Beiträge zur Pfettenherger Stadtgeschichte Hrsg. im Auftrage der Stadt Flettenberg von Martina Wirtkopp-Beine Band4 Carl Schmitt in der Diskussion Zusammengestellt von Ingeborg Villinger Plettenberg 2006 © 2006 Stadt Flettenberg,·Flettenberg ' Vertrieb: Stadt Flettenberg Umschlagfoto: Fernuniversität Hagen , Umschlag und Satz: Jürgen Beine, Flettenberg Herstellung: Joussen und Gocke, Dortmund Alle Rechte vorbehalten Inhalt Pühl, Hans Adalf. Vorwort .. .. .. .. .. .. .. .. ... ... .. .. ... .. .. .. .. .. .. ...... .... ... .. ..... ..... .. .. .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. .. .. ..... .. .. . 7 Villinger, Ingebarg: Einleitender Überblick ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .... .. ... .. .. .. .. .. .. ...... .. ...... .. ... .. ... .... .. .......... 9 Dascher, Ottfried: Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung "Verortung des Politischen Carl Schmitt in Plettenberg" .......................................................................................... 19 Tammissen, Piet: Carl Schmitt und der Nationalsozialismus. Ein Überblick ................................. 21 Grass, Raphael: Juden und das "Jüdische" im Denken und Werk Carl Schmitts .......................... 35 Hachhuth, Martin: Carl Schmitt entmythologisieren. Begriffliches und Existentielles im Staatsdenken, am Beispiel eines Scheiteros ... .. ... .. .. .. .. .. ........ .. ... ... .. ..... ... .. .. .. ... .... . 45 Böckenförde, Ernst- Walfgang: Carl Schmitt in der Diskussion ... .. .... .. .... .. .. .. .. ... .. ... .. .. .. .. ...... .. .. .... 59 Falz, Hans-Peter: Die Verfassungslehre des Bundes von Carl Schmitt und die Europäische Union ..... .. .. .... .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... ..... .. ...... .. ...... .. .. .. .. ........ 69 van Laak, Dirk: "Carl Schmitt saß immer mit am Tisch ... ". Aspekte der Wirkungsgeschichte des Juristen nach 1945 .... .. .. .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. .. . 85 Hüsmert, Ernst: Carl Schmitt in Flettenberg ....... .. .. ... .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. .. .. ... ... .. ...... .. ... ... .. .... .. .. .... .. 97 Martin Hochhuth Carl Schmitt entmythologisieren. Begriffliches und Existentielles im Staatsdenken, am Beispiel eines Scheiteros I. Carl Schmitt "vom Kopf auf die Füße stellen"? 1.1 Das Bild einer kopfStehenden Philosophie Carl Schmitt "entmythologisieren", Carl Schmitt "vom Kopf auf die Füße stellen" - ein seltsames Bild. Es behauptet, Carl Schmitt stehe Kopf und solle nun umgedreht und richtig hingestellt werden. Seine Theorie wird damit in einigen Zügen für nützlich und richtig erklärt, aber zugleich für grundverkehrt. Karl Marx hat mit demselben Bild Hegels Theorie zugleich gelobt und angegriffen. Hegels Theorie schien ihm rl.chtig, allerdings schien sie ihm am falschen Ende verankert. Regel konstruierte vom Geist, vom Bewußtsein her, Marx aber wollte vom Sein, vom Tatsächlichen her denken, wollte aus dem sogenannten "objektiven Idealismus" Hegels einen Materialismus machen. 1 Die Umdrehung, die ich mit Carl Schmitt vorhabe, soll seine zum Teil sinnvollen Theoriestücke mit den Füßen auf die Erde bringen. Was bedeutet das 1) Marx schreibt über "Die mystifizierende Seite der Hegeischen Dialektik": "Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfa~sender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kerri, in der mystischen Hülle zu_entdecken." (Nachwort zur 2. Auflage des ,,Kapitals", hier nach: MEW Band 23, Seite 27. aber, Carl Schmitt zu erden? Inwiefern steht er denn mit den Füßen in der Luft? Ich möchte versuchen, Folgendes zu zeigen: Carl Schmitt hat voller Scharfsinn einige Brüche des aufgeklärten abendländischen demokratischen Rechtsstaates erkannt. Ebenso fühlte oder sah er einige Mängel, die die Aufklärung insgesamt hatte und teilweise noch hat. Er sprach an, manchmal verzerrt, oft aber präzise, woran diese mächtige Bewegung bis heute leidet. Durch diese Kritik nützt er. Ebenso nützlich allerdings ist er, im Rückblick, durch seine katastrophal falschen Abhilfe-Vorschläge. Er ist das Musterbeispiel des autoritätsgläubigen und autoritätsbedürftigen Charakters im entgötterten - im nihilistischen - Zeitalter. Er scheitert dadurch, daß er die Modeme, anstatt sie zu verbessern, verrät. Am 30. Januar 1933 ergriffen die sog. Nationalsozialisten, eine antimoderne Bewegung, die Macht. Sie lehnte das begrifflich rationale Denken der Modeme ab und behauptete "Existentialität" und eine Rückkehr zum "Eigentlichen". Carl Schmitts Anbiederung2 an die 2) Hasso Hofmann zählt 40 nazifreundliche Veröffentlichungen Carl Schmitts allein in den Jahren 1933- 1936. Vgl. im Einzelnen das Carl-Schmitt-Kapitel in: Martin Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts (Nomos-Verlag Baden-Baden, 2000, zugl.: Freiburg i. Brsg., Univ. Diss 1997/1998), S. 443-457 mit zahlieichen weiteren Nachweisen. 45 Martin Hochhuth verbrecherische Führungjenes neuen Staates soll als Beispiel für Gefahren dienen, die dem aufgeklärten, systematischen, vernünftigen Denken auch heute wieder drohen. Auch die sogenannte Nachmodeme ("Postmoderne") verabschiedet, wie manche alten und neuen Fundamentalismen, die Auflärung und ihre Errungenschaften. 