Carl Schmitt entmythologisieren_in Beiträge zur Plettenberger

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Beiträge zur Pfettenherger Stadtgeschichte
Hrsg. im Auftrage der Stadt Flettenberg
von Martina Wirtkopp-Beine
Band4
Carl Schmitt
in der Diskussion
Zusammengestellt von Ingeborg Villinger
Plettenberg 2006
© 2006 Stadt Flettenberg,·Flettenberg '
Vertrieb: Stadt Flettenberg
Umschlagfoto: Fernuniversität Hagen
,
Umschlag und Satz: Jürgen Beine, Flettenberg
Herstellung: Joussen und Gocke, Dortmund
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
Pühl, Hans Adalf. Vorwort .. .. .. .. .. .. .. .. ... ... .. .. ... .. .. .. .. .. .. ...... .... ... .. ..... ..... .. .. .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. .. .. ..... .. .. . 7
Villinger, Ingebarg: Einleitender Überblick ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .... .. ... .. .. .. .. .. .. ...... .. ...... .. ... .. ... .... .. .......... 9
Dascher, Ottfried: Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung "Verortung des Politischen Carl Schmitt in Plettenberg" .......................................................................................... 19
Tammissen, Piet: Carl Schmitt und der Nationalsozialismus. Ein Überblick ................................. 21
Grass, Raphael: Juden und das "Jüdische" im Denken und Werk Carl Schmitts .......................... 35
Hachhuth, Martin: Carl Schmitt entmythologisieren. Begriffliches und Existentielles
im Staatsdenken, am Beispiel eines Scheiteros ... .. ... .. .. .. .. .. ........ .. ... ... .. ..... ... .. .. .. ... .... . 45
Böckenförde, Ernst- Walfgang: Carl Schmitt in der Diskussion ... .. .... .. .... .. .. .. .. ... .. ... .. .. .. .. ...... .. .. .... 59
Falz, Hans-Peter: Die Verfassungslehre des Bundes von Carl Schmitt
und die Europäische Union ..... .. .. .... .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... ..... .. ...... .. ...... .. .. .. .. ........ 69
van Laak, Dirk: "Carl Schmitt saß immer mit am Tisch ... ".
Aspekte der Wirkungsgeschichte des Juristen nach 1945 .... .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. .. . 85
Hüsmert, Ernst: Carl Schmitt in Flettenberg ....... .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... ... .. ...... .. ... ... .. .... .. .. .... .. 97
Martin Hochhuth
Carl Schmitt entmythologisieren.
Begriffliches und Existentielles im Staatsdenken, am Beispiel eines Scheiteros
I. Carl Schmitt "vom Kopf auf die
Füße stellen"?
1.1 Das Bild einer kopfStehenden Philosophie
Carl Schmitt "entmythologisieren", Carl Schmitt
"vom Kopf auf die Füße stellen" - ein seltsames
Bild. Es behauptet, Carl Schmitt stehe Kopf und
solle nun umgedreht und richtig hingestellt werden. Seine Theorie wird damit in einigen Zügen für
nützlich und richtig erklärt, aber zugleich für grundverkehrt. Karl Marx hat mit demselben Bild Hegels
Theorie zugleich gelobt und angegriffen. Hegels
Theorie schien ihm rl.chtig, allerdings schien sie
ihm am falschen Ende verankert. Regel konstruierte
vom Geist, vom Bewußtsein her, Marx aber wollte vom Sein, vom Tatsächlichen her denken, wollte
aus dem sogenannten "objektiven Idealismus" Hegels einen Materialismus machen. 1
Die Umdrehung, die ich mit Carl Schmitt vorhabe,
soll seine zum Teil sinnvollen Theoriestücke mit
den Füßen auf die Erde bringen. Was bedeutet das
1) Marx schreibt über "Die mystifizierende Seite der Hegeischen Dialektik": "Die Mystifikation, welche die Dialektik in
Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre
allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfa~sender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf
Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kerri, in der mystischen Hülle zu_entdecken." (Nachwort zur 2. Auflage des ,,Kapitals", hier nach: MEW Band 23, Seite 27.
aber, Carl Schmitt zu erden? Inwiefern steht er denn
mit den Füßen in der Luft?
Ich möchte versuchen, Folgendes zu zeigen:
Carl Schmitt hat voller Scharfsinn einige Brüche
des aufgeklärten abendländischen demokratischen
Rechtsstaates erkannt. Ebenso fühlte oder sah er
einige Mängel, die die Aufklärung insgesamt hatte
und teilweise noch hat. Er sprach an, manchmal verzerrt, oft aber präzise, woran diese mächtige Bewegung bis heute leidet. Durch diese Kritik nützt er.
Ebenso nützlich allerdings ist er, im Rückblick,
durch seine katastrophal falschen Abhilfe-Vorschläge. Er ist das Musterbeispiel des autoritätsgläubigen und autoritätsbedürftigen Charakters
im entgötterten - im nihilistischen - Zeitalter. Er
scheitert dadurch, daß er die Modeme, anstatt sie
zu verbessern, verrät. Am 30. Januar 1933 ergriffen die sog. Nationalsozialisten, eine antimoderne
Bewegung, die Macht. Sie lehnte das begrifflich
rationale Denken der Modeme ab und behauptete "Existentialität" und eine Rückkehr zum "Eigentlichen". Carl Schmitts Anbiederung2 an die
2) Hasso Hofmann zählt 40 nazifreundliche Veröffentlichungen
Carl Schmitts allein in den Jahren 1933- 1936. Vgl. im Einzelnen das Carl-Schmitt-Kapitel in: Martin Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts (Nomos-Verlag Baden-Baden, 2000, zugl.: Freiburg i. Brsg., Univ. Diss 1997/1998), S.
443-457 mit zahlieichen weiteren Nachweisen.
45
Martin Hochhuth
verbrecherische Führungjenes neuen Staates soll als
Beispiel für Gefahren dienen, die dem aufgeklärten,
systematischen, vernünftigen Denken auch heute
wieder drohen. Auch die sogenannte Nachmodeme
("Postmoderne") verabschiedet, wie manche alten
und neuen Fundamentalismen, die Auflärung und
ihre Errungenschaften.
1.2 Der Gang der Darstellung
Zu diesem Ergebnis sollen drei Kapitel hinfuhren.
