Nun sag`, wie hast du`s mit der Gewalt?

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Berthold Sauerwald
Die etwas andere Gretchenfrage an den Islam:
„Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Gewalt?“
In Goethes Faust, der Tragödie erster Teil, stellt Margarete, das 14-jährige, fromme „Gretchen“,
ihrem Liebhaber Faust die Frage: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?“ Sie will Sicherheit bekommen, bevor sie sich weiter mit ihm einläßt. Faust, der eine liberale Auffassung von Religion vertritt, aber auch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, ist dieses Thema unbehaglich; er weicht
aus, versucht abzulenken und verschleiert seine wahre Einstellung. Gretchen läßt sich leichtgläubig
täuschen und endet in einer tödlichen Katastrophe.
Diese berühmte „Gretchenfrage“ ist eine Frage nach der privaten, persönlichen Religiosität, nicht
nach der Religion selbst. Angesichts der erschreckenden und bedrohlichen terroristischen Vorgänge
mit islamischem Hintergrund weltweit drängt sich nun eine andere Art der Gretchenfrage auf: Sie
gilt der Religion selbst, hier dem Islam, und sie wird öffentlich gestellt, nicht im privaten Kämmerlein. In allen Medien ist sie in beispielloser Weise und in verschiedensten Facetten präsent: Mißbrauchen die Terroristen den Islam? Kann man Islam von Islamismus unterscheiden? Gehören Intoleranz und Gewalt zum Islam? Hinter all dem steht, weltweit an den Islam gerichtet, letztlich eine Variation der alten Gretchenfrage: „Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Gewalt?“
Denn fast täglich müssen wir erfahren, was weltweit im Namen des „wahren“ Islam an unglaublichen Gräueltaten begangen wird. Ohne die bekannten grausamen Details aufzählen zu müssen, zeigen allein schon die Aktionsbereiche der gewalttätigen Gruppen und Einzeltäter das Ausmaß der
Bedrohung an: Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan, Arabische Halbinsel, Nigeria, Somalia, Libyen,
Indonesien, Philippinen, auch Europa und das Attentat in New York nicht zu vergessen. Selbst aus
Deutschland sollen über 680 von den Siebentausenden der hier lebenden Sympathisanten des „IS“
nach Syrien gezogen sein, um dort zu kämpfen. Sie alle propagieren, meist mit der Fahne des islamischen Glaubensbekenntnisses voran, den „wahren“ Islam, berufen sich für ihre Gewalttaten auf die
historischen Fundamente dieser Religion, einschließlich der Taten Mohameds, und beanspruchen
damit, Gottes Wort und Willen zu folgen. Die Ursachen für ihre Gewalttaten sind aber vielfältig, sie
haben auch politische und soziale Hintergründe.
Zudem sollte nicht übersehen werden, daß auch in manchen muslimisch beherrschten Staaten im
Namen des Islam durch drastische Strafen ähnliche Gewalt ausgeübt wird: In Saudi Arabien z. B.
gibt es jährlich ca. 90 Enthauptungen, Köpfen für Abkehr vom Islam, Haft und 1000 Peitschenhiebe für Kritik an islamischen Instanzen, im Iran über 280 Enthauptungen jährlich und immer wieder
Steinigungen usw. In diesen Staaten werden Menschenrechte mißachtet, und Angehörigen anderer
Religionen ist es verboten, ihren Glauben auszuüben. Dort werden „Rechtauslegungen aus dem 7.
Jahrhundert, wie sie der IS ausübt, an den theologischen Fakultäten gelehrt. Das ist Teil der islamischen Realität“, konstatiert der Islam-Professor E. Asian, Wien.
Wie hat man‘s nun hier mit dieser Religion, in deren Namen Gräueltaten geschehen?
