Forensische Psychiatrie für Juristen Sexualdelinquenz Basel, 11. Mai 2011 Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Sexualdelinquenz • Sexualdelikte = Gewaltdelikte • unterschiedlichste Motive: – – – – sexuell im engeren Sinnen Form von Gewalt Instrumentalisiert „neurotisch“, z.B. beim Sadismus, Exhibitionismus • Motive und Disinhibitoren (enthemmende Faktoren) • Konzept der Übergriffigkeit, Grenzverletzung • Erhebliche Belastung für die Gesellschaft, für das Zusammenleben der beiden Geschlechter Urteilsstatistik CH Sexualdelikte 1984 - 2006 1'000 Sexuelle Handlungen mit Kindern Sexuelle Handlungen mit Abhängigen 100 Sexuelle Nötigung Vergewaltigung Schändung 10 Exhibitionismus (in Kraft: 01.10.1992) Pornografie (in Kraft: 01.10.1992) 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02 20 04 20 06 1 Sexuelle Belästigungen (in Kraft: 01.10.1992) Sexualität Normalität Normvariante Störung Kriterien der Störung: • • • • Leidensdruck soziale Beeinträchtigung Fixierung / Einengung Delinquenz Krafft-Ebing; Psychopathia Sexualis 1886 Pädophilie nach DSM-IV-TR a. b. c. ...6 Monate, wiederkehrende, intensive sexuell erregende Fantasien, sexuelles Verlangen oder Verhalten, beinhaltend sexuelle Handlungen mit einem präpubertären Kind... ...Person hat entsprechend diesen Verlangens gehandelt oder dieses verursacht Leidensdruck oder interpersonelle Schwierigkeiten... ...Person ist mind. 16 jährig und mindestens 5 Jahre älter als das in Krit. a). involvierte Kind. F65 Störungen der Sexualpräferenz • • • • • • • • F65.0 F65.1 F65.2 F65.3 F65.4 F65.5 F65.6 F65.8 Fetischismus fetischistischer Transvestitismus Exhibitionismus Voyeurismus Pädophilie Sadomasochismus multiple Störung der Sexualpräferenz sonstige Störung der Sexualpräferenz – Frotteurismus – Nekrophilile – Sodomie • F65.9 nicht näher bezeichnete Störung der Sexualpräferenz nicht problematische und problematische Paraphilien • nicht problematische Paraphilien: – Fetischismus – Transvestitismus • eher problematische und gefahrvolle Paraphilien: – – – – – – Voyeurismus Exhibitionismus Frotteurismus Sexueller Masochismus Sexueller Sadismus Pädophilie Fiedler 2004 Glossar der Paraphilien I • Akrotomophilie: amputierte Gliedmassen • Algolagnie: Synonym für Sadomasochsismus (aktive A. für Sadismus, passive A. für Masochismus) • Bestialismus, Bestialität, Bestiophilie: Synonym für Sodomie (Tiere) • Ephebophile: „Jünglingsliebe“ • Erotographomanie: Schreiben von erotischen Texten • Erotophonie: Telefonanrufe • Exhibitionismus: Entblössen • Fetischsimus: lebloses Objekt • Flagellantismus: Geisselung • Formicophilie: kleine Tiere • Frotteurismus, Frottage: Reiben an anderen Personen • Gerontophilie: deutlich ältere Partner Glossar der Paraphilien II • • • • • • • • • • • • Geruchsfetischismus Hyphephilie: Samt, Seide und andere Stoffe Hypoxiphilie: Drosseln, Plastiksack etc. Kleptolagnie: Stehlen zur sexuellen Erregung Klismaphilie: Klistiere, anales Duschen Koprophilie, Koprolagnie: Kot Koprophemie: Obszönes Sprechen in Gegenwart des anderen Geschlechts zur sexuellen Erregung Morphophilie, synonym Partialismus: nur ein bestimmter Körperteil löst Erregung aus Narratophile: Erzählen obszöner Geschichten Nekrophilie: Leichnam Olfaktophilie: Gerüche, Düfte Pädophilie: Kind Glossar der Paraphilien III • • • • • • • • • Pictophilie: Bilder Pollutionismus: Beschmutzen weiblicher Kleider mit