3 3 Malnutrition A. Zeyfang 3.1 Fallbeispiel: Unklare Gewichtsabnahme – 44 3.2 Weiterführende Fragen zum Fallbeispiel – 44 3.3 Syndrom Malnutrition – 45 3.3.1 Hintergründe – 45 3.3.2 Klinik – 48 3.3.3 Therapie – 51 3.4 Häufige Kontextfaktoren – 55 3.5 Antworten und Kommentare zu den Fragen – 56 44 Kapitel 3 · Malnutrition 3.1 Fallbeispiel: Unklare Gewichtsabnahme Frau S. ist 83 Jahre alt und lebt schon seit über 10 Jahren im Alten- und Pflegeheim ›Haus Sonnenschein‹. Anfangs bewohnte sie noch ein kleines Zimmer im Betreuten Wohnen und ging zum Essen in den Speisesaal, wo sie mit anderen älteren Damen ihr Stammplätzchen hatte. Seit Jahren ist sie nach einer misslungenen Knieoperation schmerzgeplagt und stark gehbehindert, weshalb sie in der Zwischenzeit in den Pflegebereich umziehen musste und sich seither fast nicht mehr aus ihrem Zimmer herausbewegt. Obwohl die Altenpflegekräfte bereits seit mehreren Monaten bemerken, dass Frau S. von den gebrachten Mahlzeiten meist nur probiert und das meiste wieder abgetragen wird, schaffen sie es doch nicht, Frau S. zu überreden, mehr zu essen. Kurz vor Weihnachten wird Frau S. mit einer Pneumonie ins Krankenhaus gebracht. Frau S. wiegt bei Aufnahme 43 kg bei einer Körpergröße von 1,64 m. Die Stationsleitung der Intensivstation beschwert sich schriftlich im Heim über die extreme Unterernährung der Bewohnerin, »die wohl auf Sparmaßnahmen beim Essen« zurückzuführen sei. 3.2 Weiterführende Fragen zum Fallbeispiel ? Frage 1: . Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zum Entstehen der Malnutrition bei Frau S. beigetragen, und welche anderen Faktoren können Sie sich vorstellen, die am Entstehen einer Malnutrition im höheren Lebensalter Anteil haben? ? Frage 2: . Wie können Sie eine Malnutrition klinisch feststellen? ? Frage 3: . Welche Laborparameter können Sie bestimmen, um eine Aussage über den Ernährungszustand zu erhalten? ? Frage 4: . Wie würden Sie Malnutrition im Alter therapeutisch angehen? ? Frage 5: . Wie häufig findet sich Malnutrition bei älteren Menschen ungefähr? 3.3 · Syndrom Malnutrition 3.3 45 Syndrom Malnutrition 3.3.1 Hintergründe Definition Unter Malnutrition (Mangel- und Fehlernährung) versteht man ein Ungleichgewicht zwischen Nahrungszufuhr und Nahrungsbedarf. Das Spektrum reicht vom Übergewicht bis zum Untergewicht. Malnutrition ist beim alten Menschen sehr viel häufiger mit Untergewicht (. Abb. 3.1) und meist mit einer Fehlernährung verbunden. Man unterscheidet dabei zwischen einer Proteinmangelernährung (Kwashiorkor) und einer Kalorienmangelernährung (Marasmus). Im höheren Lebensalter liegen jedoch meist Mischformen im Sinne eines Protein-Kalorien-Mangels vor. !Mangelernährung ist im hohen Lebensalter sehr häufig. Je nach untersuchter Studienpopulation reicht die Prävalenz von 16 bei sonst gesunden, zu Hause ­lebenden Senioren bis hin zu über 50 Prozent bei Pflegeheimbewohnern. . Abb. 3.1. Unterernährte geriatrische Patientin 3 46 Kapitel 3 · Malnutrition Organische Ursachen Am Entstehen der Malnutrition bei Frau S. haben verschiedene Faktoren beigetragen. Zum einen ist aufgrund des chronischen Schmerzsyndroms nach misslungener Knieoperation wahrscheinlich schon per se eine Einschränkung des Appetits aufgetreten, möglicherweise deutlich verstärkt durch die Auswirkung von Schmerzmedikamenten, wie zum Beispiel nicht-steroidalen Antirheumatika oder Opioden, die alle eine appetithemmende Wirkung entfalten können. Auch der soziale Rückzug mit