Die Scharia zwischen Tradition und Moderne Von Hakan Turan Inhalt 1. Das klassische islamische Recht: die Scharia 2. Drei Zugänge zum islamischen Recht 3. Der klassische Zugang 4. Neuzeitliche Zugänge 5. Inspirationen für Neuauslegungen 6. Beispiele für Historisierung 7. Der Pragmatische Zugang Das klassische islamische Recht: die Scharia Die Scharia • Scharia: „Weg zur Tränke“ (arabisch) • Bezeichnung für das klassische islamische Recht • Andere Rechtsbegriff als in der Moderne → umfasst alle Bereiche des Lebens und Glaubens Klassische Unterteilung der Scharia Scharia Glaube • Gott • Propheten • Heilige Schriften etc. Moral • Charakter • Ehrlichkeit • Seelische Reifung etc. Handeln Gottesdienste • Rituelles Gebet • Fasten etc. Juristisches • Eherecht • Erbrecht • Handelsrecht • Strafrecht • Kriegsrecht etc. Was ist die Scharia nicht? Die Scharia ist also… … kein Staatsmodell … sondern ein Synonym für das Gesamtsystem islamischer Glaubens- und Handlungsrichtlinien … nur in gewissen Aspekten problematisch … also insbesondere nicht vorrangig Strafrecht Konfliktbereiche Konfliktbereiche zwischen klassischem islamischem Recht und der modernen Demokratie • Möglichkeit eines säkularen und demokratischen Staates • Menschenrechte • Geschlechterungleichheit • Kriegsrecht • … Drei Zugänge zum islamischen Recht Drei Zugänge zum islamischen Recht 1) Klassischer Zugang: – Folgt der klassischen Gelehrtentradition Der klassische Zugang zur Scharia • Rechtsurteile der Scharia stehen nicht in Koran und Hadîth • sie werden per Interpretation aus den islamischen Quellen abgeleitet • zuständig für diese Ableitung: → Islamische Rechtswissenschaft al-fiqh Wie findet man die Scharia? Klassische Quellen und Methoden der islamischen Rechtswissenschaft – Koran – Hadîth (Wort) / Sunna (Praxis) des Propheten – Idschmâ‘ (Gelehrtenkonsens) – Qiyâs (Analogieschluss) – weitere Methoden Islamische Rechtshermeneutik • Die Scharia ist Gegenstand der Rechtswissenschaft al-fiqh • al-fiqh ist Gegenstand der Metawissenschaft usûl al-fiqh • usûl al-fiqh: islamische Rechtshermeneutik • Umfasst neben Rechtsmethodologie auch sprachwissenschaftliche und ethische Überlegungen • Hier werden die Auslegungsmethoden des fiqh diskutiert und festgelegt → Die Scharia ist also nicht direkt, sondern nur über Interpretationen des fiqh nach den Vorgaben des usûl al-fiqh zugänglich → Die Scharia ist ein komplexes Auslegungsprodukt → Pluralistische Auslegungspraxis (Rechtsschulen etc.) → Seit ca. 1000 n. Chr. Stillstand der Auslegungspraxis → Seit dem Kolonialismus unterschiedlichste Reformbestrebungen Neuzeitliche Neuzugänge 1) Klassischer Zugang: – Folgt der klassischen Gelehrtentradition 2) Neuzeitliche Zugänge – Modernistische Neuinterpretationen zu Einzelproblemen – Systematische und wissenschaftlich orientierte Neuansätze (Hermeneutik, Historisierung) Inspirationen aus der islamischen Tradition für moderne Koranzugänge Vernunft als Erkenntnisquelle Die Quellen der Erkenntnis in der sunnitischen KalâmTheologie (10. Jhd. n. Chr.): 1. Der Verstand 2. Die Sinne 3. Die gesicherte Nachricht • • Zeugenberichte Offenbarungen der Propheten (durch Wunder beglaubigt) → Verstand, Sinne und Offenbarung ergänzen und erklären sich gegenseitig → Der Wortlaut der Quellen ist nicht das Ende, sondern der Anfang des Erkenntnisprozesses → Nach der Kalâm-Schule des Imâm Mâturîdî ist auch der Verstand in der Lage das Gute und Schlechte zu erkennen Scharia: Eher Gesetz oder Ethik? „Zwecke der Scharia“ (maqÁÒid aš-šarÐÝa) des aš-ŠÁÔibÐ (gest. 1388 n. Chr.): Die Scharia als Mittel zur Erreichung folgender Zwecke: 1. Schutz der Religion (ÎifÛ ad-dÐn) 2. Schutz des Lebens (ÎifÛ an-nafs) 3. Schutz der Nachkommenschaft (ÎifÛ an-nasl) 4. Schutz der Vernunft (ÎifÛ al-Ýaql) 5. Schutz des Eigentums (ÎifÛ al-mÁl) Idee: → Wenn Gebote heute ihre Zwecke nicht mehr erfüllen, oder diese verfehlen, dann muss das islamische Recht anpassbar sein! ÝUmÁr ibn al-ËaÔÔÁb als erster Historisierer? „Die Almosen (as-Òadaqatu) sind nur (1) für die Armen, (2) die Bedürftigen, (3) diejenigen, die damit beschäftigt sind, (4) diejenigen, deren Herzen vertraut gemacht werden sollen (muÞallafat qulÙbuhum), (5) (den Loskauf) von Sklaven, (6) die Verschuldeten, (7) auf Allahs Weg (8) und (für) den Sohn des Weges, als Verpflichtung (farÐÃa) von Allah. Allah ist Allwissend und Allweise.