Hausarbeit Störungen der Sexualität: Paraphilie und Perversion lsabel Bordin Universität des Saarlandes Seminar: Borderline - Persönlichkeitsstörung Wutke WS 2005-2006 Wintersemester 2005/2006 Saarbrücken, den 05. Februar 2006 1 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung Seite l 2. Sexuelle Symptome, die bei Borderline – Patienten beschrieben werden Seite 4 3. Paraphilie und Perversion Seite 6 4. Sadismus und Borderlinestruktur Seite 10 5. Dekompensation der erotischen Abwehr Seite 11 6. Über die Rolle des sexuellen Mißbrauchs und anderer Traumen für späte paraphile Symptome Seite 12 Literaturnachweis Seite 14 Anhang: Die Skalen der SCL 90 - R Seite 15 2 1. Einleitung Die Borderline - Persönlichkeitsstörung wird im DSM-IV als spezifische Persönlichkeitsstörung beschrieben, mit Symptomen von Identitätsstörungen, gesteigerter Selbstunsicherheit und Instabilität von Gefühlen und Interessen, die sich nachteilig auf Berufsleben, soziale und sexuelle Beziehungen auswirken und oftmals von erhöhter Reizbarkeit, Angstepisoden, Wut- und Zornausbrüchen und/oder von impulsiven Handlungen begleitet sind. Die Symptome der Sexualität spielen bei klinischen Erörterungen über die Borderline- Persönlichkeitsstörung eine eher untergeordnete Rolle. Vielfältig beschrieben werden hingegen Affekte, Objektbeziehungen und allgemeine Impulsivität. Die Sexualität der Borderline- Persönlichkeitsstörung wird in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSMIV nur in der Aufzählung der Symptome unter den fünf Möglichkeiten erhöhter Impulsivität erwähnt. Wie bei allen anderen Affekt - Symptomen tritt der Beziehungsaspekt des Sexuellen in den Vordergrund. Daher wird im Folgenden weniger auf die Funktionsstörungen der Sexualität eingegangen, als vielmehr auf die Paraphilien. Paraphilien nennt man wiederkehrende, intensive sexuell erregende Phantasien, Verhaltenstendenzen oder Handlungen, die sich auf unbelebte Objekte, erfahrene: oder anderen zugefügtes Leid, auf Partner, andere Personen oder Kinder beziehen „Die Hauptmerkmale einer Paraphilie sind wiederkehrende intensiv sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sich im allgemeinen auf 1. nichtmenschliche Objekte, 2. das Leiden oder die Demütigung von sich selbst oder seines Partners oder 3. Kinder oder andere nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen beziehen und die über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten auftreten." (DSM IV) 3 2. Sexuelle Symptome, die bei Borderline - Patienten beschrieben werden Dulz und Schneider (1995, 1996) beschreiben eine „polymorph - perverse Sexualität" als typisch für die Borderline Persönlichkeitsstruktur. Im Gegensatz dazu stehen die klassischen, viel konstanteren Muster einer umschriebenen einheitlichen Perversion - etwa der Vorliebe für bestimmte Wäschestücke (z.B. Strumpf- Fetischismus). Als viel typischer für unsere Zeit wird diese polymorph - perverse Sexualität auch von Fogel und Myers (1991) in ihrem Buch „Perversions an Near-Perversions" beschrieben. Sexuelle Hemmung, wie man sie von vielen neurotischen Patienten als ein allgemeines Begleitsymptom kennt, findet man besonders bei histrionischen Persönlichkeitsstörungen mit einer Borderlinestruktur. Die histrionische Persönlichkeitsstörung bezeichnet ein Störungsbild, bei dem exzentrische, dramatische und expressive Verhaltensweisen des früher sogenannten hysterischen Charakters vorherrschen. Dulz und Schneider bevorzugen allerdings statt „polymorph - pervers" den Ausdruck „anhedonistisch - multivariant". Sie bringen so zum Ausdruck, dass die gelebte Sexualität ihrer Patienten zwar