Post-Polio-Syndrom und Beweisbarkeit Dr. med. Peter Brauer Niemandem würde es einfallen, eine Diagnose wie die der Schizophrenie aus dem Blutbild und einem Röntgenbild zu stellen, aber für eine Diagnose Post- Polio-Syndrom werden immer wieder paraklinische Beweise gefordert. (BRAUER) Die Medizin neigt über die Krankengeschichte des Patienten hinaus in wachsendem Maße zur Forderung nach beweisenden Untersuchungsergebnissen für vorliegende Krankheitserscheinungen. Dabei vernachlässigt sie allzu häufig die Nachweisgrenzen ihrer Untersuchungsmethoden. Außerdem sind infolge Kenntnismangel zur vorliegenden Erkrankung Untersuchungsansätze gelegentlich auch ungeeignet und zeitigen so ein normales Ergebnis. Aus der Feststellung „ohne Befund“ beziehungsweise „unauffällig“ wird dann schnell „nicht krank“ oder „psychisch bedingt“. Die therapeutischen Konsequenzen sind für den Patienten nicht selten mehr oder weniger katastrophal. Eine organische Erkrankung wie das PostPolio-Syndrom wird entgegen der WHO-Klassifizierung (ICD 10, G 14) als neurologische Erkrankung in den Bereich des psychisch Krankhaften verschoben. Ganz besonders davon betroffen sind die so genannten Ausschlussdiagnosen. Dazu gehört unter anderen auch das Post-Polio-Syndrom, eine vielgestaltige PolioSpätfolge von einfacher bis zur komplexen Ausprägung. Erschwerend kommt das verbreitete Missverständnis bezüglich der Definition Ausschlussdiagnose hinzu, welches die ausschließliche Anerkennung der Diagnose unter der Voraussetzung fordert, dass zunächst andere Ursachen für die jeweiligen Krankheitserscheinungen im Sinne eines ENTWEDER-ODER ausgeschlossen sind und eine Parallelität nicht akzeptiert wird. Richtig jedoch ist: Eine Ausschlussdiagnose ist nicht ausschließbar, weil sie als solche in der Regel ursächlich weder bewiesen noch ausgeschlossen werden kann. Sie dient lediglich dem Zweck, andere behandlungspflichtige mögliche Krankheiten einer Behandlung zuzuführen, das heißt, deren Behandlung nicht zu versäumen. Sie ist in jedem Falle sowohl einzeln als auch parallel zu führen, um auch hier therapeutische Konsequenzen nicht außer Acht zu lassen. Ihre Symptome sind zwar nicht als beweisende, sondern bei entsprechender Charakteristik ohne Voraussetzungsauflage als hinweisende zu betrachten. Das Post-Polio-Syndrom kann eine Vielzahl von Symptomen einzeln oder auch kombiniert aufweisen, für deren Ursache es medizinisch wissenschaftliche virologische, pathologisch-anatomische, immunologische und molekularbiologische Erklärungen gibt. Mit allen funktionellen Abhängigkeiten dürfte die Zahl der Symptome bei über einhundert liegen. Diese Größenordnung gründet sich in der endgültigen Krankheitsausprägung der Polio-Infektion im Zentral-Nerven-System, das heißt in Gehirn, Rückenmark und Spinalganglien, wobei das Gehirn immer und das Rückenmark meistens betroffen ist. (BODIAN in BRUNO) Dieser Vorgang ist mit einem regellosen Nervenzellverlust verbunden, wovon bis zu 50 % in einem Funktionsbereich im Rahmen der Ausgleichsfähigkeit im Nervensystem strukturell wie funktionell ausgeglichen werden können. Bezogen auf das Rückenmark ist das Gehirn mit einem sehr viel größeren Ausgleichsvermögen ausgestattet. Andererseits ist die anatomisch örtliche Zuordnung von poliobedingten Schäden, seien sie nun klinisch von Bedeutung oder auch nur subklinisch (klinisch symptomlos), aufgrund der hohen strukturellen und funktionellen Gesamtvernetzung des Zentralnervensystems überwiegend nicht möglich. Elektrische und chemische Arbeitssignale der Nerven bewegen sich neben dem wechselseitigen Austausch zwischen gesunden auch von gesunden zu schadhaften Bereichen und umgekehrt mit der möglichen Folge von krankheitswertig verarbeiteten Informationsübermittlungen. Also arbeiten auch fehlgesteuerte gesunde Einheiten