Leitsymptome süchtig- perverser Entwicklungen Zusammenfassung

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Volkmar Sigusch
Zusammenfassung
Von einer süchtig-perversen Entwicklung und
damit von einer behandlungsbedürftigen
Störung sollte klinisch nur dann gesprochen
werden, wenn folgende Leitsymptome vorliegen: Sexualisierung, zwanghafte Externalisierung sexueller Wünsche, dominante Fetischisierung eines Gegenstandes oder einer Szene und
süchtiges Erleben. Differenzialdiagnostisch hilfreich und forensisch bedeutsam sind nach wie
vor die von Hans Giese aufgestellten Leitsymptome, zum Beispiel das Symptom „zunehmende Frequenz, abnehmende Satisfaktion“. Von
Perversionen zu unterscheiden sind kulturell
neue Selbstpraktiken, beispielsweise sadomasochistische, fetischistische und transgenderistische, die der Autor Neosexualitäten nennt. In
ihnen geht es nicht mehr vorrangig um sexuelle
Erregung; narzisstische Befriedigung ist ebenso
M
it dem Ausdruck Perversion
werden in unserer Kultur die
Abscheulichkeiten schlechthin
belegt, von der Apartheid über die
Neutronenbombe bis hin zum Holocaust. Die Sexualwissenschaft dagegen
betrachtet Perversionen als etwas Humanspezifisches und diagnostiziert sie
nur dann, wenn bestimmte klinische
Kriterien erfüllt sind. Dass der Ausdruck Perversion trotz seiner schreienden öffentlichen Verwendung weiterhin benutzt wird, muss deshalb kurz erläutert werden. Man verfügt über kein
anderes Wort, das gerade im therapeutischen Bereich weder verlogen noch
verharmlosend wäre. Dort geht es
nicht um soziologische Abweichungen
im Sinne einer Deviation und auch
nicht um Harmlosigkeiten, wie sie der
Ausdruck Paraphilie insinuiert. Es
geht vielmehr um Risiken und Katastrophen und nicht selten um Leben
und Tod. Ferner ist die mit der Aufgabe
des Begriffes einhergehende Distanz
zur psychiatrisch-sexuologischen Perversionslehre der Nachkriegszeit klinisch und forensisch falsch, wie im Folgenden dargelegt wird. Außerdem
schafft ein Wechsel der Wortmarken
allein nichts aus der Welt. Emotional
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Leitsymptome süchtigperverser Entwicklungen
bedeutsam. Ziel der Behandlung sexueller Perversionen ist es, Katastrophen dadurch zu verhindern, dass die verleugneten oder abgespaltenen Wünsche bewusst gemacht werden. Nur
dann können sie kontrolliert werden.
Schlüsselwörter: Leitsymptom, Sexualmedizin,
Perversion, Sexsucht, Psychoanalyse, Verhaltenstherapie
Summary
Cardinal Symptoms of Addictive-Perverse
Developments (Paraphilias)
Addictive-perverse developments and therefore disorders necessitating therapy should be
clinically diagnosed only when the following
cardinal symptoms are present: sexualization,
compulsive externalization of sexual wishes,
entspricht der Ausdruck Perversion
mit seiner Affekt- und Stereotypnähe
nach wie vor der psychosozialen Situation, in der sich Menschen befinden,
deren Sexualleben von Zwängen und
Süchtigkeiten bestimmt wird.
Welche Bezeichnungen und Störungsarten die tonangebenden Klassifikationssysteme ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 10. Ausgabe) der WHO sowie
DSM-IV (Diagnostic and Statistical
Manual of Mental Disorders, 4th edition) der American Psychiatric Association auflisten, ist in der Tabelle zusammengestellt. Insgesamt erhalten sechs
bis acht Störungsarten einen nosologischen Rang, wobei in beiden Verzeichnissen zum Beispiel Homosexualität,
Sodomie und Gerontophilie nicht oder
nicht mehr als solche erwähnt werden.
Daran kann erkannt werden, wie zeitund kulturgebunden Klassifikationen
sind. Jede Zeit, jede Kultur bezeichnet
andere Begierden, Fetischisierungen
und Eigenheiten als verdreht, abnorm
oder krank.
Institut für Sexualwissenschaft (Direktor: Prof. Dr. med.