oft ohne körperliche Funktionsstörung im eigentlichen Sinne ablaufe, aber Intimität und Tiefe der Gefühle vermeide. Da die Patienten dann aber doch unter dem Mangel an Beziehung leiden und trotz unzähliger Kontakte über Jahre keine wirkliche Beziehung aufbauen können, hat ihr Genuss etwas Unbefriedigendes. Wrye und Welles (1994) haben in ihrem Buch über erotische Übertragung und Gegenübertragung bei Borderline - Patienten erörtert, warum wahre Intimität diesen Patienten so gefährlich erscheint. „Aufgrund von Störungen in ihrer Frühentwicklung perpetuierten sie alte Phantasien und Impulse, die Intimität zur Gefahr für die Kohäsion des Selbst werden lassen und gleichzeitig stark destruktive Impulse gegen andere mobilisieren." (Wolfgang Berner) 4 In „Aggression in Personality - Disorder and Perversion" (1992) äußert sich Kernberg am deutlichsten zum Zusammenhang zwischen der Borderlinestruktur und perversen Symptomen. Er führt 5 Schweregrade der perversen Symptombildung an: 1. Die normal - neurotische Ebene: Perverse Anteile sind zumindest gelegentlich integraler Bestandteil des Liebesspiels. 2. Die neurotisch -perverse Ebene: Eine organisierte umschriebene perverse Symptombildung ersetzt wichtige Teile heterosexueller Begegnung. 3. Die Borderline -perverse Ebene: Eine konstante relativ umschriebene Perversion ist eines der Spaltprodukte der Borderline Persönlichkeitsstruktur. 4. Eine malign - narzißtische Ebene: Schwere sadomasochistische Symptombildungen im Zusammenhang mit der Struktur des „malignen Narzißmus", bei dem Sadismus und paranoide Einstellungen Ich - synton sind 5. Eine asexuelle Ebene: Völlig fehlende sexuelle Antriebe bzw. polymorph perverse Phantasiebildungen bei einer Borderline- Persönlichkeit, die beherrscht ist von Vorstellungen tiefer Verletztheit und unaufhörlicher Rache - hier soll nach Kernberg (1991, S. 135) eine erotische Stimulierung durch liebevolle Pflege des Säuglings durch die Mutter völlig ausgeblieben sein. Wolfgang Berner ergänzt noch um eine weitere Ebene: 6. Eine Borderline paraphile Ebene: Eine Borderline Persönlichkeitsorganisation produziert eine Fülle unterschiedlicher wechselnder „Perversitäten" 5 3. Paraphilie und Perversion Es ist sinnvoll, in Zukunft zwei Begriffe dafür zu verwenden, was in der ICD-10 als „Störung der Sexualpräferenz" beschrieben wird: Auf der einen Seite die Störung, die Freud mit dem Begriff Perversion belegt hat und bei der Spaltung und Agieren neben einer noch überwiegend neurotischen Struktur mit viel Verdrängung und Hemmung beobachtet werden kann. Auf der anderen Seite aber Störungen, bei denen Spaltung ganz im Vordergrund steht, und eine Sexualität ohne sonderliche Funktionseinschränkung völlig in den Dienst aggressiver Abwehren gerät. > Perversion für die länger bekannte Pathologie > Paraphilie für die heute häufiger beschriebene Pathologie, wo mit zunehmend deutlicherer Borderline - Struktur auch massiv aggressiv gefärbtere perverse Symptome anzutreffen sind, die eine (zum Teil auch unbewußte) aggressivere Verweigerung, Partnerinteressen zu wahren enthält. Die folgenden Beispiele sollen veranschaulichen, wie unterschiedlich „perverse" Symptome bei Borderline - Patienten zu beurteilen sind. In den meisten Fällen, in denen eine Borderlinestruktur vorliegt, sind aber kaum, oder nur vereinzelt, paraphile Symptome erhebbar. a.) Der neurotisch pädophile Gymnasiallehrer Der Vierzigjährige sucht psychoanalytische Behandlung nicht ganz freiwillig auf, sondern weil er pubertierende Schülerinnen so auffällig an Busen und Po berührt hatte, dass es zu Interventionen der Eltern kam, zu einem