«Religion ist privater geworden» STUDIE Eine Luzerner Maturandin hat Todesanzeigen der letzten 90 Jahre verglichen. Einige Ergebnisse fielen anders aus, als sie erwartet hatte. Idealen nicht nur pluralistischer und individueller, sondern auch privater geworden ist. Früher hat man auch in Todesanzeigen seine Überzeugung stärker nach aussen gezeigt. Heute hält man sich eher bedeckt.» Trost eher im Diesseits Eher erwartet hat sie hingegen, dass Hinweise etwa auf eine Totenwache oder eine Begräbnisfeier aus den Anzeigen verschwunden sind. «Der Tod ist zunehmend aus der Gesellschaft verdrängt worden und betrifft nur noch die nächsten Angehörigen.» Dazu passt auch die häufige «Beisetzung nur im engsten Familienkreis» und die «Bitte, von Beileidsbekundungen abzusehen». Weltlicher wird heute auch der Trost betrachtet. Dieser findet sich eher im Zusammenhalt der Hinterbliebenen als in der Hoffnung auf das Jenseits ausgedrückt. Nicht dass die Anzeigen heute weniger emotional wären. «Aber es heisst dann vielleicht eher ‹Wir vermissen dich› als ‹Wir sehen uns wieder›», hat Stefanie Lochbühler beobachtet. «Auch hier wird das Jenseits eher ausgeklammert.» ARNO RENGGLI [email protected] Stefanie Lochbühler freut sich: Gestern wurde bekannt, dass sie für ihre Maturaarbeit «Todesanzeigen – Spiegel der Religiosität» den Religionspreis der Theologischen Fakultät der Uni Luzern erhält. Doch wie kommt ein so junger Mensch überhaupt dazu, sich mit einem derartigen Thema zu befassen? Die grosse Wende erst 1993 «Mich interessiert die Entwicklung von Religiosität sehr», sagt die 19-Jährige. «Und ich stellte fest, dass Todesanzeigen noch nie im Rahmen einer Maturaarbeit untersucht worden sind.» «Sehr berührt hat mich ein Schreiben von Eltern an ihr verstorbenes Kind.» Analytisch, aber nicht kalt S T E FA N I E LO C H B Ü H L E R So analysierte Stefanie Lochbühler Anzeigen, die in den letzten 90 Jahren in der «Neuen Luzerner Zeitung» und ihren Vorgängerzeitungen erschienen sind. Und zwar in den Jahren 1920, 1950, 1975, 1993 und 2010. Die Haupterkenntnis dieser Untersuchung überrascht kaum: Der Anteil Todesanzeigen mit christlichen Inhalten oder Bezügen ist stetig zurückgegangen, im gleichen Zug begannen weltliche Inhalte zu dominieren. Am markantesten sind die Veränderungen 1993 und nicht etwa 1975, was man aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen vielleicht erwartet hätte. «Die Säkularisierung findet in den Todesanzeigen wohl mit Verspätung ihren Niederschlag», erklärt Stefanie Lochbühler. «Die Verstorbenen sind ja meistens ältere Menschen, die eher noch dem traditionellen Glauben verbunden waren, und darauf wird in den Todesanzeigen Rücksicht genommen.» Wo bleibt die Esoterik? Heute weist nur noch knapp ein Drittel der Anzeigen christliche Symbole oder Leitsprüche auf. Hinweise auf das Jen- NACHRICHTEN Dankgottesdienst: 50 000 Gläubige VATIKANSTADT sda. Einen Tag nach der Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. haben am Montag rund 50 000 Gläubige im Vatikan an einem Dankgottesdienst zu Ehren des verstorbenen Papstes teilgenommen. In seiner Predigt würdigte Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone den ehemaligen Papst als «Hirten», «Zeugen» und «Führer». Tausende Pilger zogen zudem seit Sonntag zu dem im Petersdom aufgebahrten Sarg des Papstes. Preis an IslamWissenschaftlerin MOLLIS GL sda. Der mit 5000 Franken dotierte Anna-Göldi-Preis wird dieses Jahr der im Kanton Solothurn wohnhaften Islamwissenschaftlerin Amira Hafner-al-Jabaji verliehen. Die 40-Jährige setzt sich seit Jahren für den Dialog zwischen den Religionen ein. Die Anna-Göldi-Stiftung teilt die Meinung der Preisträgerin, wonach Christen und Muslime vermehrt miteinander statt übereinander sprechen sollten. Stefanie Lochbühler (19), hier im Luzerner Friedental: «Trost wird eher in der Familie als in Jenseitsvorstellungen gesucht.» Offenbar wollen die Menschen