1.2 Der Gang der Darstellung Zu diesem Ergebnis sollen drei Kapitel hinfuhren. Zunächst wird kurz die These aufgestellt. Oder vielmehr: es wird nur an sie erinnert, denn die These ist das ohnehin derzeit noch Gegebene: der aufgeklärte, abendländische demokratische Rechtsstaat und die ihn tragenden philosophischen und weltanschaulichen Fundamente. Er ist uns allen präsent genug; wir sind in diesem System aufgewachsen. Das nächste Kapitel stellt die Antithese dagegen, den Angriff, die Kritik, die Infragestellung der Modeme. Sie, die kritische Frage, wird gerade in der Gestalt Carl Schmitts anschaulich. Diese Antithese, der Angriff auf den modernen Staat, gebraucht scharfe Waffen. Die Selbstwidersprüche unseres Systems gehören ebenso dazu wie einige Selbstwidersprüche, in die das vernünftige Denken sich selber notwendig zu verwickeln scheint, ebenso der moderne Nihilismus. Nicht nur Carl Schmitt, sondern auch zahlreiche andere wichtige Geister des Neunzehnten und vor allem Zwanzigsten Jahrhunderts wandten sich von der Aufklärung ab. Die Erschütterung der Fundamente dürfen wir nic_ht leicht nehmen, denn sie dauert fort. Hierwird Carl Schmitt als paradigmatischer Fall gezeigt. lm dritten Hauptstück s.odann (IV.) wird die Synth~se versucht. Die Denkströmung, zu welcher Carl Schmitt gehört, das Existenzdenken oder der Existentialismus - ich verwende die Ausdrücke synonym - wird als eine Ergänzung, als eine konstruktive Opposition zur Aufklärung aufgefaßt. Im vierten Kapitel werde ich auch deutlicher zeigen, warum die sogenannte Postmodeme vom Existenzdenken her verstanden werden muß, sofern sie nicht bloße Sophistik ist. Von ihr droht zwar wahrscheinlich kein neues Nazitum, auch wenn das Bekenntnis zur Beliebigkeit alles zuläßt, und folglich sogar Nazismus. Von ihr droht jedoch erneut jene Hilflosigkeit des Geistes, in die er gerät, wenn er sein mächtiges Verteidigungs- und Weltverbesserungswerkzeug, das kritisch begriffliche Denken, leichtfertig aus der Hand legt. II. These: Der freiheitlich demokratische Rechts- und Verfassungsstaat der Modeme Die "These" sei, wie erwähnt, der moderne, liberale, sich an das Recht bindende Staat, der sich, aus west- und mitteleuropäischen und nordamerikanischen Anfängen erwachsen, weltweit als Erfolgsmodell verbreitet. Dieser Staat versteht sich als konstruiertes Begriffsgebäude, als ein Deutungs- und Bestimmungsschema für Fragen des Sollens oder Nicht- Sollens, also fiir "Normativität". Er erstrebt Gleichheit und Gerechtigkeit durch Objektivität und Formalität. Sein - der Idee nach -in der Regelmaschinenhaft mechanisches Punktanieren ist ein evidenter Fortschritt gegenüber der Willkür des Fürsten oder auch nur des Richters. Wie die Rechtsprechung, so macht auch das Aus- Carl Schmitt entmythologisieren handeln der Interessenkonflikte im Parlament die Machtentscheidungen seltener und weniger bedeutsam. Kompromisse und Gleichgewichte treten an die Stelle selbstherrlicher Dezision. Solchem - im Idealfall gelingendem - Ausgleich nach innen gesellt sich im Völkerrecht ein Bündel vergleichbarer Konfiiktvermeidungs- und Konfliktmilderungsmechanismen zu. Der kritisch nachdenkliche Beobachter der Rechtsverhältnisse und Weltläufte allerdings wird diese Darstellung zu optimistisch finden. Damit kommen wir zur Antithese. III. Zur Antithese Der Angriff, die Kritik, die Infragestellung der Modeme hat mächtige Truppen, weil sie starke Argumente zu haben scheint - oder: hat? 111.1 Diagnose III.l.A Das Scheitern des Objektiven an wirklichen Aporien Das fak:ti.sch vorhandene Recht des gegebenen, verweftlichten aufgeklärten Staates leidet an Selbstwid.ersprüchen. Aporie nennt man ein Problem, das nicht befriedigend aufgelöst, sondern nur durch problematische Entscheidung, wie ein gordischer Knoten, "erledigt" werden kann. Eines der bedeutsamsten, das wir nicht loswerden, ist die unauflösliche Spannung von Demokratie einerseits .und Freiheitsrechten andererseits. Entgegen den Konsensoptimisten kommt es hier immer wieder 'zu Brüchen. Ebenfalls mit der Demokratie hat di~ quälende Frage zu tun, ob sie diesen Namen noch verdient, wenn sie zur Stimmungs- und Medien- Demokratie verkommt: zur gesteuerten, oft hysterischen, sich an Kleinigkeiten festhakende Pseudoveranstaltung. Ähnlich problematisch stellen sich· Gewaltenteilung und Richterbindung dar. Sie sind Grundlagen der freiheitlichen Staaten. Aber die Schwächen der juristischen Methode oder der Kontrolldichte-Problematik verleihen ihnen einen illusorischen Beigeschmack. Oder, andere Probleme, möglicherweise noch schwerer wiegend: Der gezielte polizeiliche Todesschuß, der sich nicht immer vermeiden läßt: paßt er zum Grundrechtsstaat? Und fügt es sich zum Grundrechtsstaat, wenn wir, trotz der Problematik des Schuldbegriffs, lebenslange Freiheitsstrafe aussprechen müssen? Das Grundgesetz erhebt mit Art. 19 Abs. 2 GG, mit der Wesensgehaltssperre,3 einen Anspruch, der nicht immer eingelöst werden kann. Den gleichen, nicht immer einlösbaren Anspruch, erhebt die Gewissensfreiheitsgarantie. All das ist an anderer Stelle ausgeführt worden. 