Disziplinarverfahren und zu einer Versetzung, die seinen weiteren direkten Kontakt mit Kindern verhindern sollte. Erst jetzt wird ihm ein zunehmendes Phantasieren und Träumen von pubertierenden Mädchen bewußt, ein unerfülltes Sehnen nach einer Begegnung mit dem reinen Körper des Kindes, der etwas Erlösendes für ihn habe. Er ist mit einer dominanten, tüchtigen Frau verheiratet, hat selbst zwei Kinder, die er einfühlsam liebt, und versteht gar nicht, warum er pädophil „veranlagt" sein soll. Er gibt an, er habe guten, bis vor kurzem auch sexuell befriedigenden Kontakt zu seiner Frau, und benötigt einige Zeit, um einräumen zu können, dass er sich von ihr unterdrückt fühle 6 wie seinerzeit auch von der Mutter, die seinen Vater, einen kleinen Mann mit einer entstellenden Verkürzung des rechten Armes, wohl nicht richtig geachtet habe. Trotz aller Idealisierung der Elternbeziehung und auch des eigenen Familienlebens wird die einschränkende Angst vor der als äußerst mächtig erlebten Mutter deutlich. Bei Nachfragen zeigt sich, dass die Sexualität zwischen den Ehepartnern etwas ritualisiert und krampfhaft ist. Zu Beginn der Beziehung sei der Patient zunächst sehr gehemmt gewesen, und er habe längere Zeit benötigt, um sich seiner Frau körperlich nähern zu können.. Es fällt auch auf, dass er im Vorspiel stark oral und anal fixiert ist. Wie häufig bei Pädophilen ist Hautkontakt und Streicheln mit den Händen fast erregender als der Geschlechtsverkehr. Sich selbst erlebt der Patient als nicht männlich und durchsetzungsfähig genug. Eigentlich habe er Mathematiker werden wollen, habe sich aber eine Universitätskarriere nicht ganz zugetraut. Dann habe er in dem, was zunächst als „Ausweichen " gedacht gewesen sei (der Unterricht am Gymnasium), erstaunlich starke Befriedigung erlebt. Besonders die Bewunderung der kleinen Mädchen, die in so anstrahlen könnten, habe ihn immer neue pädagogische Wege finden lassen, und er sei ein beliebter Lehrer gewesen. Das rasche Ertasten, welches wie ein Einverleiben wirkt, hat deutliche Ersatzfunktion und tröstet über eine Unerfülltheit in der Erwachsenenbeziehung hinweg. Der Patient fühlt sich unter dem Druck, Ansprüche einer mächtigen Frau erfüllen zu müssen. Wirkliche Intimität kann er da wie dort nicht erreichen, aber das Zarte, Unschuldige der Kinder entschädigt ihn etwas in seiner Bedürftigkeit, da er in der Beziehung zur Erwachsenen genau dieses Zarte nicht finden kann und daher einsam bleibt. b.) Der Frotteur und obszöne Telefonanrufer - ein Borderline - Patient Myers (1991) beschreibt einen Patienten, der von seinen aggressiv - sexuellenfast suchtartig auftretenden Impulsen befreit werden konnte, nachdem er ihre Bedeutung verstanden hat. Der Patient - er habe überdurchschnittlich hart in der Administration eines multinationalen Konzerns gearbeitet und sei dabei ziemlich erfolgreich gewesen kommt auf Intervention seiner Frau zur Analyse. Sonst in der Beziehung eher etwas zu distanziert, mißbrauche er sie physisch, wenn er betrunken sei. Wie sein Vater sei er ein periodischer Trinker. Zwei weitere Symptome berichtet er selbst: er reibe seinen Körper in überfüllten U- Bahn -Zügen scheinbar zufällig an Frauen, bis er zur Ejakulation komme, und tätige „anonyme " Telefonanrufe, bei denen er Frauen zunehmend in obszöne 7 Gespräche verwickle, was ihn ebenfalls bis zum Orgasmus erregen könne. Aus seiner Lebensgeschichte berichtet er, dass er das dritte von fünf Kindern einer eher ärmlichen Familie sei und ab dem zehnten Lebensjahr selbst habe arbeiten müssen, um seine Ausbildung mitzufinanzieren, und dass er als Junge eine erotische Beziehung zu einem