1.4. Konstruktion von σ-Algebren und Wahrscheinlichkeitsmaßen. Das im folgenden beschriebene Verfahren kann insbesondere dann angewandt werden, wenn der Stichprobenraum Ω überabzählbar unendlich ist und daher i. allg. die Wahl F = Pot(Ω) nicht sinnvoll ist 1. (i) Angabe einer Menge F∗ von elementaren“, dem menschlichen Verständnis ” leicht zugänglichen Ereignissen 2. ∗ (ii) Angabe einer Funktion P : F∗ → [0, 1] mit den Eigenschaften (a) und (b) in Definition 1.3.B 3 4. In dieser Vorlesung wird im wesentlichen im Rahmen von (i) und (ii) gearbeitet. Dies ist gerechtfertigt, falls der nächste Schritt (iii) gelingt. (iii) Nachweis der eindeutigen Fortsetzbarkeit von P∗ zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß P : F → [0, 1], wobei F = σ(F∗ ) die kleinste, F∗ umfassende σ-Algebra ist 5. Der Schritt (iii) wird in weiterführenden Vorlesungen behandelt 6. Letztendlich ist dann (Ω, F, P) der Wahrscheinlichkeitsraum, mit dem mathematisch rigoros für wahrscheinlichkeitstheoretische Untersuchungen gearbeitet wird. 1.4.1. Gleichverteilung auf [0, 1]. Sei Ω = [0, 1], F∗ = {[a, b] : 0 ≤ a ≤ b ≤ 1} 7 und P∗ : F∗ → [0, 1] mit P∗ [[a, b]] = b − a, 0 ≤ a ≤ b ≤ 1. σ(F∗ ) =: B([0, 1]) 8 ist die Borelsche σ-Algebra in [0, 1]. P∗ besitzt eine eindeutige Fortsetzung λ = λ[0,1] auf B([0, 1]), das sog. Lebesguemaß auf [0, 1]. λ[0,1] wird auch als Gleichverteilung auf [0, 1] bezeichnet 9. 1Beispielsweise kann im Rahmen des ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurfs, vgl. Abschnitt 1.2, diese Vorgehensweise motiviert werden. In jenem Fall ist aufgrund des Satzes von Vitali, vgl. [2], Satz (1.5), die Verwendung der σ-Algebra F = Pot(Ω) nicht sinnvoll. Der genannte Satz von Vitali wird auch noch in Abschnitt 1.7 erläutert werden. 2Z.B. F∗ = F endl beim ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurf, vgl. Abschnitt 1.2. 3Die Bedingung (b) in Definition 1.3.B muß bei P∗ nur für paarweise disjunkte Mengen S ∗ A1 , A2 , · · · ∈ F∗ mit ∞ k=1 Ak ∈ F gelten. 4 Beim ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurf und wenn F∗ = Fendl , vgl. Abschnitt 1.2, können die Eigenschaften (a) und (b) in Definition 1.3.B im Rahmen eines N -fachen, unabhängigen, fairen Münzwurfs überprüft werden, wobei N ∈ N geeignet zu wählen ist, vgl. Abschnitt 1.1(e). 5Während σ(F∗ ) immer auf eine eindeutige Weise existiert, braucht P nicht zu existieren, bzw. nicht eindeutig zu sein. 6 Die eindeutige Existenz eines Wahrscheinlicheitsmaßes P, das P∗ fortsetzt, wird z.B. mit dem Satz von Carathéodory gesichert, vgl. [1], Appendix A.1. Jenes Resultat besagt, daß eine Funktion P∗ : F∗ → [0, 1], welche die in Definition 1.3.B angegebenen Eigenschaften besitzt, vgl. dazu Fußnote 3, sich dann auf eine eindeutige Weise zu einem Wahrscheinlichkeitsmaß auf (Ω, σ(F∗ )) fortsetzen läßt, wenn F∗ eine Algebra ist. Hierbei wird eine Familie F∗ von Teilmengen von Ω als Algebra bezeichnet, wenn F∗ die Eigenschaften (a) und (b) in Definition 1.3.A besitzt und wenn für A, B ∈ F∗ auch A ∪ B ∈ F∗ gilt. Beispielsweise bildet die Familie A der durch (3) in Abschnitt 1.2 beschriebenen Mengen, die zur Modellierung des ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurfs betrachtet werden, keine Algebra. Da allerdings Fendl aus den Mengen in A und zusätzlich deren endlichen Vereinigungen besteht, ist Fendl eine Algebra. 7F∗ ist die Menge der abgeschlossenen Intervalle in [0, 1]. 