Einleitung Wenn bei Wittgenstein von Solipsismus die Rede ist, so denken die meisten an den Tractatus und an das metaphysische Subjekt, das dort plötzlich inmitten von Überlegungen zu den Themen Welt, Denken, Sprache und Logik »auftritt«. Bei vielen erregt die Diskussion der Solipsismusproblematik in einem Buch, das innerhalb der logischen Analyse einen wichtigen Stellenwert hat, Erstaunen, ja sogar Befremden. Denn Wittgenstein setzt sich ausgerechnet mit einer Position auseinander, die eigentlich der Erkenntnistheorie zuzurechnen ist, sich zudem dort nur geringer Beliebtheit erfreut und spätestens nach dem Linguistic Turn und der damit einhergehenden sprachanalytischen Kritik an epistemologischen Fragestellungen endgültig für überwunden gilt. Gewiss, vieles scheint gegen den Solipsismus zu sprechen, denn die Ansicht, dass nur allein Ich existiere, nach landläufigem Verständnis Kernthese dieser philosophischen Position, wird im Allgemeinen als absurd, ja schlichtweg als lächerlich angesehen. Dies verbürgt die Praxis des täglichen Miteinander, in der sich der Gedanke des einsamen Ich, des solus ipse als konfus und widersprüchlich erweist. So mag es zwar sein, dass jemand, der ernstlich darauf besteht, nur er allein existiere, nicht stringent widerlegt werden kann, da er bereits das Dasein seines argumentierenden Gegenübers bezweifelt, vertreten und durchgehalten werden kann diese Position in der Alltagswirklichkeit jedoch ebenso wenig. Im wirklichen Leben ist der Solipsismus, wie etwa Schopenhauer meint, nur im »Tollhaus« anzutreffen und bedarf eigentlich gar nicht der Widerlegung, sondern der Heilung.1 Ähnliches bringt Russell zum Ausdruck, wenn er schreibt: »The solipsism (…) is a view which is hard to refute, but even harder to believe«.2 Diese Ansicht wird auch deutlich in Russells Einleitung zu der englischen Ausgabe des Tractatus, in der er Wittgensteins »somewhat curious discussion of solipsism« zwar so neutral wie möglich, aber dennoch extrem knapp erörtert und damit wohl darauf abzielt, das Thema des Solipsismus im Trac1 2 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung [1819], Bd. I, 1995, S. 163. B. Russell, An Outline of Philosophy [1927], 1976, S. 302. 12 Einleitung tatus als harmlosen Fehltritt in einem ansonsten sehr ernst zu nehmenden Werk der logischen Analyse zu behandeln. Hat man – wie einst Russell – nur den Tractatus vor Augen, so mag dieser Beurteilung eine gewisse Plausibilität zueigen sein, denn in Wittgensteins Frühwerk überwiegen tatsächlich die Überlegungen zu Themen wie Logik, Sprache und Welt. Betrachtet man jedoch das gesamte Werk, so zeigt sich, dass der Solipsismus nicht die belanglose Nebensache sein kann, als die Russell diese Position gerne erledigt hätte. Vielmehr handelt es sich um ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte philosophische Entwicklung des Philosophen zieht. Stets aufs Neue wird diese extremste Form von Subjektivität behandelt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln sowie verschiedenen Aspekten beleuchtet – anfangs im Rahmen der logischen Analyse der Sprache, in der Zwischenphase vor dem Hintergrund eines sich ständig verändernden Sprachkonzepts und schließlich noch einmal in der sogenannten Spätphilosophie im Zusammenhang mit dem Verständnis von Philosophie als Therapie. Allein die Beobachtung der Tatsache, dass Wittgenstein den Solipsismus in seinem gesamten Werk wiederholt thematisiert, lässt natürlich zunächst offen, wie er sich dazu verhält. Der Rezeption wird jedoch ein Urteil abverlangt. Im Allgemeinen besteht dies darin, dass Wittgenstein im Tractatus eine solipsistische Position vertrete, die er dann in den Philosophischen Untersuchungen verwerfe. Dabei werden generell alle Bemerkungen zum Solipsismus, die sich in den späteren Schriften finden, als Kritik an dieser Position gelesen. Eine solche Interpretation rückt Russells Bewertung im Grunde nur etwas zurecht. Der Solipsismus wird als Jugendsünde abgetan, entschuldbar deshalb, weil Wittgenstein in reiferen Jahren Abstand davon nimmt. Diese Interpretation war lange Zeit fast unumstrittener Standard.3 Unter anderem dürfte das darauf zurückzuführen sein, dass sie sich problemlos in eine über Jahre ebenso unumstrittene generelle Bewertung von Wittgensteins Werk einfügt, nach der es zwei Philosophien gibt, wobei letztere, nämlich die Philosophischen Untersuchungen, als Kritik an den »Irrtümern« (PU, Vorwort) ersterer, sprich des Tractatus, betrachtet werden muss. Durch zahlreiche Texte aus dem Nachlass, die erst in jüngerer Zeit zugänglich