“ (Sure 9, Vers 60) ÝUmÁr ibn al-ËaÔÔÁb als erster Historisierer? → Nach dem Tod des Propheten erwirkte ÝUmÁr eine Aufhebung des Zakat-Anrechts der Gruppe muÞallafat qulÙbuhum, da dieses politisch bedingt gewesen sei und heute seinen (die Muslime schützenden) Zweck nicht mehr erfülle → Aufhebung eines koranischen Gebots durch Verweis auf äußere Umstände und Zwecke, die im Koran nicht genannt sind Interpretationen im klassisch-sunnitischen Milieu: Al-MÁturÐdÐ (gest. 941 n. Chr.): Dies war ein naÒÌ (Urteilsaufhebung) durch iÊtihÁd (Verstandesschluss)! (Sönmez Kutlu in: Imam Mâturîdî ve Maturidilik, Ankara 2007, S. 43-45) Beispiele für modernistische und historisierende Koranauslegung Vorrangstellung des Mannes? „Die Männer stehen in Verantwortung für die Frauen ein, wegen dessen, womit Allah manche von ihnen vor manchen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Besitz (für sie) ausgeben… “ (4:34) Klassisch: Es entspricht der Natur von Mann und Frau, dass der Mann in der Ehe das Oberhaupt ist. Ausnahmen bestätigen die Regel. Modernistisch: Der Mann ist nur Oberhaupt, wenn er – wie im Vers angedeutet – wirklich überlegen und der Alleinversorger ist. Historisierend: Der Vers formuliert ein patriarchales Verhältnis, weil der Koran in einen patriarchalen Kontext gesprochen hat. Eine radikale Reform war damals weder möglich, noch vorrangiges Ziel. Der Koran hat gemäß der damaligen Möglichkeiten die Richtung zu mehr Rechten für die Frau gewiesen, in die wir heute gehen müssen. Es ist im Sinne des Islams das Fortzuführen, was er angefangen hat. Gewaltanwendung in der Ehe? „… Und die, deren Widersetzlichkeit ihr befürchtet, - ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie.“ (4:34) Klassisch: Mann darf seine Frau zum Schutz der Ehe als letzte der drei genannten Möglichkeiten leicht schlagen. Modernistisch: Im Vers steht nicht „schlagt sie“, sondern „trennt euch von ihnen“. Historisierend: Im Vers steht „schlagt sie“, aber erst als drittes. Da bei den Arabern das Schlagen als normal galt, war dieser Vers somit ein Schritt vom Schlagen weg. Da das Schlagen dem eigentlichen Geist des Islams widerspricht, und da auch der Prophet davon abriet, können wir sagen, dass das Schlagen unislamisch ist. (Ömer Özsoy, aber teils auch Hayrettin Karaman) Körperstrafe für Diebe? „Der Dieb und die Diebin: trennt ihnen ihre Hände ab als Lohn für das, was sie begangen haben, und als ein warnendes Beispiel von Allah…“ (5:38) Klassisch: Unter manchen Bedingungen wird dem Dieb zur Abschreckung die Hand abgeschlagen. Modernistisch: Im Vers steht nicht „schlagt die Hand ab“, sondern „macht einen leichten Ritz in die Hand“ (12:31), oder „Verwehrt ihnen den weiteren Zugang zum Stehlen“. Historisierend: Im Vers steht „schlagt die Hand ab“, weil dies eine damals bekannte und anerkannte Strafe war. Heute gibt es institutionalisierte Gefängnisse und Versicherungen, ferner schreckt diese Strafe heute eher vom Islam als vom Diebstahl ab. Darum kann auf andere Strafen zurückgegriffen werden. (Abu Zayd, aber auch Hassan at-Turabi) Drei Zugänge zum islamischen Recht 1) Klassischer Zugang: – Folgt der klassischen Gelehrtentradition 2) Neuzeitliche Zugänge – – Modernistische Neuinterpretationen zu Einzelproblemen Systematische und wissenschaftlich orientierte Neuansätze (Hermeneutik, Historisierung) 3) Pragmatische Zugänge – – – – Islam wird aus Lebenswirklichkeit heraus erschlossen Selektiver und unsystematischer Umgang mit klassischen und modernen Deutungen Sozialer Kontext ist die Leitlinie Hohe Praxistauglichkeit trotz fehlender Theorie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!