Nazismus als „angewandte Biologie“

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Nazismus als
„angewandte Biologie“
Umsetzungen der
„Rassenhygiene“
Literatur
• Stefan Kühl, Die Internationale der
Rassisten. Aufstieg und Niedergang der
internationalen Bewegung für Eugenik und
Rassenhygiene im 20. Jahrhundert,
Frankfurt a.M. 1997, insbes. Kap. 1-4.
• Robert Proctor, Der Blitzkrieg der
Nazis gegen den Krebs. Stuttgart
2001.
I. Fragestellungen
• Was war Eugenik, was war „Rassenhygiene“?
Gab es hier Unterschiede?
• Wie entstand die rassenhygienische Bewegung
in Deutschland und was unterschied sie von der
eugenischen Bewegung in anderen Ländern?
• Gab es eine gerade Linie von der Eugenik zur
NS-Rassenhygiene?
• Ideen werden Praxis nach 1933 – gingen alle
Maßnahmen der NS-Rassenhygiene nach der
gleichen „Logik“ vor sich?
II. Was war Eugenik?
• Gründer: Francis Galton
• Mitstreiter: Karl Pearson
• KEINE Ärzte oder Biologen, sondern
hochrangige Mathematiker und (im Falle
Pearsons) zeitweilig Anhänger des
„Fabian Socialism“
Francis Galton
(1822 – 1911).
Sohn eines
Bankiers (Quäker),
Halbcousin
Darwins.
Pionier (mit Karl
Pearson) der
Korrelationsberechnung
Begründer (mit Karl
Pearson) der
Biometrie und
Anthropometrie
Francis Galton: Hauptwerke
• Hereditary Genius (1869) - deutsch: Genie und
Vererbung (1911)
• English Men of Science. Their Nature und Nurture
(1874)
• „History of Twins as a Criterion of the Relative Powers of
Nature and Nurture“ (1875)
• Natural Inheritance (1889)
• Fingerprints (1892)
• Terminus „Eugenik“ (1883)
Aus Hereditary Genius (1869) – zwei Thesen:
• „Ich will in diesem Buche zeigen, dass die natürlichen
Fähigkeiten eines Menschen durch Vererbung erworben
sind, unter den völlig gleichen Beschränkungen, die für
die Form und die physischen Merkmale der gesamten
organischen Welt gelten.“
• Somit „müsste es ebenso möglich sein, durch wohl
ausgewählte Ehen während einiger aufeinander
folgender Generationen eine hochbegabte
Menschenrasse hervorzubringen.“
• Die Beweisführung (1869): z.B. Berechnung der
Wahrscheinlichkeit, dass der Sohn oder Bruder eines
der Richter von England ebenfalls Richter von England
wird (Korrelation der Verwandtschaftsnähe mit
Berufserfolg = „Eminence“)
Was war Eugenik? (Forts.)
• Entstehung einer organisierten Bewegung erst
nach 1900, z.B.: Society for National Eugenics
(1907) + Eugenics Education Society (1911) in
England
• Hintergründe: Ängste von Teilen der
akademischen Mittelschicht über soziale Folgen
der Industrialisierung
• In England: „sozialer Imperialismus“
• In den USA: Einwanderung aus Ost- und
Südeuropa, Sorge um die Integrität der „weißen
Rasse“ – erste Sterilisierungsgesetze ab 1907
(Bundesstaat Indiana)
Was war Eugenik? (Forts.)
• Auch in Skandinavien, Frankreich,
Lateinamerika präsent, wenngleich in anderer
Form
• Aspekte des eugenischen Diskurses in ALLEN
politischen Richtungen - KEINESFALLS allein
bei den Rechten! – präsent
Unterscheidungslinien:
• „Harte“ versus „weiche“ Vererbungslehre
• „Positive“ versus „negative“ Eugenik
III. „Rassenhygiene“ vor 1933
• Im Unterschied zu anderen Ländern: Dominanz von
Ärzten – Folgen der „Sozialen Frage“ für die
„Volksgesundheit“
• Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmayr - Deutsche
Gesellschaft für Rassenhygiene (1904)
• Zeitschrift Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie
(1905)
• „Nordische“ und (mehrheitlich) „bevölkerungspolitische“
Fraktionen
• Wurzel der „nordischen“ Linie: NICHT Galton/Pearson,
sondern die Rassenlehre des Comte de Gobineau
(Hauptziel: „Reinheit“ der „Rasse“)
Archiv für
Rassen- und
GesellschaftsBiologie
Titelblatt des 5.
Jahrgangs
Populärwissenschaftliche
Ikonographie:
„Die Vererbung als
Erhaltende Macht“
Institutionalisierung
humangenetischer Forschung nach
dem Ersten Weltkrieg
• Hintergrund: Sorge um die „Qualität“ der dt.