Im November 2010 behauptete der damalige Bundespräsident Wulff, der Islam gehöre (auch) zu
Deutschland. Das löste eine erste öffentliche Debatte über den Islam in Deutschland aus. Als integrative und notwendige Geste gegenüber den Muslimen gemeint, erweist sich diese Aussage aber,
wenn man sie wörtlich nimmt, als oberflächlich und undifferenziert, solange man nicht definiert, was
mit „dem“ Islam denn gemeint sei. Sie ist daher in dieser Verallgemeinerung provokativ falsch, was
von kundigen Kritikern auch längst klargestellt wurde. Denn Muslime, die unser Grundgesetz achten, gehören unbestreitbar zu Deutschland und sind als Mitbürger zu achten, aber „der“ Islam gehört
sicher nicht zu Deutschland, soweit er nach seinem Fundament, dem Koran, der Sunna und der
Scharia, in wesentlichen Positionen dem Grundgesetz widerspricht. Zudem ist es ohnehin fraglich,
wieso denn überhaupt eine Religion, auch das Christentum, zu einem rechtstaatlich verfaßten säkularen Staat „gehören“ kann. Nicht die Religionen gehören zum säkularen Staat, sondern ihre Mitglieder, sofern sie sich zu seinen Grundlagen, dem Grundgesetz, bekennen und dies nicht nur, solange
sie sich in der Minderheitenposition befinden. Trotzdem haben sich Bundeskanzlerin Merkel und
auch andere nicht hindern lassen, diesen undifferenzierten Satz zu wiederholen.
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Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Januar 2015 fürchtet sich dagegen ein inzwischen
wachsend großer Teil der Bevölkerung in Deutschland, 57 Prozent, vor dem Islam. Damit gerät
nicht nur diese Religion in Verruf, sondern auch die friedlichen Muslime stehen nun unter Generalverdacht und Rechtfertigungsdruck und müssen mittlerweile auch manche Anfeindungen und Diffamierungen ertragen. So ergibt sich die fast paradoxe Situation, daß es bei aller Ablehnung und allem Entsetzen über die Auswüchse dieser Religion einerseits es jetzt andererseits nötig ist, den Anhängern dieser Religion hier, den Mitbürgern, die ihren Glauben friedlich und in Übereinstimmung
mit den Gesetzen leben, und vor allem den Asylbedürftigen die nötige Achtung und den besonderen
Schutz zu sichern. Das ist die eine Seite, die auf die Menschen bezogene Sicht dieser komplexen
Situation. Die generelle Frage aber, ob Intoleranz und Gewalt auch heute noch zum Fundament
dieser Religion gehören, oder ob die Gewalttäter sie nur mißbrauchen, wie immer wieder zu hören
ist, wird immer drängender. Darauf brauchte es eine verläßliche Antwort.
Muslimische Antworten auf die etwas andere Gretchenfrage:
Wie hat´s der Islam mit der Gewalt?
Die Gewalttäter beanspruchen, im Namen des „wahren“ Islam zu handeln. Mit heimlichen und offenen Sympathisanten ist zu rechnen. Aber viele Muslime beschwören dagegen, Gewalt habe mit
dem Islam nichts zu tun. Eine verbindliche innerislamische Klärung wäre dringend geboten gerade
auch, um Muslime selbst zu schützen. Aber eine zentrale Instanz gibt es im Islam nicht, und die
verantwortlichen Vertreter der Islamverbände hier, die hochrangigen Repräsentanten und die geistlichen Führer in der muslimischen Welt spielen da eine eher klägliche Rolle. Zwar gab es von allen
diesen Seiten, vor allem nach den Pariser Attentaten, eindeutige Distanzierungen und Verurteilungen, in Berlin sogar eine von Muslimen organisierte öffentliche Mahnwache. Aber das sind spärliche
Proteste verglichen mit denen gegen die Mohammed-Karikaturen. Solche Massenproteste gegen die
angeblich falschen Auslegungen des Islam und deren grauenvolle Folgen gibt es in den muslimischen Ländern nicht. Die ohnehin dürftigen Distanzierungen sind fast immer begleitet von der Versicherung, die Gewalttaten hätten mit dem Islam nichts zu tun. Das gilt auch für die von der „Islamischen Weltliga“ im Februar 2015 in Mekka organisierten Konferenz, bei der über 700 muslimische Geistliche und höchste Würdenträger Maßnahmen gegen den Terror des IS diskutierten. Statt
einer inhaltlichen Auseinandersetzung wird die Unterscheidung von Islam und Islamismus wie eine
Schutzmauer aufgebaut. Auf die vielen Aufforderungen zu Gewalt und zum Töten der „Ungläubigen“ in Koran und Sunna und auf das historische Beispiel Mohammeds, worauf die Terrorristen
sich berufen, gehen die Verantwortlichen nicht ein. Diese werden von ihnen verschwiegen, als ob sie
nicht existierten, obwohl sie mittlerweile vielen öffentlich bekannt sind und diskutiert werden. Statt
dessen werden schnell gegenteilige Stellen aus dem Koran, die zu Toleranz aufrufen, beschworen in
Verbindung mit der Gegenparole „Islam ist Frieden“. Aber auch das vermeidet nur die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite des Islam. Das alles „ist nur ein Verdrängungsmechanismus“, urteilt der Islamwissenschafler M. Khorchide. Es erinnert an die Ablenkungs- und Verschleierungstaktik des Dr. Faust als Antwort auf die originale Gretchenfrage mit den fatalen Folgen.