4 Diese Aporien sollen nicht überdramatisiert werden. Sie lassen sich abfedern. Dennoch gibt es sie. Außerhalb der Rechtsordnung, aber für sie selbst nicht weniger bedeutsam, ist die umfassende Ökonomisierung der Gesellschaft, die den Menschen in zahlreichen Beziehungen zur Recheneinheit erniedrigt. Dieses Phänomen allerdings (das hier ebenfalls nicht vertieft werden kann) ist keine Frucht der Auf3) Art. 19 Abs. 2 GG lautet: "In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden." 4) Zur Problematik des Art. 19 Abs. 2 GG vgl. Rechtstheorie 2006 (im Erscheinen). Zu den übrigen Aporien vgl. detailliert den systematischen "Besonderen Teil" der oben (Fn. 2) zitierten Doktorarbeit, S. 85-182, S. 187-197 und S. 225-336. 47 Martin Hochhuth klärung; es hat aber in der Modeme an Deutlichkeit gewonnen. Die Vereinzelung des Individuums, die Infragestellung objektiver Strukturen, verschärft es. Eine Erschütterung des Aufklärungsoptimismus kommt aber auch noch aus zwei anderen Richtungen. Einmal aus der mit dem Namen Sigmund Freuds verbundenen Tiefenpsychologie. Sie verschafft uns Einsicht in die Macht des Unbewußten, sie formuliert das Unbehagen an der Kultur. Mit Max Webers Namen verbunden, allerdings zu Unrecht, denn es geht schon aufDavid Hume zurück5, ist die Einsicht in die Subjektabhängigkeit von Wertbegründungen. III.l.B Der Widerspruch in Kants System reden. Die Spannung und der auf den ersten Blick erscheinende Widerspruch werden jedoch begreiflich, wenn man sich an den obigen Terminus "Deutungs- und Bestimmungsschema" erinnert. 6 Er ist weit zu verstehen. Solche Schemata oder auch Formenschätze entlasten den Menschen im Alltag von der Pflicht zur Selbstentscheidung. (Das gilt auch für die Rechtsordnung eines funktionierenden Staates). In diesen "objektivierten Strukturen des Normalverhaltens" ist der Mensch ganz und gar "aufgehoben". Im Grenzfall allerdings muß er selbst entscheiden, dann tritt seine Subjektivität hervor. Dies aber ist der Ort des kategorischen Imperativs. -In dieser Grenzfrage liegt damit bereits ein Übergang zu jener Subjektivität, die eine der wichtigsten Gegenströmungen kennzeichnet, auf die wir gleich kommen. Einen Riß im scheinbar unproblematischen, allzu optimistischen Bild der Aufklärung bildet auch die folgende Frage der Kantinterpretation: Kant fordert einerseits Staatsgehorsam und fügt sich damit in die überwiegende Lehre ein. Andererseits stellt er sein gesamtes Sollen-Denken letztlich auf den kategorischen Imperativ. Dieser Dreh und Angelpunkt aber paßt nun gerade überhaupt nicht zum Staatsgehorsam. Er ermächtigt ja den einzelnen. Der kategorische Imperativ lautet ja nicht: "Tue das Allgemeine", s~mdem er lautet: "Handle so, daß Du zugleich wollen kannst, daß Deine Handlung allgemein sei". Das muß hier nicht vertieft werden. In Erinnerung gerufen sei jedoch die Fragwürdigkeit im Fundament selbst. Wir haben also bei Kant, dem bedeutendsten Systematiker des westlichen Rechtsstflates, eine verstörende Spannung zwischen zwei ·Grundsätzen; ich meine, man darf sogar von einemSelbstwiderspruch Die Probleme der Modeme haben zahlreiche Oppositionen hervorgerufen. Eine der wichtigsten scheint mir die Existenzphilosophie zu sein. Ihre M,:erkmale sind oft dargestellt worden, brauchen hier keine Widerholung. Ich möchte aber aufvier in unserem Zusammenhang besonders wichtige verweisen. Erstens die Bedeutung der Entscheidung, zweitens die Subjektivität. Die Subjektivität einerseits, insofern als das Empfinden, die Stimmung eine Rolle spielt; die Subjektivität aber auch andererseits insofern, als das persönliche Handeln und Tun (das Reagieren) nun 5) Vgl. ebd. 6) Vgl. soeben oben, bei li. 48 III.2 Die Gegenströmung: Existentialistisches Denken III.2.A Allgemeine Charakteristik Carl Schmitt entmythologisieren in den Vordergrund der philosophischen Erwägung tritt. Drittens die nihilistische Grundierung, also die Leugnung, das Nichtgegebensein eines Objektiven. Objektivität ist fiir diese Bewegung immer fragwürdig. Sie kann zwar unter Umständen angenommen werden, dann aber muß es eine vom Subjekt selbst gesetzte Objektivität sein. Das gilt, paradox genug, sogar bei den religiösen Existentialisten: Ich finde meinen Glauben nicht mehr ohne weiteres vor, ich bin nicht im Glauben, weil ich regelmäßig zur Kirche gehe, sondern muß mich zu Gott entscheiden. Weit typischer allerdings fiir das Existenzdenken ist die Areligiosität, die denn auch bei den meisten Autoren dieser Strömung überwiegt. Viertens ist die Bedeutung der konkreten Situation in ihrer Zeitlichkeit und Begrenztheit, einschließlich des in ihr möglichen Scheiteros und Verfehlens, der Schwerpunkt der Betrachtung. Was das bedeutet, wird im Gegensatz zur "normalen" Ethik klar, die auf das Abstrakte, Allgemeine und Begriffliche - und darum Ewige abstellt. - Für unser Thema wichtig: zum Existenzdenken gehört die Situationsethik Sie ist immer konkret-individuell und wird im Mitleid anschaulich. Sie kann aber auch radikalen Egoismus bedeuten, so wie etwa beim Gründervater Max Stirner oder bei dem späten, dem zum individualistischen Anarchismus gekehrten Ernst Jünger. III.2.B Die Sollensordnung bei den Existentialisten Die existenzphilosophische Denkströmung ist vielfältig. Ich habe an anderer Stelle die These aufgestellt, man komme, wenn man den Existentialismus zu Ende denke, auf eine Art von freiheitlichem, individualistischem Anarchismus, a!lso extremem Liberalismus. Das bedeute ein "Sich-Durchwurschteln" im Sinne von Karl Poppers ,,piece-meal engineering". Man komme zu einem piece-meal- anarchism. Wenn man zu einem anderen Ergebnis komme, so war dort die These, so habe man den Existentialismus