Bevölkerung wg. Verlüste des I. Weltkriegs
Zwei Hauptzentren:
• „Geneaologische Abteilung“ des KWI für
Psychiatrie/München (Leiter: Ernst Rüdin)
• Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
menschliche Erblehre und Eugenik, gegr. 1927.
Leiter: Eugen Fischer.
• Eugen Fischer –
Gründer des KaiserWilhelm-Instituts für
Anthropologie,
menschliche
Erblehre und
Eugenik (1926)
Humangenetische Forschung
nach dem Ersten Weltkrieg
• Eugen Fischer - Die Rehobother Bastarde
(1913) - Forschung an Nachkommen deutscher
Kolonisten und so genannten „Buschmänner“.
Thema: Ob so genannte „Mischlinge“ körperlich
gesunder sind als Weiße oder Schwarzafrikaner.
Ergebnis: Gemischt (!).
• Erwin Bauer, Eugen Fischer, Fritz Lenz Menschliche Erblichkeitslehre und
Rassenhygiene, 2 Bde. (1921).
Deutschsprachiges Standwerk zum Thema,
angeblich von Hitler Mitte der 1920er Jahre
gelesen
Das Programm Fischers
• Verbindung der (physischen) Anthropologie und
humangenetischer Grundlagenforschung
• Zwillingsforschung (Abteilung „menschliche Erblehre“,
Leiter bis 1935: Othmar Freiherr von Verschuer).
Quantitative Studien der relativen Erblichkeit
ausgewählter körperlicher und geistiger Eigenschaften
• Neues Forschungsprogramm (ab ca. 1930):
„Phänogenetik“ = Rolle von Erb- und Umweltfaktoren auf
dem Weg vom Genotyp zum Phänotyp
• Propaganda für die Eugenik: Hermann Muckermann, SJ
(Leiter d. Abteilung Eugenik bis 1933)
Humangenetische Forschung
nach dem Ersten Weltkrieg
Ernst Rudin (1874 – 1952)
• Leiter der „Genealogischen
Abteilung“ am KaiserWilhelm-Institut für
Psychiatrie in München
• „Erbpathologische Familienforschung“ + Zwillingsforschung (Hans Luxenburger)
• Befürworter aktiver
eugenischer Maßnahmen
(z.B. Sterilisierung)
Alternative Wege: Eugenik und
‚Sozialhygiene‘ in Österreich
• „Gesellschaft für Rassenpflege“ (gegr. 1924)
• „Bund für Volksaufartung“ 1927 (u.a. Julius Wagner von
Jauregg, Neurologe, Nobelpreisträger)
• Julius Tandler – wie Alfred Grotjahn (Berlin) Befürworter
einer 'Sozialhygiene‘ auf neo-Lamarckistischer
Grundlage + „Menschenökonomie“ Rudolph Goldscheids
• Eheberatungsstellen („Drum prüfe wer sich bindet.“) Ziel:
Erziehung zum „Eugenischen Gewissen“
• „Katholische“ Eugenik vor und nach „Casti Conubii“
(1931) – die St. Lukas-Gilde
III. Eugenische Praxis im
Nationalsozialismus (1)
• ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs‘ (Juli
1933) (Vorlage bereits im Preußischen Landtag 1932)
Ernst Rüdin und Artur Gütt (Referent im
Innenministerium) am Entwurf aktiv beteiligt, Autoren
des Kommentars
• Übernahme des „Modell USA“, mit drei wesentlichen
Unterschieden:
(1) Zwangssterilisierung statt Prinzip der „Freiwilligkeit“
(2) Meldepflicht - Bruch des Ärztegeheimnis
(3) Entscheidung durch „Erbgesundheitsgerichte“ nach
vorgelegten Kriterienkatalogen (z.B. neben körperlicher
„Defekten“ auch „angeborener Schwachsinn“, erblicher
Alkoholismus, „asozialer Charakter“ usw.)
Propaganda für
das GVeN
aus Neues
Volk (1936)
Propaganda für das GVeN:
„Die Bedrohung des
Untermenschen“
Aus: Otto Helmut,
Volk in Gefahr (1937)
Zur Praxis der Zwangsterilisierung
• Nach Gisela Bock (1986) ca. 400.000 verordnete
Sterilisierungen 1933-1945, die Hälfte davon bis 1937
und ca. 40.000 in den besetzten Ländern (inkl.
