Vorlesung Mystik 1 Handout \374

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Öffentliche Vorlesung
Die christliche Mystik.
Gottesschau, Meditation und Ekstase
Pfr. Markus Anker
Vorlesung 1, 16. September 2009:
Mystisches Erleben:
Gotteserfahrung, Meditation und Ekstase
Meditationsbild (ca. 1480)von
Niklaus von Flüe
Aufbau:
1. Das Mémorial von Blaise Pascal (1623-1662)
2. Mystik: Definitionen, Annäherungen, Praktiken
3. Mystik im nicht-christlichen Kontext
4. Merkmale der Mystik
1. Das Mémorial von Blaise Pascal (1623-1662)
Das Jahr der Gnade 1654
Montag, den 23. November, Namensfest von St. Clemens, dem Papst und Märtyrer, und
von anderen nach dem Martyrologium.
Vigil von St. Chrysogonus, Märtyrer, und von anderen.
Seit etwa halb elf Uhr abends bis ungefähr halb eins,
FEUER
Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs,
Nicht Propheten und Gelehrte.
Gewissheit. Gewissheit. Lebendiges Durchdrungensein. Freude. Frieden.
Gott Jesus Christus
Deum meum et Deum vestrum. (Meinen Gott und euren Gott (Joh. 20, 17); Anm.d.Verf.)
Dein Gott wird mein Gott sein Vergessen der Welt und alles andern ausser Gott.
Er ist nicht zu finden, es sei denn auf den Wegen, die das Evangelium bezeichnet.
Größe der menschlichen Seele.
Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt; aber ich habe dich erkannt.
Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.
Ich habe mich von ihm getrennt - - Dereliquerunt me fontem aquae vivae. (Sie haben mich, die Quelle des lebendigen
Wassers, verlassen (Jer 2, 13); Anm.d.Verf.)
Mein Gott, du willst mich verlassen?
Dass ich doch nicht ewig von ihm getrennt würde!
----Dies ist das ewige Leben, dass sie dich als den einzigen und wahren Gott erkennen und
den, den du gesandt hast, Jesum Christum.
Jesus Christus - Jesus Christus - ich habe mich von ihm getrennt; ich habe ihn geflohen, verleugnet, gekreuzigt.
Dass ich doch niemals von ihm getrennt würde!
Du behältst ihn nicht, es sei denn auf den Wegen, die das Evangelium bezeichnet.
Völlig süsser Verzicht.
Völlige Unterwerfung unter Jesus Christus und unter meinen Seelenführer.
Ewig in Freude für einen Tag der Drangsal auf Erden.
Non obliviscar sermones tuos. Ich werde deine Worte nicht vergessen (Psalm 118, 16);
Anm.d.Verf.)
Amen.
Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2009: Die christliche Mystik. Gottesschau, Meditation und Ekstase
Vorlesung 1: Mystisches Erleben
Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hatte im Jahre 1654 eine
mystische Erfahrung. Er hielt sie fest in seinem berühmt gewordenen Mémorial
(Erinnerungsblatt), das zu Pascals Lebzeiten unbekannt blieb.
Es handelt sich um einen Text auf schmalem Pergamentstreifen, den Pascal bis zu
seinem Tod offensichtlich immer wieder neu in das Futter seines Rockes eingenäht hatte.
Nach seinem Tod wurde das Mémorial von einem Diener zufällig entdeckt.
Pascal trug diesen Zettel immer bei sich, was die zentrale Bedeutung der mystischen
Erfahrung zum Ausdruck bringt.
Auch wenn das genaue Datum des mystischen Erlebnisses von
Blaise Pascal genau bekannt ist, so ist der konkrete Hintergrund
und der Auslöser dieser Erfahrung nicht klar rekonstruierbar.
Es liegen zwei Hypothesen vor:
- Hypothese des seelischen Kampfes.
- Hypothese der Schockerfahrung nach einem Kutschenunfall.