Samen Psycholagnie: Träume und Fantasien Pygmalionismus: Statue Pyrolagnie: Feuer Stigmatophilie: Tätowierungen, Piercings, body-morphing Urolagnie, Urophilie: Urin Vomerismus: Erbrechen Voyeurismus: Beobachten (nicht gleich Stalking!) zeitlicher Beginn von Paraphilien Abel 1990 Theorie zur Entstehung von sexueller Straffälligkeit Psychische Funktionen: Trait Motivation Gefühle Verhaltenssteuerung Klinische Symptome: State • emotionelle Probleme • soziale Schwierigkeiten • deviante sexuelle Stimulierbarkeit Wahrnehmung Gedächtnis • kognitive Verzerrungen Hirnentwicklung Biologische Prädisposition: • genetisch • evolutionär strafbare sexuelle Verhaltensweisen Oekologische Nische (proximal und distal): • soziale und kulturelle Umgebung • persönliche Verhältnisse Ward 2006 Läsions-Studien im Tierversuch Banczerowski et al., J. Endocrinol. Invest. 2003 Homosexuelle Pädophilie und funktionelle Netzwerke - fMRIFallstudie. Dressing H. et al. Fortschr Neurol Psychiat 2001 Vom Opfer zum Täter • ca. 60 % der Sexualstraftäter waren selber in der Kindheit oder Jugend Opfer von Sexualdelikten • Geschlechterverhältnis pädosexueller Opfer: – Mädchen : Knaben = 80 : 20 • ungünstige Auswirkung auf die Entwicklung von: – Persönlichkeit (Selbstsicherheit, Vertrauen, Grenzen…) – Sexualität (diffuse Konzepte, Promiskuität, Intimitätsdefizit…) • Resilienz Prävalenz pädosexueller Devianz I % Männer n = 99 22.2 % Frauen n = 180 2.8 Fantasien 4.4 1.1 Masturbation zu Fantasien Wunsch nach Sex mit Kind 5.6 0 3.3 0 sex. Attraktion Briere 1996 Prävalenz pädosexueller Devianz II Varianzanalyse für sex. Interesse an Kindern: + niedriges Selbstwertgefühl + niedrigere Sozialisation + mehr sexuelle Konflikte + höhere sexuelle Impulsivität + niedrige Attraktivität auf adäquate Sexualpartner + vermehrter Konsum konsensueller Pornographie Briere 1996 Tätertypologien Vergewaltiger Sadismus Sexualität als Mittel der Aggression Dissozialität Erfüllen eines normalen Bedürfnisse s mit illegalen Mitteln Kompensation von Unzulänglichkeiten Psychotiker Sexueller Kindsmissbrauch Ersatzhandlungen Sexuell Dissoziale unerfahrene Jugendliche Neigungstäter Intelligenzgeminderte Nebenströmung Hauptströmung „Kernpädophile“ Der impotente Exhibitionist • will durch exhibitionieren schockieren, beeindrucken • beweist sich dadurch immer wieder seine Männlichkeit, seine Potenz • Problem für ihn: Gefahr der Verhaftung, kurzer Moment der Erregung • Konsequenz: Riesige Serien von kurzen Straftaten, cave Progredienz der Interaktion mit den Opfern, pervers süchtige Entwicklung Der unreife Pädophile • oft jugendlich, unreife Persönlichkeit • diffuse sexuelle Orientierung • Selbstwahrnehmung als sexuell unattraktiv, inkompetent • sucht „gleichberechtigte“ Beziehung zu Kindern Der Kernpädophile • keine alternative Quelle der sexuelle Erregung und Befriedigung • massive Abwehr: Bagatellisierung und Rechtfertigung • lebenslängliches Risiko für Delinquenz • intensive (sexuelle) Beschäftigung mit Kindern, Sextourismus, Literatur, Selbsthilfegruppen • sozial zurückgezogen oder Doppelleben • instrumentalisiert adulte heterosexuelle Kontakte für Kontakte zu Kindern Der opportunistische Vergewaltiger • • • • • • „es bietet sich eine günstige Gelegenheit..