Einzelne kritische Muslime wagen dagegen eine klare Antwort. Sie konstatieren, daß die Gewalttaten sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun haben. So etwa der deutsch-ägyptische Politologe Abdel-Samad, Sohn eines Imam: „Wir sollten im Westen aufhören zu behaupten, daß die Islamisten
den Islam nur falsch verstanden haben. ... Die Verfolgung der Christen durch die Isis hat leider viel
mit dem Islam selbst zu tun. Die Texte des Koran, die Hadithe des Propheten und die Geschichte
der islamischen Eroberungen liefern Isis Argumente... Die weltweit grassierende Theologie der Gewalt ...hat mit dem Islam zu tun ... Müssen wir den Islam fürchten? Ja. Gerade wenn wir Muslime
sind, denn wir steuern auf eine fundamentalistische Katastrophe zu ... Ich wünsche mir dringend
intelligente Muslime, die das Kind beim Namen nennen.“ Ebenso der Großmufti von Marseille:
„Wenn ich kein Muslim wäre, würde ich mich fragen, was ist das für eine Religion, auf die sich Verbrecher berufen. ...Die Angst vor dem Islam ist vollkommen berechtigt“. Der in Deutschland lebende muslimische Israeli A. Mansour sagt: „Seine Inhalte hat der IS nicht erfunden: Sie sind im
Mainstream-Islam, den auch viele Muslime in Deutschland praktizieren, angelegt“ und der Muslim,
Schriftsteller und Orientalist N. Kermani: „Es reicht nicht zu sagen, daß die Gewalt nichts mit dem
Islam zu tun habe. ... Diese Gewalt und Barbarei kommen aus unserer eigenen Mitte“ und der tune2
sische Islamologe A. Meddek: „Der Zusammenhang (von Islam und Gewalt) ist ein Faktum, in der
Geschichte und in den Schriften. Wir haben es mit einem Propheten zu tun, der selber getötet und
zum Töten aufgerufen hat.“ - Inzwischen wagen auch deutsche Medien, trotz der üblichen Tabuisierung und der künstlichen Unterscheidung von Islam und Islamismus den Sachverhalt beim Namen
zu nennen: „Es ist Augenwischerei, zu behaupten, der „Islamische Staat“ habe nichts mit dem Islam
zu tun, .. die Ideologen des „Islamischen Staats“ knüpfen nahtlos an den Koran an.” (P. Herman in
FAZ 7.3.15).
Das sind wachrüttelnde Beispiele, allerdings nur von Einzelstimmen, deren Resonanz nicht erkennbar ist. Alle aber rufen zugleich die Muslime auf, sich selbst mit dieser dunklen Seite des Islam
auseinandersetzen: „Jetzt sind alle Muslime gefragt, sich von den autoritären Denkweisen des Islam
zu emanzipieren.“ (Samad) „Wenn Eltern oder Mullahs sagen, ihr müßt den Koran wörtlich nehmen
und nur wir haben die wahre Religion, alle anderen sind ungläubig, bereiten sie den Boden für die
Terroristen“ (Mansour). „Ignoriert in Moscheen und Schulen und Familien nicht die Verse, die im
Koran zur Gewalt aufzurufen scheinen“ (Kermani).
Aber eine breite weltweite innerislamische Debatte, vor allem der führenden Instanzen, ist nicht
erkennbar. Eher ist das Gegenteil der Fall. So haben z. B. nicht der drohende Genozid an den Yeziden und auch nicht die Vertreibung Tausender Christen die sunnitischen Religionsführer zu einem
deutlichen öffentlichen Protest veranlaßt, sondern erst die qualvolle Hinrichtung eines einzelnen
jordanischen Piloten, eines Muslim. Und die Antwort der Religionsführer auf diesen Gewaltakt des
IS lautet: Eine Kreuzigung der IS-Terroristen und das Abschlagen ihrer Glieder seien die angemessene Strafe, so der Scheich Ahmad al Tayyib, der Großimam der wichtigsten Instanz des sunnitischen Islams, der Al Azhar Universität in Kairo, unterstützt von anderen hochrangigen Repräsentanten. Damit werden gerade die Muster der islamischen Gewalt beschworen, die die islamischen
Terroristen anwenden.