verfehlt. Dies kann nicht im einzelnen wiederholt werden. Verwiesen sei jedoch auf das promimente Personal dieser Denkströmung mit dem schon erwähnten Ernst Jünger, mit Albert Camus, mit Heidegger, Sartre, Nietzsche, Maihofer, Karl Jaspers und eben mit Carl Schmitt, der hier, in Plettenberg, ausruhrlieh zu besprechen ist. Die These zum übrigen Personal dieser Geistesbewegung ist kompliziert. Sie lautet: Kein einziger von ihnen war - oder war sogar immer, was ich eben doch nahelegte - ein liberaler, d. h. ein nicht sozialistischer Anarchist. Bei einigen aber, etwa bei Stimer, dann beim spät ernüchterten, vernünftiger gewordenen Ernst Jünger; vor allem aber bei Albert Camus, finden sich Tendenzen in dieser Richtung. Wemer Maihofer, der eine Rechtslehre auf die Existenzphilosophie aufzubauen sucht, ist meiner Meinung nach damit gescheitert. Dieses Scheitern spricht allerdings nicht wirklich gegen ihn, denn mit der Existenzphilosophie ist kein Staat zu machen. Wemer Maihofer ist in die stoische Philosophie geraten, als er versuchte, Existentialist zu sein. Der grundlegende Unterschied zur stoischen Philosophie ist aber, daß der Existentialist sich in einer entgötterten Welt weiß. Der Stoiker dagegen weiß sich vom göttlichen Geist, griechisch: vom "Logos", sicher gefiihrt. Nolentem trahit, valentem ducit7 • Das 7) Den Gefügigen führt es, den Widerstrebenden schleift es mit sich. Martin Hochhuth gilt für den Existentialisten nicht mehr, der diesen Logos selbst und alleine zu entwerfen und zu verantworten hat. Wo immer die Existenzdenker sich dennoch auf eine Objektivität zu stützen suchten, sind sie in alte Denkmodelle zurückgefallen. Das gilt fiir den frühen Ernst Jünger ebenso wie fiir Heidegger, nicht nur in seiner nationalsozialistischen Phase, ebenso wie fiir Sartre in seiner marxistischen Phase und, so meine ich, aber das bedürfte noch vertiefter Untersuchung, fiir Nietzsche in seinen Träumen vom "Willen zur Macht". IV. Zur Synthese IV. I Der geglückte Spagat- Kar! Jaspers Das Scheitern der angeführten Autoren läßt sich auch deuten als ein Mangel an begrifflich rationalem Denken. Der Vorrang der Existenz, der subjektiven Entscheidung, der Sprung zum Eigentlichen und zur Aktivität, den sie von Kierkegaard, dem anderen Schulgründer neben Stirner, gelernt hatten, verführte sie zu einem generellen Abschied von der Aufklärung. Allein der nüchterne Arzt Karl Jaspers gibt den bereits erreichten Stand von Philosophie und Wissenschaftnicht Preis. Er sieht den Fortgang der philosphia perennis in ihr. Sie habe sich nunmehr, nämlich in seiner Epoche, auf die Existenz zu richten. Jaspers war nie in seibern Maße Mode wie nach dem Kriege Sartre und Camus. und w_ie heute Heidegger. Er ist jedoch einer der wichtigsten Exponenten dieser gesamten Bewegu1;1g. Dies deshalb, weil er. die beiden philosophischeri Zweige, die in Widerstreit zu geraten scheinen, richtig ortet. Er 50 hält am Objektiven und Vernünftigen, am lehrbaren Schulphilosophieren fest; er engagiert sich z.B. zugleich auch fiir eine vernünftige Politik. Das ist aufklärerisch und humanistisch. Und es verträgt sich bei ihm mit dem Existenzdenken als einem Appell zur Aktivität, zum eigenen Schicksal, zur Verwirklichung. Das beweist: Man kann Existenzialist und doch ein alltagspraktischer Mensch mit liberalem, rationalem Engagement sein. Es trifft zwar zu, daß wie bei Camus und Sartre, wie in dem Ausdruck acte gratuit ausgesprochen, das Engagement auch als "absurd" erscheinen kann. Absurd, widersinnig mag es erscheinen, angesichts der Unbeweisbarkeit eines objektiv Richtigen, angesichts der möglichen Abwesenheit Gottes. Das ist die PositionSartres und Camus'. Aber es muß nicht absurd, es kann auch sinnvoll sein. Der Existenzdenker wird eine Art selbständigerVollzieher-man könnte sagen, ein Laienpriester - des Weltgeistes. Das Camus'sche Bild des Sysiphos ist nicht die einzige passende Interpretation des Sich-Einsetzens. IV:2 Das Existentielle an den Systemrändern Wie paßt denn nun aber das Existenzdenken zum begrifflich-rationalen Rechtssystem?- Insbesondere dann, wenn dieses Rechtssystem als eine objektivierte Struktur verstanden wird, in der das Individuum als solches "verschwinde"?- Ich schlage eine Systematisierung vor, die sich mit einem Rückblick auf den großen Philosophen Thomas Hobbes erläutern läßt. Hobbes legt die Idee des Gesellschaftsvertrages dar. In diesem Vertrag unterwerfen sich alle Einzelnen dem Staat und gründen ihn zugleich. Er wird zum Schutze des Existentiellen geschlossen. Carl Schmitt entmythologisieren Bei Thomas Hobbes ist dieses Existentielle allerdings auf den Schutz des nackten Lebens beschränkt. Erst Max Stirner und später Carl Schmitt erkennen, daß das Existentielle sich nicht begrifflich auf ein bestimmtes, fiir alle gleiches Schutzgut einhegen läßt. Sie sehen, daß es nicht das Leben sein muß, was einem Gesellschaftsvertragspartner so wichtig ist, daß er um seinetwillen den Staatsgehorsam aufgibt und Aufstand, Verfolgung oder Bürgerkrieg riskiert. Die Zeugen Jehovas z.B., die lieber den Tod in Kauf nehmen, als Kriegsdienst zu leisten, zeigen, an welch überraschender Stelle etwas Existentielles ein Individuum zur äußersten Verteidigung drängen kann. Wegen dieser Unhegbarkeit des Existentiellen in zuvor festgelegten Begriffen, auch Rechtsbegriffen, kann nun