Österreich)
• Psychische „Defekte“ („angeborener Schwachsinn“,
Schizophrenie, „erbliche Epilepsie“) machen mehr als 80
Prozent der Gesamtzahl aus
• Frauen u. Männer jeweils die Hälfte – Frauen aber die
Mehrheit der ca. 5.000 Todesfolgen (chirurgische
Komplikationen oder Selbstmord)
• Die „Logik“: Utopie einer „Reinigung des Volkskörpers“,
ungehemmt von „Humanitätsduselei“
• „Praktischer“ Widerstand – Verweigerung, Nichtmeldung,
Fehldiagnosen (z.B. Albert Niedermeyer)
Die Wissenschaft arbeitet mit
• „Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft steht bereit, in den
Dienst der rassenhygienischen Forschung“ – Max
Planck, Brief an Innenminister Frick (Juni 1933)
• „Das Institut steht voll und ganz für die Aufgaben des
jetzigen Staates zur Verfügung“ - Eugen Fischer,
Tätigkeitsbericht vom Juni 1933
• Beteiligung Fischers an Schulungsmaßnahmen wie an
den „Erbgesundheitsgerichten“
• Otmar von Verschuer, Berufung nach Frankfurt auf einen
Lehrstuhl für Rassenhygiene – Mitarbeit an einer
„Erbiologischen Bestandaufnahme“ mit staatl.
Gesundheitsämtern, Herausgeber von Der Erbarzt
IV. Eugenische Praxis im
Nationalsozialismus (2)
• Die „Nürnberger Rassengesetze“ (1935)
• „Reichsbürgergesetz“ + „Gesetz zum Schutze
des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“
• War das Eugenik? NUR nach folgender „Logik“:
(1) Jude sein (nach NS-Zuschreibung) muss als
„Erbkrankheit“ durchgehen (NIX Darwin!)
(2) „Reinheit“ der „Rasse“ als oberstes Gebot Primat des „nordischen Gedankens“ im
Unterschied zum Darwinismus des GVeN
Das gemeinsame Nenner: Utopie der
„Reinigung des (‚deutschen‘) Volkskörpers
Schulungstafel
zur „Anwendung“
der Nürnberger
Gesetze
Aus: Zeitschrift
für Ärztliche
Fortbildung
(1936)
Eugenische Praxis im
Nationalsozialismus (2 + 3)
• „Positive Rassenhygiene“ im Sinne des
„nordischen Gedankens“ - Der „Lebensborn
e.V.“
• Spannungsverhältnis der beiden Richtungen:
Die Frage der Sterilisierung der so genannten
„Rheinlandbastarde“ 1937 (z.B.:
widersprüchliches Gutachten v. Fritz Lenz)
• Der Mord an den Behinderten – „Eugenik“ in
strengster Konsequenz, oder noch eine dritte,
ökonomistische „Logik“? (siehe spätere
Vorlesung!)
V. „Positiver Rassenhygiene“ auf
anderem Wege – Der „Krieg“
gegen Krebs
• Hintergrund: Krebs und andere
„Zivilisationskrankheiten“ bereits seit dem
Kaiserreich im Visier der Medizin und der
Gesundheitspolitik
• Neu im NS: gezielte Erfassung
(Krebsregister) + Präventionskampagnen,
z.B. gegen Brust- und Lungenkrebs
Beispiel
eines Plakats
aus einer
Kampagne
zur Präventivuntersuchung
gegen Krebs
Anti-Tobak
Plakat aus
der Zeitschrift
„Reine Luft“
(1941)
Hintergründe und Auswirkungen
• Die ideologischen Hintergründe: KEINE allgemeine
Gesundheitspolitik für die Bevölkerung insgesamt,
sondern „Reinigung des (deutschen) Volkskörpers“ und
„gesundes Leben“ für „Arier“ (Hitler selbst – Vegetarier
und Nichtraucher - als Vorbild)
• Auswirkungen auf die Krebsforschung, z.B. an der
Universität Jena unter Karl Astel
• Ideologisierung UND Instrumentalisierung der
epidemiologischen Forschung (Methode: statistische
Korrelationen und Nachweise von mehr oder weniger
starken Zusammenhängen zwischen jeweils
ausgewählten Faktoren und bestimmten Krankheiten)
Karl Astel,
1933 Leiter des
Landesamtes für
Rassewesen/Weimar
1934 Professor für
Züchtungslehre/Jena
(Ab 1935 für
„Menschliche
Erbforschung
und Rassenpolitik“)
1939 Rektor der
Universität Jena,
Gründungsdirektor
des Instituts für die
Erforschung der
Tabakgefahren
1945 Selbstmord
Begrüßungstelegramm
Adolf Hitlers zur
Eröffnung des 1. Wissenschaftlichen Kongresses
für die Erforschung der
Tabakgefahren in Jena,
5. April 1941
Der „Krieg“ gegen Krebs –
auch in der Forschung
• Epidemiologischer Nachweis eines (bereits seit
den 1920er und 1930er Jahren vermuteten)
Zusammenhangs zwischen Zigarettenrauchen
und Lungenkrebs in einer Dissertation am
Institut Astels (1943)
• Nach 1945 unbekannt geblieben bzw. nicht zur
Kenntnis genommen (wieso denn auch?)
• „Gute“ Wissenschaft in einem bösen Regime –
oder Kontinuitäten einer technokratischen
Modernität mit verschiedenen politischen
Kodierungen?
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