ihre Jenseitsvorstellungen eher privat halten. Oder die Vorstellungen sind weniger konkret als früher. Auch Stefanie Lochbühler sagt: «Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Aber eine Vorstellung davon habe ich nicht wirklich.» Sie selber ist in einem christlichen Umfeld aufgewachsen und geht auch regelmässig zur Kirche. Ihre Arbeit ist für die Schülerin des Gymnasiums St. Klemens, Ebikon, und angehende Wirtschaftsstudentin in St. Gallen aber klar wissenschaftlich. Trotz des analytischen Blicks haben sie die Todesanzeigen nicht einfach kalt gelassen. Etwa wenn im Mitteilungstext besonders tragische Umstände wie ein Unfall oder ein Suizid angedeutet sind. «Sehr berührt hat mich zum Beispiel auch ein Schreiben von Eltern an ihr verstorbenes Kind. Oder das Bild, das ein Kind für seinen früh verstorbenen Vater gemalt hat.» Bild Boris Bürgisser seits gibt es nur noch bei jeder zehnten Anzeige, die Erwähnung des Sterbesakraments oder konkrete Bezüge zur Kirche sind fast gänzlich verschwunden. Solche Elemente waren früher praktisch Fixpunkte. Dass kirchlich-christliche Bezüge abnehmen, deckt sich mit aktuellen Umfragen über die Religiosität der Schweizerinnen und Schweizer. Indes müssten eigentlich auch andere Trends in den Todesanzeigen aufscheinen: etwa die Vermischung christlicher mit andersreligiösen Elementen oder eher esoterische Glaubensinhalte. Doch davon ist in heutigen Todesanzeigen kaum etwas zu finden. «Das hat mich recht überrascht», räumt Stefanie Lochbühler ein. «Und zeigt vermutlich, dass Religion generell im Zuge von freiheitlicheren www... Beispiele von Todesanzeigen von 1920 bis 2010 sowie Grafiken von den Resultaten der Maturaarbeit finden Sie unter www.luzernerzeitung.ch/bonus HINWEIS Nächsten Dienstag (12–13.30 Uhr), Mittwoch (8–11 Uhr) und Donnerstag (12–13.30 Uhr) ist eine Ausstellung zur Arbeit im Pfarreizentrum Barfüesser (Winkelriedstrasse, Luzern) zu sehen. Das Ende der Kontrolle W er sich schon einmal auf die viel versprechenden Worte eines Vertreters verlassen und vergessen hat, das Kleingedruckte des Kaufvertrages zu prüfen, wird der Maxime des Revolutionärs Lenin ohne Wenn und Aber Recht geben: «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist bes- Anita Wagner über Vertrauen und Kontrolle ser». Die Faustregel lässt sich auf alle Bereiche unseres Lebens anwenden. Ob Wahlpropaganda von Politikern oder Verlockungen der Werbung: Immer lohnt sich ein MEIN THEMA Blick hinter die schöne Fassade, eine Stichprobe, ob die Worte der Realität standhalten. Besonders notwendig wird eine gründliche Prüfung, wenn wir eine Antwort brauchen auf die wichtigsten Fragen: Wo finde ich Kraft zum Leben? Was gibt meinem Leben Tiefe, Sinn, Bedeutung? Was lässt mich auch Durststrecken überstehen? Der Apostel Thomas ist der Prototyp eines Menschen, der sich bis zum Grund seines Lebens durchfragt, der nicht blind den Worten seiner Freunde vertraut, der sich seine Glaubensentscheidung nicht leicht macht. Er will selbst spüren, dass die Worte, Taten und Ideen Jesu auch nach seinem Tod lebendige Wirklichkeit sind. Und er macht eine umwerfende Erfahrung: Es kommt der Punkt, wo alles Prüfen und Kontrollieren ein Ende hat, wo alles Fragen einmündet in Vertrauen und Glauben. Es kommt die Zeit für das gesprochene Bekenntnis: «Mein Herr und mein Gott!» Das könnte unser Leben verändern, das wäre wirklich revolutionär, wenn wir mit Thomas immer wieder den Punkt erreichen könnten, an dem Lenins Satz auf dem Kopf steht: «Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser». Anita Wagner Weibel ist Gemeindeleiterin in der Pfarrei Neuheim. «Eine Kirche ist kein Eventpalast» KIRCHENMUSIK Zwischen Gregorianik und Hip-Hop: Organist Mathias Inauen über die neue Vielfalt, die das Festival Cantars in die Kirchen trägt. Mathias Inauen, das Cantars-Festival nennt sich Kirchenklang- und nicht Kirchenmusik-Fest. Heisst das, es gibt