74 Die Zähne Die Zähne Dem Gaul ins Maul geschaut Zähne sind mit Abstand die härtesten Gebilde im Körper, egal ob bei Mensch oder Tier. Der Aufbau des Gebisses und der einzelnen Zähne ist stark abhängig von der Nahrungszusammensetzung eines Lebewesens. Deshalb lassen sich große Unterschiede zwischen einem Menschengebiss und einem Pferdegebiss ausmachen, wie wir jetzt sehen werden. Alles beginnt mit den Milchzangen Foto rechts: Noch nicht sichtbar, aber wenige Tage nach der Geburt brechen beim Fohlen die Milchzangen durch. Expedition_Pferdekörper.indd 74 Im Gegensatz zu neugeborenen Babys kommen Pferdekinder bereits mit Zähnen auf die Welt. Die Milchschneidezähne (Milchzangen) sind meist schon vorhanden oder brechen spätestens innerhalb weniger Tage durch. Die vorderen Backenzähne folgen ebenfalls wenige Tage danach. Nach sechs Wochen kommen die beiden Mittelzähne (neben den Schneidezähnen) und ungefähr sechs Monate später brechen die Eckzähne durch (neben den Mittelzähnen). Diese Zahlen sind natürlich nicht in Stein gemeißelt, denn es gibt Schwankungen zwischen den einzelnen Zahndurchbrüchen. Bei manchen Pferden finden sie früher statt, bei anderen später. Im Durchschnitt ist das Milchgebiss eines Fohlens mit etwa neun Monaten komplett: Es verfügt dann über zwölf Schneidezähne und zwölf Backenzähne. Sind die Milchzähne noch weiß 07.12.2009 16:29:00 Uhr Alles beginnt mit den Milchzangen Expedition_Pferdekörper.indd 75 75 07.12.2009 16:29:01 Uhr 76 Die Zähne und glänzend, verfärben sich die bleibenden Pferdezähne in ein Gelbbraun. Der Durchbruch der bleibenden Zähne beginnt mit etwa einem Jahr. Die hinteren Backenzähne, Molare genannt, schieben sich mit ein bis dreieinhalb Jahren durch. Die vorderen Backenzähne, Prämolare, wechseln zwischen zweieinhalb und vier Jahren, die Schneidezähne zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren. Mit etwa fünfeinhalb Jahren ist das Gebiss komplett ausgebildet, und biologisch betrachtet ist ein Pferd auch in diesem Alter erst ausgewachsen. Die vier Hengstzähne erscheinen zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr. Diese Hakenzähne sitzen isoliert zwischen den Eckschneidezähnen und den Molaren, jeweils zwei oben und zwei unten. An diesen Hengstzähnen bildet sich aufgrund der exponierten Lage sehr häufig Zahnstein, was zu Zahnfleischentzündungen führen kann. Hengstzähne waren kautechnisch schon immer bedeutungslos und sind für unsere domestizierten Equiden inzwischen ein Überbleibsel aus früherer Zeit, denn sie dienten ursprünglich Kampfzwecken. Diese Zähne sind nur noch für die wenigen freilebenden Pferde von Belang; entweder im Kampf gegen andere Hengste oder zur Verteidigung der Herde. Stuten haben in der Regel keine Hengstzähne, doch bei manchen Tieren, die ein hengstähnliches Exterieur haben, wurden schon welche gefunden. Entfernen muss man diese Zähne nicht (wegen Kieferbruchgefahr ist das auch nicht ganz ungefährlich), aber oftmals beschleifen, weil sie scharfkantig sind und zu Verletzungen von Zunge und Lippen führen können. Liegen sie allerdings unter der Schleimhaut – hier spricht man von blinden Hengstzähnen – können beim Auftrensen Schmerzen auftreten. Dann werden die Zähne freigelegt und das Problem ist damit meistens beseitigt. Das endgültige Gebiss eines Pferdes hat 12 Schneidezähne und 24 Backenzähne plus 4 Hengstzähne. Die Anzahl schwankt also zwischen 36 und 40. Zwischen Eckzahn und erstem Molar klafft eine Lücke, genannt Diasthema. In diese Lücke wird beim Auftrensen das Gebiss gelegt. Pferdezähne schieben ihr Leben lang aus Expedition_Pferdekörper.indd 76 07.12.2009 16:29:01 Uhr Die Wolfszähne – ein Relikt 77 dem Kiefer heraus und zwar rund 2 bis 3 Millimeter pro Jahr, da auf der Zahnoberfläche ein Abrieb stattfindet. Im Idealfall werden sie beim Fressen auch um genau diese Länge abgenützt. Doch wie groß letztendlich der Abrieb ist, hängt vom angebotenen Futter ab. Je härter, desto höher der Abrieb. Da der Oberkiefer des Pferdes etwas breiter ist als der Unterkiefer, kommt es zu einem schrägen Abschleifen der Zähne. Alte Pferde haben oft nur noch Zahnstummeln im Kiefer und können deshalb hartes Futter nicht mehr kauen, sodass sie spezielles Seniorenfutter benötigen, wie etwa eingeweichte Heucobs. Die Wolfszähne – ein Relikt Im Gegensatz zu den Hengstzähnen sind Wolfszähne geschlechts­ unabhängig. Es können bis zu acht an der Zahl im Pferdegebiss auftauchen, was jedoch in dieser Häufigkeit nur selten vorkommt. Sie brechen schon zwischen dem sechsten und achten Monat durch und sitzen als ursprüngliche Molare direkt vor den vorderen Backenzähnen. Meist im Ober-, weniger im Unterkiefer. Wenn sie das Zahnfleisch nicht durchstoßen, spricht man auch hier von blinden Wolfszähnen. Sie sind ein Relikt der Evolution. Vor ungefähr 60 Millionen Jahren besaß das prähistorische Pferd, das im subtropischen Südamerika beheimatet war, noch sieben Backenzähne pro Reihe. Es ernährte sich damals von Sukkulenten, das sind saftreiche Pflanzen, wie sie in Trockengebieten zu finden sind (die Aloe Vera gehört beispielsweise zu dieser Gattung). Großer Zahnabrieb fand nicht statt, war auch nicht notwendig bei dem Futter. Dafür besaß das Pferd aber mehr Backenzähne, eben die heutigen Wolfszähne. Doch im Verlaufe der Evolution, durch Klima- und Vegetationsveränderungen, verwandelte sich Südamerika in trockenes Gras- und Steppenland, und auch das Urpferd musste sich diesen Veränderungen anpassen. Statt der saftigen Sukkulenten gab es nur noch Raufutter. Das führte nicht nur zu einer Veränderung der Verdauung, sondern auch zu einer Umbildung der Kauwerkzeuge. Aus diesem Grund haben sich die Wolfszähne im Laufe der Zeit zurückentwickelt und sind überflüssig geworden. Expedition_Pferdekörper.indd 77 07.12.2009 16:29:01 Uhr