Arbeitspapier für - Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse

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Vortrag am Freiberg-Symposium „Das Perverse in Klinik und Kultur“.
Perversion und Delinquenz.
Psychoanalytische Streifzüge durch eine Grenzregion.
Fritz Lackinger
Einleitung
Ich möchte in meinem Vortrag auf die Frage eingehen, was Perversion und (Sexual-)delinquenz
miteinander zu tun haben. Sowohl Perversion als auch Delinquenz fallen in einen Bereich, den man
mit Balint auf der Ebene einer „Grundstörung“ ansiedeln oder triebtheoretisch als „präödipal“
bezeichnen könnte. Auf die Objektbeziehungstheorie gehen Ausdrücke wie „strukturelle Störung“
oder „Borderline-Persönlichkeitsorganisation“ zurück. Damit ist ein Spektrum von Pathologien
angesprochen, das zwischen den neurotischen und den psychotischen Störungen liegt, und neben
Perversion und Delinquenz auch solche Problematiken wie schwere Persönlichkeitsstörungen,
Sucht und psychosomatische Erkrankungen einschließlich Selbstverletzungen und Essstörungen
umfasst.
Ich werde auf diese Diskussionen jedoch nicht näher eingehen, sondern einfach nur voraus
schicken, dass ich grundlegend zwischen einem neurotischen und einem Borderline-Niveau der
Persönlichkeitsorganisation unterscheide. Ich möchte Ihnen ein Denkmodell vorstellen, das die
Psychodynamik des Sexualdelinquenten in den Kontext einer allgemeinen psychoanalytischen
Perversionstheorie stellt und zugleich mit den verschiedenen Niveaus der
Persönlichkeitsorganisation in Verbindung bringt.
Diese konzeptuellen Überlegungen sollen mit zwei Falldarstellungen illustriert werden, in denen die
unterschiedliche Übertragungsdynamik bei delinquenten und nicht-delinquenten Perversen deutlich
werden soll.
Perversion und Borderline-Persönlichkeitsorganisation
Der Begriff der Perversion wird in der psychoanalytischen Literatur üblicherweise zur
Bezeichnung einer bestimmten psychischen Struktur verwendet. Bei aller partiellen
Widersprüchlichkeit scheint sich in den letzten 20 Jahren doch eine Art psychoanalytischer
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Mainstream in der Auffassung der Perversionen herausgebildet zu haben. Kurz zusammengefasst
besteht der Konsens über die Struktur der Perversion in Folgendem:
Konstitutionelle Faktoren führen im Zusammenwirken mit frühen Traumatisierungen zu einer
anhaltenden Virulenz oraler und analer Konflikte, was eine echte psychische Triangulierung und
damit die spätere Lösung der ödipalen Themen verunmöglicht. Die oralen und analen Konflikte
führen zunächst zu einem Überwiegen der aggressiven gegenüber den libidinösen Strebungen. Dies
bewirkt, dass es zu keiner ausreichenden Integration der Selbst- und Objektrepräsentanzen und zu
keiner vollständigen psychischen Trennung vom Primärobjekt kommt. Daraus entsteht das
agoraphob-klaustrophobe Dilemma, was bedeutet, dass der später Perverse einerseits eine besonders
starke Sehnsucht nach Nähe und Einssein entwickelt, andererseits Nähe nicht anders denn als
Verschluckt- und Vernichtetwerden empfinden kann. Als Reaktion auf die Vernichtungsangst
richtet er die prägenitale Aggression gegen das Objekt, nur um kurz darauf Angst vor
vollkommener Verlassenheit und vor einem Tod durch psychisches Verhungern zu entwickeln. Er
erlebt sich in einem schmerzvollen Wechsel zwischen der ‚Feuerhölle’ der Nähe und der ‚Eiswüste’
der Verlassenheit. Als Ausweg aus dem Dilemma sucht der später Perverse nach einem Weg, der
ihm einerseits Beziehung verschafft, um der Verlassenheit zu entkommen, und andererseits
Intimität und wirkliche Nähe erspart, um dem Verschlucktwerden zu entgehen. Diesen Weg bietet
ihm der Mechanismus der Sexualisierung, der die eigentlich spezifisch-perverse „Lösung“ des
prägenitalen Ambivalenzkonfliktes ist. Sexualisierung meint - genauer betrachtet - eine
Pseudogenitalisierung der oralen und analen Partialobjektbeziehungen. Das Verharren in den
prägenital strukturierten Beziehungsmodi reflektiert eine nur mangelhafte frühe Triangulierung (im
Sinne von Abelin 1971, 1975) und ein Scheitern der ödipalen Triangulierung. Diese Prozesse sind
auch mit einer Neigung zu primitiven Wahrnehmungsweisen der psychischen Realität verbunden,
einer Neigung, die Fonagy et al. (2002) als Mentalisierungsdefizit beschrieben haben. Je nachdem,
welcher Aspekt der prägenitalen Beziehungen besonders traumatisiert und vulnerabel ist, wird die
Perversion als triumphale Umkehr der jeweils vorherrschenden unbewussten Ängste inszeniert. Die
Sexualisierung ist dabei zugleich eine Abwehr und eine Ausdrucksform der prägenitalen
Aggression. Eine große Bandbreite in der Phänomenologie der Perversion ergibt sich aus den
zahlreichen möglichen Mischungsverhältnissen im jeweiligen perversen Verhalten zwischen dem
Abwehr- und dem Ausdrucksaspekt in Bezug auf die prägenitale Aggression.
Es wurde von zahlreichen Autoren darauf hingewiesen, dass es zwischen der psychoanalytischen
Beschreibung von Borderline-Patienten und von Perversen viele Ähnlichkeiten gibt (Blum
1986, Chasseguet-Smirgel 1990, Kernberg 1992). Die ödipalen Konflikte sind in beiden Fällen
durch übermäßig starke Aggressionen und Ängste aufgeladen. Man findet sowohl bei Perversen als
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auch bei Borderline-Patienten typischerweise eine verfrühte Ödipalisierung der im Grunde
prägenitalen Konflikte. Es gibt aber auch unübersehbare Unterschiede zwischen den klassischen
Perversionen und den so genannten Borderline-Perversionen.