Das Memorial verkörpert zahlreiche typische Merkmale der Mystik:
- Erlebnis-Spiritualität:
Das unmittelbare Erleben; via cognitionis experimentalis
- Schwierigkeit der Vermittlung und Kommunikation:
Schriftliche oder mündliche Berichte einer mystischen Erfahrung
können das Erlebte nur andeutungsweise wiedergeben.
Blaise Pascal
- Kritik an rationalistischer Gotteslehre:
Das mystische Erleben als unmittelbare, durch Meditation hervorgerufene
Gotteserfahrung steht in einer gewissen Opposition zu einer lehrhaft vermittelten
Gotteserfahrung (via cognitionis doctrinalis).
- Anknüpfung an bekannten Traditionen:
Die Mystik knüpft an bekannten, vor allem biblischen Traditionen an – biblische
Metaphern oder Aussagen sind der Kristallisationspunkt, an dem sich mystische
Erfahrungen festmachen.
- Produktivität der Mystik:
Einerseits steht in der Mystik die innere Gotteserfahrung im Zentrum. Zugleich ist bei ihr
auch ein starker Aspekt der Wirkung nach Aussen und der Weltgestaltung zu beobachten.
- Mystik ist ein konfessions- und religionsübergreifendes Phänomen:
Die Mystik hat in vielen Religionen und allen christlichen Konfessionen ihren Platz. Mit
den Angaben aus dem Heiligenkalender stellt Pascal sich selbst in die Reihe der
Christinnen und Christen, die vor ihm in der Gottesnähe lebten.
2. Mystik: Definitionen und Praktiken
Der Ausdruck Mystik bezeichnet heute im allgemeinen Sprachgebrauch Berichte und
Aussagen über die Erfahrung einer höchsten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine
solche Erfahrung. Mystik bezeichnet also also die Praxis, die zu einer Gotteserfahrung
führt, sowie die Art der Gotteserfahrung selbst.
Der deutsche Ausdruck "Mystik" geht zurück auf das griechische griechisch µυστικός
mystikós „geheimnisvoll“. Dieses steht in Verbindung mit griechisch µύειν myein, „sich
schließen, zusammen gehen“, was zunächst auf die Augen bezogen war, sowie mit
griechisch µυέειν myéein, beginnen oder initiiert werden.
Pfr. Markus Anker
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Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2009: Die christliche Mystik. Gottesschau, Meditation und Ekstase
Vorlesung 1: Mystisches Erleben
Jean le Charlier de Gerson (eigentlich Jean Charlier, auch Johannes Gerson genannt, *
14. Dezember 1363 in Gerson-lès-Barby bei Rethel; † 12. Juli 1429 in Lyon) war ein
französischer Theologe, Dominikaner und Kanzler der Pariser Sorbonne.
Er unterschied die Theologia mystica als experimentelle Erkenntnis Gottes bzw.
Erfahrungswissen von Gott (cognitio dei experimentalis) von einem lehrhaft
vermittelten theoretischen Wissen von Gott (cognitio dei doctrinalis).
Das klassische mystische Motiv und der Zielpunkt der Mystik ist die Gotteschau bzw. die
Vereinigung und Einswerdung mit dem Göttlichen: die unio mystica.
Mystische Praxis:
Hesychasmus:
Der Begriff Hesychasmus (griechisch ἡσυχασµός hesychasmos) ist von dem
altgriechischen Wort Hesychia (ἡσυχία hēsychia) abgeleitet, das Ruhe, Stille, Schweigen,
Einsamkeit, Ungestörtheit bedeutet. Die Wurzeln liegen in den Verhaltensregeln des
antiken Mönchtums. Die im Spätmittelalter auf dem Berg Athos wohnenden Mönche
führen die von ihnen praktizierte Spiritualität auf Johannes Hesychastes (454–559)
zurück. Zu den Verhaltensregeln für Mönche gehören das „Bewahren der Zunge“ zur
Erhaltung der inneren Wachsamkeit (ἔνδον ϕυλα̹ή) und Ruhe (ἡσυχία). Im 18.