gemacht wurden, verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Exegeten, zumindest zum Teil, von den beiden Hauptwerken auf Manuskripte 3 Der bekannteste Vertreter dieser Lesart ist P. M. S. Hacker (Einsicht und Täuschung, 1978, S. 87 ff., S. 251 ff.; Wittgenstein. Meaning and Mind, 1990). Er meint, dass Wittgenstein im Tractatus einen transzendentalen Solipsismus vertrete, den er im Spätwerk dann eingehend kritisiere. Einleitung 13 und Typoskripte. Mit jeder Neuerscheinung wurde die Rezeption differenzierter, detaillierter und veränderte sich schließlich insgesamt. Heute sucht man in der Forschung weniger Unterschiede als vielmehr Zusammenhänge zwischen dem frühen und dem späten Wittgenstein nachzuweisen und betont Kontinuitäten anstatt Divergenzen. Solche Tendenzen machten sich auch in der Rezeption der Solipsismusproblematik bemerkbar, führten allerdings bisher weniger zu einer tieferen Klärung der Thematik als zu einer Polarisierung der Ansichten: Wenn die einen behaupten, Wittgenstein sei nie ein Solipsist gewesen, meinen die anderen, er habe Zeit seines Lebens eine solipsistische Auffassung vertreten.4 Derartig divergierende Urteile hat Wittgenstein unter anderem sich selbst zuzuschreiben. Er verwendet den Terminus »Solipsismus« nicht immer eindeutig. Manchmal, besonders in der Spätphase, nennt er den Solipsisten mit dem Idealisten in einem Atemzug und scheint dabei das einsame Ich der epistemischen Tradition zu meinen, das eigentlich ins »Tollhaus« gehört, weil es, die Welt und die Mitmenschen ausgrenzend, von sich behauptet, nur es selbst existiere. Manchmal, vor allem in der Frühphase, scheint es Wittgenstein um eine andere Form des Solipsismus zu gehen, eine Form, bei der das Subjekt die Distanz zur Welt, die in der Erkenntnistheorie als Subjekt-Objekt-Trennung festgeschrieben wird, dadurch aufhebt, dass es diese eingrenzt, dabei aber selbst aus der Realität verschwindet, genauer »zum ausdehnungslosen Punkt zusammenschrumpft« (T 5.64). Die Frage, ob Wittgenstein Solipsist war oder nicht, kann daher nicht einfach mit »ja« oder »nein« beantwortet werden; sie bedarf einer terminologischen Klärung, die schließlich zu einer Differenzierung der Antwort führt. Wie der Titel der Arbeit bereits erahnen lässt, soll die Unterscheidung zwischen dem ausgrenzenden Solipsismus, der die episistemische Trennung zwischen Subjekt und Objekt in letzter Konsequenz zuspitzt, 4 Als Vertreter erstgenannter Auffassung sind vor allem zu nennen: E. M. Lange (Wittgenstein und Schopenhauer, 1989, S. 69), D. Pears (The False Prison, 1989, Vol. 1, S. 80 ff.; The Originality of Wittgenstein’s Investigation of Solipsism, in: European Journal of Philosophy, Vol. 4/2, 1996, S. 124-136). Die gegenteilige Ansicht findet sich bei D. Bell (Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt, in: W. Vossenkuhl, Von Wittgenstein lernen, 1992, S. 29-51, Solipsism and Subjectivity, in: European Journal of Philosophy, Volume 4/2, 1996, S. 155-174), G. Gabriel (Solipsismus: Wittgenstein, Weininger und die Wiener Moderne, in: Zwischen Logik und Literatur, 1991, S. 89-109; Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 1993, S. 149 ff., S. 184 ff.), S. Lalla (Solipsismus bei Ludwig Wittgenstein, 2002) und W. Vossenkuhl (Wittgenstein, 1995, S. 176 ff.; Wittgensteins Solipsismus, in: W. Lütterfelds, A. Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, 1999, S. 213-243). 14 Einleitung und dem eingrenzenden Solipsismus, der ganz im Gegenteil zur Aufhebung der Trennung führt, den Schlüssel liefern zu der Hauptthese, die hier vertreten wird: Es geht darum nachzuweisen, dass sich die viel zitierten kritischen Bemerkungen, die hauptsächlich im Spätwerk zu finden sind, gegen eine erkenntnistheoretische Position wenden, die Wittgenstein selbst nie eingenommen hat, wohingegen er im Tractatus eine Form des Solipsismus vertritt, die in der Spätphase zwar ihren Ausschließlichkeitscharakter verliert, dort jedoch als wichtige Erfahrung erhalten bleibt. Dies bedeutet letztendlich, dass der Philosoph die philosophische Wende zur logischen Analyse und die damit einhergehende Überwindung epistemischer Subjektivität bereits in jungen Jahren vollständig vollzogen hat, dass er aber trotz seines großen Interesses für Logik und Sprachphilosophie an der Rettung des Subjekts stark interessiert bleibt. Um die Frage zu beantworten, warum dies so ist, darf der Solipsismus nicht nur aus einem innersemantischen Blickwinkel betrachtet werden. Ernsthafte philosophische Fragestellungen sind für Wittgenstein, der stets existentiell