Zunächst wird kurz die These aufgestellt. Oder vielmehr: es wird nur an sie erinnert, denn die These
ist das ohnehin derzeit noch Gegebene: der aufgeklärte, abendländische demokratische Rechtsstaat
und die ihn tragenden philosophischen und weltanschaulichen Fundamente. Er ist uns allen präsent
genug; wir sind in diesem System aufgewachsen.
Das nächste Kapitel stellt die Antithese dagegen,
den Angriff, die Kritik, die Infragestellung der Modeme. Sie, die kritische Frage, wird gerade in der
Gestalt Carl Schmitts anschaulich. Diese Antithese, der Angriff auf den modernen Staat, gebraucht
scharfe Waffen. Die Selbstwidersprüche unseres
Systems gehören ebenso dazu wie einige Selbstwidersprüche, in die das vernünftige Denken sich
selber notwendig zu verwickeln scheint, ebenso der
moderne Nihilismus. Nicht nur Carl Schmitt, sondern auch zahlreiche andere wichtige Geister des
Neunzehnten und vor allem Zwanzigsten Jahrhunderts wandten sich von der Aufklärung ab. Die Erschütterung der Fundamente dürfen wir nic_ht leicht
nehmen, denn sie dauert fort. Hierwird Carl Schmitt
als paradigmatischer Fall gezeigt. lm dritten Hauptstück s.odann (IV.) wird die Synth~se versucht. Die
Denkströmung, zu welcher Carl Schmitt gehört,
das Existenzdenken oder der Existentialismus - ich
verwende die Ausdrücke synonym - wird als eine
Ergänzung, als eine konstruktive Opposition zur
Aufklärung aufgefaßt. Im vierten Kapitel werde ich
auch deutlicher zeigen, warum die sogenannte Postmodeme vom Existenzdenken her verstanden werden muß, sofern sie nicht bloße Sophistik ist. Von
ihr droht zwar wahrscheinlich kein neues Nazitum,
auch wenn das Bekenntnis zur Beliebigkeit alles
zuläßt, und folglich sogar Nazismus. Von ihr droht
jedoch erneut jene Hilflosigkeit des Geistes, in die
er gerät, wenn er sein mächtiges Verteidigungs- und
Weltverbesserungswerkzeug, das kritisch begriffliche Denken, leichtfertig aus der Hand legt.
II. These: Der freiheitlich demokratische
Rechts- und Verfassungsstaat der Modeme
Die "These" sei, wie erwähnt, der moderne, liberale, sich an das Recht bindende Staat, der sich,
aus west- und mitteleuropäischen und nordamerikanischen Anfängen erwachsen, weltweit als Erfolgsmodell verbreitet. Dieser Staat versteht sich
als konstruiertes Begriffsgebäude, als ein Deutungs- und Bestimmungsschema für Fragen des
Sollens oder Nicht- Sollens, also fiir "Normativität". Er erstrebt Gleichheit und Gerechtigkeit durch
Objektivität und Formalität. Sein - der Idee nach
-in der Regelmaschinenhaft mechanisches Punktanieren ist ein evidenter Fortschritt gegenüber der
Willkür des Fürsten oder auch nur des Richters.
Wie die Rechtsprechung, so macht auch das Aus-
Carl Schmitt entmythologisieren
handeln der Interessenkonflikte im Parlament die
Machtentscheidungen seltener und weniger bedeutsam. Kompromisse und Gleichgewichte treten an
die Stelle selbstherrlicher Dezision. Solchem - im
Idealfall gelingendem - Ausgleich nach innen gesellt sich im Völkerrecht ein Bündel vergleichbarer
Konfiiktvermeidungs- und Konfliktmilderungsmechanismen zu.
Der kritisch nachdenkliche Beobachter der Rechtsverhältnisse und Weltläufte allerdings wird diese
Darstellung zu optimistisch finden. Damit kommen
wir zur Antithese.
III. Zur Antithese
Der Angriff, die Kritik, die Infragestellung der Modeme hat mächtige Truppen, weil sie starke Argumente zu haben scheint - oder: hat?
111.1 Diagnose
III.l.A Das Scheitern des Objektiven
an wirklichen Aporien
Das fak:ti.sch vorhandene Recht des gegebenen, verweftlichten aufgeklärten Staates leidet an Selbstwid.ersprüchen. Aporie nennt man ein Problem, das
nicht befriedigend aufgelöst, sondern nur durch problematische Entscheidung, wie ein gordischer Knoten, "erledigt" werden kann. Eines der bedeutsamsten, das wir nicht loswerden, ist die unauflösliche
Spannung von Demokratie einerseits .und Freiheitsrechten andererseits. Entgegen den Konsensoptimisten kommt es hier immer wieder 'zu Brüchen.
Ebenfalls mit der Demokratie hat di~ quälende
Frage zu tun, ob sie diesen Namen noch verdient,
wenn sie zur Stimmungs- und Medien- Demokratie
verkommt: zur gesteuerten, oft hysterischen, sich
an Kleinigkeiten festhakende Pseudoveranstaltung.
Ähnlich problematisch stellen sich· Gewaltenteilung und Richterbindung dar. Sie sind Grundlagen
der freiheitlichen Staaten. Aber die Schwächen der
juristischen Methode oder der Kontrolldichte-Problematik verleihen ihnen einen illusorischen Beigeschmack. Oder, andere Probleme, möglicherweise
noch schwerer wiegend: Der gezielte polizeiliche
Todesschuß, der sich nicht immer vermeiden läßt:
paßt er zum Grundrechtsstaat? Und fügt es sich zum
Grundrechtsstaat, wenn wir, trotz der Problematik
des Schuldbegriffs, lebenslange Freiheitsstrafe aussprechen müssen? Das Grundgesetz erhebt mit Art.
19 Abs. 2 GG, mit der Wesensgehaltssperre,3 einen
Anspruch, der nicht immer eingelöst werden kann.
Den gleichen, nicht immer einlösbaren Anspruch,
erhebt die Gewissensfreiheitsgarantie. All das ist an
anderer Stelle ausgeführt worden. 4
Diese Aporien sollen nicht überdramatisiert werden. Sie lassen sich abfedern. Dennoch gibt es sie.
Außerhalb der Rechtsordnung, aber für sie selbst
nicht weniger bedeutsam, ist die umfassende Ökonomisierung der Gesellschaft, die den Menschen in
zahlreichen Beziehungen zur Recheneinheit erniedrigt. Dieses Phänomen allerdings (das hier ebenfalls
nicht vertieft werden kann) ist keine Frucht der Auf3) Art. 19 Abs. 2 GG lautet: "In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden."