Jahrhundert erlebte der Hesychasmus eine Renaissance in der Russisch-Orthodoxen
Kirche.
Kontemplation
Westliche Form des Hesychasmus. Kontemplation (von lat. contemplari: „anschauen,
betrachten“) bedeutet allgemein Beschaulichkeit oder auch beschauliche Betrachtung.
Die heidnischen römischen Priester (Auguren) sagten die Zukunft voraus, indem sie in
einem bestimmten vorher definierten Bereich des Himmels, dem templum (übersetzt
auch Beobachtungsraum), den Vogelflug beobachteten und deuteten. Analog dazu war
auf der Erde ein bestimmter heiliger Bezirk abgesteckt, der nur der Gottheit geweiht war,
ebenfalls templum genannt. Beim contemplari besah man sich die himmlischen und die
irdischen Bereiche (Plural templa) zusammen (con heißt zusammen) an und sann über
die Verbindung nach.
Kontemplation ist heute als mystischer Weg der westlichen Tradition bekannt. In der
Regel wird durch ein kontemplatives Leben oder Handeln ein besonderer
Empfindungszustand oder eine Bewusstseinserweiterung angestrebt. Eine kontemplative
Haltung ist von Ruhe und sanfter Aufmerksamkeit auf einen Gedanken bestimmt. Sie
unterscheidet sich von der Meditation durch die dort angestrebte vollkommene Leere des
Geistes.
Jesusgebet
Das Jesusgebet, auch Herzensgebet genannt, ist ein
besonders in der Orthodoxen Kirche weit
verbreitetes Gebet, bei dem ununterbrochen der
Name Jesu Christi angerufen wird. Damit soll die
biblische Aufforderung „Betet ohne Unterlass!“ (1
Thess 5,17 EU) erfüllt werden. Im Hesychasmus und
anderen Meditationsformen der Ostkirchen nimmt
dieses Gebet eine zentrale Stellung ein, ebenso in
der Spiritualität der Kartäuser.
Gebetsschnur, Komboskini
Verrichtet wird das Jesusgebet üblicherweise an
einer Gebetskette, griechisch Komboskini und russisch Tschotki genannt, die aus 30, 33,
50, 100 oder mehr Knoten besteht. Die geschlossene Schnur steht als Zeichen für das
nie endende monastische Gebet. Sie wird verwendet, weniger, um die Gebete zu zählen,
sondern als Hilfe zur Konzentration und für einen gleichmäßigen Rhythmus. In der
orthodoxen Kirche erhalten die Mönche und Nonnen eine solche Gebetskette zur Profess.
Die Geschichte des Jesusgebetes lässt sich in drei Phasen unterteilen:
Pfr. Markus Anker
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Vorlesung 1: Mystisches Erleben
Seine Anfänge reichen bis in die Zeit des frühen östlichen Mönchtums zurück. Dort
wurden kurze Bibelzitate, oft Psalmverse, meditiert, also immer wieder wiederholt,
teilweise laut ausgesprochen, teilweise innerlich rezitiert. Mit der Zeit wurde es üblich,
statt der Bibelzitate den Namen Jesus zu rezitieren. Die Form Herr Jesus Christus,
erbarme dich meiner ist bereits für das 6. Jahrhundert belegt.
Die zweite große Phase in der Geschichte des Jesusgebetes ist der Hesychasmus, der im
12. Jahrhundert auf dem Berg Athos praktiziert wurde.
Die dritte Phase in der Geschichte des Jesusgebetes beginnt im 16. Jahrhundert in
Russland, wo es bis ins 18. Jahrhundert hinein eine große Blütezeit erlebte.
Nabelschau
Der Begriff Nabelschau ist eine Lehnübersetzung des griechischen Ausdrucks
omphaloskepsis und meint übertragen eine zu starke Konzentration auf sich selbst.
Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Nabelschau Teil der Gebets- und Meditationspraxis
des Hesychasmus. Die Nabelschau bestand darin, den Blick auf den Bauchnabel zu
richten, während man das Jesusgebet oder andere kontemplative Gebete sprach. Die
Aussage, während dieser Meditation das Taborlicht, eine ungeschaffene Kraft Gottes, die
auch die Verklärung Christi begleitet hatte, zu sehen, löste heftige theologische
Kontroversen aus.
Ikonen:
Die Heiligenbilder der Ostkirchen haben für die Theologie und Spiritualität der Ostkirchen
eine sehr große Bedeutung. Der Zweck der Ikonen ist, Ehrfurcht zu erwecken und eine
existenzielle Verbindung zwischen dem Betrachter und dem Dargestellten zu sein,
indirekt auch zwischen dem Betrachter und Gott. Ikonen werden in der Orthodoxen
Kirche weder als Kunstgegenstände noch als Dekoration angesehen, sondern sie dienen
der mystischen Vereinigung des Bildbetrachters mit Gott.
Dreifaltigkeitsikone von Andrei Rublev (1360-1430)
3. Mystik im nicht-christlichen Kontext
Ansatzpunkte für den interreligiösen Dialog
Zahlreiche Autoren haben im Kontext der Mystik naheliegende Ansatzstellen für einen
interreligiösen Dialog gesehen - insbesondere mit dem Buddhismus und dem Hinduismus.
- Hinduistische Mystik:
Nach hinduistischen Lehren ist eine Einheitserfahrung mit dem göttlichen Brahman
möglich. Typische Beschreibungen bedienen sich Metaphern wie: das Bewusstsein weitet
sich ins Unendliche, ist ohne Grenzen, man erfährt sich aufgehoben in einer Wirklichkeit
unaussprechlichen Lichts und unaussprechlicher Einheit (Brahman). Dieser
Einheitserfahrung entspricht die Lehre der Einheit von Atman („Seele“) und göttlichem
Brahman.
Diese Vereinigung, diese typische unio mystica stellt man sich im Hinduismus so vor: Wie
ein Salzklumpen sich im Wasser auflöst, gehe der Atman im göttlichen Brahman auf.
Pfr. Markus Anker
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Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2009: Die christliche Mystik. Gottesschau, Meditation und Ekstase
Vorlesung 1: Mystisches Erleben
Methoden zur Verschmelzung des Atman im Brahmen: Dazu dienen
Konzentrationstechniken des Yoga (Meditation) und die Askese (Enthaltung, Verzicht).
Askese führt zur Freiheit gegenüber weltlichen Bedürfnissen. Dies kann u.a. Essen und
Trinken, Sexualität oder Machtstreben einschränken.
- Buddhistische Mystik:
Ziel der buddhistischen Mystik ist es, die den fühlenden Wesen innewohnende, bis dahin
verschleierte Buddhanatur zu erkennen. Wer dies erreicht wird erleuchtet oder schlicht
Buddha genannt. Praktiken wie Meditation, Gebet, Opferdarbringungen, verschiedene
Yogas und spezielle tantrische Techniken sollen dies ermöglichen. Bei der Anwendung
dieser Praktiken geht es darum, die Geistesgifte wie Verwirrung/Unwissenheit, Hass,
Gier, Neid und Stolz, die Ursachen allen Leidens, in Weisheit umzuwandeln.