Gleichaltrigen gehabt habe, wo es auch zu gegenseitiger Masturbation gekommen sei. Dies und spätere Phantasien, er könne von einem Mann zu oralem Sex gezwungen werden, hätten zu einer Unsicherheit in seinem männlichen Identitätsgefühl beigetragen. Nach flüchtigen sexuellen Beziehungen, die Intimität nicht hätten aufkommen lassen, habe er seine Frau kennengelernt, mit der es nach anfänglichen Schwierigkeiten zunächst zu befriedigender Sexualität gekommen sei. Wirkliche Liebe schien er aber für seinen dreijährigen Sohn zu empfinden. Als er vor ihm seine Trunkenheit habe nicht verbergen können, habe er sich massiv geschämt. Über alle anderen Menschen spricht er voll Bitternis, mit Vorwürfen und Enttäuschung. Im Laufe von drei Jahren zeigt sich, dass der Patient sich auch wegen einer angeborenen Blindheit auf einem Auge und einer leichten Wirbelsäulendeformation von Anfang an gegenüber seinen Geschwistern benachteiligt gefühlt hat - ein Gefühl, dass durch ein Ausgeschlossenwerden aus dem Schlafzimmer der Eltern anläßlich der Geburt seines jüngsten Bruders (als der Patient vier Jahre alt gewesen ist) traumatisch verstärkt wurde. Eine weitere Intensivierung erfuhr dieses Gefühl durch Sexspiele seines älteren Bruders, der sich im Bett von hinten an ihn gepreßt und so befriedigt habe. In der Analyse des frotteuristischen Agierens in der U - Bahn wird die bei Perversionen so drastische Umkehrung von passiv Erlittenem in aktiv Kontrollierendes deutlich. Der Patient, der sich als Opfer des älteren Bruders fühlte, macht andere zu Opfern und schützt sich wieder vor weiterer Aggression durch die Verlegung an einen öffentlichen Ort. Die Borderline - Struktur dieses Patienten ist auch an seinen Stimmungsschwankungen, seinen Impulsen zu trinken und sich selbst zu schädigen, sowie seiner brüchigen Identität zu erkennen. Der Zusammenhang mit traumatischen Erlebnissen wird klinisch ganz deutlich und unübersehbar. 8 c.) Der malign - narzißtische Sexualmörder Wir befinden uns nun im Strukturbereich der „Low - Borderline - Organisation", also einer schweren Störung, die schon an der Grenze zum psychotischen Bereich liegt. Die folgende Darstellung zeigt die aggressive Verarbeitung von traumatisch Erlebtem im Sadismus, sowie die Wichtigkeit der projizierten Selbst - und Objektanteile für die Symptomatik. Es handelt sich um einen Patienten, der in einer Einrichtung der Justiz therapiert worden war, nachdem er 20 Jahre zuvor eine junge Frau mit unzähligen Messerstichen getötet hatte. Nun, nach der Tötung eines 11jährigen Jungen (dem Sohn der Lebensgefährtin) mit Messerstichen in ganz ähnlicher Abfolge wie bei der Frau, war er von der Polizei gejagt und erschossen worden. Die Sexualität mit der Lebensgefährtin schien äußerlich normal gewesen zu sein. Bei genauerem Nachfragen stellte sich allerdings heraus, dass die Frau (die Lebensgefährtin des Patienten) trotz hoher Frequenz anorgastisch geblieben war und darunter gelitten hatte, dass dieser Mann ständig narzißtische Befriedigungen benötigt habe, ohne auf sie Rücksicht nehmen zu wollen, ja sogar oft verächtlich über ihren Körper gesprochen habe. 14 Tage vor dem Delikt hatte er in hypochondrischer Weise körperliche Beschwerden geäußert und sich der Sexualität mit der Frau entzogen. Immer öfter habe er sich den ganzen Körper rasiert, dann vor dem Spiegel masturbiert und sich gleichzeitig mit einer Selbstauslösekamera fotografiert. Eines der Bilder, das knapp vor der Tat fotografiert wurde, zeigt ihn als Frau verkleidet, stark geschminkt, den Hals in der Schlinge, die Zunge herausgestreckt wie beim Ersticken. Der Therapeut lieferte