Public Health Genetics 1. Oktober 2003 – 31. März 2004 Leitung: Angela Brand (Bielefeld), Notburga Ott (Bochum) und Alfons Bora (Bielefeld) Kooperationsgruppe Ein Rückblick auf sechs Monate Arbeit und Forschung am ZiF Mit dem 31. März 2004 endete die offizielle Laufzeit der für sechs Monate am ZiF eingerichteten Kooperationsgruppe Public Health Genetics, die insgesamt auf ein spannendes und ertragreiches Forschungshalbjahr zurückblicken kann. An der multidisziplinär zusammengesetzten Gruppe waren – neben den drei LeiterInnen, Prof. Dr. Angela Brand MPH (Sozialmedizin und Public Health, insb. Public Health Genetics; Sprecherin der ZiF: Kooperationsgruppe), Prof. Dr. Alfons Bora (Soziologie, insb. Technikfolgenabschätzung) und Prof. Dr. Notburga Ott (Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft) sowie den vier residenten Fellows, Juniorprofessor Dr. Peter Dabrock (Theologie und Ethik, insb. Bioethik), Dr. Karl Kälble (Soziologie, insb. Medizin-, Professionssoziologie und Public Health), Dr. Peter Schröder (Philosophie und Bioethik) und Dipl. Biol. Christa Wewetzer (Biologie, insb. Genetik) – 38 weitere deutsche Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen und Experten aus Politik und Praxis beteiligt. Diese waren als sogenannte ›externe Kooperationspartner‹ in das Projekt eingebunden. Ihre Integration bzw. die Gelegenheit am Diskussionsprozess der ›Vor-Ort-Gruppe‹ zu partizipieren, war organisatorisch auf zweierlei Weise sichergestellt: Zum einen durch virtuelle Kommunikationswege und insbesondere die Zugriffsmöglichkeit auf den sogenannten ›Mitgliederbereich‹ der Homepage (www.publichealth-genetics.org) und damit auf die dort abgelegten Protokolle, Literatur, Präsentationen und Diskussionspapiere, zum anderen durch den Weg der Teilnahme an den einmal pro Monat am ZiF stattfindenden zwei- bis dreitägigen Arbeitstreffen, die von den Fellows vor Ort konzeptionell und organisatorisch vorbereitet wurden. Auf diesen Treffen wurden ausgewählte Themen und Fragestellungen aus dem Projekt vorgestellt und in einem breiteren Kontext diskutiert. Durch die ›Externen‹ waren u. a. folgende Disziplinen mit in der Gruppe vertreten: Public Health, Humangenetik, Epidemiologie, Ökonomie, Philosophie, Medizin, Toxikologie und Soziologie. Die Kooperationsgruppe beschäftigte sich mit den Herausforderungen und Möglichkeiten der modernen Genetik im Hinblick auf eine Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung sowie mit dem daran anschließenden und besonders im angloamerikanischen Sprach-raum debattierten Thema einer möglichen Integration von genetischen Erkenntnissen in die Zielorientierung von Public Health. Unter dem Begriff Public Health Genetics hat sich in den USA und einigen europäischen Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden ein neues Fachgebiet entwickelt, dessen Ziel es ist, die Potenziale der Genetik und molekularen Biotechnologie für die Verbesserung der (individuellen und öffentlichen) Gesundheit und für die Optimierung der Krankheitsprävention zu nutzen. In Deutschland hingegen nimmt Public Health die Genetik kaum wahr. Eine Public Health Genetics ist bislang weder etabliert noch institutionalisiert. Die Gruppe stellte sich daher die Aufgabe, die aktuellen Entwicklungen im Bereich der modernen Genetik aufzuarbeiten und die Chancen und Risiken für die Public Health-Perspektive der Gesundheitsversorgung kritisch und konstruktiv auszuloten. Ein zweites Ziel der Gruppe bestand darin, eine Vernetzung von interessierten Wissenschaftlern aus den Fachgebieten und relevanten politischen Entscheidungsträgern zu initiieren, die für eine Public Health Genetics wesentlich sind, um so eine auf Kontinuität angelegte Plattform für den Austausch von Informationen zu schaffen. In diesem Rahmen könnten dann die mit den genetischen Erkenntnissen verbundenen Chancen und Risiken für die öffentliche Gesundheitsversorgung weiter diskutiert und ggf. auch Strategien entwickelt werden, die darauf abzielen, die genetischen Potenziale in die aktuelle Public Health-Forschung, -Politik und -Praxis zu integrieren. Im Zentrum des Projektes standen vier, den Gegenstand konstituierende Fragstellungen: (1) Welche möglichen Chancen ergeben sich aus dem genetischen Fortschritt und den Möglichkeiten der modernen Genetik und Biotechnologie für eine Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit (bzw. eine Verbesserung der Gesundheit von Teilpopulationen) und speziell für