Wegfallen einer gemeinschaftlich eingenommenen Mahlzeit hat vermutlich zur nachlassenden Nahrungsaufnahme beigetragen. Ist dann bei weiterer Malnutrition bereits die Kraft und somit auch die Mobilität reduziert, kommt es wie in einem Teufelskreis zu einer weiteren Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Vermuten kann man auch, dass durch die bereits erfolgte Gewichtsabnahme das Gebiss vielleicht nicht mehr richtig passt und deshalb wiederum die Nahrungsaufnahme behindert wird. Möglicherweise könnte auch die Pneumonie auf eine Schluckstörung hinweisen, wie sie im höheren Lebensalter zum Beispiel bei Parkinson-Syndrom, nach Schlaganfall oder bei Demenz häufig vorkommt; diese wird oft weder vom Betroffenen noch von den Angehörigen oder den Pflegekräften richtig wahrgenommen. Weitere wichtige organische Ursachen sind: 4 physiologische Faktoren 5 Abnahme des Geschmackssinns (bis 70%) 5 Abnahme des Geruchssinns 5 verminderter Visus 5 Verminderung des Energiebedarfs 5 verringerte Hunger- und Durstempfindlichkeit 5 Hypo-Achlorhydrie (verminderte Salzsäureproduktion im Alter), Laktoseintoleranz, Spezialdiäten 4 pathologische Faktoren 5 Mund und Kiefer (15% der >65-Jährigen., 50% der >80-Jährigen) 5 Mundtrockenheit 5 Zahnverlust 5 unzureichende zahnärztliche (prothetische) Versorgung 5 Krankheiten des Gastro-Intestinaltraktes (häufig nur Appetitlosigkeit) 5 zentrale Dysphagie (30% nach Apoplex) 5 Mangelernährung, Zink-Mangel (Teufelskreis) 5 Maldigestion und Malabsorption 5 sämtliche konsumierende Erkrankungen (Malignome, Tbc, AIDS, Leberzirrhose, kardiale Erkrankungen) 5 Schluckstörung nach Schlaganfall (30%) bei Parkinson (30–50%) bei Demenz (präfinal >90%) 3.3 · Syndrom Malnutrition 47 Medikamentöse Ursachen 4 Antirheumatika, Analgetika: Diclophenac, ASS 100 4 Opioide, Opiate: Tramadol, Morphium, auch transkutan 5 Antibiotika 4 Digitalis, Diuretika 4 Laxantien (Abusus) 4 Phenothiazine 4 Antineoplastische Chemotherapeutika Funktionelle Ursachen 4 soziale Faktoren 5 Armut, Bildungsniveau, Wohnsituation 5 hauswirtschaftliche Inkompetenz (Einkaufen, Kochen) 5 Vereinsamung (Kochen für eine Person) 4 psychische Faktoren 5 belastende Lebensereignisse 5 Depression (ca. 25%) 5 Demenz (30% der über 85-Jäh.) 5 Alkoholismus !Die Ursachen der Mangelernährung sind im höheren Alter vielfältig und umfassen physiologische und pathologische organische Ursachen, Medikamentennebenwirkungen (v. a. bei Schmerzmitteln) aber auch psychische und soziale Faktoren. . Abb. 3.2. Essen in Gemeinschaft in angenehmer Atmosphäre verbessert den Ernährungszustand 3 48 Kapitel 3 · Malnutrition 3.3.2 Klinik Anthropometrische Messungen Die einfachste Maßnahme ist es, den Patienten oder Bewohner regelmäßig zu wiegen und dann in Relation zur Körpergröße den Body-Mass-Index zu bestimmen. Der BMI ist gleich Körpergewicht in Kilogramm durch Körpergröße in Meter im Quadrat. Körpergewicht in kg BMI = (Größe in m)2 Für Erwachsene <65 Jahren ist in Hinblick auf Adipositas und metabolisches Syndrom ein Übergewicht zu vermeiden, und es gilt . Tabelle 3.1: !Während im jüngeren Lebensalter eher Normalgewicht bis ein leichtes Untergewicht zu favorisieren sind, ist ab ca. 75 Jahren ein leichtes Übergewicht (BodyMass-Index 25–30) ein Schutzfaktor bezüglich Morbidität und Mortalität. Ein Body-Mass-Index unter 22,7 kg/m² bzw. eine stärkere Gewichtsabnahme ist für über 75-jährige ein eigenständiger Risikofaktor bezüglich Morbidität und Mortalität (. Tab. 