VL Späte Republik Handout 2

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VL Eine unvermeidbare Zerstörung? Die letzte Phase der Römischen Republik
Sommer 2008
2. Neuer Stil und neue Agenda: die Gracchen und die Folgen
Quellen: Alle wesentlichen Quellen finden sich – nach Jahren (annalistisch) geordnet – in: A.H.J.
GREENIDGE, A.M. CLAY, E.W. GRAY, Sources for Roman History, 133–70 B.C., Oxford 1960 (originalsprachlich); D.L. Stockton, From the Gracchi to Sulla. Sources for Roman History, 133–80
B.C., London 1991 (in engl. Übersetzung).
Eine der beiden Hauptquellen ist – neben Appian – Plutarchs Biographie des Ti. Gracchus; eine
ausführliche, wenn auch etwas konventionelle Interpretation der zentralen Kapitel 8-9 bietet Klaus
MEISTER, Einführung in die Interpretation historischer Quellen (s. Bibl. zur VL), 123-38.
•
•
Literatur zu Ti. Gracchus: Neben den einschlägigen Kapiteln in den übergreifenden
Darstellungen (am besten jetzt: Linke, Die römische Republik ..., 2005, 17ff.) sind zu
nennen:
- Ernst BADIAN, , Tiberius Gracchus an the Beginning of the Roman Revolution, in: H. Temporini
(Hg.), Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Bd. 1: Von den Anfängen Roms bis zum
Ausgang der Republik, Berlin/New York 1972, S. 668-731
- David STOCKTON, The Gracchi, Oxford 1979, 22002 (beste zusammenfassende Darstellung)
- Klaus BRINGMANN, Die Agrarreform des Tiberius Gracchus. Legende und Wirklichkeit, Stuttgart 1985
- Jochen BLEICKEN, Überlegungen zum Volkstribunat des Tiberius Sempronius Gracchus, in: Historische Zeitschrift 247, 1988, 165-193.
•
lateinische Begriffe: nobiles, res publica, iugum („Joch“, = 0,25 Hektar), lex agraria, plebs rustica /
urbana, mos maiorum
Rechte der 10 Volkstribunen (tribuni plebis) (s. J. BLEICKEN, Die Verfassung der röm. Republik,
7
1995, 108-10):
- Hilfe für bedrängte Bürger (ius auxilii ferendi)
- Verhinderung magistrat. Handlungen (intercessio; veto)
- Einberufung und Leitung sowohl informeller (contiones) als auch beschlußberechtigter Volksversammlungen (concilium plebis)
•
Schritt zur Schaffung einer Finanzstruktur der Republik war um 300 v.
Chr. die Übernahme der agri quaestorii
in Sabinum in die Verwaltung der quaestores urbani. Der während des 2. Punischen Krieges konfiszierte ager Campanus wurde von den Censoren verpachtet.
Bes. nach dem 2. Punischen Krieg unterlag das verpachtete Land weitgehend
einer nur geringfügigen Kontrolle, was
die Größe der Ländereien, die eine
Person besaß, sowie die Einziehung der
Pachten anbetraf. Es war gerade dieses
Land, das Ti. Gracchus wieder einzuziehen und zu verteilen suchte. Das röm.
