass er keine Unterscheidung
zwischen Prädestination und Teleologie in Bezug auf die Sinnhaftigkeit des Lebens durchführt.
127
um deren Bedeutung nicht noch konfuser zu machen als sie bereits ist. Ich glaube,
dass diese Differenzierung für die zukünftige Debatte dieses Themas, wenn auch ziemlich
spezifisch und je nachdem vielleicht auch belanglos, nicht gänzlich vernachlässigt werden
sollte. Diesbezüglich glaube ich auch, dass wir 'Vorherbestimmung' und 'Schicksal'
synonym behandeln können.
Teil 3: Synthese
8. Denkerischer Ausblick
Robert Nozick schrieb:
"Once you come to feel your existence lacks purpose, there is little you can do. You
can keep the feeling, and either continue a meaningless existence or end it. Or you
can discover the purpose your existence already serves, the meaning it has,
thereby eliminating the feeling. Or you can try to dispose of the feeling by giving a
meaning and purpose to your existence." 731
Aufgrund der vorangegangen Analyse darf behauptet werden, dass die angelsächsischanalytische Philosophie am ehesten letzterer Option zustimmt, wenn der Schwerpunkt auf
die in Erwägung gezogenen Autoren gelegt wird. Doch dies als ihr Charakteristikum
zu bestimmen reicht nicht aus. Die gewonnenen Erkenntnisse möchte ich
in einem denkerischen Ausblick zusammenfügen. Meine Grundidee ist dabei,
ein Instrument der Gültigkeit für mögliche Theorien über den Sinn des Lebens
aufzustellen, die den Argumenten entsprechen, die innerhalb meiner Analyse in
der Auseinandersetzung mit der angelsächsisch-analytischen Philosophie aufgestellt
wurden:
Der Sinn des Lebens ist das, was du wollen kannst, dass es im günstigsten Fall in
unvorhersehbarer Zeit bestehen könnte, ohne auf einen Gott, ein Jenseits oder die
Immortalität deiner eigenen Person zurückgreifen zu müssen, und der Versuch deiner
Teilnahme, auf bestmögliche Weise darauf hinzuwirken.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Aufstellung dieses Lebenssinnrechtfertigungsinstrumentes (im Folgenden LSRI genannt) durch Kants kategorischen Imperativ inspiriert
wurde. Dies liegt vor allem an der Wortwahl für einen Teil dieses Instruments. Ich möchte
mich nicht bemühen, konzeptuelle Zusammenhänge zum KI von Kant aufzustellen
(mit einer Ausnahme unter Punkt 10 im Folgenden), obwohl ich vermute, dass sie
731 R. Nozick: Philosophy and the Meaning of Life (2008), S. 228.
128
bestehen. Die Analyse solch möglicher Zusammenhänge übersteigt den Anspruch
meiner Arbeit, ist darüber hinaus für unsere Zwecke irrelevant und wird deshalb hier nicht
durchgeführt. Der KI soll überwiegend als Inspiration für dieses LSRI gesehen werden.
Ich möchte im Folgenden versuchen, dieses Rechtfertigungsinstrument im Rückblick auf
die Ergebnisse des analytischen Teils zu verteidigen.
1) Das LSRI besteht aus zwei Teilen (Trennlinie bei "und"). Der erste Teil beinhaltet
die Zweckgebung an sich, der zweite Teil beinhaltet eine normative Forderung, oder
genauer, eine deutlichere normative Forderung als im ersten Teil, da ich nicht
ausschließen möchte, dass eine weniger sichtbare normative Forderung ebenfalls
im ersten Teil enthalten ist. Beide Teile besitzen einen moralischen Gehalt, zum einen
eine Ebene des "Wollens" und zum anderen eine Ebene des "Sollens", die voneinander
direkt abhängig sind. Beide Teile sollten nicht getrennt werden, um die höchstmögliche
Kompatibilität mit den Ergebnissen der Analyse zu gewährleisten.
2) Es ist deutlich zu erkennen, dass das LSRI keine Tatsachenerkenntnis wiedergibt.
Es bestimmt nichts, was wir entdecken könnten, weil Sinnhaftigkeit nicht außerhalb
unseres Geistes vorzufinden ist. Das Einzige, was hieran zu entdecken möglich wäre,
ist der neurologische Prozess, der uns verleitet, das LSRI selbst und die möglichen
Vorstellungen, die diesem LSRI genügen könnten, in unserem Geist zu produzieren.