4) Zur Problematik des Art. 19 Abs. 2 GG vgl. Rechtstheorie
2006 (im Erscheinen). Zu den übrigen Aporien vgl. detailliert
den systematischen "Besonderen Teil" der oben (Fn. 2) zitierten
Doktorarbeit, S. 85-182, S. 187-197 und S. 225-336.
47
Martin Hochhuth
klärung; es hat aber in der Modeme an Deutlichkeit
gewonnen. Die Vereinzelung des Individuums, die
Infragestellung objektiver Strukturen, verschärft
es. Eine Erschütterung des Aufklärungsoptimismus
kommt aber auch noch aus zwei anderen Richtungen.
Einmal aus der mit dem Namen Sigmund Freuds
verbundenen Tiefenpsychologie. Sie verschafft uns
Einsicht in die Macht des Unbewußten, sie formuliert das Unbehagen an der Kultur. Mit Max Webers
Namen verbunden, allerdings zu Unrecht, denn es
geht schon aufDavid Hume zurück5, ist die Einsicht
in die Subjektabhängigkeit von Wertbegründungen.
III.l.B Der Widerspruch in Kants System
reden. Die Spannung und der auf den ersten Blick
erscheinende Widerspruch werden jedoch begreiflich, wenn man sich an den obigen Terminus "Deutungs- und Bestimmungsschema" erinnert. 6 Er ist
weit zu verstehen. Solche Schemata oder auch Formenschätze entlasten den Menschen im Alltag von
der Pflicht zur Selbstentscheidung. (Das gilt auch für
die Rechtsordnung eines funktionierenden Staates).
In diesen "objektivierten Strukturen des Normalverhaltens" ist der Mensch ganz und gar "aufgehoben".
Im Grenzfall allerdings muß er selbst entscheiden,
dann tritt seine Subjektivität hervor. Dies aber ist
der Ort des kategorischen Imperativs.
-In dieser Grenzfrage liegt damit bereits ein Übergang zu jener Subjektivität, die eine der wichtigsten
Gegenströmungen kennzeichnet, auf die wir gleich
kommen.
Einen Riß im scheinbar unproblematischen, allzu
optimistischen Bild der Aufklärung bildet auch die
folgende Frage der Kantinterpretation: Kant fordert einerseits Staatsgehorsam und fügt sich damit
in die überwiegende Lehre ein. Andererseits stellt
er sein gesamtes Sollen-Denken letztlich auf den
kategorischen Imperativ. Dieser Dreh und Angelpunkt aber paßt nun gerade überhaupt nicht zum
Staatsgehorsam. Er ermächtigt ja den einzelnen.
Der kategorische Imperativ lautet ja nicht: "Tue das
Allgemeine", s~mdem er lautet: "Handle so, daß Du
zugleich wollen kannst, daß Deine Handlung allgemein sei". Das muß hier nicht vertieft werden. In
Erinnerung gerufen sei jedoch die Fragwürdigkeit
im Fundament selbst. Wir haben also bei Kant, dem bedeutendsten Systematiker des westlichen Rechtsstflates, eine verstörende Spannung zwischen zwei ·Grundsätzen; ich
meine, man darf sogar von einemSelbstwiderspruch
Die Probleme der Modeme haben zahlreiche Oppositionen hervorgerufen. Eine der wichtigsten scheint
mir die Existenzphilosophie zu sein. Ihre M,:erkmale
sind oft dargestellt worden, brauchen hier keine Widerholung. Ich möchte aber aufvier in unserem Zusammenhang besonders wichtige verweisen. Erstens
die Bedeutung der Entscheidung, zweitens die Subjektivität. Die Subjektivität einerseits, insofern als
das Empfinden, die Stimmung eine Rolle spielt; die
Subjektivität aber auch andererseits insofern, als das
persönliche Handeln und Tun (das Reagieren) nun
5) Vgl. ebd.
6) Vgl. soeben oben, bei li.
48
III.2 Die Gegenströmung:
Existentialistisches Denken
III.2.A Allgemeine Charakteristik
Carl Schmitt entmythologisieren
in den Vordergrund der philosophischen Erwägung
tritt. Drittens die nihilistische Grundierung, also die
Leugnung, das Nichtgegebensein eines Objektiven.
Objektivität ist fiir diese Bewegung immer fragwürdig. Sie kann zwar unter Umständen angenommen
werden, dann aber muß es eine vom Subjekt selbst
gesetzte Objektivität sein. Das gilt, paradox genug,
sogar bei den religiösen Existentialisten: Ich finde
meinen Glauben nicht mehr ohne weiteres vor, ich
bin nicht im Glauben, weil ich regelmäßig zur Kirche gehe, sondern muß mich zu Gott entscheiden.
Weit typischer allerdings fiir das Existenzdenken
ist die Areligiosität, die denn auch bei den meisten
Autoren dieser Strömung überwiegt. Viertens ist die
Bedeutung der konkreten Situation in ihrer Zeitlichkeit und Begrenztheit, einschließlich des in ihr
möglichen Scheiteros und Verfehlens, der Schwerpunkt der Betrachtung. Was das bedeutet, wird im
Gegensatz zur "normalen" Ethik klar, die auf das
Abstrakte, Allgemeine und Begriffliche - und darum Ewige abstellt. - Für unser Thema wichtig: zum
Existenzdenken gehört die Situationsethik Sie ist
immer konkret-individuell und wird im Mitleid anschaulich. Sie kann aber auch radikalen Egoismus
bedeuten, so wie etwa beim Gründervater Max Stirner oder bei dem späten, dem zum individualistischen Anarchismus gekehrten Ernst Jünger.
III.2.B Die Sollensordnung bei den Existentialisten
Die existenzphilosophische Denkströmung ist vielfältig. Ich habe an anderer Stelle die These aufgestellt, man komme, wenn man den Existentialismus
zu Ende denke, auf eine Art von freiheitlichem,
individualistischem Anarchismus, a!lso extremem
Liberalismus. Das bedeute ein "Sich-Durchwurschteln" im Sinne von Karl Poppers ,,piece-meal engineering". Man komme zu einem piece-meal- anarchism. Wenn man zu einem anderen Ergebnis
komme, so war dort die These, so habe man den
Existentialismus verfehlt. Dies kann nicht im einzelnen wiederholt werden. Verwiesen sei jedoch
auf das promimente Personal dieser Denkströmung
mit dem schon erwähnten Ernst Jünger, mit Albert
Camus, mit Heidegger, Sartre, Nietzsche, Maihofer,
Karl Jaspers und eben mit Carl Schmitt, der hier, in
Plettenberg, ausruhrlieh zu besprechen ist.