denkt, Ausdruck von existentiellen Problemen – insbesondere die Frage nach einem angemessenen Verständnis des Ich spielt in diesem Kontext eine große Rolle. Sie stellt die Triebkraft dar für den Versuch, dem Solipsismus in einem sprachphilosophischen Umfeld einen neuen Stellenwert zu geben. Allem voran zeigt dies die grundlegende Zielsetzung des Tractatus: Dort geht es Wittgenstein erklärtermaßen darum, die richtige Sicht der Welt, oder – wie man auch sagen könnte – die richtige Einstellung des Ich zur Welt zu finden. Wenn der Philosoph also in seinem frühen Werk von Solipsismus spricht und den eingrenzenden Solipsismus meint, bei dem das Subjekt aus der Welt verschwindet, dabei aber die ihm koordinierte Realität übrig lässt, dann ist dies, existentiell gewendet, gleichzusetzen mit der gelassenen Anschauung des Gegebenen in der vita contemplativa, gewissermaßen der in der vita activa so deutlich werdenden »Not der Welt zum Trotz« (vgl. Tb, 13. 8. 16 ). Wittgensteins Lebensproblem »verschwindet« auch in der Zeit nach dem Tractatus nicht aus seinem Denken; im Kontext seiner zweiten Philosophie taucht es wieder auf. Freilich wird die philosophische Ausformulierung als Solipsismusthematik im Rahmen der in späteren Jahren immer wieder stattfindenden Auseinandersetzung mit der Tractatus-Philosophie einer kritischen Erörterung unterzogen. Dies führt jedoch weniger zu einer generellen Überwindung des subjektorientierten Ansatzes als vielmehr zu einer allmählichen Ausdifferenzierung der Thematik vor dem Hintergrund der philosophischen Tradition. Wenn Wittgenstein im Tractatus in gewisser Weise naiv von Solipsismus spricht, damit aber einen ganz bestimmten meint, so kommen nun auch andere Formen, insbesondere die der episte- Einleitung 15 mischen Tradition in den Blick. Einschlägig hierfür sind die Manuskripte der sogenannten »Zwischenphase« von 1929 bis 1933/34, in der der Philosoph seine Gedanken immer wieder überarbeitet, korrigiert und so bestimmte neue Unterscheidungen herausarbeitet, die schließlich eine Differenzierung der Überlegung zum Solipsismus zur Folge haben. In der Spätphase gabelt sich die Argumentation auf in zwei getrennte Gedankengänge, einerseits in die Kritik an der erkenntnistheoretischen ausgrenzenden Form des Solipsismus, andererseits in die Wiederaufnahme der bereits im Tractatus dargestellten eingrenzenden Variante, allerdings in eingeschränkter Weise. Dabei ist Wittgensteins Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie nicht als Kritik am Subjekt schlechthin zu lesen, sondern lediglich als Auseinandersetzung mit dessen Deutung als eines um sich selbst wissenden Subjekts. Um angemessene Subjektivität, verstanden als kontemplative Einstellung des Ich zur Welt, bemüht Wittgenstein sich nach wie vor, auch wenn diese nun ihren Ausschließlichkeitscharakter als einzig richtige Sicht verloren hat. Dieser Grundstruktur folgend gliedert sich die Untersuchung zum Solipsismusproblem in drei Teile: Im ersten Teil geht es vor allem um die Darstellung der spezifischen Form des Solipsismus in der Frühphilosophie, um den historischen Hintergrund, vor dem sie verständlich wird, sowie um ihre sprachphilosophische Aufarbeitung im Rahmen des logisch-analytischen Denkens, dem Wittgenstein in jungen Jahren verpflichtet ist. Der zweite Teil behandelt die Zwischenphase, die sich nicht nur als eine Suche nach einem neuen Sprachverständnis gestaltet, sondern auch als ein ständiges Bemühen um eine angemessene Antwort auf die existentielle Frage nach dem richtigen Verhältnis von Ich und Welt. Dabei ändert Wittgenstein seine Position bezüglich des Solipsismus wiederholt: Dem anfänglichen Versuch, diese Position phänomenologisch zu retten, folgt eine eher kritische Phase im Rahmen der Überlegungen des Big Typescript, die jedoch kurze Zeit später modifiziert wird in der Übergangsarbeit zur Spätphilosophie, dem Blauen Buch. Der dritte Teil ist den Philosophischen Untersuchungen gewidmet, in denen Wittgenstein sich darum bemüht, den unterschiedlichen Facetten, die der Terminus »Solipsismus« philosophiehistorisch aufweist, im Rahmen seines neuen therapeutischen Philosophiekonzepts gerecht zu werden. Einerseits spricht Wittgenstein sich im Privatsprachenargument gegen die epistemische Variante des nur um sich selbst wissenden Subjekts aus, andererseits gesteht er der eingrenzenden Form des Solipsismus eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, die vor allem an den Überlegungen zur »übersichtlichen Darstellung« (PU 122) und zum »visuellen Zimmer« (PU 398) festgemacht werden kann.