Hierbei sollte außerdem erwähnt werden, dass, auch wenn wir neurologische Prozesse
mit einem wissenschaftlichen Erkenntniserwerb von Tatsachen ermitteln können,
wir deshalb immer noch nicht Soll- mit Ist-Sätzen logisch verbinden dürfen. Soll-Sätze
bleiben eine unterschiedliche logische Kategorie, auch wenn wir Ist-Sätze bemühen
können, um zu ermitteln, wie sich diese Soll-Sätze manifestieren.
3) Es ist zu erkennen, dass das LSRI so formuliert ist, dass ideale Vorstellungen
eines möglichen Lebenssinns (die durch das LSRI auf Gültigkeit geprüft werden können)
als etwas gesehen werden müssen (wenn auch bloß als Produkt unseres eigenen
Geistes), das nicht auf willkürliche Weise gesetzt wird. Diese idealen Vorstellungen
müssen so gewählt werden, dass sie entweder als Folgerung oder als Prämisse
ein gesamtes Rechtfertigungsnetz widerspiegeln können, das keine Inkompatibilität mit
der menschlichen Wirklichkeit (auch der inneren) und mit der Wirklichkeit insgesamt
aufweisen darf.
4) Dieses Rechtfertigungsnetz beinhaltet ein offenes Ende, denn auch wenn wir
eine Lebenssinntheorie als Prämisse wählen, um daraus deduktiv das Gedankennetz
zu konstruieren, so kann immer wieder noch etwas Grundlegenderes gesetzt werden,
was diese vorherige Prämisse als Zwischenglied inkorporiert (oder auch nicht, aber dann
129
muss die vorherige Prämisse fallen gelassen werden), genau so, wie es mit Hypothesen
in der Wissenschaft gehandhabt wird. Das offene Ende wird dadurch garantiert, dass das
LSRI die Projektion auf "unvorhersehbare Zeit" vorsieht. Damit wird ebenfalls
gewährleistet, dass wir dem unendlichen Regress bezüglich der Rechtfertigungen gerecht
werden können. Eine zeitliche Begrenzung unserer Sinngebungsprojektion wird somit
aufgehoben. R. Hepburn verteidigt diese Stellungnahme. So wie man Perfektion
anstreben kann, ohne sie je zu erlangen, kann man auch Ideale in unvorhersehbarer Zeit
anstreben, ohne annehmen zu müssen, dass sie praktisch wirklich erreichbar sind:
"[…] there seems nothing logically impossible in human beings setting themselves
infinitely distant goals of aspiration; even although they might prove unrealizable in
full, and even although there existed no perfect being who either realized them in his
own person or who set those goals before humanity. To be able to pursue perfection
does not entail that perfection exists; any more than the procession of natural
numbers demands that there exists some last and greatest number of all." 732
Und:
"The atheistic-romantic conception of man as ceaselessly striving for an ultimately
unattainable, but infinitely desirable goal, is not […] a self-demolishing one". 733
5) Diese Projektion auf unvorhersehbare Zeit gewährleistet ebenfalls, dass entsprechende
Theorien oder Prinzipien, die hierdurch auf ihre Validität überprüft werden, relativ
allgemein und universell, und nicht zu konkret formuliert werden sollen. Es erscheint mir
nicht sehr sinnvoll, Theorien oder Prinzipien über den Sinn des Lebens so zu formulieren,
dass sie Details enthalten, die es unmöglich erscheinen lassen, die Zusammenhänge
in dieser gesamtheitlichen Sicht von 'universeller' Größenordnung aufrechterhalten zu
können. Trotzdem ist es logisch nicht auszuschließen, dass dies gemacht werden kann,
und es ist vorstellbar, dass sich eine Theorie so bewährt und ausreift, dass moralische und
normative Kleinigkeiten in Erwägung gezogen werden könnten, die das menschliche
Verhalten und Denken im Kleineren moralisch bewerten können.
6) Das LSRI scheint relativ vage zu sein und keine konkreten Ergebnisse zu produzieren.
Dies ist neben Punkt 5 auch deshalb verständlich, weil es sich lediglich um ein Instrument
handelt, das auf Gültigkeit prüfen soll, und nicht um eine Lebenssinntheorie an sich.