“ Intimitätsdefizit, fehlende klare Grenzen Disinhibitoren spielen eine grosse Rolle gesellschaftlich oft bagatellisiert sexuelle Gewalt in Beziehungen cave: pervers süchtige Entwicklung durch Konditionierung auf Gewalt Der dissoziale Vergewaltiger • kurzfristige, unmittelbare Befriedigung impulshaft auftretender Bedürfnisse, auch sexueller • polytrope Delinquenz, multiple Vorstrafen • keine Empathie, rücksichtslos • Eskalation der Gewalt • wegen fehlenden Unrechtsbewusstseins hohe Rückfälligkeit • cave: „white collar psychopath“ Der rachsüchtige Vergewaltiger • will den Frauen gegenüber seine Potenz beweisen • sexuelle und physische Gewalt • oft Progredienz der Gewaltanwendung • „overkill“ • fliessender Übergang zum Sadisten Perversion Durch die Perversion wird die Wut in einen Sieg über jene verwandelt, die ihn unglücklich machten, denn in der Perversion wird ein Trauma zum Triumph. Stoller 1998 „Perversion“ in der klassischen Psychoanalyse • Freud - Fetischismus 1927 und Spaltung des Ichs im Abwehrvorgang 1940: – als Kind „polymorph pervers“ – „Fixierung“ auf frühen Entwicklungsstadien in Folge „perverser Fehlentwicklung“ – Fehldeutung von Freud‘s klassischer Libidotheorie: nicht evolutionär zielgerichtete Sexualität – Fetisch als wichtigstes Definitionselement der Perversion (Fetisch als Übergangsobjekt bei Kastrationsangst) „Perversion“ nach Giese 1962 • • • Dialektik zwischen Beziehungswunsch und sexuellem Begehren „Verfehlen der Wir-Bildung“ Leitsymptome: 1. 2. 3. 4. 5. 6. Verfall an die Sinnlichkeit Zunahme der Frequenz bei Abnahme der Satisfaktion Zunehmende Promiskuität und Anonymität Ausbau von Phantasie, Praktik und Raffinement Süchtiges Erleben Periodizität der dranghaften Unruhe Progredienz-Zeichen nach Schorsch 1988 • Periodische Akzentuierung eines dranghaft gesteigerten sexuellen Verlangens mit innerer Unruhe • Starke sexuelle Phantasiebesetzung • Progression im Längsschnitt • Kürzere Abstände zwischen den entsprechenden Manifestationen • Signalhafte Auslöser der sexuellen Handlungen • Autoerotische Fixierung mit hoher Masturbationsfrequenz • Wunsch nach Behandlung • „pervers-süchtige Entwicklung“ „Spaltung“ nach Klein 1946 • Spaltung: – Ausleben heftiger Affekte nur möglich bei Ausblendung (Verleugnung) eines Teiles der Realität (da heftige Affekte nie realitätsangemessen) – Projektion von alten, verletzenden und enttäuschenden Objekterfahrungen (Objektrepräsentanzen) auf Andere > Ausleben aggressiver Affekte in intensiver Form • später Kernberg (1967): Abwehrmechanismus der Spaltung als wesentliches Merkmal der Borderline-Persönlichkeitsstörung Selbsterleben • Ich-synton: – Verhalten oder Erleben, mit welchem sich eine Person identifizieren kann – kann auch Ausdruck einer schwerwiegenden Psychopathologie sein, z.B. bei paranoider Schizophrenie oder wahnhafter Depression • Ich-dyston: – Verhalten oder Erleben, das von einer Person als nicht ihr zugehörig wahrgenommen wird; fremd, störend, Leiden verursachend – z.B. Tic-Störung, Zwang, Depression Der Sadist • tiefgreifende Störung in der Persönlichkeitsentwicklung • Umkehrung der erlebten Ohnmacht in der Tat in Macht • Stabilisierung des Selbsterlebens durch subjektiv erlebte Einzigartigkeit in der Abartigkeit • Problem: Wie kann der Sadist sein Bedürfnis legal ausleben? Der Einfluss von Pornographie bei der Entstehung von sexueller Aggression Prädisposition für Sexualstraftaten beeinflusst die Wirkung von Pornographie auf sexuelle Aggression am stärksten Ohne entsprechende Prädisposition scheint die Wirkung von Pornographie