Empirische Untersuchungen zeigen sehr klar, dass nur wenige Patienten mit einer BorderlinePersönlichkeitsorganisation gleichzeitig eine klassische sexuelle Perversion aufweisen. Als typisch
für sie wird vielmehr eine polymorph-perverse Sexualität beschrieben, bei der mehrere perverse
Züge gleichzeitig existieren (Rohde-Dachser 1979). Borderline-Perversionen haben also meist eine
andere Erscheinungsform als neurotische, dennoch sind sie Perversionen im deskriptiven Sinne. Es
stellt sich jedoch die Frage, ob der Begriff der Perversion weiterhin ein psychodynamischer
Strukturbegriff ist, oder ob er in Hinkunft nur noch deskriptiv zur Beschreibung verschiedener
Formen von abweichender Sexualität verwendet werden sollte, während die Struktur durch die
jeweilige Persönlichkeitsorganisation im Sinne Kernbergs definiert wird. Ich vertrete hier die
Position, dass die Perversion sehr wohl weiterhin eine Struktur bezeichnet, dass diese aber im
Kontext der neurotischen Persönlichkeitsorganisation lediglich eine untergeordnete Substruktur
darstellt, die von der restlichen Persönlichkeit mehr oder weniger dissoziiert ist, während sie bei der
Borderline-Persönlichkeitsorganisation in größeren oder geringerem Ausmaß die gesamte
Persönlichkeit erfasst. Es kommt dementsprechend meistens zu keiner starren Symptombildung,
sondern zu dem beschriebenen Wechsel und der Vielgestaltigkeit der perversen Züge bei der
Borderline-Persönlichkeit.
Wichtig für das Verständnis des Konzeptes der Borderline-Persönlichkeitsorganisation ist, dass es
verschiedene Schweregrade der Störung definiert, also auch eine dimensionale Komponente hat.
Gegenwärtig werden ein höheres, ein mittleres und ein niedriges Borderline-Niveau unterschieden.
Benigne und maligne Perversionen
Sigmund Freud war einer der ersten Psychiater, der darauf hinwies, dass Abweichungen vom Ziel
des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs auch bei Erwachsenen durchaus normal seien. In den Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 lesen wir: „Wo die Verhältnisse es begünstigen, kann
auch der Normale eine solche Perversion eine ganze Zeitlang an die Stelle des normalen
Sexualzieles setzen oder ihr einen Platz neben diesem einräumen. Bei keinem Gesunden dürfte
irgendein pervers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualziel fehlen, und diese Allgemeinheit
genügt für sich allein, um die Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens
Perversion darzutun.“ (Freud 1905, S.60). Als die ersten Kinsey-Berichte (1948 und 1953) diese
Einsichten empirisch bestätigten, war man in psychiatrischen Kreisen trotzdem zutiefst erstaunt.
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Offensichtlich war Freud in diesem Punkt noch kaum rezipiert worden. Daran war die damals
dominierende Gruppe ich-psychologischer Psychoanalytiker nicht gerade unschuldig, in den letzten
zwei Jahrzehnten hat sich jedoch viel verändert.
Ich möchte jedenfalls feststellen, dass es mir wichtig erscheint, an der Freudschen Auffassung
festzuhalten, dass das Vorhandensein perverser Strebungen ein allgemeiner Aspekt der
menschlichen Sexualität ist und per se keine psychische Störung darstellt. Die empirische
Sexualwissenschaft hat seit den 1950er Jahren zunehmend darauf hingearbeitet, aus diesem Grunde
den Begriff Perversion überhaupt aufzugeben. Wie Sie wissen, ist die psychiatrische Nomenklatur
ab dem Jahre 1980 dieser Empfehlung gefolgt und spricht nun von Paraphilie bzw. von Störung der
Sexualpräferenz. Ich denke, dass die Psychoanalyse keinen Grund hat, ihren Begriff der Perversion
aufzugeben. Allerdings hat sie allen Grund, die Verwendung dieses Begriffs zu klären und zu
differenzieren. Ich kann das hier nicht hinlänglich leisten, möchte aber klarstellen, dass ich Begriffe
wie perverse Strebungen, perverse Impulse, perverse Phantasien u. ä. in einem deskriptiven
Sinne verwende, d.h. sie beschreiben einfach partial-triebhafte Phänomene. In diesem Sinne ist die
infantile Sexualität nach wie vor polymorph-pervers und die normale erwachsene Sexualität enthält
perverse Elemente in größerer oder kleinerer Zahl, die allerdings von einer reifen genitalen
Beziehung gehalten, getragen, im Bionschen Sinne ‚contained’ werden.
Der Begriff Perversion – substantivisch gebraucht – sollte ausschließlich zur Bezeichnung einer
psychopathologischen Struktur verwendet werden, im Sinne der oben referierten Theorie. Sie
bezeichnet demnach eine bestimmte Konstellation von
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anhaltenden prägenitalen Konflikten,
-
einer vorzeitigen oder Pseudo-Ödipalisierung,
-
einer mangelhaften Triangulierung der Objektbeziehungen,
-
einer mangelhaften Mentalisierung des affektiven Erlebens (im Sinne Fonagys)
-
und des Einsatz von Sexualisierung als bevorzugtem Abwehrmechanismus.
Darüber hinaus scheint mir eine weitere definitorisch Klarstellung unverzichtbar:
Es gibt Perversionen, die zwar eine psychopathologische Fehlentwicklung darstellen, die also mehr
sind als die perversen Anteile des gesunden Menschen, die jedoch bei anderen Menschen keinen
Schaden anrichten und in diesem Sinne als sozial harmlos bezeichnet werden können. In diesen
Fällen werde ich von benignen Perversionen sprechen.
Dem stehen Perversionen gegenüber, die einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung anderer
Menschen implizieren. Dieser Angriff kann allerdings sehr verschiedene Ausprägungsgrade haben.