Volkmar Sigusch), Klinikum der Johann Wolfgang
Goethe-Universität, Frankfurt am Main
dominant fetishization of an object or scene,
experience of addiction. For differential diagnosis and forensic questions the cardinal symptoms described by Hans Giese are still helpful, e.g. the symptom „increase of frequency,
decrease of satisfaction“. It is necessary to distinguish culturally new self practices, e. g. sadomasochistic, fetishistic or transgender practices, which are termed by the author as neosexualities, from perversion. In these practices
sexual excitation is not primarily important,
equally important is narcissistic satisfaction. It
is the primary objective in the treatment of
perversions to prevent catastrophes by making
conscious denied or split-off wishes. Only then
they can be controlled.
Key words: guiding symptom, sexology, perversion, sexual addiction, psychoanalysis, behaviour therapy
Neosexualitäten
Am Beginn des 20. Jahrhunderts sahen
Sexualforscher wie Freud Praktiken
wie Fellatio und Cunnilingus als pervers an. Damals waren etliche klassische Perversionen wie der Flagellantismus oder das Zopfabschneiden kulturell bereits untergegangen. Am Ende des 20. Jahrhunderts tauchten verschwundene Perversionen wie die Gerontophilie und die Sodomie wieder
auf. Gegenwärtig treten andere Präferenzen und Perversionen wie bisexuelle, transgenderistische, sadomasochistische oder fetischistische aus der Klinik heraus oder erscheinen überhaupt
zum ersten Mal öffentlich. Sie werden
seit den 70er-Jahren kulturell inszeniert und als neue Sexual- und Geschlechtsformen installiert. Der Autor
nennt diese mehr oder weniger allgemein akzeptierten Selbstpraktiken
Neosexualitäten (9, 10).
In den Neosexualitäten steht das
triebhaft Sexuelle im alten Sinne nicht
mehr im Vordergrund. Sie sind zugleich sexuell und nonsexuell, weil
Selbstwertgefühl, Befriedigung und
Homöostase nicht nur aus einer paraperversen Fetischisierung, aus der My-
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stifikation der Triebliebe und dem
Phantasma der orgastischen Verschmelzung beim Geschlechtsverkehr
gezogen werden, sondern ebenso oder
stärker aus dem Thrill, der mit der
nonsexuellen Selbstpreisgabe und der
narzisstischen Selbsterfindung einhergeht. Außerdem oszillieren sie zwischen fest und flüssig, identisch und
unidentisch und sind oft sehr viel passagerer als fixierte Perversionen.
Klinische Definition der
sexuellen Perversion
Nicht zuletzt wegen dieses angedeuteten kulturellen Wandels spricht der
Autor nur dann von einer sexuellen
Perversion, genauer: von einer behandlungsbedürftigen süchtig-perversen Entwicklung, wenn bei einem Patienten
ganz bestimmte psychische Mechanismen und Erlebensweisen so sehr im
Vordergrund stehen, dass er ohne sie
weder zu einer sexuellen Befriedigung
gelangen, noch sein Leben ohne innere
Leere und Destruktion fristen kann.
Diese psychischen Mechanismen und
Erlebensweisen wirken im Seelenleben
des perversen Menschen wie Zwänge
und beherrschen es relativ unabhängig
von der jeweiligen Sexualpraktik und
dem jeweiligen Sexualobjekt und auch
relativ unabhängig vom allgemeinen
kulturellen Wandel. Die Mechanismen
und Erlebensweisen umfassen Sexualisierung, Externalisierung, Fetischisierung und Süchtigkeit.
Sexualisierung
Der Mechanismus der Sexualisierung
spielt bei der Perversion in zweifacher
Hinsicht eine zentrale Rolle. Zum einen ist die Sexualität lebensnotwendig, weil nur durch ein bestimmtes sexuelles Erleben und Handeln wenigstens vorübergehend das seelische
Gleichgewicht hergestellt werden
kann. Zum anderen werden üblicherweise sexuell neutrale Gegenstände,
Handlungen oder Szenen nicht nur libidinös besetzt, sondern im engeren
Sinne sexualisiert, beispielsweise Beinprothesen oder Szenen wie Haareschneiden und in Windeln gewickelt
werden.
