Nazismus als „angewandte Biologie“ Umsetzungen der „Rassenhygiene“ Literatur • Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997, insbes. Kap. 1, 4-5. • Gabriele Czarnowski, Eheeignung und Ehetauglichkeit. Körpereinschreibungen im administrativen Geflecht positiver und negativer Rassenhygiene während des Nationalsozialismus. In: G. Baader/V. Hofer/T. Mayer (Hg.), Eugenik in Österreich. Biopolitische Strukturen von 1900 bis 1945. Wien 2007, S. 312-344 • Robert Proctor, Der Blitzkrieg der Nazis gegen den Krebs. Stuttgart 2001. Auszüge I. Fragestellungen • Was war Eugenik, was war „Rassenhygiene“? Gab es hier Unterschiede? • Wie entstand die rassenhygienische Bewegung in Deutschland und was unterschied sie von der eugenischen Bewegung in anderen Ländern? • Gab es eine gerade Linie von der Eugenik zur NS-Rassenhygiene? • Ideen werden Praxis nach 1933 – gingen alle Maßnahmen der NS-Rassenhygiene nach der gleichen „Logik“ vor sich? II. Was war Eugenik? • Gründer: Francis Galton • Mitstreiter: Karl Pearson • KEINE Ärzte oder Biologen, sondern hochrangige Mathematiker und (im Falle Pearsons) zeitweilig Anhänger des „Fabian Socialism“ Francis Galton (1822 – 1911). Sohn eines Bankiers (Quäker), Halbcousin Darwins. Pionier (mit Karl Pearson) der Korrelationsberechnung Begründer (mit Karl Pearson) der Biometrie und Anthropometrie Francis Galton: Hauptwerke • Hereditary Genius (1869) - deutsch: Genie und Vererbung (1911) • English Men of Science. Their Nature und Nurture (1874) • „History of Twins as a Criterion of the Relative Powers of Nature and Nurture“ (1875) • Natural Inheritance (1889) • Fingerprints (1892) • Terminus „Eugenik“ (1883) Aus Hereditary Genius (1869) – zwei Thesen: • „Ich will in diesem Buche zeigen, dass die natürlichen Fähigkeiten eines Menschen durch Vererbung erworben sind, unter den völlig gleichen Beschränkungen, die für die Form und die physischen Merkmale der gesamten organischen Welt gelten.“ • Somit „müsste es ebenso möglich sein, durch wohl ausgewählte Ehen während einiger aufeinander folgender Generationen eine hochbegabte Menschenrasse hervorzubringen.“ • Die Beweisführung (1869): z.B. Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn oder Bruder eines der Richter von England ebenfalls Richter von England wird (Korrelation der Verwandtschaftsnähe mit Berufserfolg = „Eminence“) Was war Eugenik? (Forts.) • Entstehung einer organisierten Bewegung erst nach 1900, z.B.: Society for National Eugenics (1907) + Eugenics Education Society (1911) in England • Hintergründe: Ängste von Teilen der akademischen Mittelschicht über soziale Folgen der Industrialisierung • In England: „sozialer Imperialismus“ • In den USA: Einwanderung aus Ost- und Südeuropa, Sorge um die Integrität der „weißen Rasse“ – erste Sterilisierungsgesetze ab 1907 (Bundesstaat Indiana) Was war Eugenik? (Forts.) • Auch in Skandinavien, Frankreich, Lateinamerika präsent, wenngleich in anderer Form • Aspekte des eugenischen Diskurses in ALLEN politischen Richtungen - KEINESFALLS allein bei den Rechten! – präsent Unterscheidungslinien: • „Harte“ versus „weiche“ Vererbungslehre • „Positive“ versus „negative“ Eugenik III. „Rassenhygiene“ vor 1933 • Im Unterschied zu anderen Ländern: Dominanz von Ärzten – Folgen der „Sozialen Frage“ für die „Volksgesundheit“ • Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmayr - Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene (1904) • Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie (1905) • „Nordische“ und (mehrheitlich) „bevölkerungspolitische“ Fraktionen • Wurzel der „nordischen“ Linie: NICHT Galton/Pearson, sondern die Rassenlehre des Comte de Gobineau (Hauptziel: „Reinheit“ der „Rasse“) Archiv für Rassen- und GesellschaftsBiologie Titelblatt des 5. Jahrgangs Populärwissenschaftliche Ikonographie: „Die Vererbung als Erhaltende Macht“ Institutionalisierung humangenetischer Forschung nach dem Ersten Weltkrieg • Hintergrund: Sorge um die „Qualität“ der dt. Bevölkerung wg. Verlüste des I. Weltkriegs Zwei Hauptzentren: • „Geneaologische Abteilung“ des KWI für Psychiatrie/München (Leiter: Ernst Rüdin) • Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, gegr. 1927. Leiter: Eugen Fischer. • Eugen Fischer – Gründer des KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (1926) • Eugen Fischer - Die Rehobother Bastarde (1913) - Forschung an Nachkommen deutscher Kolonisten und so genannten „Buschmänner“. Thema: Ob so genannte „Mischlinge“ körperlich gesunder sind als Weiße oder Schwarzafrikaner. Ergebnis: Gemischt (!). • Erwin Bauer, Eugen Fischer, Fritz Lenz Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2 Bde. (1921). Deutschsprachiges Standwerk zum Thema, angeblich von Hitler Mitte der 1920er Jahre gelesen Das Programm Fischers • Verbindung der (physischen) Anthropologie und humangenetischer Grundlagenforschung • Zwillingsforschung (Abteilung „menschliche Erblehre“, Leiter bis 1935: Othmar Freiherr von Verschuer). Quantitative Studien der relativen Erblichkeit ausgewählter körperlicher und geistiger Eigenschaften • Neues Forschungsprogramm (ab ca. 1930): „Phänogenetik“ = Rolle von Erb- und Umweltfaktoren auf dem Weg vom Genotyp zum Phänotyp • Propaganda für die Eugenik: Hermann Muckermann, SJ (Leiter d. Abteilung Eugenik bis 1933) Ernst Rudin (1874 – 1952) • Leiter der „Genealogischen Abteilung“ am KaiserWilhelm-Institut für Psychiatrie in München • „Erbpathologische Familienforschung“ + Zwillingsforschung (Hans Luxenburger) • Befürworter aktiver eugenischer Maßnahmen (z.B. Sterilisierung) Alternative Wege: Eugenik und ‚Sozialhygiene‘ in Österreich • „Gesellschaft für Rassenpflege“ (gegr. 1924) • „Bund für Volksaufartung“ 1927 (u.a. Julius Wagner von Jauregg, Neurologe, Nobelpreisträger) • Julius Tandler – wie Alfred Grotjahn (Berlin) Befürworter einer 'Sozialhygiene‘ auf neo-Lamarckistischer Grundlage + „Menschenökonomie“ Rudolph Goldscheids • Eheberatungsstellen („Drum prüfe wer sich bindet.“) Ziel: Erziehung zum „Eugenischen Gewissen“ • „Katholische“ Eugenik vor und nach „Casti Conubii“ (1931) – die St. Lukas-Gilde III. Eugenische Praxis im Nationalsozialismus (1) • ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs‘ (Juli 1933) (Vorlage bereits im Preußischen Landtag 1932) Ernst Rüdin und Artur Gütt (Referent im Innenministerium) am Entwurf aktiv beteiligt, Autoren des Kommentars • Übernahme des „Modell USA“, mit drei wesentlichen Unterschieden: (1) Zwangssterilisierung statt Prinzip der „Freiwilligkeit“ (2) Meldepflicht - Bruch des Ärztegeheimnis (3) Entscheidung durch „Erbgesundheitsgerichte“ nach vorgelegten Kriterienkatalogen (z.B. neben körperlicher „Defekten“ auch „angeborener Schwachsinn“, erblicher Alkoholismus, „asozialer Charakter“ usw.) Propaganda für das GVeN aus Neues Volk (1936) Propaganda für das GVeN: „Die Bedrohung des Untermenschen“ Aus: Otto Helmut, Volk in Gefahr (1937) Zur Praxis der Zwangsterilisierung • • • • • Nach Gisela Bock (1986) ca. 400.000 verordnete Sterilisierungen 1933-1945, die Hälfte davon bis 1937 und ca. 40.000 in den besetzten Ländern (inkl. Österreich) Psychische „Defekte“ („angeborener Schwachsinn“, Schizophrenie, „erbliche Epilepsie“) machen mehr als 80 Prozent der Gesamtzahl aus Frauen u. Männer jeweils die Hälfte – Frauen aber die Mehrheit der ca. 5.000 Todesfolgen (chirurgische Komplikationen oder Selbstmord) Die „Logik“: doppelte Utopie (1) einer „Reinigung des Volkskörpers“, ungehemmt von „Humanitätsduselei“ plus (2) Sorge um die Gestaltung künftiger Generationen. Nach Bock eine radikale Form der Geburtenkontrolle! „Praktischer“ Widerstand – Verweigerung (z.B. Albert