Wenn die sexuelle Selbstbestimmung anderer ausschließlich in Form von verbalen Belästigungen,
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Übergriffen ohne Körperberührung oder sexualisierten Berührungen mit sehr geringen
Auswirkungen besteht, dann kann man von transgressiven Perversionen sprechen.
Wenn Perverse jedoch Gewalt oder Zwang zur Verwirklichung ihrer sexuellen Wünsche brauchen
oder auf Objekte zielen, die nicht einwilligungsfähig sind, wie z.B. Kinder, dann würde ich von
malignen Perversionen sprechen.
Die benignen Perversionen umfassen v.a. den Fetischismus und den Transvestitismus. Ich betone
noch einmal, dass damit nicht jedes Verwenden von Gegenständen oder von gegengeschlechtlichen
Kleidungsstücken zur Steigerung der sexuellen Erregung gemeint ist, sondern dass derartiges
Verhalten nur dann in diese Kategorie fällt, wenn es Ausdruck einer perversen psychischen Struktur
ist. Dies kann daran festgemacht werden, ob die jeweilige perverse Handlung zu einer
ausschließenden Bedingung für sexuelle Erregung geworden ist, wie es auch schon bei Freud
(1905) nachzulesen ist. Allerdings trifft dies nicht in allen Fällen zu. Manchmal sind perverse
Handlungen, auch wenn sie nicht die ausschließliche sexuelle Erlebnismöglichkeit für den Patienten
darstellen, trotzdem eindeutig pathologisch, weil ihre Funktion eben darin besteht, Nähe und
Intimität in der Partnerschaft zu verhindern.
Benigne Perversionen sind auch jene Formen des sexuellen Sadomasochismus, die in
schmerzhaften und/oder erniedrigenden, jedoch einvernehmlichen Handlungen und Ritualen
bestehen, soferne sie nicht zu schweren Verletzungen eines der Partner führen, und wenn sie die
typische Abwehrfunktion der Perversion haben.
Auch im Bereich der Pädophilie gibt es eine benigne Variante. Sie ist dann gegeben, wenn der
Perverse zwar pädophil-sexuelle Phantasien in einer zwanghaften Form hat, in seinen Handlungen
aber nur harmlose Berührungen eines Unmündigen, wie etwa über den Kopf streicheln, ausführt.
Psychodynamisch treten die benignen Perversionen überwiegend im Kontext einer neurotischen
Persönlichkeitsorganisation auf, was bedeutet, dass es keine umfassende Diffusion der persönlichen
Identität gibt, dass in den meisten Lebensbereichen ein normales Funktionsniveau erreicht wird und
dass auch tiefe, intime Partnerschaften möglich sind, in die die Perversion entweder integriert oder
aus der sie ausgeschlossen sein kann. Die von Morgenthaler festgestellten Plombenfunktion der
Perversion tritt nur in einem eng umschriebenen Bereich auf, in dem die Mentalisierung
prägenitaler Affekte und die Triangulierung präödipaler Beziehungen misslungen ist.
Allerdings sind eine Reihe von benignen Perversionen auch mit einer BorderlinePersönlichkeitsorganisation verbunden. Man sieht diese manchmal in Form eines geradezu
süchtigen Don Juanismus bei Männern, die ihr narzisstisches Gleichgewicht nur durch dauernde
sexuelle Eroberungen aufrecht erhalten können. Nicht selten ist auch die Prostitution sowohl bei
jungen Männern wie bei Frauen eine Variante einer benignen Borderline-Perversion. Die Perversion
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nimmt, wenn sie mit einer Borderline-Struktur verbunden ist, in der Regel eine kältere und
schärfere Form und Färbung an, auch wenn sie die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen
nicht angreift. Wesentlich ist aber, dass diese Patienten in ihrem sonstigen Leben ebenfalls
zahlreiche Störungen und meist auch einige weitere psychopathologische Symptome aufweisen.
Die transgressiven Perversionen umfassen Perversionen, die ursächlich an Sexualdelikten mit nur
geringer Schadenswirkung beteiligt sind. Dazu gehören v.a. Voyeurismus, Exhibitionismus und
Frotteurismus. Diese sind üblicherweise von vorneherein so definiert, dass sie Grenzverletzung
gegenüber anderen Menschen darstellen. Der Voyeur ist erst einer, wenn er eine nichts ahnende,
nackte Person beobachtet, der Exhibitionist stellt seine Genitalien vor nichts ahnenden Fremden zur
Schau und der Frotteur reibt sich heimlich an nicht einwilligenden Personen. Lässt man die
Nichteinwilligung als Bedingung weg, so bleiben meist lediglich perverse Aspekte der normalen
Sexualität über. Als transgressive Perversionen führen sie natürlich manchmal zu Verurteilungen
und so kommen diese Patienten in Kontakt mit der forensischen Psychotherapie. Aus meiner
Erfahrung könnte ich nicht sagen, ob sie häufiger mit einer neurotischen oder mit einer BorderlinePersönlichkeitsorganisation kombiniert sind. Beides kommt vor, mit den jeweils unterschiedlichen
Begleiterscheinungen, wie ich sie oben beschrieben habe.
Es gibt zahlreiche weitere transgressive Perversionen, wie z.B. das zwanghafte sexualisierte
Berühren von Frauen, der aggressive Don Juanismus, aber auch masochistische Ausprägungen,
wenn sie zu nur leichten Selbstverletzungen führen.
Maligne Perversionen führen in der Regel zu schweren, wiederholten Sexualdelikten. Beim
malignen Masochismus allerdings ist es nicht die strafrechtliche Relevanz, die die Schwere der
Pathologie bestimmt. Es kann jedoch zu hochgradiger Selbstgefährdung, ja zu tatsächlichen
Selbstverstümmelungen und sogar zu Todesfällen kommen. Ich denke, dass bei der Asphyxiophilie,
also bei der Selbststrangulation zur Luststeigerung, starke masochistische Anteile wirksam sind,
auch wenn die spezifische Form des masochistischen Lustgewinns noch einmal separat zu
betrachten ist.