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Externalisierung
Nur die Externalisierung der spezifischen sexuellen Szene oder des Fetischs ermöglicht dem Perversen die
Sensation des Orgasmus. Deshalb
steht der perverse Patient unter einem
Manifestationszwang. Normale Menschen überspielen die oft unbefriedigende Realität durch Phantasietätigkeit. Bei perversen Menschen dagegen
muss sich Phantasie in Realität niederschlagen. Weil es bei der Perversion zu
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Tabelle
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der Fetischisierung oder der fetischistischen Inszenierung von zentraler
Bedeutung für die sexuelle Erregung
und Betätigung. Ein Segment oder eine Szene des immer komplexen sexuell-geschlechtlichen Geschehens wird
sexualisiert, dominiert alle anderen
Segmente oder Szenen und ist für den
Perversen unverzichtbar.
In diesem Sinn wäre beispielsweise
ein heterosexueller Mann dann pervers, wenn er nur durch das Belauschen einer urinierenden Frau zum
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Synopse der Klassifikation sexueller Paraphilien beziehungsweise Sexualpräferenzstörungen in DSM-IV und ICD-10
DSM-IV
Paraphilias
ICD-10
Störungen der Sexualpräferenz
302.4
F65.2 Exhibitionismus
Exhibitionism
302.81 Fetishism
F65.0 Fetischismus
302.89 Frotteurism
Nicht klassifiziert
302.2
F65.4 Pädophilie
Pedophilia
302.83 Sexual masochism
F65.5 Sadomasochismus
302.84 Sexual sadism
302.82 Voyeurism
F65.3 Voyeurismus
302.3
Transvestic fetishism
F65.1 fetischistischer Transvestitismus
302.9
Paraphilia not otherwise specified
F65.6 multiple Störungen der Sexualpräferenz
F65.8 andere Störungen der Sexualpräferenz
F65.9 nicht näher bezeichnete Störungen der
Sexualpräferenz
einer extrapsychischen Symptombildung kommt, durch die innere Spannungen und Ängste ausagiert werden,
hat Freud die Perversion das Negativ
der Neurose genannt. Denn bei der
Neurose werden ängstigende oder
konflikthafte sexuelle Wünsche nicht
externalisiert, sondern verdrängt. Das
führt dann zu intrapsychischen Symptomen.
Fetischisierung
Der Fetischismus wird von den meisten Experten als Modell der sexuellen Perversion angesehen (1, 6). Tatsächlich ist bei jeder sexuellen Perversion der psychische Mechanismus
sexuellen Höhepunkt gelangen kann.
Bei der Perversion sind alle Sinne und
alle Sensationen der Kindheit wie in
einem Fetisch zusammengeschoben.
Bei der normalen Sexualität liegt dagegen eine Zerstreuung vor: Haut,
Brust, Haare, Gesäß, Ausscheidungen,
Stimme, Kleidungsstücke und anderes
werden mehr oder weniger milde fetischisiert, ohne zum Reiz schlechthin
zu werden. Ohne eine gewisse Fetischisierung aber erlischt das Sexualbegehren bei normaler Sexualität sehr
schnell.
Das Geheimnis jener Paare, die viele Jahre immer wieder erregend miteinander sexuell verkehren, liegt offenbar darin, dass sie durch eine milde
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perverse Inszenierung wirksam aufeinander bezogen und miteinander
verbunden sind, am besten ohne es zu
wissen.
Süchtigkeit
Mit dem Zwang zur Manifestation,
Sexualisierung und Fetischisierung ist
ein süchtiges Erleben verbunden.
Wird das perverse Tun unterbunden,
kommt es zu Entzugserscheinungen
wie beispielsweise psychosomatischen
Beschwerden oder einer Depression.
Nur wenn der Suchtcharakter des sexuellen Geschehens unübersehbar ist,
sollte die Diagnose Perversion beziehungsweise süchtig-perverse Entwicklung gestellt werden.
Klinisch ist also das Leitsymptom
der Süchtigkeit entscheidend. Es wirft
den Perversen am ehesten aus einem
halbwegs geordneten Familien- und
Berufsleben, führt zu einem Krankheitsgefühl und dem Wunsch, behandelt zu werden. Wegen der Lust, die
der Perverse aus seinem Tun zieht, ist
seine Therapiemotivation aber recht
labil, und die Erfolgsaussichten einer
Psychotherapie sind entsprechend begrenzt.