Die These zum übrigen Personal dieser Geistesbewegung ist kompliziert. Sie lautet: Kein einziger
von ihnen war - oder war sogar immer, was ich
eben doch nahelegte - ein liberaler, d. h. ein nicht
sozialistischer Anarchist. Bei einigen aber, etwa bei
Stimer, dann beim spät ernüchterten, vernünftiger
gewordenen Ernst Jünger; vor allem aber bei Albert Camus, finden sich Tendenzen in dieser Richtung. Wemer Maihofer, der eine Rechtslehre auf die
Existenzphilosophie aufzubauen sucht, ist meiner
Meinung nach damit gescheitert. Dieses Scheitern
spricht allerdings nicht wirklich gegen ihn, denn mit
der Existenzphilosophie ist kein Staat zu machen.
Wemer Maihofer ist in die stoische Philosophie geraten, als er versuchte, Existentialist zu sein. Der
grundlegende Unterschied zur stoischen Philosophie ist aber, daß der Existentialist sich in einer entgötterten Welt weiß. Der Stoiker dagegen weiß sich
vom göttlichen Geist, griechisch: vom "Logos", sicher gefiihrt. Nolentem trahit, valentem ducit7 • Das
7) Den Gefügigen führt es, den Widerstrebenden schleift es mit
sich.
Martin Hochhuth
gilt für den Existentialisten nicht mehr, der diesen
Logos selbst und alleine zu entwerfen und zu verantworten hat. Wo immer die Existenzdenker sich
dennoch auf eine Objektivität zu stützen suchten,
sind sie in alte Denkmodelle zurückgefallen. Das
gilt fiir den frühen Ernst Jünger ebenso wie fiir
Heidegger, nicht nur in seiner nationalsozialistischen Phase, ebenso wie fiir Sartre in seiner marxistischen Phase und, so meine ich, aber das bedürfte
noch vertiefter Untersuchung, fiir Nietzsche in seinen Träumen vom "Willen zur Macht".
IV. Zur Synthese
IV. I Der geglückte Spagat- Kar! Jaspers
Das Scheitern der angeführten Autoren läßt sich
auch deuten als ein Mangel an begrifflich rationalem
Denken. Der Vorrang der Existenz, der subjektiven
Entscheidung, der Sprung zum Eigentlichen und
zur Aktivität, den sie von Kierkegaard, dem anderen Schulgründer neben Stirner, gelernt hatten,
verführte sie zu einem generellen Abschied von der
Aufklärung. Allein der nüchterne Arzt Karl Jaspers
gibt den bereits erreichten Stand von Philosophie
und Wissenschaftnicht Preis. Er sieht den Fortgang
der philosphia perennis in ihr. Sie habe sich nunmehr, nämlich in seiner Epoche, auf die Existenz zu
richten. Jaspers war nie in seibern Maße Mode wie
nach dem Kriege Sartre und Camus. und w_ie heute
Heidegger. Er ist jedoch einer der wichtigsten Exponenten dieser gesamten Bewegu1;1g. Dies deshalb,
weil er. die beiden philosophischeri Zweige, die in
Widerstreit zu geraten scheinen, richtig ortet. Er
50
hält am Objektiven und Vernünftigen, am lehrbaren
Schulphilosophieren fest; er engagiert sich z.B. zugleich auch fiir eine vernünftige Politik. Das ist aufklärerisch und humanistisch. Und es verträgt sich
bei ihm mit dem Existenzdenken als einem Appell
zur Aktivität, zum eigenen Schicksal, zur Verwirklichung. Das beweist: Man kann Existenzialist und
doch ein alltagspraktischer Mensch mit liberalem,
rationalem Engagement sein.
Es trifft zwar zu, daß wie bei Camus und Sartre,
wie in dem Ausdruck acte gratuit ausgesprochen,
das Engagement auch als "absurd" erscheinen kann.
Absurd, widersinnig mag es erscheinen, angesichts
der Unbeweisbarkeit eines objektiv Richtigen, angesichts der möglichen Abwesenheit Gottes. Das ist
die PositionSartres und Camus'. Aber es muß nicht
absurd, es kann auch sinnvoll sein. Der Existenzdenker wird eine Art selbständigerVollzieher-man
könnte sagen, ein Laienpriester - des Weltgeistes.
Das Camus'sche Bild des Sysiphos ist nicht die einzige passende Interpretation des Sich-Einsetzens.
IV:2 Das Existentielle an den Systemrändern
Wie paßt denn nun aber das Existenzdenken zum
begrifflich-rationalen Rechtssystem?- Insbesondere dann, wenn dieses Rechtssystem als eine objektivierte Struktur verstanden wird, in der das Individuum als solches "verschwinde"?- Ich schlage eine
Systematisierung vor, die sich mit einem Rückblick
auf den großen Philosophen Thomas Hobbes erläutern läßt. Hobbes legt die Idee des Gesellschaftsvertrages dar. In diesem Vertrag unterwerfen sich alle
Einzelnen dem Staat und gründen ihn zugleich. Er
wird zum Schutze des Existentiellen geschlossen.
Carl Schmitt entmythologisieren
Bei Thomas Hobbes ist dieses Existentielle allerdings auf den Schutz des nackten Lebens beschränkt.
Erst Max Stirner und später Carl Schmitt erkennen,
daß das Existentielle sich nicht begrifflich auf ein
bestimmtes, fiir alle gleiches Schutzgut einhegen
läßt. Sie sehen, daß es nicht das Leben sein muß,
was einem Gesellschaftsvertragspartner so wichtig
ist, daß er um seinetwillen den Staatsgehorsam aufgibt und Aufstand, Verfolgung oder Bürgerkrieg riskiert. Die Zeugen Jehovas z.B., die lieber den Tod
in Kauf nehmen, als Kriegsdienst zu leisten, zeigen,
an welch überraschender Stelle etwas Existentielles
ein Individuum zur äußersten Verteidigung drängen
kann. Wegen dieser Unhegbarkeit des Existentiellen
in zuvor festgelegten Begriffen, auch Rechtsbegriffen, kann nun ausgerechnet das Schutzsystem des
Existentiellen, der Staat, es wieder bedrohen.