nicht in jedem Fall in gewohnter Weise. Das trifft nun nicht nur auf den wechselseitigen Informationsaustausch innerhalb des Zentral-Nerven-Systems zu, sondern auch auf die davon abhängigen Organe des gesamten Organismus. Sollten Symptome auf eine unnormale Arbeitsweise von Organen hinweisen, könnte das in einer direkten krankhaften Veränderung im Organ selbst, in mit ihnen funktionell verbundenen Organen oder einer zentralen Fehlsteuerung liegen. Im letzteren Fall bliebe die Organuntersuchung ohne auffälligen Befund. Dieser Zustand wird beim Post-Polio-Syndrom sehr häufig registriert. Und doch ist der Patient krank, unheilbar chronisch krank! In etwa 92 % der Fälle verläuft die Infektion mit dem Polio-Virus inapparent, das heißt, ohne jegliche nach außen hin sichtbaren Krankheitszeichen, jedoch mit subklinischen, das heißt unsichtbaren und hinsichtlich der Spätfolgen krankheitswertigen Infektionsschäden, für den davon betroffenen „Patienten“ völlig unbewusst. Die inapparente Infektion entspricht demnach von ihrer Charakteristik her einer akuten Erkrankung. (NICOLLE in GÄDEKE) Aus Abhandlungen über die inapparente Infektion ist die für sie äußerst eingeschränkte naturwissenschaftliche Beweismöglichkeit bekannt. (GÄDEKE) Das Post-Polio-Syndrom erschließt sich in erster Linie aus der Anamnese in der Entwicklung und dem Charakter der aktuell vorliegenden Beschwerden, gestützt durch klinische wie paraklinische Zufallsbefunde. Diese müssen keineswegs für die zurückliegende Infektion typisch, jedoch eine späte Folge derselben sein. Nach ROSÉE bereiten die Symptomzuordnung und die Differenzialdiagnostik dabei die größten Probleme. Das betrifft das Post-Polio-Syndrom als Spätfolge aller Verlaufsformen einer Polio-Encephalo-Myelitis-Infektion. Im Stile einer Kochbuchmedizin mehr oder weniger willkürlich aufgestellte schematisierende Diagnosekriterien in Form einer Checkliste sind da wenig hilfreich, weil sie der symptomatisch und der anatomisch örtlich ursächlichen möglichen Vielfalt des Post-Polio-Syndroms nicht gerecht werden. Ja, sie sind mit ihrem Charakter eines Beweisanspruches geradezu fehl am Platze. Zudem werden die symptomlosen (inapparenten) wie milden ( abortiven) und lähmungsfreien (aparalytischen) Polio- Infektionsverläufe dabei ohnehin nicht berücksichtigt. Der Beweisanspruch wird sogar verbreitet aufrecht erhalten, obwohl seine Unsinnigkeit von Seiten der Krankheitsentwicklung belegt ist. Fazit: Bei schon nur einem hinweisenden Symptom ist die Verdachtsdiagnose PostPolio-Syndrom im Sinne einer Post-Viral-Erkrankung unabhängig von parallel möglichen Erkrankungen gleicher Symptomatik zu führen. Eine zu häufige Stellung dieser Diagnose ist wegen der besonders speziellen therapeutischen Konsequenzen bei derartigen Post-Viral-Erkrankungen im Gegensatz zu einer Fehldiagnose mit desaströsen Fehlbehandlungen nicht zu befürchten. Eher wird diese Spätfolge zu selten diagnostiziert und damit Fehlbehandlungen Vorschub geleistet. Weiterführende Literatur - Brauer, P.: Checkliste Post-Polio-Syndrom? In: Brauer, P.: Aspekte des Post-Polio-Syndroms. Polio Selbsthilfe e.V. 2. Auflage 2011, S. 105-109. - Brauer, P.: Inapparente Polio-Encephalo-Myelitis und Post-Polio-Syndrom. Polio Europa aktuell 16. Jahrgang 2015, Nr.64, S. 3-4. - Bruno, R.L.: The Polio Paradox. Warner Books New York/Boston 2003. - Gädeke, R.: Die inapparente Virusinfektion und ihre Bedeutung für die Klinik. Springer-Verlag Berlin/Göttingen/Heidelberg 1957. - Halstead, L.S. and J. Silver: Nonparalytic Polio and Postpolio Syndrome. American Journal of Physical Medicine & Rehabilitation 2000, Vol.79, Issue 1, P. 13-18. - Rosée, R. de la: Playdoyer für eine andere Sichtweise der Entstehungsgenese von “CFS”/”CFIDS”. Indizien für eine Tardivpandemie. Internet: immunselbsthilfe