heute keine aktuelle Kirchenmusik mehr? Mathias Inauen: Doch. Die Musik, die heute in der Kirche und auch in Gottesdiensten aufgeführt wird, ist zwar stilistisch sehr vielfältig. Aber musikalische Erneuerungen gab es in der Kirchenmusik immer schon, und jedes Mal gab es dagegen Widerstände. Ein Beispiel dafür war der Einfluss der italienischen Oper im frühen 19. Jahrhundert. Das galt damals vielen als zu weltlich. Trotzdem: Müsste Kirchenmusik nicht mehr als ein Sammelsurium jeweils aktueller Stile sein und eine Synthese suchen? Inauen: Viele Komponisten von Kirchenmusik gehen durchaus in diese Richtung. Aber eine einheitliche Kirchenmusik ist heute undenkbar, auch weil die Stilformen immer schneller wechseln. Inwiefern? Inauen: Die Kirchen müssen heute Kirchenklangfest CANTARS red. Das Kirchenklangfest Cantars präsentiert in 19 Konzerttagen bis zum 25. Juni in verschiedenen Städten der Schweiz alte und neue Kirchenmusik. Neben den Kirchenklangfesten der regionalen Verbände finden im Rahmen von Cantars sechs SpecialKirchenklangfeste zu folgenden Themen statt: Kids & Teens (Olten, 7. Mai), Orgel (Solothurn, 21. Mai), Gospel (Baden, 28. Mai), Alte Musik (Muri, 11. Juni) und Volksmusik (Interlaken, 18. und 19. Juni). Das breite stilistische Spektrum zeigt der Uraufführungstag in der Hofkirche Luzern. Hier erklingen neben klassischen Uraufführungen (Daniel Gaus u. a.) geistliche Musik mit Rap, eine Jodlermesse sowie Gregorianik und Funk (Gregofunk). HINWEIS Programm: www.cantars.org eine breite Palette an Musik anbieten, um möglichst viele Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Das ist auch für uns Kirchenmusiker eine Herausforderung, weil wir in vielen Stilen kompetent sein müssen. Anderseits ist eine Kirche kein Eventpalast und darf nicht jeden Trend und jedes Mödeli mitmachen. Aber Gottesdienste, die auch musikalisch auf ein bestimmtes Publikum zugeschnitten sind, entsprechen einem Bedürfnis. Müssten die Kirchen nicht generell stärker diesen Weg gehen? Inauen: Ja, zu diesem Zweck versuchen wir, die Gottesdienste in den verschiedenen Kirchen auf das «Milieu» auszurichten, das in einer Gemeinde, in einem Quartier herrscht. Dafür haben «Wir haben versucht, Milieus zu eruieren.» O R G A N I S T M AT H I A S I N A U E N wir etwa in Luzern durch Umfragen entsprechende «Milieus» zu eruieren versucht. So nennen wir Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Erwartungen an das, was die Kirche bietet. Wir unterscheiden beispielsweise eher konservative Kirchengänger von solchen, die Lust an Experimenten haben, sich als «Suchende» verstehen oder der Kirche kritisch gegenüberstehen. Bei einer Erstkommunion mit neueren, jazzigen Liedern habe ich erlebt, dass praktisch niemand mitsingen konnte. Bedeutet die neue Vielfalt das Ende des Gemeindegesangs? Inauen: Nein, dass auch heute noch Kirchenlieder geschrieben werden, die alle mitsingen können, zeigen viele neue Gesänge, die ins Kirchengesangbuch aufgenommen worden sind. Zudem gibt es da noch immer viele Lieder, die – wie «Grosser Gott, wir loben dich» – bis heute Allgemeingut geblieben sind. Trotzdem spüren natürlich auch wir im Gottesdienst, dass das Singen in unserer Gesellschaft kaum noch gepflegt wird, so wie das früher noch beim Wandern oder Waschen der Fall war. Könnte die Kirche nicht ein Ort sein, wo gemeinsames Singen vermehrt wieder aktiv gefördert wird? Inauen: Doch, solche Bestrebungen gibt es durchaus. Einerseits gehen die Offenen Singen, wie sie in vielen Kirchen mehrmals pro Jahr durchgeführt werden, in diese Richtung. Zudem gibt es Kirchen, die eigentliche Singgruppen führen. Diese singen weltliche und Kirchenlieder und singen dann auch in Gottesdiensten mit. Das Mitsingen, als Ausdruck der Gemeinschaft, ist eine der wichtigsten Arten der Musik im Gottesdienst. INTERVIEW URS MATTENBERGER HINWEIS Mathias Inauen ist Organist in Luzern und wirkte im OK von Cantars mit.