Wegbereiter eines friedlichen Islam
Es gab und es gibt jedoch auch Wegbereiter eines friedlichen Islam, an denen Reforminteressierte
sich orientieren könnten. Aus dem 9. bis 12. Jahrhundert sind z. B. die arabisch-stämmigen muslimischen Gelehrten Al-Kindi, Avicenna und Averroes bekannt, die den Offenbarungsglauben mit der
Vernunft verbanden, indem sie Schriften der griechischen Philosophie nutzten, vorwiegend die des
Aristoteles. Ihnen ist es mit zu verdanken, daß diese Schriften der griechischen Antike überhaupt
überliefert wurden. Von christlichen Theologen des Mittelalters, wie Thomas von Aquin, wurden
diese muslimischen Gelehrten sehr geschätzt, von ihren orthodoxen muslimischen Glaubensbrüdern
aber wurden sie verfemt und verfolgt und später nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Damit teilen sie das Schicksal heutiger muslimischer Reformdenker. Zu ihnen gehören die schon
erwähnten kritischen Muslime, aber auch türkische Theologen der Universität Ankara und muslimische Islamwissenschaftler, die z. B. an europäischen Universitäten lehren, wie der Münsteraner Professor M. Khorchide und die in Freiburg, Osnabrück und Frankfurt lehrenden Professoren A.
Ourghi, B. Ucar und Ö. Özsoy, sowie der Wiener Professor E. Asian.
In der arabischen Welt werden solche Reformer z. T. verfolgt, wie der inzwischen verstorbene ägyptische Professor Abu Said, der in die Niederlande fliehen mußte. Auch bei uns werden einige bedroht, so der Münsteraner Professor M. Khochide, der unter strengem Polizeischutz steht, und sie
werden von muslimischen Verbandsvertretern hier eher abgelehnt. Der „Koordinatsrat der Muslime“ in Deutschland fordert sogar die Absetzung von Prof. Khorchide als „nicht tragbar“.
Gemeinsam, mit Unterschieden, ist ihnen, daß sie den Koran historisch-kritisch und vernunftorientiert interpretieren, das heißt, daß sie Koranverse nicht als überzeitlich gültige Anweisungen verstehen, sondern sie im historischen Kontext lesen und eine wortwörtliche Anwendung ablehnen. Auch
der absolute Wahrheitsanspruch des Islam wird abgelehnt: „Ein Beharren auf dem absoluten Wahrheitsanspruch des Islam bedeutet Intoleranz und Entmenschlichung“ (Prof. Ourghi). Es geht darum, „einen humanistischen Islam wachzurufen“ (Prof. Khorchide), und „einen Islam aus der europäischen Aufklärungstradition zu prägen“ ( Prof. E. Asian). „In einem Land, in dem keine Freiheit
herrscht, kann man keine Religion reformieren. Aus diesem Grund haben wir die Chance nur im
Westen. (Aber:) Der Islam wird in Deutschland von Einrichtungen repräsentiert, die gänzlich vom
Ausland gesteuert werden“ (Prof. E. Asian), und das sind gerade die Staaten, in denen keine Denkund Religionsfreiheit herrscht. Alle rufen die Muslime insgesamt und insbesondere die Verbände
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dazu auf, „endlich einen innerislamischen theologischen Diskurs zu führen“ und einen solchen Diskurs an den Universitäten zu unterstützen und nicht zu behindern, „aber es gibt diesen Diskurs
noch nicht“ (Prof. Khorchide).
Welche Anstrengungen für einen solchen Diskurs als „Prozeß kritisch-reflektierender Aufklärung“
(Prof. Ourghi) nötig sind, haben einige der Professoren anhand eingehender historisch-kritischer
Analysen der sogenannten „Skandalverse“ des Koran auch öffentlich gemacht. Ohne differenzierte
Kenntnisse der historischen Umstände sind danach solche Textstellen („tötet sie, wo immer ihr sie
trefft“) nicht richtig zu verstehen. „Sie werden heute häufig anders gelesen, als es ihrer ursprünglichen Intention entspricht.“ Im Kontext mit anderen Koranversen („Toleranzvers“ Sure 109.6) wird
danach zwar Widerstand gegen Unterdrückung eingefordert aber mit dem Ziel der „absoluten Meinungsfreiheit, nicht der Zwang, den Islam anzunehmen“ (Prof. Ö. Özsoy in Publik-Forum 2.2015).