3.2). . Tab. 3.1. BMI BMI <17,5 kg/m2: extremes Untergewicht BMI 17,5–19,9: Untergewicht BMI 20–25: Normalgewicht BMI 25–30: Übergewicht BMI 30–40: Adipositas Grad I+II BMI >40: Adipositas Grad III . Tab. 3.2. Wünschenswerte BMI-Werte für Ältere Menschen: Ab 65 Jahren sind eher höhere BMI-Werte anzustreben (n. ESPEN 2000) schwere Malnutrition leichte Malnutrition Risiko für Malnutrition Normal­ gewicht Präadipo­ sitas Adipositas <18,5 18,5–19,9 20–21,9 22–26,9 27-–29,9 >29,9 49 3.3 · Syndrom Malnutrition Weitere Möglichkeiten zur klinischen Messung des Ernährungszustands sind zum Beispiel Hautfaltendicke am Oberarm, Wadenumfang (>31 cm), Armspanne geteilt durch Körpergewicht im Quadrat (BMA), Messung der Bioimpedanz (BIA) oder NMR-Bestimmung der Fettmasse. Diese Messungen sind jedoch eher Studien vorbehalten. Labor Es gibt nur wenige Laborparameter, die mit einem schlechten Ernährungsstatus beim älteren Patienten korrelieren. Albumin und Transferrin sind gute Marker, um den Protein-Status zu evaluieren. Albumin, Präalbumin, Transferrin, Hämoglobin, Cholesterin und die Lymphozytenzahl geben Hinweise auf Protein- und Kalorienmangel. Proteine mit kürzerer Halbwertszeit als das Albumin (14 bis 21 Tage) wie Retinol-bindendes Protein (RBP) und Präalbumin sind für das Monitoring des Ernährungsstatus bei Akuterkrankungen besser geeignet (. Tab. 3.3). Assessment Es gibt eine Reihe von möglichen Assessment-Untersuchungen zur Bestimmung des Ernährungszustandes oder zur Entdeckung einer diesbezüglichen Gefährdung. Das weltweit bekannteste Instrument hierfür ist der Mini Nutritional Assessment (MNA). Mit diesem Assessment (. Abb. 3.3) kann zuverlässig der Ernährungszustand Älterer bestimmt werden. Mittels eines Vorscreenings mit 6 Fragen kann entschieden werden, ob über weitere 12 Fragen ein komplettes Assessment erhoben werden muss. !Aufgrund seiner Beziehung zu prognoserelevanten Parametern sollte bei geriatrischen Krankenhauspatienten primär das MNA eingesetzt werden. . Tab. 3.3. Laborparameter als Indikatoren für Mangelernährung (mit Halbwertszeit) Mangelernährung mild moderat schwer t1/2 Albumin g/l 32–35 28–32 <28 21 d Transferrin g/l 2,5–3 1,5–2,5 <1,5 8 d Präalbumin mg/l 120–150 100–120 <100 Retinol-bindendes Protein (>26 mg/l) Lymphozyten 1500–1800 2 d 0,5 d 900–1200 <900 3 50 Kapitel 3 · Malnutrition . Abb.3.3. Anamnesebogen zur Bestimmung des Ernährungszustandes älterer Menschen (Société des Produits Nestlé S.A., Vevey, Switzerland, Trademark Owners) 3.3 · Syndrom Malnutrition 51 3.3.3 Therapie Allgemein Am besten ist es, eine Malnutrition erst gar nicht entstehen zu lassen. Wegen der Heterogenität der Ursachen für Malnutrition in der Geriatrie gibt es keine allgemein gültigen Therapiekonzepte. Grundkrankheiten wie gastrointestinale Störungen, Depression, Hyperthyreose, chronische Schmerzsyndrome und viele andere sind nach Möglichkeit kausal zu behandeln. Diätverordnungen (fettarm, salzarm, Diabetes-Diät etc.) sollten unbedingt kritisch revidiert und gegebenenfalls verändert werden. Auch Medikamentenverordnungen sind kritisch zu überprüfen und nach Möglichkeit zu reduzieren. Ernährungstherapeutische Maßnahmen im Alter sollten immer auf einer sorgfältigen Abklärung der verschiedenen Faktoren der Malnutrition basieren. Erkrankungen des Zahn- und Kieferapparates müssen saniert werden, eventuell einzeln nicht paarig stehende Zähne entweder entfernt oder durch eine Gebissergänzung wieder zum funktionellen Zustand