dazu die Information, dass dieser Patient immer wieder von dem schrecklichen Erlebnis gesprochen habe, das ihm als Achtjähriger widerfahren sei, als man ihn in die Werkstadt des Vaters geschickt habe, wo er diesen erhängt habe vorfinden müssen. Er sei voller Hass auf die Mutter gewesen, die er verdächtigt habe, den Tod des Vaters durch eheliche Untreue mitverursacht zu haben und die ihn vor diesem schrecklichen Erlebnis - den Vater in der Schlinge sehen zu müssen - nicht bewahrt habe. Der gute Vater wird auf der Fotografie in einer skurril - erotischen Inszenierung durch die böse Mutter ersetzt. So soll das erschreckende Erlebnis in ein lustvolles umgewandelt werden - die traumatische kindliche Niederlage in einen Triumph. 9 Es kam zu dieser narzißtischen Selbstinszenierung, nachdem der spätere Täter eine äußere Niederlage hinnehmen musste: nach anfänglichen Erfolgen in der Schule, in der er die Meisterprüfung nachmachen sollte, versagte er plötzlich und bestand eine vorgeschriebene Prüfung nicht. Zu einer weiteren Beschämung kam es, als der elfjährige Sohn der Lebensgefährtin früher aus der Schule kam und seinen Stiefvater bei einer seiner merkwürdigen sexuell- masturbatorischen Fotoaufnahmen entdeckte. Der nackte Mann stach wie von Sinnen mit einem großen Messer auf das Kind ein: in den Halsansatz, die Herzgegend und das Genitale. Einen Daumen löste er aus dem Gelenk. Internalisierte Objektbeziehungen spielen in den narzißtischen Masturbationsphantasien des Mannes eine zentrale Rolle. Teile von Vater und Mutter werden zu lächerlichen, miteinander und mit Selbstanteilen verschmolzenen Karrikaturen. Mit der Tötung des Kindes werden, ähnlich wie auf dem Foto, Selbst - und Objektanteile erregenden Inhaltes ohne deutliche sexuelle Differenzierung vernichtet. 4. Sadismus und Borderlinestruktur Sadistische Phantasien spielen als Ersatz für eine schutzbietende Beziehung in der Frühentwicklung vieler späterer Sexualmörder eine große Rolle Benjamin (1996) hat andererseits hinsichtlich der Entwicklung zur antisozialen Persönlichkeit darauf hingewiesen, dass es Situationen gibt, in denen von der Person, die eine „sichere Basis" für die Entwicklung einer Bindung bieten soll, gleichzeitig massive Bedrohung ausgehen kann, und dass dann ein „desorganisierter Bindungstyp" entsteht, der starkes Anklammern mit Feindseligkeit verbindet. Auch in Fällen, wo ein nicht so sehr „vermeidender Bindungstyp" entsteht, kann die Kombination von Anklammern und Feindseligkeit oft nur in Form einer sadistischen Erotisierung bewältigt werden. 10 In Beobachtungen von Burges, Hartmann et al. (1986) an Sexualmördern mutet ein jahrelanges einsames Phantasieren von erotisierter Vernichtung in vielen Varianten allerdings noch narzißtischer an, als dies bei sexuellem Sadismus sonst der Fall ist. „Die die narzißtische Frustration abwehrenden erotisierten Rachephantasien werden zunächst konflikthaft erdacht und später bruchstückhaft zur weiteren Belebung des Phantasierens in Szene gesetzt." (Wolfgang Berner) 5. Dekompensation der erotischen Abwehr Schorsch und Becker (1977) haben den Wechsel von der Paraphilie (in der Aggression noch durch Libido gebunden ist) zum aggressiv - tödlichen Sadomasochismus als Dekompensationsprozeß beschrieben; als den Zusammenbruch einer Abwehrstruktur angesichts zunehmender Frustration. Die Entwicklung zur Dekompensation beim zuletzt beschriebenen Patienten wird durch die Beschreibung eines weiteren Selbstauslöserfotos besonders deutlich: es zeigt einen glatt rasierten Unterleib mit erigiertem Penis, an den er eine große Schere so angelegt hat, als ob sie sein Glied gleich abschneiden würde. Diese „Als-ob-Kastration" stimulierte ihn offensichtlich zum Orgasmus. Zum Entstehungszeitpunkt dieses Fotos hatte der Patient die Kohabitation mit der Frau nicht mehr vollzogen und durch Masturbation ersetzt. Es ist denkbar, dass er sein Versagen damals „nur" als Kastration, also als partielle Behinderung und nicht als existentielle Bedrohung erlebt hat und sich das Gefühl des Kastriertseins nur auf die Beziehung zur Frau bezog, der er immer etwas schuldig blieb. 