Ich vermute jedoch intuitiv, dass sich Theorien wie die der transzendierenden Handlungen
eines Lebens734 nach Nozick735, oder die Selbsttranszendierungstheorie736 von Russell
hiermit rechtfertigen lassen. Theorien des Sinns des Lebens, die das LSRI erfüllen,
732 R. W. Hepburn: Christianity and Paradox (1958), S. 179.
733 Ebd., S. 180.
734 Von mir so genannt.
735 Siehe S. 32. Vgl. auch R. Nozick: Philosophy and the Meaning of Life (2008), S. 228. Das Leben kann an
Sinnhaftigkeit gewinnen, wenn man es in einen größeren Kontext steckt, wenn man zu einem Teil einer größeren
Sache wird.
736 Siehe S. 38.
130
beinhalten im Wesentlichen eine Projektion von Idealen, die der Mensch sich selbst
schafft, mit dem Bewusstsein, dass die gesamte Existenz in welchem Maß auch immer
(auch wenn dieses Maß vernachlässigbar erscheint, ohne jedoch gänzlich irrelevant sein
zu können)737 vom Menschen beeinflusst wird, und mit der Voraussetzung der Möglichkeit,
dass sich sein Einfluss auf unbeschränkte Zeit auswirkt. So würde sich meines Erachtens
z. B. auch ein normatives Prinzip wie es offenbar Gandhi ausdrückt mit "We need to be the
change we wish to see in the World"738 gut als Kandidat einer Ausgangsüberlegung für
einen Lebenssinn eignen. Mögliche valide Theorien dürfen nicht untereinander
im Widerspruch stehen, so dass es theoretisch möglich ist, alle validen Theorien auf
immer wenigere und allgemeinere reduzieren zu lassen.
7) Da es darauf ankommt, dass eine Theorie für den Sinn des Lebens
die Eingebundenheit in ein Rechtfertigungsnetz aufweisen muss, das dem LSRI genügen
kann, können wir alle Überlegungen, auf denen die Theorie basiert, auf Konsistenz und
Kohärenz prüfen. Damit wird sehr wohl der Anspruch der Logik und der Rationalität
innerhalb dieses Rechtfertigungsnetzes erhoben, auch wenn man die Aufstellung
der These, also des Lebenssinns an sich in letzter Instanz vielleicht nicht unbedingt
rational begründen muss.739
8) Warum "ohne auf einen Gott, ein Jenseits oder die Immortalität deiner eigenen Person
zurückgreifen zu müssen"? Wir haben in der Analyse gesehen, dass die Überzeugung
oder die Voraussetzung der Existenz einer nichtnaturalistischen Welt oder
einer nichtnaturalistischen Realität keine widerspruchsfreien Deutungen oder Theorien
in unserem Kontext zulässt. Und da es keinen Sinn ergibt, Widerspruchsfreiheit nicht als
oberstes Prinzip von philosophischen Überlegungen im Allgemeinen anzuerkennen,
müssen wir supranaturalistische Konzeptionen in ihrer Gesamtheit ausschließen. Natürlich
legt dies nahe, dass, wenn man von der Richtigkeit des LSRI überzeugt ist und einem
die Sinnfrage die fundamentalste Komponente der Religionen oder des Spiritualismus
auszumachen scheint, Religion und Spiritualismus (oder vielleicht auch Esoterik)
als potentiell überflüssig erachtet werden können. Auch wenn dies für mich persönlich
als etwas Wünschenswertes erachtet wird, so hat es jedoch keine Relevanz für
die Problematik an sich. Vielleicht ist es möglich von einem naturalistischen
Lebenssinnrechtfertigungsinstrument und gleichzeitig von einer nichtnaturalistischen
Glaubensform überzeugt zu sein, auch wenn ich persönlich diesen 'Geisteszustand' nicht
übernehmen könnte. Jede Art von Missionierung, auch die des Atheismus, liegt mir fern,
auch wenn überall in dieser Arbeit durchscheint, dass ich selbst Atheist bin. Es ist mir
ebenfalls nicht möglich zu bestimmen, in welchem Maß meine teilweise unbewussten
737 Siehe Problematik der "standards". Siehe Kapitel 7.5.
738 http://en.wikiquote.org/wiki/Mahatma_Gandhi. Es gilt jedoch nicht als sicher, dass er dies gesagt hat.
739 Ich bin mir jedoch nicht wirklich im Klaren, wie diese Überlegung deutlich zu belegen ist. Das scheint mir noch
etwas konfus, könnte aber Gegenstand weiterer Diskussionen hierüber sein.
131
Grundüberzeugungen den Gedankengang dieser Arbeit mitgesteuert haben, aber dass sie
es taten, davon ist auszugehen. Dies sollte man ehrlicherweise nicht abstreiten.