Der maligne Sadismus und die maligne Pädophilie sind nun die beiden Perversionen, die in der
forensischen Forschung die bei weitem größte Aufmerksamkeit erreicht haben, weil sie mit den
schwerwiegendsten Formen der Sexualdelinquenz in Verbindung stehen. Ich kann hier nur kurz
erwähnen, dass weder die Vergewaltigung noch der sexuelle Kindesmissbrauch ausschließlich auf
entsprechende Perversionen zurückgeführt werden können. In beiden Fällen gibt es zahlreiche
Täter, die keine Perversion, aber andere psychische Störungen, wie z.B. Impulskontrollstörungen
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und Persönlichkeitsstörungen ohne Perversion, aufweisen (Hoyer et al. 1999, 2000, Kraus et al.
2004).
Ich konzentriere mich hier jedoch auch die perversen Vergewaltiger und Kindesmissbraucher. Sie
weisen fast immer eine Borderline-Persönlichkeitsorganisation auf, wobei jene, die
Wiederholungstäter sind, in der Regel dem niederen Borderline-Niveau zuzurechnen sind.
Ich möchte hier versuchen, die Psychodynamik der malignen Perversionen etwas genauer
herauszuarbeiten. Im Unterschied zu den benignen und den transgressiven Perversionen besteht bei
den malignen Perversionen immer auch eine massive Überich-Störung. Das bedeutet, dass die
sadistischen Über-Ich-Vorläufer derart dominant sind, dass sie durch die späteren idealisierten
Über-Ich-Vorläufer nicht neutralisiert werden können. Die Über-Ich-Integration ist daher blockiert
und die späteren, realistischeren Überich-Introjekte aus der ödipalen Periode können nicht integriert
werden. Bei den später malignen Perversen hat eine Umformung der inneren Objektwelt in der
Weise stattgefunden, dass es zur Entwertung und Versklavung aller potentiell guten internalisierten
Objektbeziehungen kommt. Dadurch verwandeln sich die sadistischen Über-Ich-Komponenten in
abnorme Selbststrukturen. Die Folge ist, dass Sadismus praktisch ich-synton und ohne störende
Schuld- oder Schamgefühle ausagiert werden kann.
Die pathologischen Selbststrukturen, die das Überich quasi ersetzen und seine weitere Entwicklung
gestoppt haben, verändern nun auch die Dynamik der Sexualisierung. Diese behält hauptsächlich
ihre Eigenschaft, prägenitale Aggression auszudrücken. Sie wird durch die libidinösen
Komponenten nur noch in geringem Maße abgewehrt oder abgeschwächt. Die Aggression ist derart
unvermischt und zugleich ich-synton, dass sie – v.a. bei den schwersten Fällen - aus allen Poren
trieft. Trotzdem hat sie immer noch die allgemeine Funktion der Perversion, nämlich sowohl die
Angst vor Verlassenheit als auch vor dem Verschlucktwerden abzuwehren. Auch die maligne
Perversion stellt also noch eine extreme Form der menschlichen Beziehungsgestaltung und damit
der Abwehr der reinen mörderischen Aggression dar.
Fallbeispiele
Ich möchte Ihnen nun zwei Fälle vorstellen, mit denen ich hoffe, die unterschiedliche Dynamik bei
benignen und bei malignen Perversionen deutlich machen zu können.
Herr A. war nach dem Einsetzen einer schweren depressiven Episode in der psychiatrischen Station
eines Wiener Spitals aufgenommen worden. Nach zwei Monaten wurde er entlassen und es wurde
ihm empfohlen, einen Psychotherapeuten zu suchen. So kam er schließlich in meine Praxis und ich
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begann eine hochfrequente Analyse mit ihm. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann trotz seiner 38
Lebensjahre noch nie mit einer Frau geschlafen hatte.
Als Hintergrund berichtete er, dass er extrem schüchtern sei, dass er überzeugt sei, einen lächerlich
kleinen Penis zu haben und dass er außerdem Damenunterwäsche zur sexuellen Stimulation
verwende und vermute, nur dann zum Geschlechtsverkehr mit einer Frau fähig zu sein, wenn er
solche Wäschestücke tragen würde. Dies könne er jedoch keiner Frau zumuten und deswegen sei er
eine Art männlicher Jungfrau geblieben. Nach einer aktuellen Enttäuschung im vergangenen
Sommer sei er zunehmend depressiv geworden, weswegen ihn sein Hausarzt in das Spital geschickt
habe. Die dort erhaltenen Medikamente hätten ihm aber nicht wirklich geholfen. Er fühle sich
weiterhin zu allem unfähig, er wisse nicht, wie er seinen Beruf als Wirtschaftsprüfer wieder
ausführen solle. Im Büro wisse er nicht, was er tun solle und verplempere nur seine Zeit. In der
Freizeit sei er praktisch immer allein und nehme keinen Kontakt zu seinen früheren Freunden auf,
sodass diese wohl auch zunehmend das Interesse an ihm verlieren würden. Er werde wohl bald
seine Arbeit verlieren und in seinem jetzigen Zustand auch keine neue finden, wodurch er sich dann
auch seine Wohnung nicht mehr leisten könne und möglicherweise bald alleine und verlassen in der
Gosse enden werde.
Wir haben hier ein Bild vor uns, in dem Perversion und Depression in einem Wechselverhältnis
stehen. Während der depressiven Episode war sein sexuelles Interesse allgemein fast verschwunden
und er agierte seinen Fetischismus nicht. Vorher hatte er Damenwäsche gelegentlich eingekauft,
und noch früher, in seiner Studentenzeit, hatte er sich auch Wäschestücke von befreundeten
Mädchen im Studentenheim und später in einer Wohngemeinschaft erschlichen, indem er BHs und
Slips aus deren Kästen entnahm und sie nach Gebrauch gewaschen und gebügelt wieder
zurücklegte. Es hatte nie jemand gemerkt. Dieses Verhaltensmuster hatte noch weiter
zurückliegende Vorbilder. Zum ersten Mal hatte er während seiner Pubertät Wäschestücke seiner
Tante in gleicher Weise verwendet. Diese hatte die schönere Unterwäsche in Vergleich zu seiner
Mutter. Allerdings konnte er sich erinnern, schon als Volksschulkind im Kasten der Mutter gewühlt
und manche Stücke vor dem Spiegel angezogen zu haben.