Modell wurde sowohl von Municipien
als auch von latinischen und anderen
verbündeten Städten nachgeahmt, die
inneroder außerhalb It. Ländereien oder
anderes Eigentum besaßen. Diese öffentlichen Einkünfte waren für die
Zwecke des Gemeinwesens bestimmt;
es ist unbekannt, ob solches Land jemals
verteilt wurde; allerdings ist dies für die
it. Städte vor ihrer Unterwerfung durch
Rom durchaus möglich. (...) Verschiedene Kategorien des a.p. populi Romani
sind durch die inschr. erhaltene lex
agraria aus dem Jahre 111 v. Chr. belegt (s. CRAWFORD, Roman Statutes,
Nr. 2). (...) Der a.p. war ein wichtiges
Thema der röm. Geschichtsschreibung,
wie sich bei Appian (civ. 1,7) und Plutarch (Gracchi 8) zeigt. Der Beruf eines
agrimensor oder gromaticus war nicht
nur mit der Verwaltung von Privatland
und Streitfällen über Land befaßt, sondern vor allem mit öffentlichem Land
sowie mit der Abgrenzung zw. öffentlichem und privatem Land. In der Zeit des
Principats verlor der a.p. populi Romani,
der schon zuvor durch die Landverteilung der Zeit zw. Ti. Gracchus und
Augustus reduziert worden war, neben
den Besitzungen des Princeps seine
Bedeutung.
M.H. CRAWFORD
•
Ager publicus (aus: Der Neue
•
Für die ‘agrarkapitalistische’ Herleitung der sog. vorgracchischen Krise s. Appian, Bürgerkriege
(App. civ.) 1,7-8:
Pauly 1, 1996, 251-52)
Es ist möglich, daß sich bereits in der
Frühzeit Roms a.p., öffentliches Land,
auf dem Territorium der Stadt befand.
Doch der größte Teil des a. p. entstand
durch Konfiskationen in den Gebieten
besiegter Völker innerund außerhalb It.,
oder durch Einziehung königlicher
Ländereien wie der Attalici agri in dem
früheren Königreich von Pergamon. A.p.
populi Romani wurde lange Zeit in
unterschiedlichem Umfang für Viritanassignationen, für die Gründung röm.
und latinischer Kolonien in den eroberten Gebieten sowie für die Verteilung
von Land an die Armen genutzt. Daher
war die Behandlung des a.p. eine der
wichtigsten Fragen in den polit. Kontroversen der röm. Rep. Wurde der a.p.
niemandem zugewiesen, so wurde er
zusammen mit anderem Eigentum der
res publica verwaltet, um öffentliche
Einkünfte zu gewinnen. Ein wichtiger
Ο γρ πλο
σιοι τσδε τς νεµτου γς τν
πολλν καταλαβντες κα χρν θαρρο ντες ο!
τινα σφ#ς $τι φαιρσεσθαι τ% τε γχο σφ&σιν
'σα τε (ν )λλα βραχ*α πεντων, τ µ,ν -νο
µενοι
πειθο., τ δ, β&/ λαµβ%νοντες, πεδ&α µακρ ντ
„Die Reichen nahmen den Großteil dieses nicht aufgeteilten Landes
(gemeint: des ager publicus) in Besitz und vertraten im Laufe der
Zeit die kühne Meinung, daß niemand mehr ihnen dieses abnehmen
könne. Außerdem zogen sie die angrenzenden Landstriche und was
sonst noch an bescheidenem Grundbesitz armer Leute vorhanden
war an sich, teils durch Kauf unter gütlichem Zureden, teils durch
gewaltsame Wegnahme. So konnten sie statt kleiner Güter ausge-
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χωρ&ων 0γε1ργουν, -νητο.ς 0ς α3τ γεωργο.ς κα
ποιµ*σι χρ1µενοι το µ το4ς 0λευθ*ρους 0ς τς
στρατε&ας π5 τς γεωργ&ας περισπ#ν, φερο
σης
6µα κα τσδε τς κτσεως α3το.ς πολ4 κ*ρδος 0κ
πολυπαιδ&ας θεραπντων κινδ
νως α3ξοµ*νων
δι τς στρατε&ας. π5 δ, το
των ο µ,ν δυνατο
π%µπαν 0πλο
τουν, κα τ5 τ8ν θεραπντων γ*νος
ν τν χ1ραν 0πλθυε, το4ς δ' ᾿Ιταλι1τας
;λιγτης κα δυσανδρ&α κατελ%µβανε, τρυχοθεντο,
τς γς <π5 τ8ν πλουσ&ων 0χοµ*νης κα γεωρ-γο.ς
χρωµ*νων θερ%πουσιν ντ 0λευθ*ρων.