die Prävention? (2) Welche ethischen, rechtlichen und sozialen Risiken resultieren aus dem genetischen Fortschritt und was bedeuten sie für das Forschungs- und Handlungsfeld von Public Health? (Dies bedeutete u. a. Reflexion der ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen, die im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch als »ELSI-Prozess« bezeichnet werden.) (3) Resultiert aus dem genetischen Erkenntnisfortschritt die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Neubestimmung der Ursachen von Gesundheit und Krankheit sowie – im Gefolge und mit Blick auf die Praxis – das Erfordernis einer Neuorientierung von Krankheitsbekämpfung, Prävention und Gesundheitsförderung? (4) Welche Handlungsnotwendigkeiten, Entscheidungs- und Regulationsbedarfe ergeben sich aus der genetischen Entwicklung für die Gesundheitspolitik schon jetzt und erst recht in Zukunft? Im Rahmen der Kooperationsgruppe (ein am ZiF neues und erstmals realisiertes Arbeitsformat) konnten diese und andere im Forschungskonzept aufgeworfene Fragen zwar ausgiebig diskutiert, innerhalb eines halben Jahres aber nur in begrenztem Umfang systematisch bearbeitet werden. Zudem haben das (im Rückblick) als sehr erfolgreich zu bewertende networking und die Vorbereitung diverser Tagungen doch etliches an Arbeitskapazitäten der vier Fellows absorbiert. Vor diesem Hintergrund ist der nachfolgend zu skizzierende Ertrag der Arbeit bzw. Forschungstätigkeit der Gruppe umso bemerkenswerter. Eine gründliche Bestandsaufnahme, die sowohl den aktuellen Entwicklungsstand als auch die prospektiven Möglichkeiten der modernen Genetik umfasst, und eine nüchterne Analyse sind die beiden wesentlichen Voraussetzungen, um die Chancen und Risiken der modernen Genetik in Bezug auf das Handlungsfeld der Public Health adäquat und realistisch einschätzen zu können. Um diesbezüglich zu einer sachgerechten Einschätzung zu gelangen, hat die Kooperationsgruppe u. a. zwei Fachgutachten von Experten bzw. Wissenschaftlern aus dem Bereich der Genetik eingeworben. Die Verfasser sind in der Humangenetik bzw. in der klinischen Forschung tätig (Prof. Dr. Wolfram Henn, Institut für Humangenetik, Universität des Saarlandes; Prof. Dr. Stefan Schreiber, Klinik für Allgemeine und Innere Medizin, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel). Als Gutachten liegen vor: Henn, W.: Die Bedeutung genetischer Mutationen und ihrer Diagnostik für Prävention und Therapie multifaktoriell bedingter Krankheiten – Aktueller Stand und Perspektiven für Public Health. Gutachten für die Kooperationsgruppe Public Health Genetics am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 2003. Schreiber, S.: Stand der Aufklärung genetischer Ursachen komplexer Erkrankungen und potenzieller Einfluss genetischer Erkenntnisse auf Public Health Strategien. Gutachten für die Kooperationsgruppe Public Health Genetics am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 2003. Darüber hinaus wurde ein weiteres Gutachten in Auftrag gegeben, das sich speziell mit der Thematisierung von ethischen Aspekten der Genetik in sogenannten Health Technology Assessment-Berichten (HTA-Berichten) befassen sollte. Das Gutachten wurde am Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Lübeck von Heiner Raspe und Mitarbeitern erstellt. Wesentliche Ergebnisse dieses Gutachtens hat Dagmar Lühmann (Lübeck) der Gruppe bereits in einem Vortrag im Rahmen der Abschlusstagung präsentiert (März 2004). Raspe, H. / Lühmann, D. / Bartels, C.: Ethische Aspekte und gesellschaftliche Wertvorstellungen in HTA-Berichten zu genetischen Testverfahren. Gutachten für die Kooperationsgruppe Public Health Genetics am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 2004. Vor dem Hintergrund fehlender empirischer Daten und Untersuchungen darüber, wie die Multidisziplin Public Health / Gesundheitswissenschaften die Entwicklungen der molekularen Genetik und ihre (zum Teil schon erkennbaren) Auswirkungen auf das Wissenschafts- und Handlungsfeld der Public Health einschätzt, und wie sie eine mögliche Verbindung von Genetik und Public Health unter dem Begriff Public Health Genetics bewertet, wurde im Rahmen der Kooperationsgruppe eine Befragung bei führenden Public Health-Experten in Deutschland durchgeführt. Ziel der mittels einer teilstandardisierten schriftlichen (postalischen) Befragung durchgeführten Erhebung war es, für Deutschland erstmals empirische Daten zu gewinnen, die begründete