Immanuel Kant, die Aufklärung und die Angst vor der Scharia

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GEMEINSAM LEBEN UND LERNEN
„Integration“ – eine von unserem Arbeitsfeld postulierte Haltung im Umgang mit benachteiligten Gruppen – mutiert unter der neuen Familienministerin, weg von der Mahnung an
die Mehrheitsgesellschaft, hin zur Forderung gegenüber den
MigrantInnengruppen zur Anpassung an „unsere universellen Normen und Werte“. In einer Zeit, in der ein Muttersprachverbot (zumindest für muslimische Kinder) auf Schulhöfen diskutier wird und in der es ein Buch wie „Deutschland
schafft sich ab“ von SPD-Sarrazin auf die Bestsellerliste
schafft, kann es für JugendarbeiterInnen nicht verkehrt sein,
sich mit dem Thema Islam und Rassismus neu zu befassen.
Schließlich stammt ein nicht unwesentlicher Teil unserer BesucherInnen (oder ihre Familien) aus „muslimischen Ländern“. Stefan Weidner, Autor des Jugendsachbuchs „Allah
heißt Gott. Eine Reise durch den Islam“ geht in folgendem
Beitrag der Frage nach, in welchem Verhältnis die religiösen
Gesetze des Islam, denen sich, glaubt man den Umfragen,
zunehmend auch Jugendliche aus ursprünglich eher säkular
orientierten Einwandererfamilien zugehörig fühlen, zu
„westlichen Werten“ und weltlichen Gesetzen stehen.
Immanuel Kant, die Aufklärung
und die Angst vor der Scharia
von Stefan Weidner
Die zunehmende Ablehnung des Islams speist sich nicht zuletzt aus der Angst vor der Scharia. Von vielen wird sie als arDennoch beinhaltet der Begriff mehr als die Summe dieser
chaisches Rechtsystem verstanden und mit Strafen wie Handeinzelnen Gesetze. Scharia bedeutet für die meisten (gläubiabhacken, Steinigung und dem Kampf gegen Ungläubige asgen) Muslime vielmehr das, was wir im Allgemeinen unter
soziiert. Angesichts dieser Schreckensvision – oder dem
Gerechtigkeit verstehen, unter „Recht“ im abstrakten Sinn.
ebenso pauschalen Gegenteil, der unhinterfragten EingeDies gilt umso mehr, als die meisten Muslime die einzelnen
meindung alles Islamischen – kommt kaum jemand mehr auf
Scharia-Gesetze genauso wenig kennen wie der durchschnittdie Idee, Grundgesetz und Scharia ernsthaft zu verliche Bundesbürger die einzelnen Paragraphen des
Foto: ASP Wegenkamp
gleichen und die Frage nach faktischen UnterBürgerlichen Gesetzbuchs.
schieden und möglichen Gemeinsamkeiten aufzuwerfen. Solange man diese
Von Kant stammt der Satz: „Das Recht
Fragen jedoch nicht stellt, ist alles
muss nie der Politik, wohl aber die
Gerede für oder wider den Islam
Politik jederzeit dem Recht angeein wohlfeiles Meinen. Zugepasst werden.“ Wenn man das
standen, ein solcher Vergleich
Wort „Recht“ durch Scharia erist nicht einfach. Gibt in unsesetzt, wie es ein Übersetzer tun
rem Rechtsystem das Grundkönnte, wird die problematigesetz Leitlinien und Prinzische Doppeldeutigkeit des
pien vor, während sich die
Begriffs evident. Dass „die
einzelnen Gesetze und VorPolitik jederzeit der Scharia
schriften als praxiswirksame
angepasst werden müsse“, ist
Ausgestaltung dieser Prinzinämlich ganz die Maxime der
pien begreifen, existiert eine
islamischen Fundamentalisten.
klare Unterscheidung zwischen
Begreift man die Scharia so,
Prinzip und konkreter Vorschrift in
nämlich als nicht weiter zu interder Scharia nicht. Sie besteht vielpretierende Sammlung vom Prophemehr aus den einzelnen Vorschriften in
ten stammender Regelungen, sind die
Koran und Hadith, den im achten
Gemeinsamkeiten mit dem säkularen
Jahrhundert zusammengestellten Aussprüchen
Rechtsverständnis klein. Kaum eine der schariades Propheten.
tischen Rechtsvorschriften hätte Platz etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch, und mit den Prinzipien des Grundgesetzes
sind die wenigsten zu vereinbaren.
Scharia bedeutet für die meisten (gläubigen)
Muslime das, was wir im Allgemeinen
unter Gerechtigkeit verstehen, unter
„Recht“ im abstrakten Sinn.