Gieses Leitsymptome
Mit der Frage, welche sexuellen Abweichungen als krank und behandlungsbedürftig anzusehen sind, beschäftigt sich die deutsche Sexualwissenschaft seit einem halben Jahrhundert. Hans Giese (2, 4, 7, 8) unterschied die sexuelle Fehlhaltung, die er
als Normabweichung und nicht als
Krankheit ansah, von der sexuellen
Perversion, die er als ein psychopathologisches Syndrom verstand. Da das
süchtige Entgleisen für die Perversion
charakteristisch sei, arbeitete Giese
„Leitsymptome der süchtig-perversen
Entwicklung“ heraus, die bis heute
von großer Bedeutung sind, vor allem
auch forensisch.
> Das Symptom „Verfall an die
Sinnlichkeit“ bedeute, dass der Patient
keine Souveränität gegenüber sinnlichen Eindrücken hat, ihnen „verfallen“ ist wie ein Hund den Pawlowschen Signalen.
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> Das Symptom „zunehmende Frequenz, abnehmende Satisfaktion“
bringe zum Ausdruck, dass sich der Patient in immer kürzeren Abständen
betätigen muss, weil das Gefühl der
Befriedigung immer schwächer werde.
> Das Symptom „Promiskuität und
Anonymität“ verweise auf die Unfähigkeit des Patienten, personale Beziehungen einzugehen.
> Das Symptom „Ausbau von Phantasie, Praktik und Raffinement“ bezeichne die direkte Beziehung zwischen Phantasietätigkeit und zwanghaft realisierter perverser Praktik, die
Progredienz des Geschehens und die
Tatsache, dass die ganze Person von
der Perversion besetzt werde.
> Das Symptom „süchtiges Erleben“ besage, dass der Patient dem Verlangen ausgeliefert sei wie ein Suchtmittelabhängiger seiner Droge.
> Das Symptom „Periodizität des
Verlangens“ schließlich verweise auf
den Wiederholungszwang, der immer
wieder als dranghafte innere Unruhe,
als Sexualnot, erlebt wird. Der Patient
sei dann besonders reizbar, unverträglich, verstimmt.
Perversion als kreative
Ich-Leistung
Überblickt man die Perversionslehren
der letzten hundert Jahre (1), so lassen
sie sich hinsichtlich der moralischen
und klinischen Bewertung der Perversion zwei gegensätzlichen Positionen
zuordnen. Die eine stellt den zerstörerischen und deformierenden Charakter der Perversion heraus, ihre Negativität. Die andere betont dagegen die
aufbauende, selbstheilende und lebenserhaltende Funktion der Perversion,
ihre Positivität.
Die erste Position vertritt heute
vor allem die französische Psychoanalytikerin Janine Chasseguet-Smirgel
(3). Sie wird nicht müde, die Perversion als den Inbegriff des Bösen vorzuführen.
Die zweite Position geht vor allem
auf den Schweizer Psychoanalytiker
Fritz Morgenthaler (5) zurück, der die
kreative und reparative Ich-Leistung
des Perversen gewürdigt hat. Nach
Morgenthaler ist die Perversion eine
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Überbrückungsstruktur, eine „Plombe“, die die narzisstische Lücke im
Selbst ausfüllt. Ohne diese Überbrükkungsstruktur würde das Individuum
durch Selbstauflösung und Selbstbeschädigung untergehen.
Tatsächlich ist die Perversionsbildung oft die einzige Möglichkeit, die
einem Menschen zur Verfügung steht,
um eine äußerst bedrohliche seelische
Disharmonie bis hin zur Selbsttötung
zu bannen.
Ziel der Therapie
Die gegenwärtigen therapeutischen
Versuche umfassen vor allem Psychoanalyse und Verhaltenstherapie und
deren Kombination sowie medikamentöse Behandlungen, zum Beispiel
mit selektiven Serotonin-ReuptakeInhibitoren (SSRI) und Antiandrogenen (2, 6, 8, 11). Dabei hängt der Erfolg nicht davon ab, ob das süchtigperverse Tun mehr oder weniger selten, bizarr oder moralisch abstoßend
ist. Entscheidend ist vor allem,
> ob die Persönlichkeitsstruktur des
Patienten (wie neurotisch, narzisstisch, Borderline, psychotisch) für
oder gegen soziale Kompetenz und
Beziehungsfähigkeit spricht,
> ob die Perversionsbildung als ichsynton oder ich-dyston erlebt wird, ob
sie also in die Person integriert ist oder
in ihr wie ein Fremdkörper mit dem
Risiko des Impulsdurchbruchs wirkt,
> ob der Grad der Aggressivität beziehungsweise des Sadismus hoch oder
niedrig ist und damit die Feindseligkeit
gegenüber dem Sexualobjekt (2).