Es scheint, dass bei diesem Patienten der Fetischismus das Interesse an Sexualpartnerinnen nie ganz
ersetzt hatte. Wegen seiner Unfähigkeit, eine Freundin zu finden, fühlte er sich einsam und
komplexbeladen. Er schien zwar phasenweise mit seiner Perversion gar nicht so schlecht zu leben.
Er absolvierte erfolgreich und ohne große Anstrengung Schule und Studium und begann einen
Beruf auszuüben, in dem er nicht schlecht verdiente. Er entwickelte verschiedene Hobbys, u.a. ein
Interesse für österreichische Literatur. Allerdings hatte er sich trotz seiner intellektuellen
Fähigkeiten in sozialer und v.a. in sexueller Hinsicht immer minderwertig gefühlt. Und spätestens
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seit dem 30. Lebensjahr hat es immer wieder depressive Episoden gegeben, allerdings keine so
schlimme, wie die letzte vor dem Beginn der Analyse.
Die Analyse begann seine depressive Verstimmung langsam aufzuhellen. In den bisherigen drei
Jahren der Behandlung hat er weder Arbeit noch Wohnung verloren, es stellte sich vielmehr heraus,
dass er von seinen Vorgesetzten sehr geschätzt wird. Trotz seiner Passivität in der Pflege seiner
Freundschaften, gibt es nach wie vor einen kleinen Kreis, mit dem er in regelmäßigem Kontakt ist.
Ich denke, dass es sich bei diesem Patienten um eine benigne Perversion auf neurotischem Niveau
handelt. Er hat keinem anderen Schaden zugefügt, wenn auch das Eindringen in die Kästen von
Verwandten und Freundinnen schon an der Grenze zur transgressiven Perversion liegt. Das
neurotische Strukturniveau erkennt man daran, dass die allgemeine persönliche Identität des
Patienten im Grunde sehr klar ist. Er kann sich gut beschreiben, auch seine zwanghaften, seine
perversen und seine depressiven Muster, und seine Selbstbeschreibung bleibt in ihren Grundlinien
über die Zeit konstant. Es gibt zwar nur wenige Freunde, diese haben aber einen nachvollziehbaren
Charakter, und die Beziehungen zu ihnen sind auch langfristig stabil. Er ist beruflich offenbar
tüchtig, wenn auch ein Einzelgänger, der kaum über das beruflich absolut Notwendige hinaus
Kontakt aufnimmt. Dabei zeigt er typisch zwangsneurotische Hemmungen und hat skrupulöse
Schuldgefühle wegen vergleichsweise harmloser Nachlässigkeiten. Er hat ein überstrenges,
perfektionistisches Überich, das ihm keinerlei Raum für Freude und Genuss lässt. Die Zweifel an
seiner Penisgröße reflektieren einen überdimensionalen Kastrationskomplex, allerdings tritt dieser
Aspekt nur im unmittelbar-sexuellen Bereich so stark in Erscheinung, dass er symptombildend ist.
Der transvestitische Fetischismus erwächst nicht zuletzt aus den Einschränkungen, die ihm das
überstrenge Überich aufbürdet, er steht aber in starkem Widerspruch zu seinen sonstigen IchFähigkeiten und zu seinem Überich. Die Perversion ist daher grundlegend ich-dyston.
Um zu verdeutlichen, welche unbewussten Phantasien an dem transvestitischen Fetischismus des
Patienten beteiligt waren und zu welchen ätiologischen Hypothesen wir gelangten, möchte ich kurz
den weiteren Therapieverlauf schildern.
Der Patient erweiterte seine permanente Selbstentwertung rasch auch auf die Analyse, da sie ihm
nicht helfe. Eigentlich sei er ja nie wirklich überzeugt gewesen, dass ihm diese Therapie helfen
könne, aber er habe eben keine Alternative gehabt und so sei er gekommen. Sicherlich liege es an
ihm, weil er sich nicht richtig öffnen könne, aber gerade deshalb sei es für ihn vielleicht auch nicht
die richtige Methode. Er bestand schließlich darauf, die Stunden zu reduzieren, nicht zuletzt mit
dem Argument, dass er seine Therapiebesuche verheimlichen müsse, weil sie doch etwas
Beschämendes seien. In der Gegenübertragung entwickelte ich das Gefühl, dem Patienten nichts
geben zu können, nicht die richtigen Deutungen, im übertragenen Sinne keine gute Milch für ihn zu
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haben. In der weiteren Arbeit stellte sich heraus, dass der Patient als Kind seine Mutter als unfähig
und unattraktiv erlebt hatte. Er glaubte, keine anderen Kinder zu sich einladen zu können, weil er
sich vor ihnen für seine Mutter schämen müsse. Diese Beschämung schien nun auf den Therapeuten
übertragen zu werden und gleichzeitig mit dem beharrlichen Bemühen verbunden zu sein, in
Kontakt zu bleiben, aber wirkliche Nähe zu vermeiden.
Auf einer tieferen Ebene stellte sich später heraus, war das Gefühl, beschämend zu sein, von ihm
selbst auf die Mutter verschoben worden. Er erinnerte frühe Kinderszenen, in denen er die nackte
Mutter beim Baden beobachtete, und wo er von ihren riesigen Brüsten zugleich fasziniert und
abgestoßen war. Die erotische Bindung an die Mutter war von dieser einerseits vollkommen
verleugnet, zugleich aber unbewusst permanent verstärkt worden, indem sie seine
Autonomiebestrebungen durch Verwöhnen und Abhängigmachen unterminierte. Am Ende der
Latenzzeit begann er sich für seine Unselbständigkeit und seine oral-erotische Fixierung an die
Mutter zu schämen. Und nun folgte eine Traumatisierung, die diese bis jetzt vermutlich noch
reversible Fehlentwicklung zur Perversion fixieren sollte. Mit 10 Jahren wurde er vom Vater in ein
Internat gegeben, d.h. er wurde von den Eltern getrennt. Dies wäre nicht notwendigerweise
traumatisch gewesen und er erinnert auch seine eigenen Trennungsängste als durchaus moderat.