'Ef' οAς B δµος 0δυσφρει µ,ν Cς ο!τε
συµµ%χων 0ξ ᾿Ιταλ&ας $τι ε3πορσων ο!τε τς
Dγεµον&ας ο γενησοµ*νης κινδ
νου δι πλθος
τοσνδε θεραπντων·
Sommer 2008
dehnte Latifundien bebauen, wofür sie dann Sklaven als Arbeiter
und Hirten einsetzten; das sollte verhindern, daß freie Arbeitskräfte
vom Ackerbau zum Heeresdienst abgezogen werden konnten.
Gleichzeitig brachte auch dieser Besitz von Sklaven den Reichen
großen Gewinn, da ja jene zahlreiche Kinder hatten und sich wegen
der Befreiung vom Kriegsdienst ungefährdet vermehren. So wurden
die einflußreichen Persönlichkeiten steinreich und das Sklavenvolk
nahm über das Land hin massenhaft zu, während die Italiker an Zahl
und Stärke dahinschwanden und sich in Armut, Steuerabgaben und
Feldzügen erschöpften. Konnten sie dann etwas Ruhe von diesen
Lasten finden, mußten sie ihre Zeit untätig hinbringen, da sich ja das
Land in den Händen der Reichen befand und diese als Landarbeiter
statt freier Männer Sklaven einsetzten. Die Zustände versetzten das
Volk in Unruhe; denn es sollte nicht mehr genügend Verbündete
italischer Herkunft besitzen (hier mengt Appian die erst später
virulente Bundesgenossenfrage hinein) und wegen der gewaltigen
Menge von Sklaven auch seine führende Stellung nicht ungefährdet
sein.
Vgl. für den aktuellen Forschungsstand L. de LIGT, The Economy: Agrarian Change During the Second Century, in: Rosenstein, Morstein-Marx, A Companion to the Roman Republic (s. Bibl. zur VL) 590-605.
• Das unmittelbare Erbe des Ti. Gracchus: die Landverteilung
Die Landverteilung ging nach dem Untergang des Ti. Gracchus noch einige Jahre weiter. Wie viele
Bauernstellen schließlich dauerhaft entstanden, ist strittig. Einen gewissen Abschluß bildete eine teilweise erhaltene, nicht genau zu datierende lex agraria (dazu ausführlich M.H. CRAWFORD, Roman
Statutes, London 1996, 113-180)
Auch ein Gegner des Ti. Gracchus konnte dessen Politik übernehmen, wenn diese eingebunden erschien
in breiter angelegte Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit in Italien. Aufschlußreich dafür ist die
in der Nähe von Forum Popilii (Polla) in Lukanien gefundene, 132 v.Chr. an einem Meilenstein angebrachte Inschrift (Inscriptiones Latinae liberae rei publicae ed. Degrassi Nr. 454):
[P POPILLIVS C F CO(N)S(VL)]
VIAM FECEI AB REGIO AD CAPVAM ET
IN EA VIA PONTEIS OMNEIS MILIARIOS
TABELARIOSQVE POSEIVEI HINCE SVNT
NOVCERIAM MEILIA LI CAPVAM XXCIIII
MVRANVM LXXIIII COSENTIAM CXXIII
VALENTIAM CLXXX.. AD FRETVM AD
STATVAM CCXXXI.. REGIVM CCXXXVII
SVMA AF CAPVA REGIVM MEILIA CCCXXI..
ET EIDEM PRAETOR IN
SICILIA FVGITEIVOS ITALICORVM
CONQVAEISIVEI REDIDEIQVE
HOMINES DCCCCVII EIDEMQVE
PRIMVS FECEI VT DE AGRO POPLICO
ARATORIBVS CEDERENT PAASTORES
FORVM AEDISQVE POPLICAS HEIC FECEI.