Dies führt zu keinem Scheitern der Idee des Gesellschaftsvertrages im strengen Sinne. Die freiheitlichen westlichen Staaten, besonders der des Grundgesetzes, halten genug "weiche Stellen" bereit, um
diesem Grundproblem gerecht zu werden. Die sogenannte "Verhältnismäßigkeit" ist eine solche Stelle,
das schon oben erwähnte Übermaßverbot, ebenso
die unantastbaren Grundrechtskerne, oder die Menschenwürde-Garantie. Prinzipiell funktioniert das
System so, daß es im Regelfalle nach seinen eigenen, allgemeinen Begriffen entscheidet, daß es aber
sich in Grenzfällen ausdifferenziert, indem es das
- überraschend auftauchende - Existentielle zu erkel)llen versucht, es schont und - regelnd - in sich
aufnimmt.
Jenes Laien-Priestertum, d.h. die Selbstverantwortung des Objektiven, die Setzung des Objektiven
durch mich, den Einzelnen allein, fordert das, was
salopp "Ich,Stärke" heißt. Es fordert den "Mut, Dich
Deines eigenen Verstandes zu bedienen", den Kant
zur Maxime der Aufklärung gemacht hat. Oder,
wieder anders gewendet: Wir sind, wie Sartre sagt,
zur Freiheit verdammt. Indessen: Verdammt - condamne- in harmloserer Übersetzung also: verurteilt
zu sein, - heißt das denn zugleich, daß man auch
zum Vollzug imstande sei?
IV. 3 Das Problem des "katechon "
Das erwähnte Scheitern durch Rückfall, nämlich
durch zuwenig rationale Philosophie, illustriert, wie
angekündigt, vor allem Carl Schmitt. Die Überlegungen zu Schmitt beginnen jedoch nicht mit ihm
selbst, sondern mit einem biblischen Problembegriff, mit dem Katechon. Die ganze Philosophie, die
ich am Beispiel des plettenberger Staatsrechtiers zu
umreißen suche, läßt sich am Begriff des Katechans
zuspitzen. Ich lese aus dem zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher. Da ist vom Abfall von
Gott, vom Widersacher die Rede,
"der sich erhebt gegen alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt
und vorgibt, er sei Gott [ ... ] Und ihr wißt, was ihn
noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit.
Denn es regt sich schon das Geheimnis der Bosheit.
Nur muß der, der es jetzt noch aufhält, hinweggetan
werden, und dann wird der Böse offenbart werden.
Ihn wird der Herr J esus umbringen mit dem Hauch
seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch
seine Erscheinung, wenn er kommt."
Worauf es hier ankommt, ist nicht der Widerchrist
oder Antichrist, sondern der, der den Antichristen,
51
Martin Hochhuth
den Widersacher noch aufhält für eine Zeit. Es ist auf
griechisch der oder das Katechon, dasjenige, was es
noch aufhält, oder derjenige, der es noch aufhält.
In diesem Satz des Paulus taucht, und zwar in allen Übersetzungen gleichermaßen, die aufhaltende
Macht zweimal auf, mit wechselndem Geschlecht
'
einmal sächlich und einmal männlich. Der Satz ist
grammatisch verbogen bei Paulus selbst. Einmal
"das, was den Widersacher noch aufhält", und dann
"der, der den Widersacher noch aufhält".
Der Katechon, der Aufhalter, ist schon früh in der
christlichen Literatur, nämlich bei Augustinus, Gegenstand des Nachdenkens. Wer ist diese aufhaltende Macht? Der evangelisch-katholische Gemeinschaftskommentarzum Neuen Testament meint die
'
aufhaltende Macht, der Katechon, sei der Heiland,
Gott selbst. Das wäre praktisch, aber kann nicht
stimmen. Paulus ist nämlich leider eindeutig: Erst
kommt der Katechon, der Aufhaltende, dann wird
der Aufhaltende hinweggetan vom Satan oder irgendeiner Lügenmacht, die Irrtümer streut und sich
für Gott ausgibt, und danach erst, im dritten Schritt,
kommt der Heiland und vertilgt den Satan mit der
Kraft seines Mundes, durch sein bloßes Erscheinen.
Es kann nicht der Heiland sein. Nicht der Heiland
kommt und wird vom Teufel oder Widerchristen
beseitigt und kehrt dann wieder, sondern irgend etwas anderes, noch nicht der Heiland selbst, ist jene
aufhaltende Macht, aber wer? Carl Schmitt fragt im
Glossarium, einer Art Tagebuch, am 19. Dezember
1947:
'
"Ich wollte eigendich von Ihnen wissen: wer ist heute
der Katechon? Man kann doch nicht Churchill oder
John Foster Dulles dafür halten. Die Frage ist wichtiger als die nach dem Jüngersehen Oberförster. Man
52
muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. D~r Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden ... "
Die Erwähnten Churchill und Dulles sind auf der
Siegerseite des eben verlorenen Weltkrieges. Der
Jüngersehe Oberförster ist eine mythische Herrschergestalt aus dem Roman Auf den Marmorklippen. Alle drei Interpretationsangebote, die Schmitt
hier macht - Churchill, Dulles, Oberförster - und
sogleich ablehnt, sind Autoritäten. Ich vermute daß
'
diese - falsche - Suche Carl Schmitts nach äußerer
Autorität ein Schlüssel zu seinem Gesamtcharakter
ist. Sie erklärt seine Anbiederung an Hitler und seine Bande, der am 30. Januar 1933 die Macht ergriffen hatte.
Der grammatische Bruch im Satz des Paulus, das
Katechon und der Katechon, kann er nicht bedeuten, daß die objektive Struktur im Zweifelsfalle
durch das konkrete Individuum verantwortet werden muß? Im Regelfall herrscht die objektive Struktur des Staates, herrschen das Recht und die Ordnung scheinbar ohne uns. So sah zur Zeit der frühen
Christenheit eine damals verbreitete Interpretation
das Römische Reich als die aufhaltende Macht an.