übergeführt werden. Mahlzeiten können auch püriert oder passiert serviert werden, sollten dann aber ansprechend gestaltet werden. Ergotherapeutische Hilfsmittel wie z. B. Griffverstärkungen können sehr nützlich sein. Neben der Optimierung des Nahrungsangebots sowie der Beachtung von Umgebungsfaktoren (Präsentation der Mahlzeiten, angenehmes Ambiente) können auch orale Supplemente den Ernährungszustand nachweislich verbessern. . Abb. 3.4. Gebisszustand 3 . Abb. 3.5. Trink- und Essprotokoll (Originalformular aus dem Bethesda Krankenhaus Stuttgart) 52 Kapitel 3 · Malnutrition 3.3 · Syndrom Malnutrition 53 !Um eine Unterversorgung mit Nahrung und Flüssiglkeit nicht zu übersehen kann ein Trink- und Essprotokoll hilfreich sein (. Abb. 3.5) Ernährungsberatung Durch stärkeres Würzen der Speisen oder stärkeres Süßen kann dem reduzierten Geschmacksempfinden nachgekommen werden. Eine ansprechende Zubereitungsweise nicht nur bei pürierten oder anderweitig zerkleinerten Speisen (zum Beispiel durch Dekoration des Tellers mit unzerkleinerten Speisebestandteilen) sowie die Einnahme in einem sozialen Rahmen mit Mitpatienten/Bewohnern oder gemeinsam mit therapeutischem oder pflegerischem Personal steigert die Nahrungsaufnahme teilweise enorm. Bei der Nahrungsauswahl muss dem reduzierten Gesamtkalorienbedarf im Alter Rechnung getragen werden, das heißt, es sollten besonders nährstoffdichte Speisen gegeben werden (Fleisch mit Sahnesoße, Nachtischzubereitungen mit Sahne, etc.). Im Wesentlichen sollten die Ernährungsempfehlungen der DGE, wie sie auch für jüngere Menschen Gültigkeit haben, zum Einsatz kommen. Restriktive Diäten, wie sie zum Beispiel bei Diabetes oder Fettstoffwechselstörungen noch vor wenigen Jahren verordnet wurden, sind heute aus geriatrischer Sicht obsolet und sollten nicht mehr dauerhaft verordnet werden. Parenterale Ernährung In der Akutsituation, z. B. bei Koma, nach Schlaganfall oder nach prinzipiell reversibler Erkrankung wie Myokardinfarkt kann eine volle parenterale Ernährung auch im Alter nützlich sein. Längerfristig überwiegen jedoch meist die Nebenwirkungen und Komplikationen über den potentiellen Nutzen. Vor allem beim alten Patienten sollte möglichst rasch eine enterale Ernährung durchgeführt werden. Eine Ausnahme ist nur die subkutane Gabe von Flüssigkeit bei Exsikkose bzw. Schluckstörungen: Diese kann auch längerfristig, z. B. im Pflegeheim durchgeführt werden und kann oft wiederholte Krankenhauseinweisungen verhindern. Enterale Ernährung (PEG) Eine enterale Ernährung ist der parenteralen vorzuziehen. Deshalb ist bei Schluckstörungen, soporösem oder komatösem Bewusstseinszustand innerhalb weniger Tage abzuklären, ob und wie eine weitere enterale (›künstliche‹) Ernährung vorzunehmen ist. Zuerst muss jedoch überprüft werden, ob der Betroffene dies auch möchte bzw. ob diesbezüglich eine schriftliche Willensäusserung vorliegt. Kann nicht klar ersehen werden, ob z. B. die intermittierende künstliche Ernährung, also z. B. über eine transnasale Magensonde, gewünscht oder abgelehnt wird, sollte dies in einer ethischen Fallbesprechung mit den an der Behandlung Beteiligten (Ärzte, Pfleger, 3 54 Kapitel 3 · Malnutrition Therapeuten, Angehörige) besprochen werden. Nicht erst für die Entscheidung zur Anlage einer perkutanen enteralen Gastrostomie (PEG) sollte diese Frage erstmalig in den Raum gestellt werden. !Die Entscheidung für oder gegen eine längerfristige enterale Ernährung mit PEG-Sonde sollte