•
[P. Popilius, des Gaius Sohn, Konsul].
Ich habe die Straße von Rhegium nach Capua erbaut und an dieser Straße alle Brücken, Meilensteine und Wegweiser errichtet. Von hier sind es
nach Nuceria 51 Meilen, nach Capua 84, nach Muranum 74, nach Cosentia 123, nach Valentia 180, an
die Meerenge [von Messina] zum Standbild 231,
nach Rhegium 237; zusammen von Capua nach
Rhegium 321 Meilen. Und ich habe ferner als
Praetor in Sizilien die entlaufenen Sklaven der Italiker aufgespürt und 907 Mann ihren Besitzern zurückgegeben. Und ich habe als erster erreicht,
daß die Hirten auf dem ager publicus den
Pflügern Platz machten. Auch den Marktflecken
[forum] und die öffentliche Gebäude hier habe ich
angelegt.
Das politische Erbe des Ti. Gracchus: die sog. populare Methode (J. v. UNGERN-STERNBERG,
Der Neue Pauly 1, 2001, 151-154 s.v. Populares)
I. Die Bedeutung des Begriffs
Der lat. Begriff bezeichnet Politiker der späten röm. Republik,
die erklärtermaßen mit Hilfe und zugunsten des Volkes (populus) handelten; eine begriffliche und häufig genug auch
sachliche Unschärfe ergibt sich aber daraus, daß das zugrundeliegende Adj. popularis zunächst »zum Volk gehörig«, »das
Volk angehend«, dann nebeneinander »populär« und »im
Interesse des Volkes« bedeutet. Agitation von p. vor der
Menge gegen die etablierte Führungsschicht (pauci; »die
Wenigen«) ist von der Sache her nahezu naturgegeben und
begegnet bereits in den Komödien des Plautus (Plaut. Trin. 34
f.) und Terentius (Ter. Hec. 44 ff.); ein erster Beleg für den
polit. Begriff p. ist möglicherweise Accius, Pragmatica fr. 34W.
Differenzen zw. Volkstribunen (tribunus) und der Senatsmehrheit sind schon seit Mitte des 2. Jh. v. Chr. zu verzeichnen; erhöhte Brisanz erhielt der Gegensatz 133 v. Chr., als Ti.
Sempronius Gracchus ein Agrargesetz gegen den Willen des
Senats vom Volk beschließen ließ und mit der Absetzung
eines Kollegen, der eigenmächtigen Regelung von Finanzangelegenheiten und dem Versuch einer Wiederwahl zum
Volkstribun weitere Konflikte verursachte. Sein Verhalten
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VL Eine unvermeidbare Zerstörung? Die letzte Phase der Römischen Republik
wurde konstitutiv für die popularis ratio oder via im Kontrast
zu den boni (den Besitzenden) oder optimates, wie Cicero
(Cic. rep. 1,31) durchaus zu Recht feststellt (vgl. Sall. Iug.
42,1). Ti. Gracchus als dem ersten der vier »großen p.« folgten
sein Bruder C. Sempronius Gracchus (tr. pl. 123/122 v. Chr.),
L. Appuleius [I 11] Saturninus (tr. pl. 103 und 100 v. Chr.)
und P. Sulpicius (das Cogn. Rufus ist schlecht belegt: MRR III
202). Zahlreiche andere Politiker betrieben zeitweilig populare
Agitation oder schlugen populare Maßnahmen vor, in der
Regel als Volkstribune; popular agierende Consuln sind dagegen selten: neben L. Cornelius [I 18] Cinna (cos. 87-84 v.
Chr.) und M. Aemilius [I 11] Lepidus (cos. 78 v. Chr.) ist v. a.
Caesar in seinem Konsulat 59 v. Chr. zu nennen.
II. Themen der popularen Politik
Gegenstand popularer Politik waren v. a. die Sicherung bzw.