Niedermeyer), Nichtmeldung, Fehldiagnosen Die Wissenschaft arbeitet mit • „Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft steht bereit, „sich in den Dienst des Reiches hinsichtlich der rassenhygienischen Forschung“ zu stellen – Max Planck, Brief an Innenminister Frick (14. Juli 1933) • „Das Institut steht voll und ganz für die Aufgaben des jetzigen Staates zur Verfügung“ - Eugen Fischer, Tätigkeitsbericht vom Juni 1933 • Beteiligung Fischers an Schulungsmaßnahmen wie an den „Erbgesundheitsgerichten“ • Otmar von Verschuer, Berufung nach Frankfurt auf einen Lehrstuhl für Rassenhygiene 1935 – Mitarbeit an einer „Erbiologischen Bestandaufnahme“ mit staatlichen Gesundheitsämtern, Herausgeber von Der Erbarzt IV. Eugenische Praxis im Nationalsozialismus (2) • Die „Nürnberger Rassengesetze“ (1935) • „Reichsbürgergesetz“ + „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ • War das Eugenik? NUR nach folgender „Logik“: (1) Jude sein (nach NS-Zuschreibung) muss als „Erbkrankheit“ durchgehen (NIX Darwin!) (2) „Reinheit“ der „Rasse“ als oberstes Gebot Primat des „nordischen Gedankens“ im Unterschied zum Darwinismus des GVeN Das gemeinsame Nenner: Utopie der „Reinigung des (‚deutschen‘) Volkskörpers Schulungstafel zur „Anwendung“ der Nürnberger Gesetze Aus: Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung (1936) Eugenische Praxis im Nationalsozialismus (2 + 3) • „Positive + Negative Rassenhygiene“ im Sinne des Darwinismus – Ehetauglichkeitszeugnisse (ETZ) • „Positive Rassenhygiene“ im Sinne des „nordischen Gedankens“ - Der „Lebensborn e.V.“ • Spannungsverhältnis der beiden Richtungen: Die Frage der Sterilisierung der so genannten „Rheinlandbastarde“ 1937 (z.B.: widersprüchliches Gutachten v. Fritz Lenz) • (3) Der Mord an den Behinderten – „Eugenik“ in strengster Konsequenz (wieso denn eigentlich?), oder kam noch eine dritte, ökonomistische „Logik“ hinzu? (siehe spätere Vorlesung!) V. „Positiver Rassenhygiene“ auf anderem Wege – Der „Krieg“ gegen Krebs • Hintergrund: Krebs und andere „Zivilisationskrankheiten“ bereits seit dem Kaiserreich im Visier der Medizin und der Gesundheitspolitik • Neu im NS: gezielte Erfassung (Krebsregister) + Präventionskampagnen, z.B. gegen Brust- und Lungenkrebs Beispiel eines Plakats aus einer Kampagne zur Präventivuntersuchung gegen Krebs Anti-Tobak Plakat aus der Zeitschrift „Reine Luft“ (1941) Hintergründe und Auswirkungen • Die ideologischen Hintergründe: KEINE allgemeine Gesundheitspolitik für die Bevölkerung insgesamt, sondern „Reinigung des (deutschen) Volkskörpers“ und „gesundes Leben“ für „Arier“ (Hitler selbst – Vegetarier und Nichtraucher - als Vorbild) • Auswirkungen auf die Krebsforschung, z.B. an der Universität Jena unter Karl Astel • Ideologisierung UND Instrumentalisierung der epidemiologischen Forschung (Methode: statistische Korrelationen und Nachweise von mehr oder weniger starken Zusammenhängen zwischen jeweils ausgewählten Faktoren und bestimmten Krankheiten) Karl Astel, 1933 Leiter des Landesamtes für Rassewesen/Weimar 1934 Professor für Züchtungslehre/Jena (Ab 1935 für „Menschliche Erbforschung und Rassenpolitik“) 1939 Rektor der Universität Jena, Gründungsdirektor des Instituts für die Erforschung der Tabakgefahren 1945 Selbstmord Begrüßungstelegramm Adolf Hitlers zur Eröffnung des 1. Wissenschaftlichen Kongresses für die Erforschung der Tabakgefahren in Jena, 5. April 1941 • Epidemiologischer Nachweis eines (bereits seit den 1920er und 1930er Jahren vermuteten) Zusammenhangs zwischen Zigarettenrauchen und Lungenkrebs in einer Dissertation am Institut Astels (1943) • Nach 1945 unbekannt geblieben bzw. nicht zur Kenntnis genommen (wieso denn auch?) • „Gute“ Wissenschaft in einem bösen Regime – oder Kontinuitäten einer technokratischen Modernität mit verschiedenen politischen Kodierungen?