ausgerechnet das Schutzsystem des Existentiellen, der Staat, es wieder bedrohen. Dies führt zu keinem Scheitern der Idee des Gesellschaftsvertrages im strengen Sinne. Die freiheitlichen westlichen Staaten, besonders der des Grundgesetzes, halten genug "weiche Stellen" bereit, um diesem Grundproblem gerecht zu werden. Die sogenannte "Verhältnismäßigkeit" ist eine solche Stelle, das schon oben erwähnte Übermaßverbot, ebenso die unantastbaren Grundrechtskerne, oder die Menschenwürde-Garantie. Prinzipiell funktioniert das System so, daß es im Regelfalle nach seinen eigenen, allgemeinen Begriffen entscheidet, daß es aber sich in Grenzfällen ausdifferenziert, indem es das - überraschend auftauchende - Existentielle zu erkel)llen versucht, es schont und - regelnd - in sich aufnimmt. Jenes Laien-Priestertum, d.h. die Selbstverantwortung des Objektiven, die Setzung des Objektiven durch mich, den Einzelnen allein, fordert das, was salopp "Ich,Stärke" heißt. Es fordert den "Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen", den Kant zur Maxime der Aufklärung gemacht hat. Oder, wieder anders gewendet: Wir sind, wie Sartre sagt, zur Freiheit verdammt. Indessen: Verdammt - condamne- in harmloserer Übersetzung also: verurteilt zu sein, - heißt das denn zugleich, daß man auch zum Vollzug imstande sei? IV. 3 Das Problem des "katechon " Das erwähnte Scheitern durch Rückfall, nämlich durch zuwenig rationale Philosophie, illustriert, wie angekündigt, vor allem Carl Schmitt. Die Überlegungen zu Schmitt beginnen jedoch nicht mit ihm selbst, sondern mit einem biblischen Problembegriff, mit dem Katechon. Die ganze Philosophie, die ich am Beispiel des plettenberger Staatsrechtiers zu umreißen suche, läßt sich am Begriff des Katechans zuspitzen. Ich lese aus dem zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher. Da ist vom Abfall von Gott, vom Widersacher die Rede, "der sich erhebt gegen alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott [ ... ] Und ihr wißt, was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. Denn es regt sich schon das Geheimnis der Bosheit. Nur muß der, der es jetzt noch aufhält, hinweggetan werden, und dann wird der Böse offenbart werden. Ihn wird der Herr J esus umbringen mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt." Worauf es hier ankommt, ist nicht der Widerchrist oder Antichrist, sondern der, der den Antichristen, 51 Martin Hochhuth den Widersacher noch aufhält für eine Zeit. Es ist auf griechisch der oder das Katechon, dasjenige, was es noch aufhält, oder derjenige, der es noch aufhält. In diesem Satz des Paulus taucht, und zwar in allen Übersetzungen gleichermaßen, die aufhaltende Macht zweimal auf, mit wechselndem Geschlecht ' einmal sächlich und einmal männlich. Der Satz ist grammatisch verbogen bei Paulus selbst. Einmal "das, was den Widersacher noch aufhält", und dann "der, der den Widersacher noch aufhält". Der Katechon, der Aufhalter, ist schon früh in der christlichen Literatur, nämlich bei Augustinus, Gegenstand des Nachdenkens. Wer ist diese aufhaltende Macht? Der evangelisch-katholische Gemeinschaftskommentarzum Neuen Testament meint die ' aufhaltende Macht, der Katechon, sei der Heiland, Gott selbst. Das wäre praktisch, aber kann nicht stimmen. Paulus ist nämlich leider eindeutig: Erst kommt der Katechon, der Aufhaltende, dann wird der Aufhaltende hinweggetan vom Satan oder irgendeiner Lügenmacht, die Irrtümer streut und sich für Gott ausgibt, und danach erst, im dritten Schritt, kommt der Heiland und vertilgt den Satan mit der Kraft seines Mundes, durch sein bloßes Erscheinen. Es kann nicht der Heiland sein. Nicht der Heiland kommt und wird vom Teufel oder Widerchristen beseitigt und kehrt dann wieder, sondern irgend etwas anderes, noch nicht der Heiland selbst, ist jene aufhaltende Macht, aber wer? Carl Schmitt fragt im Glossarium, einer Art Tagebuch, am 19. Dezember 1947: ' "Ich wollte eigendich von Ihnen wissen: wer ist heute der Katechon? Man kann doch nicht Churchill oder John Foster Dulles dafür halten. Die Frage ist wichtiger als die nach dem Jüngersehen Oberförster. Man 52 muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. D~r Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden ... " Die Erwähnten Churchill und Dulles sind auf der Siegerseite des eben verlorenen Weltkrieges. Der Jüngersehe Oberförster ist eine mythische Herrschergestalt aus dem Roman Auf den Marmorklippen. Alle drei Interpretationsangebote, die Schmitt hier macht - Churchill, Dulles, Oberförster - und sogleich ablehnt, sind Autoritäten. Ich vermute daß ' diese - falsche - Suche Carl Schmitts nach äußerer Autorität ein Schlüssel zu seinem Gesamtcharakter ist. Sie erklärt seine Anbiederung an Hitler und seine Bande, der am 30. Januar 1933 die Macht ergriffen hatte. Der grammatische Bruch im Satz des Paulus, das Katechon und der Katechon, kann er nicht bedeuten, daß die objektive Struktur im Zweifelsfalle durch das konkrete Individuum verantwortet werden muß? Im Regelfall herrscht die objektive Struktur des Staates, herrschen das Recht und die Ordnung scheinbar ohne uns. So sah zur Zeit der frühen Christenheit eine damals verbreitete Interpretation das Römische Reich als die aufhaltende Macht an. Im Grenzfall aber muß der Einzelne selbst hervortreten und als Katechon handeln. Es ist gerade ein Charakteristikum