- Islamische Mystik / Sufismus:
Vertreter des Sufismus (islamische Mystiker)
lehren, dass Gott in jeden Menschen einen
göttlichen Funken gelegt hat, der im tiefsten
Herzen verborgen ist. Diesen Funken verschleiert
die Liebe zu allem, was nicht Gott ist - etwa
Wichtignehmen der (materiellen) Welt, sowie
Achtlosigkeit und Vergesslichkeit. In der SufiTradition wird folgendes Gotteswort gelehrt: Allah
spricht zu den Menschen: „Es gibt siebzigtausend
Schleier zwischen euch und mir, aber keinen
zwischen mir und euch.“
Die Sufis praktizieren eine tägliche Übung namens
Dhikr, was Gedenken (also Gedenken an Gott)
bedeutet. Dabei werden bestimmte Stellen aus
dem Koran reziert und die neunundneunzig
Attribute Gottes. Darüber hinaus kennen die
meisten sufischen Orden (Tariqas) ein
wöchentliches Zusammentreffen, bei dem neben
Tanzende Derwische in Istanbul
der Pflege der Gemeinschaft und dem
gemeinsamen Gebet ebenfalls ein Dhikr ausgeführt wird. Je nach Orden kann dieser
Dhikr auch Musik, bestimmte Körperbewegungen und Atmungsübungen beinhalten. Tanz
der Derwische, Ekstatische Elemente.
Jüdische Mystik / Kabbala:
Die Basis kabbalistischer Traditionen ist die Suche nach der Erfahrung einer
unmittelbaren Beziehung zu Gott. Nach kabbalistischer Ansicht hat Gott alles, was er im
Universum geschaffen hat, auch am Menschen geschaffen. Hieraus ergibt sich das
Weltbild der wechselseitigen Entsprechungen von Oben und Unten. Der Mikro- und
Makrokosmos sind identisch. Die ganze „untere“ Welt wurde demnach nach dem Vorbild
der „oberen“ gemacht und jeder Mensch an sich ist ein Universum im Kleinen.
Wichtig in der bildlichen Darstellung wurde der kabbalistische Weltenbaum. Dieser
Weltenbaum mit dem darin verbundenen Menschen stellt den verkörperten Organismus
des Universums dar. Diese elementare Verflechtung des Menschen in ein göttliches
Universalsystem verdeutlicht nach kabbalistischer Ansicht auch das gegenseitige
Beeinflussungspotential der göttlichen und der menschlichen Ebene.
Dazu gibt es verschiedene Techniken, die sich als Geheimlehren, die studiert und
erfahren werden, überliefern. Deshalb wird in der Kabbala auch heute die Beziehung
zwischen Lehrer und Schüler als wesentlich herausgestellt. Um Missbrauch der
Pfr. Markus Anker
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Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2009: Die christliche Mystik. Gottesschau, Meditation und Ekstase
Vorlesung 1: Mystisches Erleben
kabbalistischen Kenntnisse zu verhindern,
werden Schüler vor ihrer Aufnahme geprüft. Um
„Würdige“ von „Unwürdigen“ zu trennen, hat
man die Kabbala in eine theoretische (‫תינויע הלבק‬
qabālā ȥīyūnit) und eine praktische (‫תישעמ הלבק‬
qabālā maȥăśīt) unterteilt, wobei erstere das
System darstellt, und letztere magische und
mantische Praktiken umschreibt wie
Amulettwesen, Loswerfen etc.
Nennenswerte Vertreter und Quellen sind:
Jochanan bei Sakkai (1. Jh. n.)
Rabbi Akiba und sein Schüler Schimon ben
Jochai
Gershom Scholem (Beurteilt unter anderem in
seinem Buch «Die jüdische Mystik in ihren
Hauptströmungen» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt
am Main 1967) die Kabbala und den
Chassidismus)
- Mystik als Forschungsgegenstand in
Psychologie und Philosophie:
Portae Lucis“ (Die Pforten des Lichts) von Joseph
Die meisten fachwissenschaftlichen
ben Abraham Gikatilla (1248–1305): Mann mit
dem Weltenbaum.
Forschungsansätze analysieren Berichte über
mystische Erfahrungen, psychologische Korrelate
oder philosophisch-theologische Interpretationskategorien derselben.