Erweiterung der Freiheitsrechte des Volkes und die Sicherung
bzw. Besserstellung seiner materiellen Existenz. Ersterem
dienten etwa die Gesetze zum Provokationsrecht (provocatio),
die Einführung geheimer Abstimmung bei Volksbeschlüssen
oder Gerichtsverfahren (leges tabellariae), Gesetze, die eine
Beteiligung des Volkes an den Priesterwahlen vorsahen, und
schließlich die Majestätsgesetze (leges de maiestate), die sich
vornehmlich gegen die Mißachtung von Gesetzen und Volksbeschlüssen durch Magistrate (magistratus) richteten. Der in
den Jahren nach 78 v. Chr. geführte Kampf um die Wiederherstellung der von Cornelius [I 90] Sulla eingeschränkten Befugnisse des Volkstribunats gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Eine wirtschaftliche Besserstellung hatten die
Agrargesetze zum Ziel, später auch die Gesetze zur Versorgung von Veteranen mit Land; für die Existenzsicherung der
plebs urbana sorgten die Frumentargesetze; die Agitation für
einen Schuldenerlaß kann dagegen auch im Interesse von
Angehörigen der Führungsschicht gelegen haben.
Seit der Zeit des Marius [I 1] traten die p. zugunsten von
ambitionierten Einzelpersönlichkeiten auf, so in der nachsullanischen Zeit etwa für Pompeius [I 3], M. Licinius [I 11]
Crassus und Caesar. Der popularis ratio konnten sich auch
Politiker mit optimatischen Zielen bedienen, wie v. a. im Falle
des älteren und jüngeren M. Livius [I 6 und 7] Drusus (tr. pl.
122 und 91 v. Chr.) deutlich wird. Auf einzelnen Gebieten,
insbesondere bei der Getreideversorgung (cura annonae)
Roms, überschnitten sich populare und optimatische Strategien. Wichtig war dabei die stets mitschwingende Bedeutungsnuance von p. als »populär«, die ein Cicero - etwa in der
zweiten Rede De lege agraria 63 v. Chr. - souverän zu nutzen
wußte, um seine eigene Politik der seiner Meinung nach verfehlten Politik der p. als wahrhaft »volksfreundlich« gegenüberzustellen (Cic. leg. agr. 2,6-19).
III. Ziele der Populares
Die p. strebten schon deshalb keine »Demokratisierung«
Roms an, weil das Volk dort ohnehin seit alters über Gesetze
abstimmte und wählte. Sie bildeten auch keine geschlossene
»Partei«, weil jeder Politiker seinen persönlichen cursus honorum im Auge hatte und das durch Annuität und Kollegialität
eingeschränkte Volkstribunat keine Voraussetzung für eine
langfristig angelegte Realisierung programmatischer Ziele bot.
Zudem existierte in den »Treu- und Nahverbindungen« clientela (cliens) bzw. amicitia - ein dichtes Netz sozialer
Beziehungen spezifisch röm. Art. Da die im Senat organisierte
Führungsschicht sich aber 133 v. Chr. und in der Folgezeit als
unfähig zu gründlichen Reformen erwies, gab es eine Kontinuität der Probleme, in erster Linie der Agrarfrage. Ihre natürliche Folge war das immer wieder erneuerte Auftreten von p.
und eine durchgängig gegebene grundsätzliche Identität popularer Politik. Sie ist Cicero (Cic. Catil. 4,9 f.) wie Sallustius
(Sall. Catil. 38,3) bewußt, wenngleich sie bei Cicero gewöhnlich negativ gewertet wird (Cic. Sest. 96 ff.). Sehr spät wurde
Cicero freilich klar, daß beide Seiten, optimates wie p., be-
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grenzte Standpunkte und nicht das Gesamtwohl vertraten (Cic.
off. 1,85).