der Modeme, das Richtig und Falsch nicht mehr vorgegeben sind. Um dies deutlich zu machen, habe ich die existenzphilosophische Strömung mit ihrer unerfreulichen Weltbeschreibung dargestellt. Wir können der Autonomie nicht entrinnen, weil wir den Logos nicht mehr vorfinden, wie die Stoiker. Erlauben Sie darum ein weiteres Zitat aus der Epoche des Existentialismus. Es stammt Carl Schmitt entmythologisieren von einem Freund Carl Schmitts, von Ernst Jünger. In seinem Essay Der Arbeiter heißt es: Hierzu gehört ein Gefühl der Überlegenheit und das Bewußtsein einer Originalität, wie es dem Bürger freilich fehlt, der ja nicht Sicherheit besitzt, sondern sucht, und daher auch über Sicherheit des Urteils nicht verfügt. Dies ist der Grund, aus dem er der Dämonie jeder geschichtlichen Erscheinung hilflos und ohne eigene Haltung unterliegt, und aus dem er dazu neigt, jeder historischen Größe, die er gerade betrachtet, Macht über sich zu verleihen. 8 IV.4 Individuum und Objektivität in der Moderne Warum lohnt es, sich mit Carl Schmitt, und gar mit seinem Grübeln über den Katechon zu beschäftigen? - In Carl Schmitt wird die Frage der Modeme Gestalt. Die Modeme scheint zum Nihilismus zu führen. In Wahrheit führt sie aber nur zur Selbstverantwortung (Autonomie). Autonomie bedeutet das was das deutsche Wort Gesetz erahnen läßt: das' Gesetz ist nichts Vorgefundenes, vom Himmel herab Geschenktes, es muß gesetzt werden. Für den Staat bedeutet dies: er bleibt Setzung, reines Werkzeug, Deutungsschema zum Zwecke von Sicherheit und Gerechtigkeit. Diese Interpretation, die in Hans Kelsen ihren prominenten Vertreter hatte, mißfällt noch heute manchem. Daß sie gleichwohl zutrifft, zeigen besonders Revolutionen: In ihnen verflüchtigt sich ein u.U. machtvoller Staat innerhalb von wenigen Tagen. Die meisten von un& habende~ Untergang der nach innen und außen waffenstarrenden 8) Ernst Jünger, "Der Arbeiter", S. 216. DDR in lebhafter Erinnerung. Den Staat als Deutungsschema zu bezeichnen, leugnet oder schmälert seine Macht nicht. Es weist lediglich daraufhin, wo diese Macht ihren faktischen und zugleich logischen Ort hat: in den Köpfen, oder, wenn man poetischer sprechen will, in den Herzen der Beteiligten. Im Ausnahmefall, in Entscheidungs- und anderen existentiellen Situationen, wird erkennbar, wo die Souveränität sich befindet. -Wo sie sich auch im alltäglichen Normalfall befindet. - Carl Schmitt jedoch war nicht imstande, sie woanders als in cäsarischen Gestalten, in Machthabern, etwa in dem von ihm verehrten Hindenburg, davor im Kaiser, zu sehen; in grossen" Persönlichkeiten. Wenn wir Carl Schmitt ::auf die Füße" stellen, so ist genau die Umkehrung in diesem Punkt gemeint. - Damit das verstanden wird müssen wir auch den Subjektbegriff klären und Ja: ausnüchtern. - Und wir müssen etwas über das Verhältnis dieser Subjektivität zur Objektivität sagen. 9 "Objektivität" sind die geistigen Strukturen, in denen wir uns bewegen, die uns prägen. Die Sprache, die musikalische Harmonielehre, die Regeln der Höflichkeit. All dies hat man den "objektivierten Geist" genannt. All dies sind Deutungschemata. Geradeso wie das Recht. Wir empfinden diese Symbolgebäude zu recht als "objektiv". Aber mitunter wird die Rolle des Subjekts sichtbar: In den Künsten und der Sprache läßt sich zeigen, wie der Wandel des Gesamtgebäudes durch subjektive, "kleine" Entscheidungen von individuellen Beteiligten stattfindet. Es werden neue Ausdrücke durch Abschleifen von alten oder auch durch Erfindungen eingeführt. Es werden in den Künsten neue Darstellungsformen 9) Vgl. dazu schon die Andeutungen oben, Seiten 46 ff., 48 f. 53 Martin Hochhuth entdeckt und durchgesetzt. Das Gesamtgebäude bleibt stabil und verständlich fiir die Beteiligten, obwohl es sich durch Entscheidungen der beteiligten Subjekte ständig im Kleinen verwandelt. Die Idee vom Deutungsschema ist kein Anarchismus, auch wenn daran festgehalten werden muß, daß die Deutungsschemata in den Köpfen der Beteiligten sind, und die Objektivität nur von den Beteiligten entworfen wird. Die Beteiligten sind sich dieser ihrer subjektiv radizierten Macht nicht bewußt, in der Regel spielt die subjektive Radizierung auch keine Rolle. Nur im extremen Grenzfall wird erkennbar, wer der Herr der objektiven Strukturen ist. Und so, wie es in den Künsten oder der Sprache nicht nur die ganz großen Ausnahmegestalten sind, die den Wandel bewirken, so ist es auch in Recht und Politik. Nicht nur der Staats- oder Parteiführer, auch der "kleine" Amtsrichter hat das Ganze unter Umständen zu verantworten. Das trifft für beide Arten von Situationen zu, die es in unseren Überlegungen zu unterscheiden galt und weiter gilt. Im Ausnahmefall wie Revolution, Staatsstreich, Bürgerkrieg ("Ausnahmezustand") - wie im Rechtsalltag. - Im normalen Rechtsalltag, fällt es nur weniger auf. Doch der Wandel kommt auch hier zustande oder wird auch hier verhindert durch den kleinen Einzelnen, ganz undramatisch. Allerdings möchte ich nicht mißverstanden werden, wenn ich von der Subjektabhängigkeit der objektiven Strukturen, wie etwa dem Recht, der Sprache, usw. rede. Erlauben Sie daher eine Analogie zur Physik, um die Unterscheidung von Grenzfall zu Normalfall zu verdeutlichen. Für den alltäglichen physikalischen Hausgebrauch genügt noch immer 54 die klassische, gewissermaßen altmodische