Im Grenzfall aber muß der Einzelne selbst hervortreten und als Katechon handeln. Es ist gerade ein
Charakteristikum der Modeme, das Richtig und
Falsch nicht mehr vorgegeben sind. Um dies deutlich zu machen, habe ich die existenzphilosophische
Strömung mit ihrer unerfreulichen Weltbeschreibung dargestellt. Wir können der Autonomie nicht
entrinnen, weil wir den Logos nicht mehr vorfinden,
wie die Stoiker. Erlauben Sie darum ein weiteres Zitat aus der Epoche des Existentialismus. Es stammt
Carl Schmitt entmythologisieren
von einem Freund Carl Schmitts, von Ernst Jünger.
In seinem Essay Der Arbeiter heißt es:
Hierzu gehört ein Gefühl der Überlegenheit und das
Bewußtsein einer Originalität, wie es dem Bürger
freilich fehlt, der ja nicht Sicherheit besitzt, sondern
sucht, und daher auch über Sicherheit des Urteils
nicht verfügt. Dies ist der Grund, aus dem er der Dämonie jeder geschichtlichen Erscheinung hilflos und
ohne eigene Haltung unterliegt, und aus dem er dazu
neigt, jeder historischen Größe, die er gerade betrachtet, Macht über sich zu verleihen. 8
IV.4 Individuum und Objektivität in der Moderne
Warum lohnt es, sich mit Carl Schmitt, und gar mit
seinem Grübeln über den Katechon zu beschäftigen? - In Carl Schmitt wird die Frage der Modeme
Gestalt. Die Modeme scheint zum Nihilismus zu
führen. In Wahrheit führt sie aber nur zur Selbstverantwortung (Autonomie). Autonomie bedeutet
das was das deutsche Wort Gesetz erahnen läßt:
das' Gesetz ist nichts Vorgefundenes, vom Himmel
herab Geschenktes, es muß gesetzt werden. Für den
Staat bedeutet dies: er bleibt Setzung, reines Werkzeug, Deutungsschema zum Zwecke von Sicherheit
und Gerechtigkeit. Diese Interpretation, die in Hans
Kelsen ihren prominenten Vertreter hatte, mißfällt
noch heute manchem. Daß sie gleichwohl zutrifft,
zeigen besonders Revolutionen: In ihnen verflüchtigt sich ein u.U. machtvoller Staat innerhalb von
wenigen Tagen. Die meisten von un& habende~ Untergang der nach innen und außen waffenstarrenden
8) Ernst Jünger, "Der Arbeiter", S. 216.
DDR in lebhafter Erinnerung. Den Staat als Deutungsschema zu bezeichnen, leugnet oder schmälert
seine Macht nicht. Es weist lediglich daraufhin, wo
diese Macht ihren faktischen und zugleich logischen
Ort hat: in den Köpfen, oder, wenn man poetischer
sprechen will, in den Herzen der Beteiligten. Im
Ausnahmefall, in Entscheidungs- und anderen existentiellen Situationen, wird erkennbar, wo die Souveränität sich befindet. -Wo sie sich auch im alltäglichen Normalfall befindet. - Carl Schmitt jedoch
war nicht imstande, sie woanders als in cäsarischen
Gestalten, in Machthabern, etwa in dem von ihm
verehrten Hindenburg, davor im Kaiser, zu sehen; in
grossen" Persönlichkeiten. Wenn wir Carl Schmitt
::auf die Füße" stellen, so ist genau die Umkehrung
in diesem Punkt gemeint. - Damit das verstanden
wird müssen wir auch den Subjektbegriff klären
und Ja: ausnüchtern. - Und wir müssen etwas über
das Verhältnis dieser Subjektivität zur Objektivität
sagen. 9 "Objektivität" sind die geistigen Strukturen,
in denen wir uns bewegen, die uns prägen. Die Sprache, die musikalische Harmonielehre, die Regeln
der Höflichkeit. All dies hat man den "objektivierten
Geist" genannt. All dies sind Deutungschemata. Geradeso wie das Recht. Wir empfinden diese Symbolgebäude zu recht als "objektiv". Aber mitunter wird
die Rolle des Subjekts sichtbar: In den Künsten und
der Sprache läßt sich zeigen, wie der Wandel des
Gesamtgebäudes durch subjektive, "kleine" Entscheidungen von individuellen Beteiligten stattfindet. Es werden neue Ausdrücke durch Abschleifen
von alten oder auch durch Erfindungen eingeführt.
Es werden in den Künsten neue Darstellungsformen
9) Vgl. dazu schon die Andeutungen oben, Seiten 46 ff., 48 f.
53
Martin Hochhuth
entdeckt und durchgesetzt. Das Gesamtgebäude
bleibt stabil und verständlich fiir die Beteiligten,
obwohl es sich durch Entscheidungen der beteiligten Subjekte ständig im Kleinen verwandelt. Die
Idee vom Deutungsschema ist kein Anarchismus,
auch wenn daran festgehalten werden muß, daß die
Deutungsschemata in den Köpfen der Beteiligten
sind, und die Objektivität nur von den Beteiligten
entworfen wird. Die Beteiligten sind sich dieser ihrer subjektiv radizierten Macht nicht bewußt, in der
Regel spielt die subjektive Radizierung auch keine
Rolle. Nur im extremen Grenzfall wird erkennbar,
wer der Herr der objektiven Strukturen ist.
Und so, wie es in den Künsten oder der Sprache
nicht nur die ganz großen Ausnahmegestalten sind,
die den Wandel bewirken, so ist es auch in Recht und
Politik. Nicht nur der Staats- oder Parteiführer, auch
der "kleine" Amtsrichter hat das Ganze unter Umständen zu verantworten. Das trifft für beide Arten
von Situationen zu, die es in unseren Überlegungen
zu unterscheiden galt und weiter gilt. Im Ausnahmefall wie Revolution, Staatsstreich, Bürgerkrieg
("Ausnahmezustand") - wie im Rechtsalltag. - Im
normalen Rechtsalltag, fällt es nur weniger auf.
Doch der Wandel kommt auch hier zustande oder
wird auch hier verhindert durch den kleinen Einzelnen, ganz undramatisch.