Der analytische Psychologe Carl Gustav Jung versteht Mystik als religionsunabhängige
innere Kontemplation jenseits der Spaltung in verschiedene Konfessionen und
Bekenntnisse. Ein Vorbild für ihn ist der Schweizer Mystiker Niklaus von Flüe (Bruder
Klaus).
Ludwig Wittgenstein hat sich, u.a. in Tagebüchern und zum Schluss seines Tractatus
Logico-Philosophicus und anderen Schriften, über Mystik geäußert: „Es gibt allerdings
Unaussprechliches: Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“[4]
4. Merkmale der Mystik:
Vita contemplativa und Vita activa:
Weltabgewandtheit (Vermeidung von körperlichen Freuden durch Fasten, Askese und
Zölibat oder den Rückzug in die Einsamkeit als Eremit) ist Teil vieler mystischer
Traditionen. Andere Traditionen betonen die Zusammengehörigkeit von Kontemplation
und aktivem Leben. Die christliche Mystik spricht in diesem Zusammenhang von „vita
activa“ und „vita contemplativa“.
Auffällig ist, dass bisweilen ein wesentlicher Zusammenhang von Mystik und Politik
besteht, wie er sich etwa bei Nikolaus von Flüe, Meister Eckhart, Mahatma Gandhi und
Dag Hammarskjöld findet.
Unio Mystica:
Die christliche Mystik bezeichnet die Erfahrung als Mysterium oder Unio Mystica, im
buddhistischen Kulturraum wird sie etwa als Satori oder Kensho benannt. Sie bezieht sich
immer auf das Erfahrene, die höchste Wirklichkeit, die im christlichen Kulturraum mit
Gott, im buddhistischen Raum etwa mit Nirwana, im hinduistischen mit Atman/Brahman
bezeichnet wird.
Diese höchste Wirklichkeit hat stets ihren spezifischen individuellen Hintergrund
(Religion, Kultur, Wissenschaft). Sie hat ihre religions- und kulturspezifischen
Ausdrucksformen. Man kann es auch so sagen: die Mystik bildet selbst kein System oder
Pfr. Markus Anker
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Öffentliche Vorlesung Herbstsemester 2009: Die christliche Mystik. Gottesschau, Meditation und Ekstase
Vorlesung 1: Mystisches Erleben
eine Begrifflichkeit aus, sondern sie deutet bestehende Systeme und Begrifflichkeiten
mystisch.
Negative Theologie:
Die von religiösen Strömungen im Judentum und Christentum beanspruchte mystische
Erfahrung wird als Glaubenserfahrung verstanden, als intensive Form der Spiritualität.
Dabei ist teilweise beansprucht, das Göttliche nicht mehr personal zu erfahren.
Viele Berichte von mystischer Erfahrung betonen, dass kein Begriff und keine Aussage
auch nur annähernd passen. Die Mystik knüpft hier an der sogenannten Via negationis
der Spätantike an. Gott und das Göttliche wurden als das alles weltliche Überragende
definiert – auch den Verstand überragend: Resultat waren Gottesbeschreibungen, die
sich darauf beschränkte, was Gott nicht ist: Gott ist der un-ermessliche, der un-fassbare,
der un-denkbare.
Kritik an der Mystik:
- Verneinung des personalen Gottesbild (als Kommunikationsgeschehen; Differenz zu
Prophetie und Offenbarungsgedanken).
- Unio mystica, Erfahrung des Göttlichen: Abbau der Grenzen zwischen Mensch und Gott;
Gott wird zum Element der eigenen Seelenerfahrung, ist kein (kritisches) Gegenüber
mehr.
- Das hermeneutische Problem der Mystik: Was lässt sich sinnvoll über die Mystik sagen?
Wieso spricht die Mystik soviel über ihre Erfahrungen, wenn ihre Erfahrungen doch alles
Sagbare übersteigen. (Mystik-Kritiker: die Offenbarungstheologen, v.a. Karl Barth und
Emil Brunner)
Pfr. Markus Anker
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