Physik, die mit den Namen Galileis und Newtons verbunden ist. Dennoch weiß heute jeder, daß mit Planck, Heisenberg, Einstein und Bohr jene klassische Physik bei sauberer theoretischer Darstellung als abgelöst gelten muß. Für den Hausgebrauch der Physik ist es jedoch möglich, zwei Physiken scheinbar unverbunden und ohne daß sie sich störten, parallel zu verwenden. Die klassische gilt im anschaulichen Bereich, bei normalen und mittleren Geschwindigkeiten und Massen, die moderne Physik Plancks, Heisenbergs, Einsteins und Bohrs gilt im Extrembereich, im unanschaulichen, nämlich im makro- und im mikrokosmischen Bereich. Es kommt fUr den Geometer, der das Land vermißt und sich dabei nach der Sonne richtet, beim Gebrauch seiner Instrumente nicht darauf an, daß in Wirklichkeit die Erde sich um die Sonne dreht. Der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn berichtet, 10 daß die Astronomie in der Ausbildung der Geometer noch immer geozentrisch sei, also astronomisch "eigentlich falsch". Das stört ihn, den Wissenschaftstheoretiker. Mich, den Juristen, stört es nicht. Wenn der praktische Alltag so ausgebildeter Geometer darunter nicht leidet, ist das völlig unbedenklich. Ähnlich verhält es sich mit der Rechtsordnung. Selbstverständlich gilt sie unbezweifelt und unabhängig vom je Einzelnen. Er hat ihr zu gehorchen, andernfalls kann er gezwungen werden. Im äußersten Grenzfall jedoch wird sichtbar, daß die Geltung der Rechtsordnung insgesamt auf dem Einzelnen beruht. Die katechantische Funktion des Einzelnen, von der ich spreche, soll 10) Hier zitiert nach der Dissertation Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, FN 152 m.w.N. Carl Schmitt entmythologisieren also nur im äußersten Grenzfall relevant werden. Carl Schmitt ist von Belang, weil er sich mit diesen äußersten Grenzfällen beschäftigt hat. Er ist ein abschreckendes Beispiel, weil er in ihnen falsch gefolgert hat. Der sogenannte Nationalsozialismus war verlockend, weil er die nihilistische, entgötterte Modeme abzulösen schien. Das "Räsonnieren", das schon Marx und Kierkegaard an der Modeme gestört hatte, wurde durch eine entschlossene, scheinbar bodenständige Entscheidung ersetzt. Sie erlöste aus der Haltlosigkeit der Modeme und aus den "Schrecken der Autonomie". Die Generation Carl Schmitts fiel auf die Nationalsozialisten in großer Zahl herein. Es gibt jedoch - etwa Karl Engisch oder auch der späte Ernst Jünger oder Claus Stauffenberg - Beispiele für unterschiedliche Grade des Nicht-Hereinfallens. Carl Schmitt tat mit Heidegger zusammen den Schritt zurück aus der Modeme in eine Vormodeme. Zuletzt floh er weiter, ebenfalls wieder wie Heidegger (und wie schon Regel), in die "Geschichte". Auch nach dem Scheitern des Nationalsozialismus erkannte er also nicht, daß er die Fundamente bei sich selbst suchen mußte. Dies ist die gewissermaßen protestantische Zuspitzung des aufklärerischen Autonomiezwanges. Wir sind, wie Sartre sagen würde, zu ihr verurteilt. Die Einsicht in die Brüche des begrifflichen Denkens und in die Notwendigkeit, das Existentielle ernst zu nehmen, sowohl das Existentie,lle im Krieg und der Bedrohung von außen als auch das Existentielle im Bereich des Subjektiven, führte Carl Schmitt während der Nazizeit zum falschen ~iel. Er suchte auch im Ausnahmezustand noch nach "objektiver" Entlastung. Der Ausnahmezustand darf aber gera- de nicht weiter in die vermeintliche "Objektivität" hineinlocken. Gerade er zwingt zur subjektiven, zur selbstverantworteten Entscheidung. Die entlastenden Strukturen des "objektivierten Geistes", wie man Sprache, Recht, aber auch die Kunstformen im Anschluß an Nicolai Hartmann nennt, entlasten ja gerade im Grenzfall nicht mehr. Es muß dann ein individualistisches Naturrecht hervortreten, daß von der Konstruktion her in der Tat wie Anarchismus aussehen kann. Wo das Begriffliche in seiner aufklärerischen Gipfelform scheitert, da scheitern aber erst recht alle älteren, ebenfalls "Objektivität", vielleicht sogar "Heilseinheit" beanspruchenden Modelle. Das Existentielle würde durch sie dann noch schwächer geschützt, als durch das· moderne, begrifflich-rationale System. Der Einzelne muß daher eine Art "Laienpriester" der Objektivität werden. Wobei Laienpriester bedeutet, daß er keinen Bischof und auch sonst keinen geweihten Priester über sich hat, der ihm die eigene Entscheidung hier noch abnähme. Damit wird jedoch nur deutlicher, was ohnehin immer schon im Aufklärungsdenken steckte. JV.5 Die theoretische Aktualität in der" Nachmoderne" Es kann nur ein Ausblick sein, wenn ich Carl Schmitt auch noch als eine Figur der Nachmodeme ("Postmoderne") zur Diskussion stelle. Die Wirrnis der Diskurse, die alle als objektivierter Geist verstanden werden müssen, d. h. als Strukturen, die sich vom einzelnen Individuum, das an Ihnen teilnimmt, unabhängig denken lassen (sie sind Spra- Martin Hochhuth ehe, sie sind Denkfiguren), die Wirrnis dieser Diskurse macht auch hier subjektive Dezision nötig. Der Eindruck, den die vom Nihilismus affizierten Generationen - eben Carl Schmitt, Martin Heidegger (Jahrgangsgenossen von Adolf Hitler), aber auch Ernst Jünger und Karl Jaspers -hatten, könnte sich noch verstärken: man könnte nun meinen, es sei noch eindeutiger, daß es Wahrheit, daß es Objektivität nicht gebe. Auch von seriösen - von an sich seriösen - Philosophen