Allerdings möchte ich nicht mißverstanden werden,
wenn ich von der Subjektabhängigkeit der objektiven Strukturen, wie etwa dem Recht, der Sprache,
usw. rede. Erlauben Sie daher eine Analogie zur
Physik, um die Unterscheidung von Grenzfall zu
Normalfall zu verdeutlichen. Für den alltäglichen
physikalischen Hausgebrauch genügt noch immer
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die klassische, gewissermaßen altmodische Physik,
die mit den Namen Galileis und Newtons verbunden
ist. Dennoch weiß heute jeder, daß mit Planck, Heisenberg, Einstein und Bohr jene klassische Physik
bei sauberer theoretischer Darstellung als abgelöst
gelten muß. Für den Hausgebrauch der Physik ist
es jedoch möglich, zwei Physiken scheinbar unverbunden und ohne daß sie sich störten, parallel zu
verwenden. Die klassische gilt im anschaulichen
Bereich, bei normalen und mittleren Geschwindigkeiten und Massen, die moderne Physik Plancks,
Heisenbergs, Einsteins und Bohrs gilt im Extrembereich, im unanschaulichen, nämlich im makro- und
im mikrokosmischen Bereich. Es kommt fUr den
Geometer, der das Land vermißt und sich dabei nach
der Sonne richtet, beim Gebrauch seiner Instrumente nicht darauf an, daß in Wirklichkeit die Erde sich
um die Sonne dreht. Der Wissenschaftshistoriker
Thomas Kuhn berichtet, 10 daß die Astronomie in
der Ausbildung der Geometer noch immer geozentrisch sei, also astronomisch "eigentlich falsch". Das
stört ihn, den Wissenschaftstheoretiker. Mich, den
Juristen, stört es nicht. Wenn der praktische Alltag
so ausgebildeter Geometer darunter nicht leidet, ist
das völlig unbedenklich. Ähnlich verhält es sich
mit der Rechtsordnung. Selbstverständlich gilt sie
unbezweifelt und unabhängig vom je Einzelnen. Er
hat ihr zu gehorchen, andernfalls kann er gezwungen werden. Im äußersten Grenzfall jedoch wird
sichtbar, daß die Geltung der Rechtsordnung insgesamt auf dem Einzelnen beruht. Die katechantische
Funktion des Einzelnen, von der ich spreche, soll
10) Hier zitiert nach der Dissertation Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, FN 152 m.w.N.
Carl Schmitt entmythologisieren
also nur im äußersten Grenzfall relevant werden.
Carl Schmitt ist von Belang, weil er sich mit diesen äußersten Grenzfällen beschäftigt hat. Er ist ein
abschreckendes Beispiel, weil er in ihnen falsch
gefolgert hat. Der sogenannte Nationalsozialismus
war verlockend, weil er die nihilistische, entgötterte
Modeme abzulösen schien. Das "Räsonnieren", das
schon Marx und Kierkegaard an der Modeme gestört hatte, wurde durch eine entschlossene, scheinbar bodenständige Entscheidung ersetzt. Sie erlöste aus der Haltlosigkeit der Modeme und aus den
"Schrecken der Autonomie". Die Generation Carl
Schmitts fiel auf die Nationalsozialisten in großer
Zahl herein. Es gibt jedoch - etwa Karl Engisch
oder auch der späte Ernst Jünger oder Claus Stauffenberg - Beispiele für unterschiedliche Grade des
Nicht-Hereinfallens. Carl Schmitt tat mit Heidegger
zusammen den Schritt zurück aus der Modeme in
eine Vormodeme. Zuletzt floh er weiter, ebenfalls
wieder wie Heidegger (und wie schon Regel), in die
"Geschichte". Auch nach dem Scheitern des Nationalsozialismus erkannte er also nicht, daß er die
Fundamente bei sich selbst suchen mußte.
Dies ist die gewissermaßen protestantische Zuspitzung des aufklärerischen Autonomiezwanges. Wir
sind, wie Sartre sagen würde, zu ihr verurteilt. Die
Einsicht in die Brüche des begrifflichen Denkens
und in die Notwendigkeit, das Existentielle ernst
zu nehmen, sowohl das Existentie,lle im Krieg und
der Bedrohung von außen als auch das Existentielle im Bereich des Subjektiven, führte Carl Schmitt
während der Nazizeit zum falschen ~iel. Er suchte
auch im Ausnahmezustand noch nach "objektiver"
Entlastung. Der Ausnahmezustand darf aber gera-
de nicht weiter in die vermeintliche "Objektivität"
hineinlocken. Gerade er zwingt zur subjektiven,
zur selbstverantworteten Entscheidung. Die entlastenden Strukturen des "objektivierten Geistes", wie
man Sprache, Recht, aber auch die Kunstformen im
Anschluß an Nicolai Hartmann nennt, entlasten ja
gerade im Grenzfall nicht mehr. Es muß dann ein
individualistisches Naturrecht hervortreten, daß von
der Konstruktion her in der Tat wie Anarchismus
aussehen kann.
Wo das Begriffliche in seiner aufklärerischen Gipfelform scheitert, da scheitern aber erst recht alle
älteren, ebenfalls "Objektivität", vielleicht sogar
"Heilseinheit" beanspruchenden Modelle. Das
Existentielle würde durch sie dann noch schwächer
geschützt, als durch das· moderne, begrifflich-rationale System. Der Einzelne muß daher eine Art
"Laienpriester" der Objektivität werden. Wobei
Laienpriester bedeutet, daß er keinen Bischof und
auch sonst keinen geweihten Priester über sich hat,
der ihm die eigene Entscheidung hier noch abnähme. Damit wird jedoch nur deutlicher, was ohnehin
immer schon im Aufklärungsdenken steckte.
JV.5 Die theoretische Aktualität
in der" Nachmoderne"
Es kann nur ein Ausblick sein, wenn ich Carl
Schmitt auch noch als eine Figur der Nachmodeme
("Postmoderne") zur Diskussion stelle. Die Wirrnis
der Diskurse, die alle als objektivierter Geist verstanden werden müssen, d. h. als Strukturen, die
sich vom einzelnen Individuum, das an Ihnen teilnimmt, unabhängig denken lassen (sie sind Spra-
Martin Hochhuth
ehe, sie sind Denkfiguren), die Wirrnis dieser Diskurse macht auch hier subjektive Dezision nötig.