Aussagen erlauben, wie sich die deutsche Public Health Community zur neuen Genetik und zu einer möglichen Institutionalisierung von Public Health Genetics positioniert und die Möglichkeiten der Genetik und molekularen Medizin im Hinblick auf populationsbezogene Gesundheitsprobleme beurteilt. Befragt wurden 66 führende Public Health-Experten (überwiegend Universitätsprofessoren aus dem Bereich Public Health). Der Rücklauf lag bei exakt 50%. Die Studie wurde den Umständen entsprechend als ›Pilotstudie‹ konzipiert. Die Aussagen der Untersuchung sind zwar nicht repräsentativ, die Bedeutung der Ergebnisse ist jedoch darin zu sehen, dass sie zumindest die Einschätzung der ›Public Health-Elite‹ in Deutschland widerspiegeln. Als empirische Studie liegt vor: Kälble, K.: Humangenetischer Fortschritt, seine Bedeutung für die öffentliche Gesundheitsversorgung und die Notwendigkeit einer Public Health Genetics aus Sicht von deutschen Public Health Experten – Ergebnisse einer empirischen Pilotstudie, Bielefeld 2004. Schließlich arbeitete die Gruppe an der Erstellung eines sogenannten Policy-Papers. Dieser Leitfaden enthält Empfehlungen für die Gesundheitspolitik und spricht Gesundheitspolitiker auf die von ihnen geforderte Entscheidungs- und Handlungskompetenz an. Zentrale Veranstaltungen der Kooperationsgruppe waren vier Arbeitstagungen, ein Workshop sowie das vom 19. – 21. Februar 2004 durchgeführte internationale Symposium. Sie sind nachfolgend in chronologischer Reihenfolge aufgelistet: 1. Arbeitstagung (16. – 18. 10. 2003): Einführung ´Public Health Genetics` (Eröffnungstagung) 2. Arbeitstagung (13. – 15. 11. 2003): Risikokommunikation und -management als Herausforderung für Public Health Genetics Workshop (19. – 20. 12. 2003): Public Health und Genetik 3. Arbeitstagung (29. – 31. 01. 2004): (ohne Titel) Internationales Symposium (19. – 21. 02. 2004): Public Health Genetics – Experiences and Challenges 4. Arbeitstagung (18. – 20. 03. 2004): Abschluss und Ausblick (Abschlusstagung) Zudem wurde in Kooperation mit dem Zentrum für Gesundheitsethik der Ev. luth. Landeskirche Hannover (ZfG) vom 3. – 5. November 2003 an der Ev. Akademie Loccum eine gut besuchte Tagung zum Thema »Gendiagnostik und öffentliche Gesundheitsvorsorge« durchgeführt. Der kurze Rückblick auf das Forschungshalbjahr soll nicht enden, ohne die (speziell auch für die Fellows) hervorragenden Rahmenbedingungen am ZiF zu würdigen und ohne einen positiven Effekt der Kooperationsgruppe zu erwähnen, der – neben den materialen Ergebnissen – als ein nicht gering zu veranschlagender zusätzlicher Erfolg des Projektes verstanden werden kann: Das ZiF hat den Fellows nicht nur die außerordentliche Möglichkeit geboten, zusammen zu leben und interdisziplinär zu arbeiten, sondern zugleich auch ideale Arbeitsbedingungen (heute keineswegs selbstverständlich), die dem Prozess der gemeinschaftlichen Forschungstätigkeit zu Gute kamen. Der Gewinn für die Mitglieder der Kooperationsgruppe ist nicht zuletzt auch darin zu sehen, dass sie die Chance nutzen konnten und genutzt haben, viel zu lernen, sich neues Wissen anzueignen, interdisziplinäre Erfahrungen zu sammeln, neue Interessen zu entwickeln und Arbeitsbeziehungen zu knüpfen, die das Projekt überdauern werden. Karl Kälble, Peter Dabrock, Peter Schröder, Christa Wewetzer Mitglieder der Kooperationsgruppe: Peter Dabrock (Marburg) Karl Kälble (Freiburg i. Br.) Peter Schröder (Bochum) Christa Wewetzer (Isenbüttel) Kooperationspartner: Gabriele Abels (Bielefeld) Bernhard Badura (Bielefeld) Maria Blettner (Mainz) Helmut Brand (Bielefeld) Alexander Brink (Bayreuth) Katja Bromen (Brüssel) Wolfgang van den Daele (Berlin) Volker Eichener (Düsseldorf) Jörg T. Epplen (Bochum) Dieter Hart (Bremen) Anja Hartmann (Bochum) Wolfram Henn (Homburg an der Saar) Karl-Heinz Jöckel (Essen) Hartmut Kliemt (Duisburg) Thomas Kohlmann (Greifswald) Regine Kollek (Hamburg) Alfons Labisch (Düsseldorf) Rainer Müller (Bremen) Hermann Neus (Hamburg) Markus von Nöthen (Antwerpen) Norbert Paul (Mainz) Peter Propping (Bonn) Alfred Pühler (Bielefeld) Annette Queißer-Luft (Mainz) Heiner Raspe (Lübeck) Ortwin Renn (Stuttgart) Marcella Rietschel (Mannheim) Johannes Roggenhofer (Bielefeld) Hans-Martin Sass (Bochum) Hans-Peter Schreiber (Zürich) Thomas Schulz (Göttingen) Sigrid Stöckel (Hannover) Rudolf Teuwsen (Berlin) Felix Thiele (Bad Neuenahr-Ahrweiler) Gert G. Wagner (Berlin) Ursula Wandl (München) Klaus-Peter Zimmer (Münster)