IV. Tradition und populare Politik
Wie vieles in der späten Republik wurde auch der Gegensatz
zw. optimates und p. durch die annalistische Geschichtsschreibung in die Frühzeit Roms zurückprojiziert. Dies gilt für
die Schilderung der Volkstribunen, ihrer Agitation in der
Agrar- und Schuldenfrage ebenso wie für die Charakterisierung der seditiosi (wörtl. »Aufrührer«) Sp. Cassius [I 19], Sp.
Maelius [2] und v. a. M. Manlius [I 8] Capitolinus sowie ihrer
Gegner, aber auch etwa für das Auftreten des Decemvirn Ap.
Claudius [I 5] bei Livius (Liv. 3,35). Allerdings sind nicht alle
Parallelen als Rückprojektion zu betrachten, denn die Epoche
der Ständekämpfe blieb für das Selbstverständnis des aus
ihnen resultierenden Volkstribunats verbindlich, und die p.
griffen auch häufig auf Kampfmethoden und -ziele der frühröm. plebs zurück oder appellierten jedenfalls an frühröm.
Vorbilder (Plut. C. Gracchus 3,3; vgl. auch die popularen
Redner bei Sallustius: C. Memmius [I 1], M. Aemilius [I 11]
Lepidus sowie C. Licinius [I 30] Macer).
Ob es in engerem Sinn ein populares Kontinuitätsbewußtsein
bis hin zur Frühzeit gab, ist mangels klarer Zeugnisse nicht zu
beantworten. Ciceros Aufzählung prominenter p. (Cic. ac.
2,13) kann auch seine eigene Konstruktion sein. Mit Sicherheit waren aber die Gracchen und ihre Mutter Cornelia [I 1]
ein Bezugspunkt für alle späteren p., so schon für C. Memmius [I 1] (Sall. Iug. 31; vgl. Rhet. Her. 4,48) und L. Appuleius [I 11] Saturninus. Bezeichnend ist auch, wie Cicero sich
vor dem Volk sogleich auf die Gracchen bezieht (Cic. leg. agr.
2,10). Auch die Reihe der vier »großen p.« begegnet vor
Cicero bereits in der Rhetorica ad Herennium (Rhet. Her.
4,31), wobei sich freilich bereits dort M. Livius [I 7] Drusus
(tr. pl. 91 v. Chr.) einschiebt, der dann im Schema der vier
seditiones der Kaiserzeit P. Sulpicius ersetzen sollte (Flor.
epit. 2,1-5; Ampelius 26). Auch ohne direkte Abfolge oder
feste Verbindungen ergibt sich somit zw. den p. ein Bewußtsein der Gemeinsamkeit, ein Zusammenhang, für den der
(mod.) Begriff der »Bewegung« hilfreich sein könnte.
Anmerkungsliteratur:
1 J.-M. David, »Eloquentia popularis« et conduites symboliques des
orateurs de la fin de la République: problèmes d'efficacité, in: Quaderni di storia 12, 1980, 171-211
2 J.-L. Ferrary, K.-J. Hölkeskamp, Optimates et P. Le problème du
rôle de l'idéologie dans la politique, in: H. Bruhns, J.-M. David, W.