Aber die Mutter entwickelte in dieser Zeit eine schizo-affektive Psychose, d.h. sie wurde manifest
depressiv und erlebte zugleich paranoide Halluzinationen, in denen ihr der Teufel erschien.
Unbewusst bedeutete dies für den Patienten, dass er zu einem Teufel geworden war, weil er seine
Mutter verlassen hatte. Seine oral-erotische Fixierung an die innere Mutter wurde dadurch
unendlich verstärkt. Massive Schuldgefühle fesselten ihn nun wie Taue an die ambivalent geliebte
und zugleich gehasste Mutter. Wie vorher erwähnt, hatte die Bindung an die Mutter schon im
Volksschulalter zu dem Versuch geführt, ihr durch die Verwendung ihrer Kleidungsstücke nahe zu
kommen, gewissermaßen in sie hineinzuschlüpfen. Nun in der Pubertät trat eine Spaltung ein. Die
äußere Mutter wurde zunehmend abgelehnt, das Gefühl, sich für sie schämen zu müssen, verstärkte
sich. Eine davon getrennte innere Mutter wurde jedoch festgehalten, aber nicht im Sinne einer
reifen Identifizierung, sondern im Sinne eines unheimlichen, janusköpfigen Introjekts. Zur
faszinierenden Seite dieses Introjekt konnte er durch die fetischistische Verkleidung und Erregung
in Kontakt treten, die abstoßende Seite wurde zu einem Ersatzselbst, dem sein Überich später die
gleichen Vorwürfe machen konnte, wie er sie in der Pubertät seiner Mutter gemacht hatte. Die
Mutter starb als er 20 Jahre alt war, nachdem sie ihm vergeblich geraten hatte, sein Studium
abzubrechen und zu ihr zurück zu kehren. An ihrem Grab kann er bis heute keine Trauer
empfinden.
Das Hineinschlüpfen in die Frauenkleider und damit in die Mutter wurde von mir als aktive
Wiederholung des erlebten, passiven Verschlungenwerdens durch die Mutter gedeutet. Die
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Perversion erlaubte, den Kontakt zur Mutter der frühesten Kindheit aufrecht zu erhalten, selbst als
sie später verrückt geworden und noch später gestorben war. Das Ersetzen der Mutter durch
Unterwäsche bringt aber auch deutlich die prägenitale Aggression zum Ausdruck, und die
orgastische Lust, die mit diesem Vorgang verbunden ist, hat auch den Charakter eines Triumphes
über die Mutter.
Die manchmal mehr zwanghaft oder mehr depressiv getönten Selbstvorwürfe und
Selbstentwertungen scheinen mir hingegen die neurotischen Niederschläge der frühen
Objektbeziehungen des Patienten zu sein. Sie haben eine triangulierte Form. Der Patient erlebt sich
dann von allen Quellen der Freude und der Lust getrennt, so wie ihn der Vater von der Mutter
getrennt und ins Internat gesteckt hatte. Der Vater war aber insgesamt eine schwache Figur
gewesen, die der verschlingenden Mutter wenig entgegensetzen hatte können, und die daher auch
nur wenig Substanz zum identifizierenden Aufbau einer eigenen, männlichen Identität hergab.
Nicht zuletzt aus diesem Grund kippt er immer wieder in die Depression, in der er einen Teil der
internalisierten Mutterbilder als Ersatzidentität verwenden kann.
Perversionen sind äußerst schwierig zu behandeln, auch wenn sie im Rahmen einer neurotischen
Persönlichkeitsorganisation funktionieren. Das Neurotische an diesem Patienten bewirkt, dass er
überhaupt eine jahrelange psychoanalytische Behandlung unternimmt. Und mein Eindruck ist, dass
er langsam zu verstehen beginnt, dass die Stundenreduktion seinem pubertären Rückzug von der
äußeren Mutter entspricht, und dem Erhalt der perversen Beziehung zur inneren Mutter dient. Erst
wenn er sich zur Wiederaufnahme einer hochfrequenten Analyse entschließt, wird der
Übertragungswiderstand ausreichend überwunden sein, um an die imitierenden, hineinschlüpfenden
Aspekte der Mutterbeziehung heran zu kommen.
Mein zweiter Patient wurde von mir zuerst in der JA Mittersteig und anschließend im Rahmen des
forensisch-therapeutischen Zentrums behandelt, das zur Nachbetreuung entlassener Straftäter
eingerichtet wurde.
Herr B. war zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er zwei Mädchen im Alter von fünf und acht
Jahren dadurch sexuell missbraucht hatte, dass er sie am Geschlechtsteil streichelte, leckte und bei
dem älteren Mädchen auch mit seinem Penis einzudringen versuchte. Außerdem war eine bedingte
Haftstrafe von 9 Monaten widerrufen worden, die er zwei Jahre vorher wegen ähnlicher sexueller
Missbrauchshandlungen, allerdings noch ohne Penetrationsversuch, bekommen hatte.
Auch dieser Patient hatte in seinem ganzen Leben noch mit keiner erwachsenen Frau geschlafen. Er
berichtet von einem Vater, der während seiner Kindheit zurück gezogen und kaum präsent gewesen
sei. Mit der Mutter verband ihn eine enge Hick-hack-Beziehung. Mit 16 Jahren hatte er eine
sexuelle Beziehung zu einem gleichaltrigen Mädchen, allerdings scheint dieses Mädchen
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entwicklungsverzögert gewesen zu sein und ein sehr kindliches Aussehen gehabt zu haben. Mit 17
Jahren fand der Heranwachsende kinderpornografisches Material in der Werkstätte seines
Großvaters, die auch sein Vater benützte. Die Großmutter ließ das Material verschwinden, ohne ein
Wort dazu zu sagen. Gerüchteweise hörte er damals auch, dass sein Vater vor seiner Geburt wegen
Kindesmissbrauchs verurteilt worden sein soll. Der Patient erzählt, dass er kurz nach diesem Vorfall
zu seinem Vater gesagt habe, dass er, der Sohn, auf kleine Mädchen stehe. Der Vater solle nur
geantwortet haben: „Ich weiß, mein Bub“. Weiters wurde darüber nicht gesprochen. Es fiel dem 17jährigen aber auf, dass sein Vater ihn bei Spaziergängen nun häufig zu Kinderspielplätzen mitnahm,
wo sie gemeinsam wortlos die spielenden Kinder beobachteten. Ein Jahr später verstarb der Vater
bei einem Autounfall.