Solche nur von Fachleuten zu leistende Analysen eröffnen in der Tat eine andere Sicht auf den Islam, aber es ist zu fragen, ob und wie ein solch differenziertes akademisches Verfahren den Mehrheitsmuslimen zu vermitteln ist. „Schon fast die islamische Quadratur des islamischen Kreises
...schnell wird das nicht gehen“, urteilt T. Avenarius (Süd. Zeitung 13.1.2015).
Keine beruhigende Antwort auf die etwas andere Gretchenfrage:
„Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Gewalt?“
Die Antwort der muslimischen und nichtmuslimischen Verschleierungstaktiker, Islam habe mit Gewalt nichts zu tun, verdrängt nur oder verschleiert gar die gefährlichen Realitäten und führt letztlich,
wie bei dem leichtgläubigen Gretchen, nur weiter zu weltweiten Verhängnissen.
Für kritische Muslime ist Gewalt im Namen des Islam „ein Faktum, in der Geschichte und in den
Schriften“ (A. Meddek) - und in der gegenwärtigen Realität.
Die Wegbereiter eines friedlichen Islam stellen sich der Realität und bieten Lösungen an. Aber die
weisen nur auf einen langen Weg, der nach eigenen Aussagen noch nicht oder nur kaum beschritten
wird, während sich die Gewalt im Namen des Islam weiter ausbreitet.
Bleibt also auf die Frage, ob der Islam zu fürchten ist, weiter nur die ernüchternde Antwort von
Abdel-Samad: „Ja. ... Wir steuern auf eine fundamentalistische Katastrophe zu“? - Goethes Gretchen klagt angesichts ihrer von Faust mit verschuldeten Katastrophe: „Heinrich! Mir graut’s vor
dir!“ Provoziert nun die hier behandelte etwas andere Gretchenfrage nicht die entsprechende Klage:
„Islam! Mir graut’s vor dir“? - Der Großmufti von Marseille bestätigt das: „Die Angst vor dem Islam
ist vollkommen berechtigt.“ - Noch einmal aber ist zu differenzieren: Das gilt dem fundamentalistischen Islam und denen, die ihn anwenden, nicht den Muslimen, die ihre Religion friedliebend auslegen und leben, aber nur sie können die Problemlage ändern.
Diese Problemlage kennzeichnet aber nicht nur den fundamentalistischen Islam. Sie betrifft alle Religionen, Institutionen und Personen, die sich in absoluter und ausschließender Weise Gottes Wort
und Willen anmaßen, in seinem Namen Macht ausüben und keinen Zweifel zulassen. Ein solcher
übermenschlicher religiöser Wahrheits- und Machtanspruch, der Anspruch, Gottes Wort selbst zu
besitzen, ist unmenschlich und führt zu Unmenschlichkeit. „Nie tun Menschen Böses so gründlich
und glücklich wie aus religiöser Überzeugung“, erkannte schon Blaise Pascal (1650), und die Geschichte, gerade auch die des in seinem Fundament pazifistischen Christentums, ist voller grauenvoller Beispiele.
Entsetzen, vielleicht auch Angst und Grauen, sind verständliche Reaktionen auf jegliche Auswirkungen unmenschlicher religiöser Überheblichkeit. Dabei aber darf es nicht bleiben: Es braucht vor
allem eine breite Aufklärung darüber, daß behauptete Gottesworte von Menschen gemacht sind und
daß sie sich der Vernunft zu stellen haben. Und letztlich braucht es den entschiedenen Widerstand
gegen alle solche unmenschlichen Wahrheits- und Machtansprüche.
Die Geschichte der europäischen Aufklärung mit ihrer fundamentalen Religionskritik zeigt, daß das
möglich ist. Sie begann schon in der griechischen Antike und nahm seit dem 18. Jahrhundert wesentlichen Einfluß auf Staat und Gesellschaft und später sogar auch auf die Kirchen. Allerdings ist
auch im Einflußbereich dieser Aufklärung die Rückführung von Religion auf ein menschliches, vernunftorientiertes Maß, die Humanisierung von Religion, immer noch ein offener Prozeß.
(BS, abgeschlossen Mai 2015. Die verwendeten Zitate entstammen dem öffentlichen Diskurs in den Medien 2015.)
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