Nippel (Hrsg.), La fin de la république romaine, 1997, 221-235
3 U. Hackl, Die Bed. der popularen Methode von den Gracchen bis
Sulla im Spiegel der Gesetzgebung des jüngeren Livius Drusus,
Volkstribun 91 v. Chr., in: Gymnasium 94, 1987, 109-127
4 M. Jehne (Hrsg.), Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der
Politik der röm. Republik, 1995
5 N. Mackie, Popularis. Ideology and Popular Politics at Rome in the
First Century B. C., in: RhM 135, 1992, 49-73
6 J. Martin, Die Popularen in der Gesch. der Späten Republik, Diss.
Freiburg i.Br. 1965
7 Ch. Meier, s. v. P., RE Suppl. 10, 549-615
8 F. Millar, The Crowd in Rome in the Late Republic, 1998
9 L. Perelli, Il movimento popolare nell'ultimo secolo della repubblica, 1982 (dazu Gnomon 58, 1986, 154-159)
10 R. Seager, »P.« in Livy and the Livian Tradition, in: CQ 27, 1977,
377-390
11 L. R. Taylor, Forerunners of the Gracchi, in: JRS 52, 1962, 19-27
12 L. Thommen, Das Volkstribunat der späten röm. Republik, 1989
13 J. von Ungern-Sternberg, Die Legitimitätskrise der röm. Republik,
in: HZ 266, 1998, 607-624
14 J. von Ungern-Sternberg, Die popularen Beispiele in der Schrift
des Auctors ad Herennium, in: Chiron 3, 1973, 143-162
15 P. J. J. Vanderbroeck, Popular Leadership and Collective Behavior
in the Late Roman Republic (ca. 80-50 B. C.), 1987
16 A. Yakobson, Elections and Electioneering in Rome: A Study in the
Political System of the Late Republic, 1999.
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VL Eine unvermeidbare Zerstörung? Die letzte Phase der Römischen Republik
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Sommer 2008
Bis zum Tod des C. Gracchus: eine Übersicht (aus: Der Große Ploetz, 35. Auflage, erscheint
Göttingen 2008 [s. Bibl. zur VL], hier etwas modifiziert)
132 v. Chr.
Durch außerordentliche, vom Senat eingerichtete
Gerichtshöfe werden weitere Anhänger des Tiberius
Gracchus zum Tod verurteilt und hingerichtet.
Das Ackergesetz bleibt zunächst wirksam. Die italischen Bundesgenossen, die auch ager publicus besetzt haben, aber als Nicht-Bürger nicht zum Kreis
der Empfänger neuer Parzellen gehören, intervenieren gegen die Landverteilung.
129 v. Chr.
Der Ackerkommission werden Kompetenzen entzogen, was faktisch zum Ende ihrer Arbeit führt.
125 v. Chr.
Der Konsul Marcus Fulvius Flaccus (†121), seit 130
Mitglied der Landverteilungskommission, beantragt,
den Bundesgenossen wahlweise das Bürgerrecht oder
das Provokationsrecht zu erteilen, um die Ackerverteilung wieder in Gang zu bringen; er wird aber vom
Senat auf ein Kommando in Südgallien abgeschoben.
123–122 v. Chr.
Gaius Sempronius Gracchus (* 153, † 121), der
jüngere Bruder des Tiberius, nimmt als Volkstribun
dessen Politik mit einem umfassenden Reformprogramm wieder auf. Die Gesetzesanträge, teilweise
von Kollegen des Gaius Gracchus eingebracht, zielen
auf eine politische und juristische Absicherung der
„popularen“ Maßnahmen; sie lassen sich in drei
Hauptgruppen einteilen:
1) Verfahrensgesetze, die auf das Schicksal des
Tiberius Gracchus reagieren und tribunizisches Handeln für die Zukunft sichern sollen: u.a. eine lex de
capite civis, die Sondergerichte wie die von 132
verbietet, soweit sie nicht durch Volksbeschluß eingerichtet werden; damit wird das Provokationsrecht
erneut eingeschärft.
2) Sozialgesetze: Durch ein Ackergesetz greift Gaius
Gracchus die Agrarreform seines Bruders auf und
stattet wahrscheinlich die Landverteilungskommission erneut mit umfassenden Vollmachten aus; in
den Zusammenhang der Agrarreform gehören wohl
auch mehrere Gesetze über die Gründung von Kolonien, darunter Iunonia auf dem Gebiet von Karthago;
durch ein Getreidegesetz (lex frumentaria) soll die
kontinuierliche Getreideversorgung der Plebs zu
einem festen Preis gesichert werden; diesem Zweck
dient auch die Errichtung von Getreidemagazinen
und vielleicht die Förderung des Straßenbaus; eine
lex militaris verbietet, Jugendliche unter 17 Jahren
zum Kriegsdienst heranzuziehen; den Soldaten wird
ihre Kleidung künftig vom Staat gestellt.