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FORUM für Kinder und Jugendarbeit 1/2011
Immerhin, Privatbesitz, freier Handel, sozialer Ausgleich zumindest in Form von Almosen, Rechtssicherheit, und, versteckt im Begriff der Ehre, Ansätze zu einer Vorstellung von
der Würde des Menschen sowie eine zwar eingeschränkte,
Immanuel Kant, die Aufklärung und die Angst vor der Scharia
Gegenstand des politischen Prozesses oder der Auseinandersetzung von Rechts- oder auch Religionsgelehrten. Im
Übrigen ist die Vorstellung, dass es eine einheitliche, bis in
die einzelnen Rechtsvorschriften klar definierbare Scharia
gäbe, immer schon eine fundamentalistische Fiktion gewesen. Selbst Mohammed hat ja im Koran durchaus verschieaber immerhin zugestandene Freiheit der (Buch)Religionen
dene Ansichten vorgetragen. Auch einem gläubigen Muslim
finden sich auch hier und lassen sich in der islamischen Geist es daher heute und in unserer Gesellschaft möglich, seischichte belegen. Überdies aber betrifft die fundamentalistinem Glauben und dem Geist der Scharia, verstanden als
sche Agenda viele Bereiche, aus denen sich ein säkularer
Recht im abstrakten Sinn, treu zu bleiben, ohne jede ihrer
Rechtsstaat heraushält, solang es nicht zu Exzessen kommt:
einzelnen Rechtsvorschriften buchstabengetreu zu befolDie Gestaltung des familiären und häuslichen Lebens, Fragen
gen. Es ist diese Freiheit zur Interpretation des alten Rechtsdes Kults, Speise- sowie Reinigungsvorschriften und derkorpus, worauf gegenwärtig nahezu alle muslimischen
gleichen mehr. Da ein gläubiger Muslim, wohnt
Reformer abzielen, auch in der islamischen
Foto: M. Essberger
er auf nicht-islamischem Gebiet, überdies
Welt selbst. Der durchschnittliche Muslim
die Gesetze des Gastlandes achten soll,
im Westen muss diese Reformdenker
kann selbst ein islamischer Fundanicht eigenhändig gelesen haben, um
menlist weitgehend, wenngleich
in einer freien, politisch aktiven
beschränkt aufs Private, seinen
Gesellschaft intuitiv zu wissen,
Glauben leben, ohne mit dem
dass Regelungen aus der Zeit
säkularen Rechtsstaat zwangsdes Propheten und seiner
läufig in Konflikt zu geraten.
Nachfolger allenfalls als
Richtlinien, aber kaum je als
Elemente des islamischen
konkrete gesetzliche RegeRechts, die in Zeiten eines
lungen Anwendung finden
nicht existierenden staatlichen
können.
Gewaltmonopols zum Schutz
etwa der Familie einen guten
Vor allem weniger gläubige
Dienst leisteten, erscheinen, wo
oder säkularisierte Muslime seder öffentliche Raum diesen
hen in ihrem Religionsverständnis
Schutz zur Genüge bietet, zurecht
daher in Wahrheit kaum Konfliktals Unterdrückung persönlicher Freipunkte mit dem säkularen Rechtsstaat.
heiten, besonders in Bezug auf die Rolle
Sofern die Mehrheitsgesellschaft bereit
der Frau. Denn der öffentliche Raum galt
ist, Muslime in den politischen Prozess einlange das Privileg des Mannes.
binden, werden diese in ihrer großen Mehrheit
nicht die Scharia durchsetzen wollen, sondern eher solche
Prinzipien, die auch viele alteingesessene Deutsche wertScharia als Verheißung
schätzen dürften: Weniger Staat, mehr Eigenverantwortung,
mehr Privatsphäre, einen größeren Familiensinn, mehr geeiner gerechteren Gesellschaft
genseitigen Respekt, eine größere Resistenz gegen
geistig-moralische Moden und dergleichen. Wer will davor
Nun ist aber die Scharia nur in der Lesart fundamentalistiAngst haben?
scher Muslime ein klar festgelegter, unbezweifelbarer Korpus
von Rechtsvorschriften (dessen Kenntnis überdies ein jahrelanges, hoch spezialisiertes Studium erfordert). Für die meisten Muslime ist der Begriff Scharia einfach gleichbedeutend
Stefan Weidner,
mit Gerechtigkeit, mit „Recht“ im abstrakten Sinn. Denn über
mehr als ein Jahrtausend hinweg galt die Scharia im ganzen
Autor des Jugendsachbuchs
islamischen Orient als Garant gegen Willkürherrschaft und
„Allah heißt Gott. Eine Reise durch
als Verheißung einer gerechteren Gesellschaft.
Versteckt im Begriff der Ehre finden sich in der
islamischen Geschichte Ansätze zu einer
Vorstellung von der Würde des Menschen.
Für diejenigen Muslime hingegen, die bereits in einem
Rechtsstaat leben, erübrigt sich diese Verheißung, entsprechend weniger Anhänger finden hierzulande die Fundamentalisten. Die meisten, auch strenger gläubigen Muslime im
Westen dürften den Satz von Kant daher so verstehen, wie
auch wir ihn zu verstehen gelernt haben: Die Politik muss
dem Prinzip des Rechts und der Gerechtigkeit verpflichtet
sein, aber was Recht im Einzelnen und konkret bedeutet, ist
den Islam“ (Fischer Schatzinsel,
9,90 Euro) ist 1967 in Köln geboren und hat Islamwissenschaften,
Germanistik und Philosophie
studiert. Er arbeitet als Redakteur
für die Kulturzeitschrift Fikrun
wa Fann / Art & Thought
(www.goethe.de/fikrun).
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