11 6. Über die Rolle des sexuellen Mißbrauchs und anderer Traumen für späte paraphile Symptome. Figueroa, Silk et al. veröffentlichten 1997 eine Untersuchung an 79 Personen, von denen 45 nach einem standardisierten Verfahren (Family Experience Interview) als sexuell mißbraucht eingestuft wurden. In dieser Untersuchung waren sogar 79% der Personen mit einer Borderline - Diagnose sexuell mißbraucht worden, wobei der Mißbrauch bei den Betroffenen im Vergleich zu den Nicht- Betroffenen zu einer deutlichen (signifikanten) Vermehrung aller möglichen Symptome führte, wie sie im SCL-90 R erfaßt werden. (Siehe Anhang) Eine Ausnahme bildeten hier nur die Zwangs - und Somatisierungs - Symptome. Die Autoren konnten zeigen, dass der Mißbrauch - besonders wenn er von Familienmitgliedern verursacht ist - zu paranoiden Einstellungen und „Feindseligkeit" beiträgt. Eine gewisse „interpersonelle Sensitivität" nehmen die Autoren als wichtigen, für Borderline - Störungen prädisponierenden Faktor an. Aufgrund dieser Sensitivität scheint sich die Mißbrauchserfahrung bei den Borderline - Patienten besonders schädigend und symptomfördernd auszuwirken. Die zuvor beschriebenen Fallbeispiele sind gute klinische Bestätigungen für die nach empirischen Untersuchungen gebildeten Hypothesen. Besonders in den letzten beiden Fällen zeigen sich - auf dem Hintergrund eines familiären Klimas, das keine sichere Basis darstellte - individuell traumatische Erlebnisse, die entweder direkt oder indirekt wie sexueller Mißbrauch gewirkt haben müssen. Im zweiten Fall (der Patient von Myers) waren es die Erlebnisse mit dem Bruder, die in dieses Bild passen. Im Fall des sadistischen Mörders war es die untreue Mutter, die den Jungen dazu aufforderte, den Vater zu suchen, den er dann erhängt finden mußte. 12 Oft schaffen körperliche Mißhandlungen, im Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch in der Familie, eine traumatisierende und emotional stark überfordernde Situation, die in späteren erotischen Erlebnissen reinszenierend „bewältigt" werden muss. Hier wird eine Niederlage in einen Triumph umgewandelt. Die sexuellen Symptome bei Borderline - Störungen bestehen entweder in totaler Hemmung, Pseudo - Hyperaktivität (oft kombiniert mit Hemmung) oder verschiedenen Formen perverser Symptombildungen. Diese Symptombildungen werden heute als Paraphilien bezeichnet, da die Unfähigkeit, Partnerinteressen berücksichtigen zu können, im Vordergrund steht. Bei besonders schwer gestörten Borderline - Patienten („Low structure borderline“), kann es in besonderen Dekompensations - Situationen zu einem massiven Überwiegen von Aggression gegenüber der Libido kommen und damit auch zur lustvoll erlebten Tötung und/oder Selbstzerstörung. 13 Literaturnachweis Kernberg, Dulz, Sachsse (2000).Handbuch der Borderline - Störungen Stuttgart: Schattauer 14 Anhang Die Skalen der SCL 90 - R: Skala l: Somatisierung Skala 2: Zwanghaftigkeit Skala 3: Unsicherheit im Sozialkontakt Skala 4: Depressivität Skala 5: Ängstlichkeit Skala 6: Aggressivität/Feindlichkeit Skala?: Phobische Angst Skala 8: Paranoides Denken Skala 9: Psychotizismus 15