Wie es bei sexuellen Abweichungen und Perversionen alle seelischen
Strukturen gibt, so gibt es auch alle Modi der Abwehr: von der Verleugnung
und Spaltung bis hin zur weitgehenden Ich-Syntonizität der perversen
Wünsche und Aktionen. Entsprechend
unterschiedlich sind die Verläufe. Eine
ich-syntone sexuelle Abweichung kann
bewusst in das Leben integriert sein
und nicht mehr Probleme mit sich
bringen als das landläufige sexuelle
Begehren, dafür aber eine durch nichts
anderes zu erreichende Lust. Sie könnte Paraphilie genannt werden. Demgegenüber kann es bei einer ich-dystonen
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Perversion, die verleugnet oder abgespalten wird, zu so genannten Triebdurchbrüchen kommen, nicht selten
mit verheerenden Folgen.
Deshalb ist es wohl die wichtigste
Aufgabe jeder Beratung und Behandlung, die perversen Wünsche des Patienten zumindest ein Stück weit aus
der seelischen und sozialen Isolation
herauszuholen, damit sie sich nicht unwillkürlich und damit unbeherrschbar
zerstörerisch auswirken.
Manuskript eingereicht: 21. 8. 2002, revidierte Fassung
angenommen: 14. 10. 2002
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 3420–3423 [Heft 50]
Literatur
1. Becker N: Psychoanalytische Theorie sexueller Perversionen. In: Sigusch V, ed.: Sexuelle Störungen
und ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New
York: Thieme 2001; 418–438.
2. Berner W: Institutionelle Therapie bei sexueller Delinquenz. In: Sigusch V, ed.: Sexuelle Störungen und
ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New York:
Thieme 2001; 501–516.
3. Chasseguet-Smirgel J: Anatomie der menschlichen
Perversion. Stuttgart: DVA 1989.
4. Giese H: Psychopathologie der Sexualität. Stuttgart: Enke 1962.
5. Morgenthaler F: Die Stellung der Perversionen in
Metapsychologie und Technik. Psyche 1974; 28:
1077–1098.
6. Reiche R: Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen. In: Sigusch V, ed.: Sexuelle Störungen
und ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New
York: Thieme 2001; 439–464 .
7. Schorsch E: Perversion, Liebe, Gewalt. Aufsätze zur
Psychopathologie und Sozialpsychologie der Sexualität 1967–1991. Stuttgart: Enke 1993.
8. Schorsch E, Galedary G, Haag A, Hauch M, Lohse H:
Perversion als Straftat. Dynamik und Psychotherapie. 2. Auflage Stuttgart: Enke 1996.
9. Sigusch V: Strukturwandel der Sexualität in den
letzten Jahrzehnten. Fortschr Neurol Psychiatr
2000; 68: 97–106.
10. Sigusch V: Kultureller Wandel der Sexualität. In: Sigusch V, ed.: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New York: Thieme 2001;
16–52.
11. Sigusch V: Organotherapien bei sexuellen Perversionen und sexueller Delinquenz. In: Sigusch V, ed.:
Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New York: Thieme 2001; 517–537.
12. Sigusch V, ed.: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3. Auflage Stuttgart, New York: Thieme 2001.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Volkmar Sigusch
Institut für Sexualwissenschaft
Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
E-Mail: [email protected]
www.kgu.de/zpg/sexualwissenschaft
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Referiert
Psychogene Lähmung im Kindes- und Jugendalter
Gute Prognose bei multimodaler Therapie
D
ie psychogene Lähmung äußert sich
bei Kinder und Jugendlichen durch
Gangstörungen wie Humpeln, Stolpern
und Hinken, durch Bewegungseinschränkung, Hüftschmerzen und Lähmungen.