3) Gesetze, die das Verhältnis Roms zu den Latinern, Bundesgenossen und Provinzialen regeln:
Ein Gesetzesantrag, daß Latiner Bürger- und Bundesgenossen Latinerrecht erhalten, geht nicht durch;
um eine wirksame Kontrolle der Statthalter zu ermöglichen, sollen künftig in Repetundengerichten
Ritter statt Senatoren Richter sein und die Verfahren
transparenter sein; durch ein Gesetz über die konsularischen Provinzen wird bestimmt, daß künftig die
Amtsbereiche („Provinzen“) der Konsuln vor deren
Wahl festgelegt werden sollen; schließlich wird
bestimmt, daß die Tribute der Provinz Asia durch
römische Steuerpächter eingezogen werden sollen.
Gaius Gracchus greift mit seinen Gesetzen,
die ein umfassendes Konzept zur Veränderung der
„politischen Grammatik“ (Christian Meier) in Rom
verraten und unverkennbar gegen den Senat gerichtet sind, zugleich einige neuralgische Probleme des
politischen und sozialen Systems auf. Seine Innovation besteht in der Einbindung bisher isolierter und
nur sporadisch thematisierter Einzelprobleme in
einen Gesamtzusammenhang; außerdem aktiviert er
mit der stadtrömischen plebs und den Rittern
zwei bislang eher passive Gruppen und setzt für sie
Agenden, die künftig immer wieder eine Rolle spielen (Getreideversorgung; Besetzung der Gerichte;
Rahmenbedingungen für Staatspacht).
Als er, für 122 wiedergewählt, im zweiten Amtsjahr
nach Iunonia geht, um die Gründung der Kolonie
vorzubereiten, beantragt der Tribun Marcus Livius
Drusus († 91) im Auftrag des Senats die – in der
Sache völlig unrealistische – Gründung von zwölf
Kolonien in Italien, um Gaius Gracchus in der Gunst
des Volkes auszustechen. Außerdem werden Aversionen der Plebs gegen die Bundesgenossen, Latiner
und Ausländer geschürt. Bei der Tribunenwahl für
121 unterliegt Gaius Gracchus. Daß die antigracchische Mehrheit im Senat den Konflikt damit nicht für
entschärft hält, sondern auf die politische und am
Ende auch physische Vernichtung ihres Gegners
zielt, zeigt, wie tief sich die Gegensätze bereits eingefressen haben.
121 v. Chr.
Bei dem Versuch des Senats, die Kolonie Iunonia
aufzuheben, kommt es zum Tumult. Gaius Gracchus,
Marcus Fulvius Flaccus und ihre Anhänger besetzen
den Aventin, der in den Ständekämpfen Hauptort des
plebejischen Widerstandes gegen die Patrizier gewesen war. Der Senat ruft erstmals den „Ausnahmezustand“ aus (senatus consultum ultimum: Videant
consules ne quid detrimenti res publica capiat = die
Konsuln sollen dafür sorgen, daß der Staat keinen
Schaden nimmt), der den Konsuln unbegrenzte Gewalt einräumt – eine Antwort auf die lex de capite
civis des Gaius Gracchus und generell auf die erwiesene Machtlosigkeit des Senats gegen energische
Volkstribune. Erstmals werden kretische Bogenschützen und damit Militär in einem innenpolitischen
Konflikt eingesetzt. Gracchus kann noch über den
Tiber entkommen, läßt sich dann aber von einem
Sklaven töten; sein Leichnam und der des Flaccus
werden geschändet. 3000 seiner Anhänger werden
ohne Verfahren hingerichtet. Der Senat weiht einen
Tempel der Concordia (Eintracht).
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