9) Der Teil "die Immortalität deiner eigenen Person zurückgreifen zu müssen" beinhaltet
jedoch einen weiteren Aspekt, mit dem sich sowohl Kants KI als auch Philosophen
wie John Rawls740 befasst haben. Es geht darum, auf einer evidenten moralischen und
normativen Ebene die eigene Person und damit die direkten eigenen Interessen bei der
Sinngebung nicht in den Mittelpunkt zu stellen, und nach größtmöglich universellen und
prinzipiellen Vorstellungen Ausschau zu halten. Im Übrigen glaube ich kaum, dass eigene
Interessen dienlich sind, wenn sie nicht zumindest auf eine größere Ebene abstrahiert und
übertragen werden,741 um authentisch philosophischen Gehalt produzieren zu können.
Denn Philosophie ergibt wenig Sinn, wenn nicht das 'Universelle' im Blickfeld steht.
Außerdem glaube ich, dass ein nicht unerheblicher Teil der unterschwelligen Motive in
den Religionen oder den unterschiedlichen Formen von Spiritualismus, wenn wir für
einen Moment die positiven Elemente außer Acht lassen, aus Egozentrismus und
Unbescheidenheit bestehen, denn der Mensch muss sich als etwas Wichtiges empfinden,
um die Wünsche überhaupt geltend machen zu wollen, die er in die religiösen
Vorstellungen hineinprojiziert. 742 Ich glaube, dass dies mit dem Ziel, Sinnhaftigkeit für
das Leben aufzustellen, nicht wirklich als kompatibel betrachtet werden kann, auch wenn
die Vertreter der Religionen davon nicht ausgehen können, und sich vielleicht
dieser unterschwelligen negativen Motive nicht immer bewusst sind. Religiöse Menschen
sind davon überzeugt, dass sie von authentisch edlen Motiven geführt werden. Doch wer
weiß, vielleicht ist es gerade arrogant, zu glauben dies zu wissen. Es scheint mir
unmöglich, sich selbst gänzlich von Unbefangenheit und Unbescheidenheit entlasten zu
können. Jedoch kann ich mit folgendem Zitat auf die Unterstützung R. Hepburns zählen:
"It is natural and not at all absurd for a naturalistic philosopher to seek some
(inevitably limited and provisional) substitute for a metaphysical or religious doctrine
of eternal life. If he judges that doctrine to be logically incoherent anyway, there is
all theless reason to protest if he chooses to savour those facets of experience that
give a partial backing to the doctrines. The important thing is that he should himself
be under no illusions. When he uses the vocabulary of timelessness, the
'metaphysical pathos' of his discourse must be appropriate to his real beliefs and
must not borrow illegitimate splendour from the theism and mysticism he rejects." 743
740 Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge (MA): Harvard University Press 1971.
741 Wie z. B. Epikur oder die Utilitaristen von einer rein subjektiven und persönlichen Empfindung als Basis ihrer
Theorie ausgehen und dann damit einen größeren Kontext aufstellen. Wir können uns die Frage stellen, ob 'Lust' als
Konzept für die Ethik dienlich sein kann, ohne es jedoch zur Gestaltung von Sinnhaftigkeit gebrauchen zu können,
so wie es in Nozicks Glücksmaschine dargestellt wird (Nozick, Robert: Anarchy, State, and Utopia, New York:
Basic Books 1974, S. 42 ff.)
742 Vgl. auch Russell S. 79.
743 R. W. Hepburn: Questions about the Meaning of Life (1966), S. 139.
132
10) "was du wollen kannst": Da ich kein Kant-Experte bin, kann ich nicht mit
größtmöglicher Präzision erklären, wie diese Formulierung in seinem KI zu deuten ist.
Ich für meine Belange verbinde wollen mit können, um auf redundante Weise (da dieser
Aspekt ebenfalls an anderer Stelle durchscheint → Punkt 3) zum Ausdruck zu bringen,
dass es sich nicht um ein gänzlich willkürliches Wollen handeln sollte, wenn es darum
geht, Sinnhaftigkeit zu konstruieren. Das 'wollen können' sollte ein reflektiertes, überlegtes
und vernunftgesteuertes Wollen sein, nicht lediglich ein impulsgesteuerter Urtrieb.
Das 'Wollen' selbst bildet diejenige Komponente im LSRI, die die freie ungezwungene
Zusage fordert. Ich bin mir nicht ganz im Klaren, ob und inwiefern ich mich hierdurch
der beschriebenen Inkompatibilität zwischen Soll- und Ist-Sätzen schuldig mache.