Dies ließ die problematisch enge Mutterbeziehung noch deutlicher werden. Die Mutter bestand
darauf, dass der Sohn bei ihr wohnen bleiben müsse. Später, als sie krank wurde, und zeitweise
verwirrt war, verwechselte sie ihren Sohn regelmäßig mit ihrem verstorbenen Mann, von dem sie
annahm, dass er zurück gekehrt war.
Der Patient erlebte es so, dass seine Mutter alle Versuche, mit gleichaltrigen Frauen in Kontakt zu
kommen torpedierte, nur damit er bei ihr bliebe. Dafür sei sie bereit gewesen, darüber hinweg zu
sehen, dass auch er kinderpornographisches Material besaß und sich offensichtlich zunehmend nur
noch für Kinder interessierte. Obwohl der Patient seine pädophile Veranlagung seit seinem 17.
Lebensjahr wahrnahm, beging er erst mit 32 Jahren das erste Delikt. 15 Jahre lang war er mit
Pornographie und mehr oder weniger harmlosem Voyeurismus in öffentlichen Bädern
ausgekommen. Der Auslöser war vermutlich die terminale Erkrankung seiner Mutter. In dieser Zeit
war die Mutter bereits chronisch verwirrt und sprach ihn immer häufiger mit dem Namen seines
Vaters an. Die pädophilen Delikte scheinen eine Art Gegengewicht zu der zunehmend inzestuös
aufgeladenen Atmosphäre im Verhältnis zu seiner Mutter gewesen zu sein.
Beruflich war der Patient in keiner Weise erfolgreich. Er machte unqualifizierte Jobs und wurde oft
entlassen, weil man ihn nicht mehr brauchte. Er wurde oft herumgestupst und schien sich dafür zu
eignen, dass andere sich die Schuhe an ihm abputzten.
In der Therapie war schon früh von einem sexuellen Missbrauch die Rede gewesen, den allerdings
weder der Vater noch die Mutter, sondern eine Wahltante an ihm begangen hatte, als er 9 Jahre alt
gewesen war. Hatte er sich zunächst durch die oral-sexuellen Verwöhnungen der Tante aufgewertet
und fast erwachsen gefühlt, so kippte dieses Gefühl seiner Erinnerung nach genau in dem Moment,
als die Tante ihrerseits oral-genitale Stimulation von ihm verlangte. Er empfinde seit diesem
Zeitpunkt dem weiblichen Genitale gegenüber Grausen und Ekel.
Viel später in der Therapie stellte sich jedoch heraus, dass es ein noch früheres Übergriffserlebnis
mit der Mutter gab. Mit fünf Jahren sei er wegen einer Phimose am Penis operiert worden. Die
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Wunde hätte danach noch eine zeitlang eingepinselt werden sollen. Da er sich gegen das Einpinseln
durch die Mutter vehement sträubte, geriet der Vorgang mehrmals zu einer Vergewaltigungsszene.
Die Großmutter habe ihn mit Gewalt unter dem Küchentisch hervorgezerrt und festgehalten, worauf
ihn die Mutter in äußerst schmerzvoller Weise am Penis einpinselte.
All dieses Material, das sich noch beliebig erweitern ließe, erlaubte einige Hypothesen darüber, wie
die pädophile Perversion des Patienten entstanden sein mochte. Die sadomasochistischen
Inszenierungen mit der Mutter wiederholten sich in einer noch expliziter sexuellen Weise mit der
Wahltante. Der Vater war während dieser Zeit nicht nur physisch und psychisch abwesend, sondern
er war offenbar auch in der Mutter nicht als getrennter Dritter, der eine väterliche Funktion
ausfüllen könnte, repräsentiert. Daher die Verwechslung nicht nur der Personen, sondern der
Generationen, sobald krankheitsbedingt die kognitive Kontrolle nachließ. Kam der spätere Patient
einerseits von der Mutter nicht los, weil er unselbständig, ängstlich und anlehnungsbedürftig war, so
fühlte sich zugleich von ihr gefangen und geknebelt. Er musste jedoch seine Aggression in Zaum
halten, um nicht grässliche Vergeltung und Vergewaltigung zu provozieren Wie bei Patient A
schien es dann die Verkehrung von Passivität in Aktivität zu sein, die Wesentliches zur
Symptombildung betrug. Aus dem missbrauchten Kind wird ein Kindesmissbraucher.
Solche Hypothesen, wenn sie als Deutungen vorgebracht wurden, fanden bei dem Patient immer
eifrige Zustimmung, sie schienen ihn jedoch nicht wirklich zu erreichen. Der Patient schien
überhaupt fast allem zuzustimmen, was ich sagte. Er war unterwürfig. Er brachte bestätigende
Einfälle und oft wiederholte er meine Gedanken so, als ob sie ihm gerade eingefallen wären. Aus
manchen Bemerkungen des Patienten erkannte ich, dass er mir eigentlich zutiefst misstraute, v.a. als
er noch in der JA behandelt wurde, aber auch später. Erst gegen Ende seiner Weisungszeit, nach
sechs Jahren Therapie, rückte er damit heraus, dass er immer befürchtet hatte, ich würde für ihn
negative Berichte an das Gericht schicken, wenn er mir seine sexuellen Phantasien in vollem
Umfange mitteilte. Daher habe er alles immer etwas beschönigt und manche Sachen weggelassen.
Die eilfertige Zustimmung zu allen Deutungen erwies sich so als psychopathische Manipulation, die
mein Misstrauen zerstreuen und ihm eine frühzeitige Entlassung sichern sollte.