8B([0, 1]) ist die kleinste σ-Algebra, die alle abgeschlossenen Intervalle in [0, 1] umfaßt. B([0, 1]) ist ebenso die kleinste σ-Algebra, die alle offenen, bzw. halboffenen Intervalle in [0, 1] enthält. 9In Bemerkung (ii) in Abschnitt 1.1 war die Gleichverteilung auf einer endlichen Menge beschrieben worden. Die beiden Gleichverteilungen besitzen aus offensichtlichen Gründen den gleichen Namen, sind aber völlig unterschiedlich strukturierte Wahrscheinlichkeitsmaße. 1 2 Beispiel. In B([0, 1]) sind u.a. einpunktige Mengen 10 {a}, a ∈ [0, 1], oder auch abzählbare Teilmengen 11 {ak : k ∈ N}, ak ∈ [0, 1], k ∈ N, von [0, 1] enthalten 12. Weil "∞ # [ λ[{ak : k ∈ N}] = λ {ak } = 13 k=1 ∞ X k=1 λ[{ak }] = 0, ak ∈ [0, 1], k ∈ N, | {z } = |ak − ak | = 0 besitzen alle abzählbaren Teilmengen von [0, 1] das Lebesguemaß 0 14 . 1.4.2. ∞-facher, unabhängiger Münzwurf mit Erfolgswahrscheinlichkeit p ∈ [0, 1]. Im Unterschied zu dem ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurf 15 sei jetzt angenommen, daß bei einem einzelnen Wurf die Wahrscheinlichkeit für Zahl“ , 1 gleich p ∈ [0, 1] ist 16. Die Menge der möglichen Wurfsequenzen und ” der zugeordneten Ereignisse sind von p unabhängig, d.h., Ω = {0, 1}N 17 und F∗ = Fendl 18 können wie in Abschnitt 1.2 im Fall p = 1/2 gewählt werden. Von dem Parameter p hängen allerdings die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse ab. So ist P∗ : Fendl → [0, 1] durch P∗ [{ω ∈ Ω : ωk1 = ηk1 , . . . , ωkn = ηkn }] = n Y (5) Pn pηkl (1 − p)1−ηkl = p l=1 ηkl (1 − p)n− | {z } ( l=1 p, falls ηkl = 1, = 1 − p, falls ηkl = 0, Pn l=1 ηkl k1 , . . . , kn ∈ N, 1 ≤ k1 < · · · < kn , ηk1 , . . . , ηkn ∈ {0, 1}, n ∈ N, bestimmt 19. Zu diesem P∗ existiert eine eindeutig bestimmte Fortsetzung P auf (Ω, F), wobei F = σ(Fendl ) 20. Beispiel. Für den ∞-fachen, unabhängigen Münzwurf mit Erfolgswahrscheinlichkeit p ∈ (0, 1) ist die Wahrscheinlichkeit pb, daß der erste Wurf von Kopf“ in ” 10Da {a} = [a, a] ∈ F∗ . 11Da {a } ∈ B([0, 1]), k = 1, 2, . . . , ist wegen Definition 1.3.A(c) auch {a : k ∈ N} = k k S∞ k=1 {ak } ∈ B([0, 1]). 12O.E.d.A. sei angenommen, daß alle a , k ∈ N, verschieden sind. k 13Wegen der σ-Additivität von λ, vgl. Definition 1.3.B. 14Es gibt auch Mengen M ∈ B([0, 1]), die die gleiche Mächtigkeit wie R haben und damit überabzählbar sind, mit λ[M ] = 0, z.B. Cantormengen. 15Vgl. Abschnitt 1.2. Der faire“ Fall wird durch p = 1/2 beschrieben. ” 16Vgl. Abschnitte 1.1(b) und (f). Dort wird der einmalige, bzw. N -malige, unabhängige Wurf einer solchen Münze behandelt. 17{0, 1}N ist die Menge der {0, 1}-wertigen Folgen. 18Vgl. Abschnitt 1.2. F endl ist die Menge aller Ereignisse, die durch die Würfe der Münze an endlich vielen festen Zeitpunkten bestimmt sind. Insbesondere enthält Fendl die Mengen {ω ∈ Ω : ωk1 = ηk1 , . . . , ωkn = ηkn }, k1 , . . . , kn ∈ N, 1 ≤ k1 < · · · < kn , ηk1 , . . . , ηkn ∈ {0, 1}, n ∈ N, und endliche Vereinigungen von solchen Mengen. 19F endl enthält auch endliche Vereinigungen A von Ereignissen A1 , . . . , Am , wie sie in (5) betrachtet werden, vgl. Fußnote 18. Da diese Vereinigungen als disjunkt angenommen werden P können, ergeben sich deren Wahrscheinlichkeiten durch Addition, d.h., P[A] = m P[A k ]. k=1 20σ(F endl ) ist die kleinste σ-Algebra, die Fendl enthält. 