Der Eindruck, den die vom Nihilismus affizierten
Generationen - eben Carl Schmitt, Martin Heidegger (Jahrgangsgenossen von Adolf Hitler), aber
auch Ernst Jünger und Karl Jaspers -hatten, könnte
sich noch verstärken: man könnte nun meinen, es
sei noch eindeutiger, daß es Wahrheit, daß es Objektivität nicht gebe. Auch von seriösen - von an
sich seriösen - Philosophen und Autoren hören wir
Entsprechendes. Es bleibt Unsinn für den Bereich
der Wissenschaften und für den Bereich der systematischen Philosophie. Und die Notwendigkeit
subjektiver Dezision überall dort, wo es um mein
ganz persönliches Existentielles geht, beseitigt jene
Objektivität ebenfalls nicht. "Objektivität" bleibt
als anzustrebendes Ziel, als regulative Leitidee des
Denkens und Forschens möglich. Und sie bleibt
verpflichtend, wann immer ich mit anderen über etwas rede, was nicht mein Privatbereich oder reine
Geschmacksfrage ist. Die Gefahr der leichtfertigen
Verabschiedung des Objektiven hat dennoch in unserer Epoche eher noch zugenommen.
IV. 6 Praktische Aktualität
Autoren wie Lyotard, Foucault und Agamben, vor
allem aber Derrida zeigen deutlich, daß es hier einer
Erinnerung an alteuropäische Aufklärungserrungenschaften bedarf. Schon bei M1;1-rtin Heidegger beginnt eine gewisse Gaukelei, die nicht nuf Kritiker,
sondern auch Bewunderer angemerkt haben 11 • Das
Beispiel Karl Jaspers zeigt jedoc~, daß der volle
11) Vgl. dazuKarl Löwith, Martin Heidegger: Denker in dürftiger Zeit.
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Ernst des Existenzdenkens ergriffen werden kann,
ohne rationales Engagement und nachvollziehbare
Wissenschaft zu vernachlässigen. Die praktische
Aktualität der Denkschule, zu der Carl Schmitt gehört, des Existentialismus also, hat nicht abgenommen. Damit bleiben auch die Gefahren, für die er
ein Beispiel ist, gegenwärtig. Das vernachlässigte
Existentielle ist beim Individuum nach wie vor das
Gleiche wie vor achtzig, 160 und 200 Jahren. Das
abstrakt-begfriffliche System, wie auch die sich total funktionalisierende Welt müssen beide vom Individuellen absehen. Sie vernachlässigen darum aber
solche Eigenschaften, die zum Menschen doch unverzichtbar dazugehören. Die kommunitaristische
Diskussion, die Gender--Diskussion erinnern uns
ebenso daran wie die Fundamentalismen in weiten
Bereichen der Welt. Terroranschläge, die mitten im
Frieden unsere Wirtschaftszentren treffen - etwa
der 11. September 2001 - erinnern an Zweierlei: an
die Unhegbarkeit des subjektiven Willens durch die
Begriffe des Rechts und an die Ortlosigkeitdes politisch werdenden Existentiellen. Ebenso gemahnen
sie an die von Carl Schmitt tiefgründig problematisierte Schwierigkeit, zwischen Terrorist und Partisan abzugrenzen. 12 Ich will nicht mißverstanden
werden: man kann den Terrorismus eindeutig vom
Partisanenturn abgrenzen. 13 Unser abendländisches
Völkerrecht ist aber bislang noch nicht so weit umgeformt, daß jene arabischen Terroristen in ihm die
12) Zum entsprechenden derzeitigen Streit im Völkerrecht
vgl. in dem von Dieter Fleck herausgegebenen Sammelband,
"Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte/
Legal Issues ofMilitary Counter-Terrorist Operations", BadenBaden (Nomos) 2004, S. 43 ff. und S. 147 ff.
13) Vgl. im ebenzitierten BandS. 57 ff.
Carl Schmitt entmythologisieren
Möglichkeit erkennen, mit ihren Anliegen gerecht
aufgehoben ;zu sein. Ihr atavistischer Rückfall in
den Steinzeit""'~~Islamismus ist analog zu den Rückfällen der nationalsozialistischen und faschistischen
Generationen. Der italienische Faschismus hatte
zum Wahlspruch: "Glauben, Gehorchen, Kämpfen"
(credere, obbedire, combattere). Diese Ausschaltung der Vernunft als Programm galt für die ganze
Bewegung. Ähnliches gilt, wo immer antimoderne,
anti-aufklärerische Symbole als Hinweis auf das
vermeintlich Existentielle gewählt werden. Sofern
nicht pubertäre Wichtigtuerei dahintersteht, kann
auch dies anzeigen, dass ein Mensch sich in unserem
begrifflich-rational organisierten Gemeinwesen mit
seinen "eigentlichsten" Belangen nicht aufgehoben
sieht. Solche Rückfälle dürfen aber für das aufVernunft ausgerichtete, aufgeklärte Rechtssystem der
Demokratie nichts anderes sein als Aufforderung zu
noch mehr Sorgfalt, Freiheit und Gerechtigkeit.
V. Einige weitere Erträge
1. Carl Schmitt sieht das Problem des Katechontischen, das sich immer dann erhebt, wenn die im
Regelfall bergende begrifflich-objektive Struktur
dieser Funktion nicht mehr genügt.
2. Er sieht auch das Problem des Existentiellen. Dessen also, zu dessen Schutz die objektive Struktur, das Recht, da ist.
3. Ebenso sieht er einige Aporien des "Objektiven",
d.h. jener objektivierten Strukturen, in denen unsere
Subjektivität "aufgehoben" ist. Er sieht auch, daß
das Existentielle - oder daß um dieses Existentiellen willen - die objektivierten Strukturen durchstoßen werden können, mitunter müssen.
Aber seine Begriffe von diesem Katechantischen
und Existentiellen sind objektivistisch und dadurch
vormodern. Darum sucht er, seine Selbständigkeit
auch dann noch "nach oben" abzutreten, wo die objektivierten Strukturen, in denen wir sonst "aufgehoben" sind, fehlen oder scheitern. Er selbst, Carl
Schmitt, hätte, so wie Sie und ich und jedermann,
im äußersten Fall, um des Schutzes des Existentiellen willen "katechontisch" hervortreten müssen.
Diese subjektive Entscheidung kann unausweichlich werden, gerade auch. beim "kleinen" Einzelmenschen. Dies ist die existentialistische Struktur,
durch die das Aufklärungsdenken ergänzt werden
muß. Carl Schmitt aber konnte sich hier nur einen
"großen, bedeutenden" Menschen als Handelnden
vorstellen. Das ist der Kategoriefehler. Hier gilt es,
das scheinbar Erhabene zu entmystifizieren und das,
was Kopf steht, auf die Füße zu stellen.
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