Hinter dem einfachen Lügen und Täuschen steckte aber noch etwas anderes. Es war eine paranoide
Angst, dass ich ihn – entgegen allen meinen Erklärungen und Versicherungen – beim Gericht
anschwärzen würde, um ihn weiter in Gefangenschaft zu halten. Er erlebte die Haft v.a. gegen Ende
immer mehr als Freiheitsberaubung und Vergewaltigung, und ich, der Therapeut, war ein Teil
dieses Systems. Auch nach der Entlassung brauchte es noch Jahre, um diese paranoiden Ängste und
die damit verbundene Abwehr durch Gefügigkeit und Imitation des Therapeuten durchzuarbeiten.
Es gab aber auch wiederholt Situationen, in denen er gewissermaßen den Spieß umdrehte. Er
wartete dann nicht, bis ich ihm die Tür zum Therapiezimmer öffnete, sondern öffnete sich selbst.
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Ohne zu fragen räumte er Unterlagen von meinem Tisch weg, während er bei anderer Gelegenheit
kaum physisch davon abzuhalten war, meinen Drucker zu reparieren, von dem er gehört hatte, dass
er defekt war. In all diesen Situationen merkte gar nicht, welche Grenzverletzungen er beging. Er
stellte Situationen her, in denen wir auf engste Weise verbunden erschienen und versuchte mich zu
zwingen, dabei mit zu spielen. In der Gegenübertragung fühlte ich mich dann überrannt und meiner
Freiheit beraubt. Es brauchte 100e Stunden, um in immer neuen Anläufen, die Wechsel in den
sadomasochistischen Rollen bewusst zu machen, die er durch sein Verhalten inszenierte.
Dieser Patient hatte eine maligne Perversion auf Borderline-Niveau, wobei er eine für diese
Patienten nicht untypische Variante der sadomasochistisches Persönlichkeit zeigte. Der Sadismus
ist hier versteckt und zeigt sich vornehmlich in den pädophilen Übergriffen. Die maligne Qualität
der Perversion ist angesichts der Delikte und des einschlägigen Rückfalls allerdings offensichtlich.
Die masochistischen Aspekte in seiner Charakterstruktur waren sowohl in seinem beruflichen
Lebensweg, als auch in der unterwürfigen Übertragung in der Therapie erkennbar. Er wurde im
Gefängnis auch mehrmals von anderen Insassen verprügelt, was anderen Insassen auch mit diesem
Delikt nicht passiert. Das Borderline-Niveau der Persönlichkeitsorganisation wird v.a. am Ausmaß
der paranoiden Ängste und dementsprechenden Übertragungen deutlich. Die Identität war
zumindest anfangs ziemlich diffus, er hatte keine stabilen beruflichen oder privaten Interessen,
keine langen Freundschaften, keine allgemeinen Wertvorstellungen. Die Abwehr war um die
Spaltung und die projektive Identifizierung konzentriert, wie es sich an den alternierenden
sadomasochistischen Übertragungsmustern zeigte. Im Verlauf der Therapie wandelte sich die
Perversion in eine benigne Form, d.h. pädophile Phantasien spielen immer noch eine gewisse Rolle,
jedoch können pädophile Impulse sicher kontrolliert werden. Der Patient hat eine gewisse
Beziehungsfähigkeit und eine begrenzte sexuelle Funktionsfähigkeit im Kontakt mit einer
erwachsenen Frau erlangt. Beruflich hat er sich immer noch nicht stabilisiert und ist häufig
arbeitslos. Aber noch ist die Behandlung auch nicht zu Ende. Der Patient hat sich entschieden, nach
Ablauf der Weisung die Therapie auf rein freiwilliger Basis fortzusetzen.
Resumé
Es sollte in diesem Vortrag gezeigt werden, dass das psychoanalytische Konzept der Perversion als
psychopathologische Struktur nach wie vor aktuell ist, dass es aber davon gewinnt, wenn man es
mit der psychoanalytischen Theorie der Persönlichkeitsorganisation verbindet. Perversionen können
einen relativ dissoziierten Platz im Rahmen einer neurotischen Persönlichkeitsorganisation
einnehmen, sie können sich aber im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation in mehr
oder minder großem Ausmaß auf die gesamte Persönlichkeit ausdehnen, wodurch einerseits
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perverse Charakterzüge entstehen (die auch als Perversität bezeichnet werden) und die sexuellen
Perversionen einen zunehmend malignen, aber trotzdem ich-syntonen Charakter annehmen.
Es wurde vorgeschlagen, die Perversionen in benigne, transgressive und maligne Formen zu
unterteilen, um den außerordentlich unterschiedlichen Implikationen verschiedener Perversionen für
die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen gerecht zu werden. Das Ausmaß, indem die
sexuelle Integrität anderer angegriffen wird, korreliert grob mit dem Ausmaß der Aggression, die
unverdaut in die Persönlichkeit eingebaut ist und damit mit dem Niveau der
Persönlichkeitsorganisation.
An Hand von zwei Fallbeispielen wurde weiters versucht zu zeigen, dass die Unterscheidung
zwischen benignen und malignen Perversionen sich auch in unterschiedlichen Entwicklungswegen
der Übertragung zeigt. Je größer die prägenitale Aggression und je vorherrschender die primitiven
Abwehrmechanismen sind, umso größer sind die paranoiden Ängste, die wiederum die
psychopathische Übertragung zur Abwehr benützen.
Literatur:
Blum. H. P. (1986): On Identification and its Vicissitudes. Int. J. Psycho-Anal., 67:267-276.
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Freud, S. (1905d): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW, 5, 27-145.
Hoyer, J./Borchert, B./Kunst, H. (2000): Diagnostik und störungsspezifische Therapie bei
Sexualdelinquenten mit psychischen Störungen. Verhaltenstherapie, 10:7-15.
Kernberg, O. F. (1992): Der Zusammenhang der Borderline-Persönlichkeitsorganisation mit der
Perversion. In: Ders.: Wut und Haß. Stuttgart: Klett-Cotta 1997.
Rohde-Dachser, Ch. (1979): Das Borderline-Syndrom. Bern – Stuttgart – Toronto: Verlag Huber
1991.
Fritz Lackinger
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