lediglich von vorübergehendem Einfluss Pornographie hat einen robusten Effekt auf proximale Faktoren sexueller Aggression Rückfälligkeit von Konsumenten illegaler Pornographie II Pornographie Pornographie und Kindsmissbrauch 6.0% sexuelle Handlung mit Kindern 0.3% 0.8% Rückfall Schändung 0.0% Angriffe auf sexuelle Freiheit, sexuelle Nötigung 0.5% 0.0% 0.0% sexuelle Belästigung 0.1% 0 1 2 3 4 5 6 7 N =% 4‘658 Dissertation A. Goller, Universität Basel biologische Therapieverfahren • Chirurgie – (stereotaktische Neurochirurgie) – Kastration • Medikamente – – – – Nutzung von Nebenwirkungen von Psychopharmaka SSRI (Selektive Serotonin Reuptake Inhibitoren) Androcur LHRH-Agonisten Testosteron-Suppression mit Goserelin Mittlere Testosteronkonzentration (nmol/l) 18 Goserelin (Zoladex®) 3,6 mg (n=42) Goserelin (Zoladex®) 10,8 mg (n=38) 16 14 12 10 8 6 4 Obergrenze des Kastrationsbereichs 2 0 0 4 8 12 16 20 24 26 28 32 36 40 44 Zeit (Wochen) Dijkman et al, 1995 Wirksamkeit der Sexualstraftäterbehandlung Kognitive Verhaltenstherapie Verhaltenstherapie antiandrogene Medikation spezifische Sexualstraftäterbehandlung ambulantes Setting nur Adoleszente nur Erwachsene Vergewaltigung ausserfam. Kindsmissbrauch Exhibitionismus freiwillige Teilnahme Behandlung regulär beendet 0 1 2 3 4 5 OR Schmucker und Lösel 2008 6 Psychotherapie Voraussetzungen • ausreichende Intelligenz / kognitive Leistungsfähigkeit • Introspektionsfähigkeit • Mindestmass an Motivation / Problembewusstsein • Lebensführung, welche PT erlaubt Therapieform und -stil • Inhalte müssen für den Patienten relevant sein – sozio-kulturellen Hintergrund berücksichtigen • Inhalte müssen für den Patienten verständlich sein • Positive Verstärkung! – Änderungen in Einstellung und Verhalten müssen sich konkret und unmittelbar positiv auswirken • Stil: Herausfordernd und engagiert – Gratwanderung zwischen Unterhaltung und Langeweile Therapieprogramm Beurteilung Vertrag Deliktrekonstruktion Opferempathie RP Fantasie Deliktkreis Gruppentherapie Rückfallprävention Risikobeurteilung Opferempathie Phantasien Stressmanagement individuelle Prädisposition Problematischer Internetgebrauch Deliktrekonstruktion Deliktrekonstruktion • Life-graph • Story-board • Footsteps footsteps Konzept des sexuellen Missbrauchs Prädisposition Scham / Schuld nicht geeignete / illegale Fantasien kognitive Verzerrungen Selbstbefriedigung Missbrauch Targetting Vorbereitung: - Opfer - Situation - Drittpersonen Fantasie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Lernen, dass positive, nicht deliktbezogene, nicht missbräuchliche Fantasien ein schöner und wichtiger Teil des Lebens sind. Realismus (Realitätsbezug) in der Fantasie. Fantasie-Inhalte, -Themen. Auslöser für Fantasie (Stimuli). Lernen, dass Fantasie beeinflussbar ist. Geeignete / nicht geeignete Fantasien. Rolle der Fantasie bei Delikt. > Fantasiemodifikation > verdeckte Sensibiliserung (Opferempathie, eigene Viktimisierung, Strafverfolgung) Risikoeinschätzung Risikofaktoren Veränderungsprozess Problem erkennen Problem verstehen Sprache Denken Gefühle Einstellung langfristiges Verhalten Relapse Konzept Behandlung abstinent, Vertrauen nicht zu delinquieren, Erwartung erfolgreich zu sein + SID geeignetes Coping + high risk AVE ext. Fakt. int. Fakt. (kontrollierbar) (Scham, Schwäche) SID = seemingly irrelevant decision AVE = abstinence violation effect Rückfall