und Autoren hören wir Entsprechendes. Es bleibt Unsinn für den Bereich der Wissenschaften und für den Bereich der systematischen Philosophie. Und die Notwendigkeit subjektiver Dezision überall dort, wo es um mein ganz persönliches Existentielles geht, beseitigt jene Objektivität ebenfalls nicht. "Objektivität" bleibt als anzustrebendes Ziel, als regulative Leitidee des Denkens und Forschens möglich. Und sie bleibt verpflichtend, wann immer ich mit anderen über etwas rede, was nicht mein Privatbereich oder reine Geschmacksfrage ist. Die Gefahr der leichtfertigen Verabschiedung des Objektiven hat dennoch in unserer Epoche eher noch zugenommen. IV. 6 Praktische Aktualität Autoren wie Lyotard, Foucault und Agamben, vor allem aber Derrida zeigen deutlich, daß es hier einer Erinnerung an alteuropäische Aufklärungserrungenschaften bedarf. Schon bei M1;1-rtin Heidegger beginnt eine gewisse Gaukelei, die nicht nuf Kritiker, sondern auch Bewunderer angemerkt haben 11 • Das Beispiel Karl Jaspers zeigt jedoc~, daß der volle 11) Vgl. dazuKarl Löwith, Martin Heidegger: Denker in dürftiger Zeit. 56 Ernst des Existenzdenkens ergriffen werden kann, ohne rationales Engagement und nachvollziehbare Wissenschaft zu vernachlässigen. Die praktische Aktualität der Denkschule, zu der Carl Schmitt gehört, des Existentialismus also, hat nicht abgenommen. Damit bleiben auch die Gefahren, für die er ein Beispiel ist, gegenwärtig. Das vernachlässigte Existentielle ist beim Individuum nach wie vor das Gleiche wie vor achtzig, 160 und 200 Jahren. Das abstrakt-begfriffliche System, wie auch die sich total funktionalisierende Welt müssen beide vom Individuellen absehen. Sie vernachlässigen darum aber solche Eigenschaften, die zum Menschen doch unverzichtbar dazugehören. Die kommunitaristische Diskussion, die Gender--Diskussion erinnern uns ebenso daran wie die Fundamentalismen in weiten Bereichen der Welt. Terroranschläge, die mitten im Frieden unsere Wirtschaftszentren treffen - etwa der 11. September 2001 - erinnern an Zweierlei: an die Unhegbarkeit des subjektiven Willens durch die Begriffe des Rechts und an die Ortlosigkeitdes politisch werdenden Existentiellen. Ebenso gemahnen sie an die von Carl Schmitt tiefgründig problematisierte Schwierigkeit, zwischen Terrorist und Partisan abzugrenzen. 12 Ich will nicht mißverstanden werden: man kann den Terrorismus eindeutig vom Partisanenturn abgrenzen. 13 Unser abendländisches Völkerrecht ist aber bislang noch nicht so weit umgeformt, daß jene arabischen Terroristen in ihm die 12) Zum entsprechenden derzeitigen Streit im Völkerrecht vgl. in dem von Dieter Fleck herausgegebenen Sammelband, "Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte/ Legal Issues ofMilitary Counter-Terrorist Operations", BadenBaden (Nomos) 2004, S. 43 ff. und S. 147 ff. 13) Vgl. im ebenzitierten BandS. 57 ff. Carl Schmitt entmythologisieren Möglichkeit erkennen, mit ihren Anliegen gerecht aufgehoben ;zu sein. Ihr atavistischer Rückfall in den Steinzeit""'~~Islamismus ist analog zu den Rückfällen der nationalsozialistischen und faschistischen Generationen. Der italienische Faschismus hatte zum Wahlspruch: "Glauben, Gehorchen, Kämpfen" (credere, obbedire, combattere). Diese Ausschaltung der Vernunft als Programm galt für die ganze Bewegung. Ähnliches gilt, wo immer antimoderne, anti-aufklärerische Symbole als Hinweis auf das vermeintlich Existentielle gewählt werden. Sofern nicht pubertäre Wichtigtuerei dahintersteht, kann auch dies anzeigen, dass ein Mensch sich in unserem begrifflich-rational organisierten Gemeinwesen mit seinen "eigentlichsten" Belangen nicht aufgehoben sieht. Solche Rückfälle dürfen aber für das aufVernunft ausgerichtete, aufgeklärte Rechtssystem der Demokratie nichts anderes sein als Aufforderung zu noch mehr Sorgfalt, Freiheit und Gerechtigkeit. V. Einige weitere Erträge 1. Carl Schmitt sieht das Problem des Katechontischen, das sich immer dann erhebt, wenn die im Regelfall bergende begrifflich-objektive Struktur dieser Funktion nicht mehr genügt. 2. Er sieht auch das Problem des Existentiellen. Dessen also, zu dessen Schutz die objektive Struktur, das Recht, da ist. 3. Ebenso sieht er einige Aporien des "Objektiven", d.h. jener objektivierten Strukturen, in denen unsere Subjektivität "aufgehoben" ist. Er sieht auch, daß das Existentielle - oder daß um dieses Existentiellen willen - die objektivierten Strukturen durchstoßen werden können, mitunter müssen. Aber seine Begriffe von diesem Katechantischen und Existentiellen sind objektivistisch und dadurch vormodern. Darum sucht er, seine Selbständigkeit auch dann noch "nach oben" abzutreten, wo die objektivierten Strukturen, in denen wir sonst "aufgehoben" sind, fehlen oder scheitern. Er selbst, Carl Schmitt, hätte, so wie Sie und ich und jedermann, im äußersten Fall, um des Schutzes des Existentiellen willen "katechontisch" hervortreten müssen. Diese subjektive Entscheidung kann unausweichlich werden, gerade auch. beim "kleinen" Einzelmenschen. Dies ist die existentialistische Struktur, durch die das Aufklärungsdenken ergänzt werden muß. Carl Schmitt aber konnte sich hier nur einen "großen, bedeutenden" Menschen als Handelnden vorstellen. Das ist der Kategoriefehler. Hier gilt es, das scheinbar Erhabene zu entmystifizieren und das, was Kopf steht, auf die Füße zu stellen.