aus ethischer Sicht immer gut überdacht sein. Vereinfacht kann man sagen: Falls eine akute Erkrankung vorliegt, die sich wieder bessern oder zurückbilden kann (z. B. Schluckstörung nach Hirnblutung) sollte die Ent­scheidung für eine PEG-Sonde rasch und eher positiv erfolgen. Mit liegender PEGSonde kann dann auch eine notwendige logopädische Therapie erfolgen, und in vielen Fällen kann die PEG dann nach Rückbildung der Schluckstörung auch wieder entfernt werden. Stellt sich die Prognose nach längerer adäquater Therapie schließlich doch als schlechter heraus, kann auf ein Beschicken der Sonde auch wieder verzichtet werden! Liegt jedoch eine chronisch-progrediente Erkrankung mit zunehmender Schluckstörung vor (z. B. bei Alzheimer-Demenz) sollte die Entscheidung zur enteralen Ernährung kritisch überdacht werden. Manche ältere Menschen mit Ernährungsproblemen lehnen aktiv die Nahrungszufuhr ab. Eine ›Zwangsernährung‹ widerspricht hier dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Einbeziehung Angehöriger zur Entscheidungsfindung ist dabei sinnvoll und wichtig, dennoch muss man sich im Klaren sein, dass ohne Vorliegen einer Betreuung (›Vollmacht‹) . Abb. 3.6. Videofluoroskopische Darstellung einer Schluckstörung mit Kontrastmittelaspiration (Aus Gutenbrunner 2007) 3.5 · Antworten und Kommentare zu den Fragen 55 für den Bereich der Gesundheitsfürsorge kein Angehöriger das Recht hat, für den Betroffenen zu entscheiden. In unklaren Fällen muss daher das Vormundschaftsgericht eingeschaltet werden. 7 Kap. »Demenz«. 3.4 Häufige Kontextfaktoren Die Risikofaktoren und häufigsten Ursachen fasst der Merksatz Meals on wheels zusammen:. M edikations E motional problems A norexia L ate life paranoia S wallowing disorders O ral factors N o money W andering (dementia) H yperthyroidism u. a. E nteric problems (malabsorption) E ating problems L ow salt, low cholesterol diet S ocial problems Antworten und Kommentare zu den Fragen 3.5 ?Frage 1: Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zum Entstehen der Malnutrition bei Frau S. beigetragen, und welche anderen ­Faktoren können Sie sich vorstellen, die am Entstehen einer ­Malnutrition im höheren Lebensalter Anteil haben? $ Zum Entstehen der Malnutrition bei Frau S. haben verschiedene Faktoren beigetragen. Zum einen ist aufgrund des chronischen Schmerzsyndroms nach misslungener Knieoperation wahrscheinlich schon per se eine Einschränkung des Appetits aufgetreten, möglicherweise deutlich verstärkt durch die Auswirkung von Schmerzmedikamenten, wie zum Beispiel von nicht-steroidaler Antirheumatika oder Opioden, die eine appetithemmende Wirkung entfalten können. Auch der soziale Rückzug mit dem Wegfallen einer gemeinschaftlich eingenommenen Mahlzeit hat vermutlich zur nachlassenden Nahrungsaufnahme beigetragen. Ist dann bei weiterer Malnutrition bereits die Kraft und 6 3 56 Kapitel 3 · Malnutrition somit auch die Mobilität reduziert, kommt es wie in einem Teufelskreis zu einer weiteren Einschränkung der Nahrungsaufnahme. Vermuten kann man auch, dass durch die bereits erfolgte Gewichtsabnahme das Gebiss vielleicht nicht mehr richtig passt und deshalb wiederum die Nahrungsaufnahme behindert wird. Möglicherweise könnte auch die Pneumonie auf eine Schluckstörung hinweisen, wie sie im höheren Lebensalter zum Beispiel bei Parkinson-Syndrom, nach Schlaganfall oder bei Demenz häufig vorkommt und oft weder vom Betroffenen noch von den Pflegekräften richtig wahrgenommen wird. Weitere