1. November 2007 3 einem geraden“ Zeitpunkt, d.h. zu einem Zeitpunkt 2k mit k ∈ N eintritt, zu ” bestimmen 21. Es gilt: pb = P erster Wurf von Kopf“ in einem der Zeitpunkte 2k, k ∈ N ” = P ω ∈ Ω : ωl = 1, l = 1, . . . , 2k − 1; ω2k = 0 für ein k ∈ N " # ∞ [ N 22 =P {ω ∈ {0, 1} : ωl = 1, l = 1, . . . , 2k − 1; ω2k = 0} k=1 ∞ X = 23 P {ω ∈ {0, 1}N : ωl = 1, l = 1, . . . , 2k − 1; ω2k = 0} {z } | k=1 ∈ Fendl 24 ∞ ∞ X 1−p X 2 k = 25 p2k−1 (1 − p) = (p ) p k=1 k=1 | {z } 1 p2 p2 = − 1 = = 1 − p2 1 − p2 (1 − p)(1 + p) p . = 1+p Speziell ergibt sich pb = 1/3 für p = 1/2, d.h. für den ∞-fachen, unabhängigen, fairen Münzwurf 26 27. 1.4.3. Lebesguemaß in Rd , d = 1,2, . . .. Sei Ω = Rd , F∗ = [a1 , b1]×· · ·×[ad , bd ] : −∞ < ak ≤ bk < ∞, k = 1, . . . , d und λ∗ : F∗ → [0, ∞) mit λ∗ [a1 , b1 ] × · · · × Qd [ad , bd ] = k=1 (bk − ak ), −∞ < ak ≤ bk < ∞, k = 1, . . . , d 28. σ(F∗ ) =: B(Rd ) ist die Borelsche σ-Algebra in Rd . Die eindeutig existierende Fortsetzung λ(= λRd ) : B(Rd ) → [0, ∞) von λ∗ auf den meßbaren Raum (Rd , B(Rd )) ist das Lebesguemaß auf Rd . λRd ist kein Wahrscheinlichkeitsmaß, da offensichtlich (a) in Definition 1.3.B nicht gilt. Allerdings wird das Maß λRd bei der Behandlung von Wahrscheinlichkeitsmaßen mit einer Dichte (bzgl. des Lebesguemaßes), wie z.B. der Normalverteilung oder der Exponentialverteilung benötigt 29. 21Der Fall p = 1/2 wurde in Abschnitt 1.2 behandelt. 22Hier liegt eine Zerlegung in disjunkte, d.h. sich ausschließende Ereignisse vor. 23Wegen der σ-Additivität von P, vgl. Definition 1.3.B. 24 Dieses Ereignis wird durch den 2k-fachen, unabhängigen Münzwurf mit Erfolgswahrscheinlichkeit p bestimmt, d.h. seine Wahrscheinlichkeit kann in einem Modell für den 2k-fachen, unabhängigen Münzwurf mit Erfolgswahrscheinlichkeit p berechnet werden. 25 Vgl. (5). 26Der Spezialfall p = 1/2 wurde schon in Abschnitt 1.2 behandelt. 27 Es gilt limp→0 pb = 0. Dies ist plausibel, da bei p → 0 mit gegen 1 strebender Wahrscheinlichkeit gleich beim 1. Wurf, d.h. in einem ungeraden Zeitpunkt, Kopf“ geworfen wird. ” Weiterhin ist limp→1 pb = 1/2. Da bei p → 1 bei jedem einzelnen Wurf mit nahe bei 1 liegender Wahrscheinlichkeit Zahl“ geworfen wird, dauert es i. allg. extrem lang, bis irgendwann mal Kopf“ ” ” erscheint. Die Tatsache, daß in dem ungeraden Zeitpunkt 1 mit dem Werfen begonnen wurde, ist dann längst vergessen. In dieser fernen Zukunft wird dann jeweils mit Wahrscheinlichkeit 1/2 Kopf“ erstmals in einem geraden, bzw. einem ungeraden Zeitpunkt geworfen. ” Im Fall p = 1 wird immer Zahl“ geworfen, so daß dann pb = 0 ist. Daher ist limp→1 pb = 1/2 6= ” 0 = pb|p=1 , d.h., die Funktion [0, 1] ∋ p → pb ∈ [0, 1] ist unstetig für p = 1. 28λ∗ weist jedem d-dimensionalen Rechteck A in Rd sein Volumen Vol(A) zu. 29Eine hinreichend reguläre Funktion f : Rd → [0, ∞) ist eine Wahrscheinlichkeitsdichte, wenn R d R dx f (x) = 1. Durch Z dx f (x), A ∈ B(Rd ), P[A] = A 1. November 2007 4 Literatur [1] R. Durrett. Probability: Theory and Examples (2nd edition). Duxbury Press, 1995. [2] H.-O. Georgii. Stochastik. De Gruyter, 2002. definiert f ein Wahrscheinlichkeitsmaß P auf (Rd , B(Rd )). Jenes P wird als das Wahrscheinlichkeitsmaß mit der Dichte f bzgl. des Lebesguemaßes auf Rd bezeichnet. Beispiele für Wahrscheinlichkeitsdichten auf R sind « „ 1 (x − µ)2 , µ ∈ R, σ2 > 0. fµ,σ 2 : x → √ exp − 2σ2 2πσ2 fµ,σ 2 ist die Dichte der Normalverteilung mit Erwartungswert µ und Varianz σ2 . 1. November 2007