Ich vermute jedoch nicht. Ich glaube, dass es einen Unterschied gibt zwischen Soll- und
Ist-Sätzen auf der einen Seite und zwischen Emotionalität und Rationalität auf der anderen
Seite.744 Ich sehe keinen Widerspruch darin, Sätze mit normativem Gehalt oder mit
einer normativen Dimension rational denken und logisch miteinander verknüpfen
zu wollen, und die Emotionalität (so gut es geht) aus den Überlegungen herauszuhalten,
auch wenn Emotionalität als Idee sehr wohl rational behandelt werden kann, so wie es
auch in unserem Kontext sein sollte, denn die Emotionalität an sich ist eine Realität und
kann als zu untersuchender Gegenstand gesehen und gedacht werden, und in Sätze mit
normativem Gehalt eingebunden werden.
11) Schlussendlich glaube ich, dass man dem LSRI weder reine Subjektivität noch reine
Objektivität zuweisen kann. Es handelt sich nicht um eine rein objektive Stellungnahme,
weil es nicht den Versuch unternimmt, etwas zu ermitteln, das extern, also außerhalb
unseres Geistes existiert. Es handelt sich meines Erachtens jedoch auch nicht um
eine rein subjektive Stellungnahme, da es versucht, durch allgemein gültige Rationalität
etwas aufzustellen, das sich theoretisch gesehen jedem menschlichen Geist aufdrängen
sollte. Soweit die utopisch klingende Theorie. Wir könnten bei diesem LSRI vielleicht von
einem intersubjektiven Ansatz sprechen, um größere gedankliche Schwierigkeiten
zu vermeiden. Wir könnten jedoch auch eine Änderung der bisher üblichen Differenzierung
vornehmen. Wir könnten die Unterscheidung von
"objektiv" einerseits und "subjektiv" andererseits
zu
"in der Natur außerhalb des menschlichen Geistes vorfindbar" einerseits und
"Produkt des Geistes, doch nicht nur im klassisch subjektiven Sinne sondern auch
im Sinne eines von außen messbaren Produktes des menschlichen Geistes"
andererseits
ändern.
Man könnte diesen Standpunkt intersubjektiv nennen, so wie die Theorie von Stephen
Darwall, die T. Metz als vielversprechend eingeschätzt hatte. 745 Es könnte sich außerdem
744 Siehe hierzu auch Kapitel 7.1.
745 Siehe S. 42.
133
bewahrheiten, dass die neuen Errungenschaften der Neurologie und der modernen
Psychiatrie die alten Konzepte von Subjektivität und Objektivität ins Wanken bringen
können, und die Philosophie in näherer Zukunft eine Korrektur der Handhabung
dieser Konzepte und deren semantischer und konzeptueller Verknüpfungen mit anderen
Begriffen in Erwägung ziehen muss.
9. Schlussfolgerung und weiterführende Ideen
Ich glaube, dass diese Arbeit etwas zur Klärung des Ausdrucks 'der Sinn des Lebens'
beiträgt. Die konzeptuellen Verzweigungen, die dieser Ausdruck mit sich bringt, gehen tief
und sind komplex. Dies wurde mir bewusst. Zahlreiche metaphysische Aspekte wurden
aus der Behandlung mit diesem Ausdruck herausgezogen und untersucht. Gleichzeitig
ermöglichte diese Arbeit eine Reihe Begriffsdifferenzierungen, die ein höheres Maß
an Ordnung schaffen, auch wenn der gesamte Sachverhalt immer noch nicht ganz
durchsichtig erscheint. Ferner bietet diese Arbeit eine Art Zusammenfassung
der angelsächsisch-analytischen Forschung bezüglich des zu behandelnden Ausdrucks.
Somit kann sie als Ausgangspunkt dienen, wenn Interesse besteht, weiter in die Materie
einzutauchen. Insofern bin ich meinem Anspruch gerecht geworden.
Mit der Klärung dieses Ausdrucks wurden außerdem diejenigen Grenzen gesteckt, die die
angelsächsisch-analytische Philosophie für diesen Ausdruck im Allgemeinen vorgibt.
Eine besonders herausragende Grenze besteht darin, die Sinnhaftigkeit nicht mehr ganz
außerhalb der geistigen Projektion ansiedeln zu können. Jedoch muss dies nicht
notwendigerweise als rein individuelles oder rein subjektives Verfahren gewertet werden.