mögliche funktionelle oder organische Ursachen sind weiter vorn im Kapitel beschrieben und lassen sich auch im Merksatz Meals on wheels beschreiben. ?Frage 2: Wie können Sie eine Malnutrition klinisch feststellen? $ Die einfachste Maßnahme ist es, den Patienten oder Bewohner regelmäßig zu wiegen und dann in Relation zur Körpergröße den Body-Mass-Index zu bestimmen. Die beste Aussage gibt das Assessment-Instrument MNA. Weitere Möglich­ keiten (eher für Studien) sind zum Beispiel die Messung der Hautfaltendicke am Oberarm, Wadenumfang, Armspanne durch Quadrat des Körpergewichts, Messung der Bioimpedanz (BIA) oder NMR-Bestimmung der Fettmasse. ?Frage 3: Welche Laborparameter können Sie bestimmen, um eine Aussage über den Ernährungszustand zu erhalten? $ Albumin, Präalbumin, Transferrin, Hämoglobin, Cholesterin und die Lymphozytenzahl geben Hinweise auf Protein- und Kalorienmangel. Von klinischer Relevanz ist vor allem die Bestimmung von Serumalbumin, welches durch seine lange Halbwertzeit (21 Tage) einen Aufschluss über den längerfristigen Ernährungszustand gibt. Durch Messung von Präalbumin oder Retinol-bindendem Globulin können auch kurzfristige Änderungen des Ernährungszustands festgestellt werden. ?Frage 4: Wie würden Sie Malnutrition im Alter therapeutisch angehen? $ Ernährungstherapeutische Maßnahmen im Alter sollten immer auf einer sorgfältigen Abklärung der verschiedenen Faktoren der Malnutrition basieren. Erkrankungen des Zahn- und Kieferapparates müssen saniert werden. Durch stärkeres Würzen der Speisen oder stärkeres Süßen kann dem reduzierten Geschmacksempfinden nachgekommen werden. Eine ansprechende Zubereitungsweise sowie die Einnahme in einem sozialen Rahmen mit Mitpatienten/ Bewohnern oder gemeinsam mit therapeutischem oder pflegerischem Personal steigert die Nahrungsaufnahme. Bei der Nahrungsauswahl muss dem redu6 3.5 · Antworten und Kommentare zu den Fragen 57 zierten Gesamtkalorienbedarf im Alter Rechnung getragen werden, das heißt, es sollten besonders nährstoffdichte Speisen gegeben werden (Fleisch mit Sahnesoße, Nachtischzubereitungen mit Sahne, etc.). Restriktive Diäten (z. B. bei Diabetes oder Fettstoffwechselstörungen) sind heute aus geriatrischer Sicht obsolet und sollten nicht mehr dauerhaft verordnet werden. ?Frage 5: Wie häufig findet sich Malnutrition bei älteren Menschen ungefähr? $ Je nach Studienpopulation und untersuchten Parametern findet sich eine Malnutrition bei 16 bis weit über 50% der Älteren. In Kürze 4 Unter Mangelernährung versteht man ein Ungleichgewicht zwischen Nahrungszufuhr und Nahrungsbedarf, im Alter tritt sie meist als Unterernährung auf. Je nach untersuchter Population findet man Mangelernährung bei bis zur Hälfte der Senioren. 4 Neben organischen und medikamentösen Ursachen spielen funktionelle, psychische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle. 4 Der BMI reicht zur Einschätzung des Ernährungszustands allein nicht aus und sollte durch Ernährungsassessment (z. B. den MNA) ergänzt werden. 4 Therapeutisch sind nährstoffdichte Ernährung, Supplemente und geeignete Zubereitungsformen (z. B. passiert oder püriert) geeignet. Auch die Abklärung psychischer und sozialer Rahmenbedingungen ist wichtig und kann in Ernährungsinterventionen umgesetzt werden. 4 Parenterale oder enterale Ernährung (z. B. PEG) sollte nur besonderen Situationen vorbehalten bleiben und bedarf einer kritischen ethischen Abwägung. 3 http://www.springer.com/978-3-540-71716-4