Bei kinder- und jugendpsychiatrischen
Patienten beträgt die psychogene Lähmung zwischen ein und zwei Prozent.
Die pädiatrischen Patientenkollektive
zeigen Häufigkeiten dieser Symptomatik zwischen 0,3 und 0,4 Prozent. Betroffen sind vor allem Kinder im Alter
zwischen elf und dreizehn Jahren. Bei
Symptombeginn sind die Erkrankten
durchschnittlich 10,5 Jahre alt. „Mädchen sind etwas häufiger betroffen als
Jungen“, berichtet der Autor.
Die psychogene Lähmung wurde
weit in das 20. Jahrhundert hinein zur
„Hysterie“ gezählt. Seit dem Ende der
60er-Jahre und insbesondere in den
70er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzte
sich der Begriff der „Konversionsstörung“ für die psychosomatischen Symptome durch. In der neuesten Ausgabe
der ICD-SGB V wird die Bezeichnung „Dissoziative Störungen“ gewählt
(F44.0-F44.9). Die ICD-SGB V listet
unter diesem Oberbegriff die Symptome
einzeln auf. Die psychogene Lähmung ist
unter der F44.4 bei den dissoziativen
Bewegungsstörungen zu finden. Dazu
zählen auch der psychogene Schreibkrampf oder der psychogene Mutismus.
Über die Ursachen der psychogenen
Lähmung ist nur wenig bekannt. Die
Erklärungsmodelle stammen aus der
Tiefenpsychologie und der Lernpsychologie. In ihnen spielen Konflikte oder
traumatisch wirkende Erlebnisse, Lernerfahrungen und Modellerkrankungen
in der nahen Umgebung der Patienten
sowie primärer und sekundärer Krankheitsgewinn für die Entstehung der
Symptomatik eine Rolle. Infekterkrankungen und körperliche Traumata wie
Verletzungen oder Sportunfälle bieten
oft eine körperliche Grundlage für die
Genese. Iatrogene Eingriffe diagnostischer und therapeutischer Art können
bei der Fixierung und Entstehung der
Symptome einflussreich sein. Möglicherweise fördern besondere Familienkonstellation, wie zum Beispiel eine
sehr enge Mutterbindung, überprotektive Eltern oder ein überabhängiges
oder überangepasstes Kindverhalten
die Genese. Vermutet wird auch, dass
Konflikte mit der Familie oder mit
Gleichaltrigen sowie schulischer Druck
die Symptome auslösen und auch verstärken. Psychopathologische Faktoren
oder psychosexuelle Belastungen scheinen hingegen als Ursachen nicht infrage
zu kommen. Die psychogene Lähmung
hat oft einen kommunikativen Charakter und eine gewisse Symbolik. Im Kindes- und Jugendalter haben Lernerfahrungen und Identifikationsmodelle eine
besondere Bedeutung.
Die psychogene Lähmung wird meist
stationär durch verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie und individuelle Physiotherapie behandelt.
Dabei steht zunächst die Annahme der
Symptome als Erkrankung und die
primäre Beseitigung der Symptomatik
im Vordergrund. Bedeutsam ist, dass
die Betroffenen aus ihrer Umgebung
herausgenommen werden. Im Verlauf
der Behandlung wird auch konfliktund problemorientierte Psychotherapie
sowie Gruppentherapie eingesetzt. Daneben ist die stationäre Situation und
der Umgang mit Gleichaltrigen wichtig.
Die Eltern der Patienten sollten in die
Behandlung einbezogen werden.
Bei multimodaler Therapie zeigt die
Lähmung einen günstigen Verlauf und
hat eine gute Prognose. Die Remissionsraten liegen bei 85 bis 95 Prozent.
Die Behandlungsdauer erstreckt sich
bei etwa der Hälfte der Patienten über
weniger als einen Monat. Nur jeder
sechste Betroffene muss über drei Monate therapiert werden. Zur psychogenen Lähmung, insbesondere des Kindes- und Jugendalters, gibt es bisher nur
wenige Studien. „Weitere Arbeiten sind
ms
unerlässlich“, fordert der Autor.
Nowak M: Psychogene Lähmungen im Kindes- und Jugendalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie
2002; 30: 3: 199–210.
Nowak M: Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Klinik mit Poliklinik der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg, Schabachanlage 6/10,
91054 Erlangen.
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