Eine intersubjektive Herangehensweise kann durchaus in Erwägung gezogen werden.
Außerdem konnte sie vom religiösen Glauben losgekoppelt werden, da gezeigt wurde,
dass supranaturalistische Theorien die Sinnhaftigkeit des Lebens nicht gewährleisten
können und umgekehrt kein religiöser Glauben von Nöten ist, um Sinnhaftigkeit aufstellen
zu können. Im Allgemeinen ist der angelsächsisch-analytische Ansatz kaum mit
theistischen oder supranaturalistischen Vorstellungen kompatibel. Eine weitere besondere
Abgrenzung besteht darin, die selbst gesetzte Sinngebung nicht mehr als pessimistische
oder gar deprimierende oder lebensverachtende Gegebenheit akzeptieren zu müssen.
Ist der Schreck der Einsicht der Ungültigkeit alter Vorstellungen einmal überwunden,
besteht die Möglichkeit, selbstprojizierte Sinngebungen als motivationsfördernde und real
existierende Geistesprodukte anzuerkennen.
Es bleiben jedoch viele Fragen offen. Eine dieser Fragen würde mich außerordentlich
interessieren, obwohl ich jedoch nicht glaube, dass sie ausschließlich innerhalb
134
der Philosophie behandelt werden kann: Hat das Phänomen der Sinngebung eine
evolutive Funktion? Oder: Ist Sinngebung Ausdruck der Intelligenz in evolutionstechnischer Hinsicht, und soll sie als Vorteil für uns Menschen oder vielleicht sogar als
Nachteil in Betracht gezogen werden? So befürchtete z. B. J. Kekes, dass sich
die Fähigkeit, die Sinnfrage überhaupt stellen zu können, vielleicht in irgendeiner Form
gegen unsere eigene Existenz richten könnte:
"Maybe a capacity has evolved in us, and it will undo us." 746
Wenn man die existentielle Desorientierung und Desillusionierung betrachtet, die wir bei
einigen Philosophen und bei vielen Menschen um uns herum beim Stellen dieser Frage
ausmachen können, so scheint dies nicht irrelevant zu sein. Diesem Gedanken kann man
weiter nachgehen und sich fragen, ob die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens
nicht am Ende doch nur ein unbewusster psychologischer Versuch ist, einen für
sein psychisches Gleichgewicht notwendigen Sinnzusammenhang
aufzustellen.
Hier scheint sich ein möglicher Teufelskreis aufzutun. Ist er vermeidbar? Außerdem bin ich
sehr daran interessiert herauszufinden, ob mein Lebenssinnrechtfertigungsinstrument als
gedanklicher Ausblick irgendetwas taugt.
Genauso wichtig wie die vorangegangenen Fragen ist meines Erachtens auch
die Auseinandersetzung mit dem naturalistischen und dem moralistischen Fehlschluss.
Was wird eigentlich aus diesem Fehlschluss, wenn man Konzepte wissenschaftlich als
Konfigurationen neuronaler Wechselwirkungen im Hirn bestimmen kann, und damit
zumindest indirekt die neuronale Emergenz der Wollens- und Sollens-Sätze beobachten
kann? Auch wenn ich in meiner Arbeit eine strikte Trennung zwischen Ist- und Soll-Sätzen
gefordert habe, so bin ich mir trotzdem nicht ganz sicher, wie diese Logik
dem naturwissenschaftlichen Fortschritt standhalten kann. Mir scheint überhaupt die
Fusion von Philosophie und Neurowissenschaften sehr vielversprechend und
zukunftsweisend zu sein. Ich würde mir gerne einmal auf einem Scanner ansehen,
was das Gehirn eigentlich tut, wenn es 'Sinnhaftigkeit' denkt. Ob man irgendwelche
Schlüsse für die Philosophie daraus ziehen kann?
Das Wichtigste bei diese Arbeit ist mir jedoch die Erkenntnis, dass konzeptuelle
Präzisierungen und Begriffsdifferenzierungen vorgenommen werden müssen, um den
Antrieb der Diskussion insgesamt gewährleisten zu können. Diese Vorgehensweise stellt
seit jeher ein Grundpfeiler der analytischen Philosophie dar. Sie sollte nicht unterschätzt
werden: Bei mir persönlich hat sie einen Erdrutsch überkommener Vorstellungen bewirkt.
Als neugieriger Mensch kann ich dies nur begrüßen.
746 J. Kekes: The Meaning of Life (2008), S. 241.
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